Stefan Zweig: Der Weg Hermann Hesses (1923)

Jede erreichte Höhe wird immer Wiederkehr eines Anfangs: so ist gerade der berühmte, der allbeliebte Künstler ähnlich und vielleicht noch mehr als der unbekannte in eine Art von Anonymität eingeschlossen; er lebt umkrustet, petrifiziert innerhalb des glatt-handlichen Begriffes, den sich die Welt von seiner Eigenheit geschaffen hat, und seine tiefsten Wandlungen und Verwandlungen gehen unter dieser Fläche gleichsam geheimnisvoll und für die anderen un­bemerkt vor sich. Die Öffentlichkeit starrt immer nur auf den Schatten, den der Frühschein ersten Erfolges von einem Dichter in die Welt geworfen hat, lange merkt sie es nicht, daß inzwischen der lebendige Mensch — bergan oder bergab — seiner einstigen Form entwandert ist. Eines der zeitgemäßesten Beispiele solchen ungenauen Sehens scheint mir die Wertung Hermann Hesses, über dessen allgemeiner, breiter, wohlgefälliger, ja bis ins Familienpublikum hineingewärmter Beliebtheit die merkwürdige, erstaunliche und bedeutende. Wandlung und Vertiefung seines dichterischen Wesens beinahe unbemerkt geblieben ist. Und doch weiß ich in der neueren deutschen Literatur kaum einen gleich sonder­baren, mit allen Windungen im letzten doch geraden Weg der inneren Entfaltung als den seinen.

Hermann Hesse hat vor etwa zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren begonnen, ganz wie ein württembergischer Pastors­sohn zu dichten beginnt: mit Versen, mit sehr weichen, ver­sehnten Versen. Er saß damals als Buchhandlungsgehilfe in Basel, war bitter arm und allein: aber wie immer bei solchen sehnsüchtigen Dichtern, je bitterer das Leben, um so süßer die Musik und die Träume. […] //

Dann kam der Krieg, der — es brennt einem der Mund, ihm ein Verdienst nachsagen zu müssen — durch den Überdruck der Atmosphäre aus so viel Menschen das Entscheidende herauspreßte: er hat auch in Hesse den inneren Durchbruch gefördert. Sein ganzes Leben geriet damals aus­ einander: das eigene, helle Haus war längst verloren, die Ehe geendet, die Kinder in der Ferne; allein inmitten einer stürzenden Welt, zurückgestoßen in seiner zerschmetterten, romantischen Gläubigkeit an Deutschland und Europa, mußte er sich wieder wie ein Unbekannter, ein neuer Anfänger an das Werk stellen. Und aus einem prachtvollen Gefühl für diese tiefe Umackerung seines Wesens, für die vollkommene Erneuerung seines Schicksals, für den nochmaligen Lebensbeginn hat damals Hermann Hesse etwas getan, was seit absehbarer Zeit in Deutschland kein Dichter von Rang gewagt hatte (und jeder einmal in seinem Leben versuchen sollte): er hat das erste Werk seiner neuen Epoche nicht unter der gesicherten Flagge seines Namens, sondern in strengster Anonymität eines gleichgültigen Pseudonyms in die Welt geschickt. Plötzlich machte in literarischen Kreisen der Roman eines unbekannten Emil Sinclair Aufsehen: Demian hieß das sonderbar dunkle, tiefgründige Buch, das von einer Jugend in einer merkwürdig verästelten, bis in das Dunkel der Seele hinabgreifenden Art erzählte. Als ich es las, dachte ich an Hesse dabei, Mex ohne Vermutung, er könnte der //Autor sein: ein Schößling seiner Art schien mir dieser Sin­clair, ein junger Mensch, der Hesse viel gelesen, aber ihn doch an seelischem Wissen, an seltener Aufrichtigkeit weit überwachsen hatte. Denn hier fehlte gänzlich dies Aus­weichende, dies Zaghafte in der Psychologie, im Gegenteil, hier bohrte sich mit einer ahnungsvollen Überwachheit ein gesteigerter Sinn an das Geheimnisvolle des Lebens heran, die Wasserfarben der seelischen Erlebnisse, die früher mit zarten Pinselstrichen über die dunklen Schicksale hinzitterten, waren hier sinnlichen, warmen Tönen gewichen. Und mein Erstaunen war Respekt, als ich zwei Jahre später erfuhr, daß Emil Sinclair Hermann Hesse sei, aber ein neuer Hermann Hesse, der an sich selbst herangelangte, der wirkliche, der Mann Hermann Hesse, nicht der Träumer mehr.

Diese Grenze ist heute ganz deutlich und sie reicht tief hinab bis in das innerste Wurzelwerk seines Wesens. Nicht nur daß die Problematik des einst so sanften Betrachters eine tief hinabdrängende, dem Dunkel sich ansaugende ge­worben ist, daß von einem inneren Sturm seinen Menschen jeder sentimentale Hauch vom sprechenden Munde weggeweht ist – ganz im Unfaßbaren, im Schauen, in der Pupille waltet nun ein anderer, ein wissenderer Blick. Ge­heimnis umwaltet ja von je das unsichtbare Fortschreiten eines Künstlers in sich selbst hinein, dem Worte nicht beikommen: bei Malern ist es offenbarer, da sieht man geradezu sinnlich, wie ihnen mit einem Male – etwa, wenn sie nach Italien kommen oder zum erstenmal einen neuen Meister schauend erleben – nach langen Versuchen urplötzlich das Geheimnis des Lichtes oder der Luft oder der Farbe aufgeht, wie eine Epoche in ihrer Kunst beginnt. Bei dem Dichter ist solche Verwandlung minder tastbar, nur der Nerv kann sie erfühlen. Wenn Hesse heute einen Baum beschreibt oder einen Menschen oder eine Landschaft, so vermag ich’s eigentlich nicht zu erläutern, warum dieser sein Blick, sein Ton nun anders ist, voller, sonorer, klarer, vermag es nicht zu sagen, warum da alle Dinge um einen Grad wahrer und näher bei sich selber sind. Aber man lese doch selbst gerade jene ganz zufälligen Bücher nach Sinclair s Notizbuch (bei Rascher & Co., Zürich), und die Wanderung (S. Fischer), die beide mit seinen eigenen Aquarellen geschmückt sind und vergleiche sie mit seinen jugendlich-lyrischen Schilderungen. Hier ist alles Saft und Kraft in der Sprache und jene große Sparsamkeit, die sich nur die Fülle gestatten darf: noch wogt die alte Unruhe darin, nur jedoch gleichsam mit tieferem Wellengang. Aber das Reifste, das Reichste, das Eigen­artigste, was dieser neue Hesse bisher gegeben, ist sein Novellenbuch Klingsors letzter Sommer (S. Fischer), ein Werk, das ich mit bewußter Wertung zu dem bedeutendsten der neuen Prosa zähle. Hier ist eine seltene Verwandlung erreicht: das Sehen ist magisch geworden, es schafft gerade im Dunkel einen zitternden phosphoreszierenden Schein aus eigener Seelenkraft, der das Geheimnis der wirkenden Kräfte erhellt. Nichts umfängt es mehr flächenhaft und lau, dieses geballte funkelnde Licht, ihm wird das Leben schicksalshaft und dämonisch, eine elektrische Atmosphäre, die aus ihren eigenen Kräften sich ein abgründiges Leuchten schafft. In dem Lebensbilde des Malers Klingsor sind bewußt Van Goghsche Farben in Prosa umkomponiert, und nichts zeigt deutlicher den Weg, den Hermann Hesse gegangen – von Hans Thoma, dem schwarzwäldischen, idealistischen, flachlinigen Malerpoeten zu jener besessenen Magie der Farben, zu dem ewig leidenschaft­lichen Disput von Dunkel und Licht. Und je unfaßbarer, vielfältiger, geheimnisvoller, je magischer, verworrener und auflösender er nun die Welt empfindet, um so sicherer, um so klarer steht der Wissende nun in sich selbst; die merkwürdige Reinheit der Prosa, die Meisterschaft des Aussagens gerade dieser unsagbarsten Zustände gibt Hermann Hesse heute einen ganz besonderen Rang in der deutschen Dichtung, die sonst nur in chaotischen Formen oder Unformen, im Schrei und der Ekstase das Übermächtige zu schildern und zu reflektieren sucht.

Von dieser Sicherheit, dieser Sparsamkeit ist auch Hesses letztes Werk erfüllt, seine indische Dichtung Siddhartha (S. Fischers Verlag). Bisher hat in seinen Büchern Hesse immer über sich sehnsüchtig hinausgefragt in die Welt: hier versucht er zum erstenmal zu antworten. Seine Parabel ist nicht hochmütig oder weise-lehrhaft, sie ruht in einer gelassen atmenden Betrachtung: niemals war sein Stil klarer, durch­sichtiger, unbeschwerter als in dieser beinahe sachlichen Dar­stellung der geistigen Pfade eines Menschen, der ungläubig-gläubig immer näher an sich selbst gelangt. Nach den düsteren Melancholien, den purpurnen Zerrissenheiten des Klingsor-Buches schwingt sich hier die Unruhe zu einer Art Rast: eine Stufe scheint hier erreicht, von der Ausschau weit in die Welt verstattet ist. Aber man spürt: es ist noch nicht die letzte. Denn das Wesentliche des Lebens ist nicht seine Ruhe, sondern seine Bewegtheit. Wer ihm nahe bleiben will, muß in ewiger Wanderschaft des Geistes, in ewiger Unruhe des Herzens ver­harren, jeder Schritt dieser Wanderschaft ist gleichzeitig ein Nahekommen zu sich selbst. Selten habe ich das im Umkreis unserer deutschen Literatur stärker bei einem gegenwärtigen Dichter empfunden als bei Hermann Hesse. Ursprünglich gewiß minder begabt im Sinn von Begnadung als andere und weniger durch eingeborne Leidenschaft an das Dämonische des Daseins hingedrängt, ist er allmählich durch diese tiefe Ruhelosigkeit näher an sich selbst, tiefer an die wahre Welt gelangt als alle Gefährten seiner Jugend, und weiter über seinen eigenen Ruhm, die allgemeine Beliebtheit hinaus: seine Sphäre ist heute noch nicht ganz zu umgrenzen und ebenso­wenig seine letzten Möglichkeiten. Aber dies ist gewiß, daß alles dichterische Werk, das heute nach solcher innerer, gleich­zeitig entsagender und beharrender Verwandlung von Her­mann Hesse ausgeht, Anspruch auf äußerste moralische Geltung und unsere Liebe hat, daß man hier einem mehr als Vierzig­jährigen, bei aller Bewunderung für das meisterlich Getane, noch die gleiche Erwartung wie einem Beginnenden entgegenbringen darf und soll.

In: Neue Freie Presse, 6.2.1923, S. 1-3.

Edwin Rollett: Der Heimatdichter und sein Erfolg. Zu J. C. Heers 70. Geburtstag (1929)

Eine Betrachtung der schriftstellerischen Persönlichkeit J. C. Heers rollt zweierlei Probleme auf. – Und jede Betrachtung eines nicht in der ersten Reihe der Literatur stehenden Schriftstellers vier Jahre nach seinem Tod kann, wenn sie nicht rein philosophisch ist, nur durch die Bedeutung der an ihn gebundenen und in ihm ausgedrückten allgemeinen Fragen und Probleme gerechtfertigt werden, ja wird wohl geradezu nur durch sie veranlaßt und um ihretwillen angestellt. – Sich mit J.C. Heer beschäftigen, heißt mit anderen Worten die Frage der Heimatliteratur aufwerfen, Sinn, Grund, Bedeutung von Stoff, Gegenstand, Hintergrund und Milieu des Romans beleuchten, es heißt aber auch, und das kaum weniger, der Psychologie des Erfolges der schriftstellerischen Publikumswirkung, dem Magnetismus des Romans nachzuspüren, wobei gleich gesagt sein soll, daß zwischen diesen beiden Fragen ein gewisser Zusammenhang besteht. 

Es ist ein Ästhetenmärchen, ein ausgesprochener Aberglaube, daß der Gegenstand des Romans Nebensache ist. Gewiß kann eine geniale Künstlerhand jeden ihr gemäßen Stoff zum Gegenstand formen, kann auf der Entdeckungsfahrt in die Füße des Lebens Gebiete entdecken, deren Vorhandensein bisher als belanglos ignoriert wurde. Das Findergenie des großen Erzählers fährt ja mit jedem wirklich künstlerischen Roman derart die Columbus-Reise über den westlichen Ozean nach Ostindien und erschließt einen neuen Erdteil. Was neben den Genialen und nach ihnen segelt, das lebt aber nicht durch die Tatsache der Entdeckung, sondern von den gewonnenen Kolonialprodukten, nicht durch die Genialität der erstmaligen Tat, sondern durch die Tüchtigkeit der Verwertung des Gefundenen.

Columbusnaturen waren, um auf dem Gebiet der Heimatkunst zu bleiben, unbedingt etwa die Geschwister Brentano, das war im anderen Sinn Fritz Reute, war auch Rosegger, der anfangs seine Entdeckung nicht einmal einzugestehen wagte, und seinen Waldschulmeister irgend wohin nach Tirol verlegte, weil ihm seine Fischbacher Alpen und Mürztaler Berge zu unansehnlich, zu unbekannt erschienen, und er meinte, einen populären Namen als Vorspann benützen zu müssen. Columbusnaturen waren in der Schweiz ganz besonders Jeremias Gotthelf und Gottfried Keller, der Berner Bauer und der Züricher Bürger, die jeder selbst Ergebnis und Träger der Kräfte ihrer schweizerischen Heimat, mit dem Selbstbewußtsein der Söhne eines jahrhundertelang republikanischen Stammes, dessen Eigenart ohne Beschönigung und ohne Beschränkung einbekannten, darstellten, künstlerisch ausformten, so kräftig und überwältigend, daß Schweizertum und Schweizer Volk literarische Mode wurden. 

Auf solchen Fundamenten baute die Schweizer Heimatkunst am Jahrhundertende weiter, begünstigt durch den realistisch naturalistischen Zug, der zu jener Zeit die gesamte europäische Literatur beherrschte und allenthalben dazu verleitete, gewissenhafte Ortsangaben und Zeitbestimmungen durch detaillierte, spezialisierte Schilderung, durch Nachzeichnung wohlbekannter und vertrauter Charaktere zu ergänzen, begünstigt endlich durch die geläufig gewordene Popularität Kellers, begünstigt endlich durch den zunehmenden Fremdenverkehr, der jeden schweizerischen Heimatroman für so viele nicht nur zu einer durch die dargestellten Ereignisse, Schicksale und Stimmungen anregenden, sondern durch Landschaft und Milieu an Sommerfrische, Bergpartie und Erholung erinnernden, also von vornherein angenehm und willkommenen Lektüre machte, weil es sich darin doch um die bekannten Schweizer Berge und Schweizer Herzen handelt. 

So ungefähr stellte sich die literarische Konjunkturlage dar, als der Winterthurer Bauernsohn, spätere Volksschullehrer und damalige Feuilletonredakteur der Neuen Zürcher Zeitung mit seinem Erstling hervortrat, und was an Material, an Elementen und Ingredienzien zu einem guten Heimatroman nötig ist, das war in // diesen „Heiligen Wassern“ schon reichlich enthalten: das Bauerntum mit echtem Erdgeruch bieder (manchmal bis zur Borniertheit), fromm (oft bis zum Aberglauben), naturhaft (selbst bis zur Unmenschlichkeit) und bodenständig (bis zur erbitterten Feindschaft gegen Besserung des Lebens).  Dieses Bauerntum wurzelt ausschließlich und unausreißbar angeklammert in seinem Boden, auch wenn er furchtbar mit ihm umgeht, auch wenn die Heimat zum Fluch wird und ihre Kinder einem Blutbann unterwirft, wie der, der dem Dorf Sankt Peter, hoch oben an der Gletschergrenze, von Zeit zu Zeit immer wieder ein oder ein paar Menschenopfer abfordert, ähnlich dem Lindwurm, der den Städten der Sage solchen Tribut auferlegt hatte. Das Bauerntum der Berge also mit all seinen Mühsalen und Schwierigkeiten ist sozusagen das Rückgrat seiner Romane, jenes harte Bauerntum, das im Sommerfrischler ein so wohltuendes Gruseln erzeugen kann. Daneben Landschaft, sehr viel Landschaft. Darin war Heer ja seit jeher groß, man kann sagen, als Meister vom Himmel gefallen. Durch seine Fähigkeit, eine Landschaft in ihrer Eigenart, ihrem Reiz, ihrem speziellen Charakter zu erfassen und das Erfaßte in Worten festzuhalten, hatte er zu allererst auf sich aufmerksam gemacht. Als der Reisende in den Adriagegenden und als Schilderer von Ballonfahrten und den dort gewonnenen Eindrücken, als der Beschreiber der Landschaft aus der Vogelschau war er bekannt geworden. Das alles ist mit großer Solidität und ausgesprochener Tüchtigkeit, ohne Extravaganz, allerdings auch ohne besonderen Schwung in diesen Roman gegeben und schließlich fehlt auch noch der Fremdenverkehr nicht, der Schutzpatron der ganzen schriftstellerischen Richtung, der dem Alpental sogar gegen dessen Wunsch neue, frische Impulse und endlich doch eine Lebensverbesserung zuführt. 

Es ist wie ein Rezept, wonach der erste, wonach aber auch so ziemlich alle anderen seiner Romane gebaut sind, selbst sein nachdrücklichster Erfolg Joggeli und sein ausgebreitetster Der Wetterwart. Das Handwerkliche steht im Vordergrund und auch damit ist Heer der typische Vertreter der ganzen Heimatdichter.

Nicht nur ihrer Abstammung nach, die sich ja von bahnbrechenden Genialitäten herleitet, sondern ebenso in ihrer Wirkung ist diese Heimatskunst aber eine gute, löbliche und gesunde Erscheinung, mag sie auch oft in allzu weitgehender Überschätzung des Stoffes diesen zum Selbstzweck erheben und schwelgerisch in ihm verweilen, mag sie auch mitunter das persönliche Interesse des Autors und das erhoffte des Lesers durch übertriebenes Entgegenkommen auszeichnen. Eine gewisse, wenn auch beschränkte Garantie gegen die Gefahr allzu papierenen Literatentums liegt doch in ihr. Hie Kaffeehaus – hie Sommerwohnung! So stellt sich der literarische Antagonismus von Stadt und Land, genauer besehen, dar, so kann man (auch heute noch) das deutsche Schrifttum halbieren, soweit nicht die ganze dünne Schicht in Frage steht, die wirklich Kunst zu schaffen vermag. Und es ist eine Angelegenheit des Geschmacks, nach welcher Seite man sich schlagen will. 

Das deutsche Lesepublikum hat seine Entscheidung getroffen: die psychologische Konstruktion der Kaffeehausliteratur bucht manchen Sensationserfolg für sich. Sie lockt mit den Mitteln des Unbekannten, des Seltsamen, des Pathologischen, des Abenteuers, das sich freilich hier meist nicht in geographisch, viel mehr in psychologisch und sozial fremden Regionen vollzieht. Diese Fremde übt gewiß ihre Anziehungskraft. Aber dauerhafter, solider ist jener andere Magnetismus, der von der Assoziation des Bekannten und Geläufigen, vom Wiederfinden eigener Stimmungen und Empfindungen ausgelöst wird. Er beherrscht jene sehr breite Sphäre, in der nicht der abenteuerliche Reiz (allerdings auch nicht die Adelung und Selbsterneuerung durch wahrhafte Kunst), sondern die gegenständige Solidität, die Bürgerlichkeit maßgebend sind. Dieser weit ausgedehnte Kreis des deutschen Bürgerhauses sucht sich die zu ihm passenden Bücher.

Es ist Gebrauchsliteratur, die da gefordert wird, so wie man von Gebrauchslyrik oder Gebrauchsmusik spricht, eine Literatur, die alle Kultur-,// Sozial- und Religionsprobleme nicht in ihrer voller Wucht und Größe erfaßt, sondern in den Regionen des Unterhaltungsbedürfnisses verharren bleibt, die, soweit es sich um Heimatdichtung handelt, einer im Grunde genommen intellektualistischen Neigung huldigt, nach welcher sich die Wechselbeziehungen zwischen Volk und Kunst nicht als ein gewiß beschränkter, aber  natürlicher Widerhall eines machtvollen Klanges in mehr oder minder taubem Gestein vollziehen, nicht als das Spiegelbild eines Gipfels im See darstellen (wie es bei Keller war), einer Neigung vielmehr, die meint, über eine hier und dort auf der halben Höhe des Entgegenkommens gespannte Konzessionsbrücke den Wechselverkehr bequem vollziehen zu können. Es ist der Standpunkt, des Sommerfrischlers, des unbeteiligten zufriedenen Beschauers, der hier ganz augenscheinlich dominiert. 

Dieses deutsche Bürgerhaus aber beherrscht als der Hauptkäufer den Markt, trägt das Buch, macht seinen Erfolg und bestimmt das Geschäft von Autor und Verleger. Würde denn das Trommelfeuer der Verlagsprospekte, Annoncen und Affichen, würde der Ertrag der glänzenden Abonnentenspekulation, die sich Buchgemeinschaften nennt, würde die nahezu undurchdringliche, sicher unausrottbare Organisation der Freundschafts- und Gefälligkeitskritik auch nur halb den Umfang haben, wenn es anders wäre?

Nicht das Buch als geistige Kraft und  geistige Macht ist dabei zu betrachten, sondern das Buch in seiner kaufmännischen Realität, als Ware, deren Werk sich ausschließlich nach der Nachfrage, also nach einer, nicht durch die absoluten Maße der Idee, sondern durch das höchst subjektive Element der Bequemlichkeit bestimmten Skala richtet.

Das Bedürfnis der Käufer bestimmt die Art der Ware, Das leicht faßliche mußte über das ideentiefe Werk triumphieren, das bequem zugängliche über jedes eigenartige und originelle, das nur anschauliche über das symbolische und gedankenstarke, das stofflich reiche über das gegenständlich hochwertige. Dabei ist ein gewisser nicht zu reichlicher ideeller Gehalt als Gewürz höchst willkommen. Zu viel Gewürz aber verdirbt den Braten. Ohne Theatralik der Aufmachung geht es auch nicht ab. Sie muß das ideelle Rückgrat vortäuschen, wo es fehlt, oder die Idylle so lange verkünden, bis sie geglaubt wird. Rein künstlerische Fragen treten in den Hintergrund. Die Gestaltung des lebendigen Sprachorganismus wird unwesentlich verglichen mit dem Gegenstand, der aus leicht zu bearbeitendem Sprachmaterial geformt wird. Daß auch die Literatur eine bildende Kunst sein muß, ist in Vergessenheit geraten.

Mit der Bevorzugung des. Gegenstandes. Hängt aber auch eine andere Erscheinung eng zusammen, die fast erfreulich scheinen möchte und als ein Zeichen der Gesundheit gelten darf: unter all den Büchern, die sich deutsche Heimatliteratur nennen, ist nicht ein einziges, das im Sinne bürgerlicher Sittlichkeit anstößig, das seiner Tendenz nach nicht gut zu heißen wäre. Mag man auch feinen menschlichen Wert noch so sehr in Zweifel ziehen, irgendwo glimmt in jedem Heimatdichter ein Funken echten Idealismus.‘

Nach all diesen Seiten hin kann I. C. Heer als Typus und Vertreter einer ganzen Richtung gelten, als der Dichter der deutschen Bürgerfamilie mit höheren Ambitionen. Das ist vom Standpunkt höchster Kunstkritik aus gesehen nicht eben viel. Das ist aber um so mehr, betrachtet man die Funktion des geschriebenen und gedruckten Wortes im Lebensganzen einer breiten Volksschichte. Es ist im wesentlichen eine Lehreraufgabe, die zu bewältigen ist, um so schwieriger, als sie von den Belehrten nie bemerkt werden darf, auch undankbar, insofern kein ideeller Erfolg sichtbar wird. Es ist die Kleinarbeit des Zwischenhändlers der Kunst, der, in der Mitte des Weges vom Genie zum Banausen stehend, jedem, der beiden die Hand reichen möchte, ein Volksbildneramt, wie so viele andere, nur daß dabei etwas mehr Ertrag abfällt, bei dem es gar sehr auf die Menge des Gebotenen und die Menge der Aufnehmenden ankommt, damit nur irgend etwas vom Guten hängen bleibt.

In: Wiener Zeitung, 18.7. 1929, S. 1-3.

Eugen M. Kogon: Theater- und Buchzensur – eine kulturreaktionäre Einrichtung? 

Ohne Kampf gegen das Schlechte geht es nicht ab in unserer Welt, also auch nicht ohne Zensur. Alle sind wir wahrscheinlich eins in der Überzeugung, daß es besser wäre, wenn zensurwürdige „Kunst“objekte nicht entstünden oder unmöglich bestehen könnten. Von diesem Ideal, welches anzustreben bleibt, auch wenn es nie völlig erreicht wird, sind wir weiter entfernt denn je. Es muß einer schon Walter von Molo heißen und Präsident der Preußischen Dichterakademie, gleichzeitig auch Leitartikler des Berliner Tageblatts sein, um das nicht zu sehen.

Worum geht der Streit, hervorgerufen durch den Antrag im Preußischen Parlament, die Regierung Preußens möge die Reichsregierung veranlassen, gegen Auswüchse im Theaterwesen einzuschreiten? Um die Frage, ob vieles von dem, was man heute Kultur oder Zivilisation nennt, den Namen Kultur verdient; wenn nein, ob es dann, damit Kultur wieder entstehen, der Errichtung eines Dammes gegen die zerstörerischen Kräfte bedarf. Daß der Damm seine Nachteile hat, z.B. die Aussicht versperrt, verkennt niemand. 

Eine Schar bürgerlich-freisinniger Herren (das gibt es immer noch!) hat sich in Berlin zusammengetan und ein Manifest „an das Volk“ erlassen. „Der Kampfausschuß von 17 Verbänden lehnt jede kulturwidrige Absicht ab, die freie Entwicklung der Kunst, des Schrifttums und der Wissenschaft durch Wiedereinführung eines auch nur verschleierten Zensursystems zu hemmen.  – Er wird über den heutigen Abend hinaus eine dauernde Schädigung intellektueller Interessen zu verhindern wissen. – Der Kampfausschuß gegen die Zensur bleibt in Permanenz.“ Preußische Heeresbefehle sind ein Schmarren gegen die Entschließungen preußischer Literaten. Erinnerte der Name des Vorlesers, Ludwig Fulda, nicht an Schilda und der eines Mitredners, des Filmregisseurs Lupu Pick, nicht an den Jammer dieser Republik, man könne den Zwang verspüren, die Hände an die Hosennaht zu legen und in ehrfürchtigem Gehorsam zu ersterben. Die Zensur, jede Zensur wird also von unseren Dichter-Vorgesetzten abgelehnt. Warum? Erstens, weil es keinen sicheren Maßstab zur Unterscheidung von Kunst und „Kunst“ gebe; zweitens, weil die Zensoren nicht objektiv seien (also müßte man auch auf jede Regierung verzichten? Man gewöhne sich doch einmal an, aus seinen Behauptungen die Folgerungen zu ziehen!); drittens, weil die Zensur nichts ausrichten werde (woher wissen die Herren das? Zensuren haben im Lauf der Geschichte sehr viel Gutes und sehr viel Böses bewirkt!); viertens, weil die Öffentlichkeit selbst entscheiden könne und keine Bevormundung nötig habe; fünftens, weil die Freiheit des Künstlers nicht eingeschränkt werden dürfe; sechstens überhaupt, denn „die ganze Richtung paßt uns nicht!“  

Der letztgenannte Grund ist der tiefste. Herr von Molo hat das in einer Rede vor der Preußischen Akademie der Künste ausgiebig abgewandelt, hoffentlich in besserem Deutsch als dem der Presseberichterstatter, die, zugunsten des Dichterpräsidenten sei’s angenommen, von seinen Halb und Viertelgedanken benebelt, offenkundig die Herrschaft über ihren Bleistift verloren. „Wir wollen offen sein,“ meinte er sympathischerweise, „es geht den Freunden für Einführung einer neuen Zensur gar nicht darum, ob ein Werk ein Kunstwerk ist oder nicht. Es handelt sich heute, von niemandem zugegeben, aber jedem Einsichtigen klar, darum, daß eine Gruppe die Werke als Nichtkunst bezeichnet haben will, die ihr nicht in den Kram passen! Das ist die größte Gefahr für den Staat, und darum stehen wir gegen dieses Verlangen… Kein Staat kanndie volle Freiheit der schöpferischen Menschen entbehren.“  […]

Kram! Da von einer Gruppe die Rede ist und wir zu ihr gehören, müssen Sie auch uns meinen Herr von Molo. Unser Kram nun ist die christliche Auffassung von Welt, Leben und Menschen. Eine kaum übersehbare Schar von Heilen, Heiligen und Künstlern ist uns im Lauf von 2000 Jahren mit diesem Kram vorangegangen. Wir werden ihn also nicht aufgeben, weil ein Molo behauptet, „Weltanschauungen sind Anschauungen, sie gegen nicht den Besitz des Steins aller Weisheit, sie sind Einseitigkeit; Einseitigkeit kann nicht über Kunstwerke zu Gericht gesetzt werden. Ein Kunstwerk ist ein Ganzes, das nicht von dem begriffen werden kann, dessen Finger nur zu einem Stückchen heranreichen.“ Haben Sie schon einmal einige kunstkritische Briefe von Claudel oder etwas über die Freiheit des Künstlers von Chesterton gelesen? Verengung, Einseitigkeit…, so schwatzen Sie doch nicht so ausgelaugtes Zeug! Die ganze Welt steht dem Künstler zur Gestaltung offen, alles Gute und alles Schlechte, wir verlangen nur, daß das Gute gut, das Schlechte schlecht erscheine, nicht umgekehrt; und daß der Künstler sich nicht darauf kapriziere, sich im Dreck zu suhlen. Wahrhaft grenzenlos ist die Freiheit des katholischen Künstlers, sie reicht von Unendlichkeit zu Unendlichkeit Gottes, der alles Geschaffene erhält, selbst das Schlechte in seinem Sein. Ist Dante von seiner katholischen Weltanschauung behindert worden? Der Herr von Molo weiß es freilich besser, Er spielt zwar darauf an, daß er ein Christ sei oder wenigstens eine Ethik habe, die doch, wenn sie wirklich eine ist, im Grunde christlich sein muß, weil der Logos spermatikos auch in den Heiden wirkt, aber er nennt den Kampf gegen das Böse doch Rückschrittlichkeit, denn der Hasenclever hat es partout auf die Gotteslästerung abgesehen (Motto: Das woll’n wir doch sehen, ob ich den Tempel nicht bedrecken darf, vonwejen Freiheit des Künstlers!), und den Berliner Literaten möchte ich kennen, der ich nicht lieber Arm in Arm mit Hasenclever sehen ließe, als an der Seite eines Dante! Das Maß dieses Riesens würde nämlich selbst dem Romanischen Café plötzlich klar machen, daß es doch Maßstäbe zur Beurteilung von Kunst und „Kunst“ gibt. 

Ist das Romanische Café überzeugt, daß unsere Weltanschauung ein Kram ist, so weiß das Café des Westens genau, daß wir „den schöpferischen Geist knebeln“ wollen. Fürs Knebeln sind wir aber nicht, nur für einen eisernen Besen, der ersetzt, was die väterliche Zuchtrute bei den Literaturschwengeln unserer Zeit, den jungen und den alten, versäumt hat. Für die Aufführung von Anja und Esther z.B. hätte ich den noch nicht stubenreinen Kleckser auf ein paar Jahre in eine Besserungsanstalt, statt nach Amerika geschickt, von wo er nur noch frecher und eingebildeter zurückgekommen ist. Wenn Gerhart Hauptmann eine Dorothea Angermann schreibt, so wünschen wir, auch wenn wir sie ablehnen, nicht ihr Verbot, weil wir wissen, daß das Stück nicht die Kunst eines Großen erschöpft, der auch Hanneles Himmelfahrt gedichtet hat. Wenn aber Klaus Mann oder Hasenclever oder sonst einer von dem Gewimmel –, da verwandelt sich unser einheitliches Maß sofort in ein doppeltes, und beide werden zur Peitsche, die wir am liebsten in der Hand eines weisen Zensors sähen. Aber wer macht denn diese Öffentlichkeit aus? Die Marktschreier, die Händler, die Verantwortungslosen. Und das Volk läßt sich immer wieder beschwatzen, in deren Theater zu gehen, statt ihnen endlich einmal die Hosen zu stäuben. Woher denn das ganze Theater- und Literaturelend, über das die Brüder vom Freisinn selbst immer wieder ihre Feuilletontränen vergießen? Generalintendant Jessner lehnte Probeaufführungen vor einem Zensorenparkett (die wir übrigens gar nicht verlangen, weil die Zensur viel früher einzusetzen hat) ab, denn ein solches Zensorenkollegium könne nicht über die öffentliche Meinung entscheiden. Als ob der Koofmich vom Kurfürstendamm, der für Jessner schwärmt („Sin Se jewesen bei de letzte Prämiär bei Jessner? Was? Ham Se nich jesehn? Müßn Se anschaun gehen, das Stück, kolossal sar’ch Ihnen!“), als ob sowas öffentliche Meinung wäre, jene aber, die es tatsächlich ist, nicht längst entschieden hätte! Sind die Theaterpleiten kein Beweis? Der Herr Regisseur Emil Lind indes hob bei der Kundgebung im Preußischen Herrenhaus, ohne daß ihm schallendes Gelächter zum Verstummen ge-//bracht hätte, hervor, alle Bühnenkünstler seien die ersten im Kampf um die Lebensinteressen des Geistes und der Kunst. Das sagt er, anno 1929, gegen die Zensur, nicht für sie! Welch groteske Situation: In Berlin, wo nach dem Urteil aller dortigen und dortgewesenen Kulturmenschen die Musen nicht etwa bloß auf den Hund gekommen, sondern in manchen Theatern geradezu unter die Säue geraten sind, soll ein Regisseur von diesen seinen Bedrängern befreit werden. Was tut er? Atmet er beglückt auf über die nahende Hilfe? Feuert er die Helfer zu rascherer Arbeit an? Nein, er macht den Versuch, die Säue und die Perlen, die andere mit ihnen verdient haben, zu schützen! Man höre gut und mißverstehe nicht: zu schützen! 

Der Präsident der Dichtersektion, Herr von Molo, geht noch weiter, wenn es auch nicht möglich zu sein scheint. Er leugnet die Existenz des ganzen Schweinestalls. Man soll erst die Wohnungsnot beseitigen, rät er, die Arbeitslosigkeit, meint er, den politischen Kuhhandel, schreit er, dann könne man erst feststellen, ob schädliche Literatur überhaupt Schaden stifte. […]

Man sollte von unserer Seite die Frage: „Für oder wider eine Zensur?“ nicht auf den Schutz der Jugendlichen einschränken. Nicht nur meine Kinder will ich beschützt wissen, mich will ich bewahrt und geschont sehen vor dem Geblödel, das mir blasphemischen Schleim entgegenhustet und die Frechheit besitzt, den Auswurf seiner geistigen Unzucht auf dem literarischen Jahrmarkt auch nur feilzubieten! Daß ich den Brüdern vom dunklen Gewerbe des Freisinns weder für Pofel noch Dreck etwas zahle, versteht sich von selbst. Aber sie sollen auch nicht hausieren dürfen, weil sie die Kultur verpesten. Wenn die Abzugskanäle als Volksküchen aufgetan werden, appelliere ich heute und allezeit an die Ordnungsgewalt. Wir opfern unsere Steuergelder schließlich nicht nur zum Schutz der „Errungenschaften“ liberaler Literaturkaufleute, welche die Probleme der Zeit so lange schinden, bis diese notgedrungen die erpreßten Prozente herausgeben. Und Leute, die Dichter, Leute, die Künstler sein wollen, versichern uns zeternd, daß es kein Merkmal gebe, sie unter Schwindlern als Gottgezeichnete zu erkennen! 

Es gibt die Merkmale schon, Herr von Molo! Wenn einer z.B. den Mut aufbringt, vom hohen Pult der Preußischen Akademie der Künste, als Präsident den Dichtersektion überdies, so erbarmungswürdiges Geschwätz über Religion und Kirche […]vorzutragen, dann brauche ich seinen Luther-Roman gar nicht gelesen haben, um zu wissen, daß der einstmalige Augustinermönch, lebte er heute, die Zensur nicht nur gefordert, sondern so streng gehandhabt hätte, daß es zu Resolutionen sog. Kampfausschüsse von Literaten, G’schaftlhubern und G’schäftlemachern gar nicht gekommen wäre. Denn er eher von ihnen auch nur ein Wort hätte vorbringen können, wäre ihm der Junker von Wittenberg übers Maul gefahren. Und wie, Herr von Molo!

In: Schönere Zukunft, 7.4. 1929, S. 565-566.

Oskar M. Fontana: Der Kampf um das Buch (1928)

             Eine Zeitlang schien es, als sterbe der „liebe Leser“ in Deutschland langsam, aber unerbittlich aus, als bauten die Verleger am Bücherturm nur aus Gewohnheit weiter. Wer nicht Fußball spielte, tanzte. Wenn schon etwas gelesen werden mußte, weil man nicht einschlafen konnte, las man Magazine. Die vermehrten sich wie die Fliegen. Für ein Novellenbuch war und ist kein Käufer zu finden, aber für ein Magazin mit Kurzgeschichten, also auch Novellen, waren und sind tausende Leser zu finden.

             Es ist gesund und erfreulich, daß der Mensch endlich wieder einmal gemerkt hat, daß er einen Körper besitzt und daß er ihm ein Daseinsrecht geben muß. Aber es ist ungesund und unerfreulich, daß er darüber ebenso den Geist vergessen hat so wie ein früheres Stubenhockergeschlecht den Körper. Oberflächlichkeit ist ebensowenig ein Ziel wie Ästhetizismus.

             Was geschah von „Amts wegen“, um dieser drohenden Abwanderung der Heutigen ins belanglose Banale einer zu nichts verpflichtenden Magazinswelt zu begegnen? Nichts geschah. Der Staat hielt und hält ein paar Theater aus in der lächerlichen Überschätzung der Kulissen. Damit glaubt er seinen Verpflichtungen gegenüber der Dichtung und der Literatur erfüllt zu haben. Er deckt das Defizit, sorglos kann also „Alt Heidelberg“ oder „Das Duell am Lido“ gegeben werden. Denn die Theater, auch die Staatstheater, müssen gefüllt werden und so zahlt der Staat dafür, daß Publikumsstücke gespielt werden können. Deutschland gibt für seine fünf oder sechs Staatstheater jährlich 15 Millionen Mark aus. Diesen Millionen stehen 10.000 Mark gegenüber als jährliche Gesamtsumme der Aufwendungen für Literaturförderung.  (Österreich wiederholt dieses groteske Verhältnis im Kleinen.) Der Staat, mit den Repräsentationspflichten und Lasten des Theaters beladen, merkt gar nicht, daß das Buch und damit die geistige Spannkraft seines Volkes bedroht ist. Es kümmert ihn nicht.

             Merken es die Parteien? Kümmert es sie? Nicht im mindesten. Sie haben keine Zeit für solche „Kleinigkeiten“. Sie verurteilen die Kräfte, die innerhalb des Parteigefüges für eine Erhaltung des lebenden alten Schrifttums und einen durchsetzenden Vorstoß der neuen Autoren sorgen könnten, zur Einflußlosigkeit. Und so kommt es, daß eine Wiener sozialistische Wochenschrift für Frauen einen Roman von der Marlitt bringt. Widerspruchslos. Wo hört die Bourgeoisierung des Geistes auf? Wo beginnt sie?

             Die Not des deutschen Buches wird nur von den Verlegern bekämpft. Nicht aus Idealismus natürlich, sondern aus Wirtschaftsgründen. Sie kämpfen damit um ihre Existenz. Der Schriftsteller, als der ökonomisch Unselbständige, konnte diesen Kampf gar nicht aufnehmen, selbst wenn er ihn ahnte, außerdem blieb ihm der rettende Ausweg in die Zeitung offen. Der Verleger aber hat keine anderen Möglichkeiten, als die im Kapital und im Buch enthalten sind. Das Mißverhältnis zwischen beiden wurde in den letzten Jahren immer größer. Der Verleger begann das sehr heftig, sehr unangenehm zu spüren. Er mußte sich aus Selbsterhaltungstrieb dagegen zur Wehr setzen und wurde dadurch der einsame Schützer des Buches.

             Von der einen Seite her geht der Kampf um die Bewahrung der feinsten, gebrechlichsten und am „überflüssigsten“ scheinenden Literatur, das heißt um Lyrik und um jene Form von Epik die aus einem inneren Gesetz oder einem inneren Mangel – gleichviel – sich nur an wenige wenden kann und die doch das Recht hat, gehört zu werden, und der gegenüber die Gesellschaft die Verpflichtung hat, sie am Leben zu erhalten. Hans Martin Elster, der nicht nur Verleger ist (Horen-Verlag), sondern auch Schriftsteller, kommt diesem am meisten bedrohten Flügel der Literatur mit der Forderung nach seiner Schaffung einer Notgemeinschaft deutschen Schrifttums zu Hilfe. Er verweist als Beispiel auf die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, die glänzend arbeitet und durch die Beistellung von Geldmitteln Publikationen ermöglicht, die sonst nicht hätten ediert werden können.

             Mit Recht scheint ihm ein Zustand absonderlich und unwürdig, der wohl den über den Dichter Schreibenden schützt, den Dichter selbst aber für sich allein sorgen, also verkommen läßt. Eine Notgemeinschaft des deutschen Schrifttums kann, indem sie einen Teil der Herstellungskosten übernimmt, bewirken, daß wieder Lyrik, daß wieder sucherische oder abseitige Dichtung gebracht werden kann, und daß ihre Autoren wieder zu leben vermögen. Die Widerstände gegen eine solche Notgemeinschaft kommen von Beamten, von Administrativen, die ihre Schreibtische für wichtiger halten als eine ganze Generation von Schriftstellern. Dennoch scheint mir eine Notgemeinschaft des Schrifttums nicht mehr aufzuhalten. Sie ist notwendig. Sie wird sich durchsetzen.

             Von der anderen Seite wird der Kampf um das Buch mit der Idee der Demokratisierung des Buches geführt. Es ist zu teuer geworden, es steckt in seinen Kalkulationen, in seiner Produktions- und Verkaufsweise noch immer in der Postkutschenzeit. Auch das Verlagswesen hat erkannt, daß es „Massen“ gibt, und daß diese mit ihren eigenen Mitteln erfaßt werden müssen. Organisierung der Kaufenden versuchten die Buchgemeinschaften. Ihre Gefahr: Sattheit, Schwerfälligkeit, Zaghaftigkeit haben sie bisher nicht überwunden. Die Organisation wurde ihnen letzten Endes wichtiger als der Geist.

             Die Demokratisierung des Buches macht erst der Verlag. Th. Knaur Nachf. in Berlin zur Wirklichkeit. Er ging von dem Gedanken aus, daß das deutsche Buchwesen im Gegensatz zum französischen nicht auf Broschüren, sondern auf dem gebundenen Buch beruhe, daß also dieses zum billigsten Preis hergestellt werden müsse, wenn Deutschland wieder für das Buch erobert werden solle. „Die Romane der Welt“ begannen im Vorjahr in diesem Sinne zu erscheinen und jetzt läßt der Knaur-Verlag ihnen die Standard-Bücher folgen, das sind Romane und wissenschaftliche Werke dauernder, klassischer Art. Hier wie dort ist das auf gutem Papier klar gedruckte Buch in Ganzleinen gebunden und kostet einheitlich 2 Mark 85 Pfennig (nicht ganz 5 Schilling). Den Romanen der Welt konnte Ungleichheit des Niveaus und Favorisierung der Ausländer vorgeworfen werden (trotzdem: sie brachten Joseph Hergersheimer, O’Flagerty, Walter Mehring, Sinclair Lewis – mutige und kühne Werke). Die Standard-Bücher sind dem Streit der Meinungen entrückt. Sie bringen Ewiges wie Dante und Dostojewski, ein deutsches Volksbuch wie Freytags Bilder aus der deutschen Vergangenheit, sie versuchen Jakob Burckhardts Kultur der Renaissance, bisher nur unter den „Gebildeten“ berühmt und geliebt, auch unter die Massen zu bringen – es ist der erste Versuch, nach Haeckels Welträtseln, ein wissenschaftliches Werk zu popularisieren – ein sehr ernster Versuch, dem entscheidende Bedeutung zukommt.

             Die Standard-Bücher bringen auch den ganzen Konrad Ferdinand Meyer, der bisher auf dem Ehrenfriedhof des deutschen Buchhandels ruhte. Diese vier Einzelbände, deren erster den Jürg Jenatsch und Angela Borgia, deren zweiter die Gedichte Huttens letzte Tage und Engelberg, deren dritter die Novellen und deren vierter den Heiligen und die Versuchung des Pescara bringt, sind eine sehr große Leistung. Im Wirtschaftlichen: jeden der Bände dieser vorbildlichen Art zu dem billigsten Preis herauszubringen und ohne den Zwang, alle vier gleichzeitig abnehmen zu müssen. Im Geistigen: weil hier ein großer deutscher Schöpfer endlich die Stoßkraft erhält, die ihm gebührt.

             Der Verlag Th. Knaur Nachf. hat zur Verbilligung seiner Ausgaben von Ford das Produktionsprinzip des rollenden Bandes übernommen, aber auch die Grundidee. Dem amerikanischen Motto: „Jedem sein Auto“ entspricht hier: „Jedem sein Buch“. Amerikanismus, ins Deutsche umgebogen. Es ist dadurch bewiesen, daß Bücher von innerer und äußerer Qualität zu billigstem Preise hergestellt werden können und daß dann die Leser, die es fast nicht mehr gab, wieder da sind. Und das ist das sehr Wichtige an dem Versuch des Knaur Verlages. Daß 400.000 Bände seines Konrad Ferdinand Meyer innerhalb einer Woche vom deutschen Buchhandel und seinen Käufern verschluckt wurden, ist mehr als ein persönlicher Erfolg – der bekümmerte die Allgemeinheit kaum –, vielmehr der in der Wirklichkeit vollzogene Beweis einer bisher geleugneten billigen Herstellungsweise, und die Tatsache des Erfolges wird die deutschen Verleger zur Umstellung ihrer Produktion zwingen. Es gibt ihn wieder. Er ist da. Jede Schlacht um den Leser ist aber ein Sieg des Buches. 

In: Der Tag, 4.3.1928, S. 3.

Franz Eichert: Eine neue Revolution für die Literatur (1918)

Daß die Entwicklung des modernen Geisteslebens nicht mehr in ruhiger, gerader, auf- oder absteigender Linie, sondern in fieberhaften Zuckungen und Umschlägen von einem Extrem ins andere, in unberechenbaren Zickzackbewegungen erfolgt, das ist aus der Umsturzbewegung, die sich soeben in unserer deutschen Literatur vollzieht, überaus klar ersichtlich. Bis jetzt haben freilich nur diejenigen, die sich berufsmäßig mit der Literatur befassen, die volle Erkenntnis von der Tragweite der Umwälzung, die sich allerdings laut genug, unter großem Lärm und Geschrei, ganz wie ein Kurssturz auf der Börse und ganz wie dort unter semitischer Führung und Prägung vollzieht. Wenn trotz dieses aufdringlichen Geschreis die Mehrzahl der Nichtliteraten, auch der auf anderen Gebieten geistig schaffenden Oberschicht, vom Umfang und Wesen dieser Umwälzung noch keinen klaren Begriff hat, so ist das leicht zu erklären. Die Literatur ist nämlich längst nicht mehr wie in jenen Zeiten, die nach Goethe allein schaffend und fruchtbar sind, eine Angelegenheit des ganzen Volkes, sondern eines verhältnismäßig sehr kleinen Kreises, der den Ton angibt und durch die Presse die lauttönenden Tagesbefehle ausgibt, die den Massen der Nichteingeweihten ihr literarisches Glaubensbekenntnis vorschreiben. Nur der alleinberechtigten Kritikerkaste ist heute das Recht vorbehalten, sich über literarische Neuerscheinungen ein eigenes Urteil zu bilden – die anderen bekommen das fertige Meinungsragout in der Morgenzeitung vorgesetzt und haben nur die Aufgabe, es dann gelegentlich wieder von sich zu geben und dadurch jene „kompakte“, von einigen wenigen Schlauköpfen geschaffene und regierte literarische Tagesmeinung zu bilden, gegen die anzukämpfen auch das Genie eines Goethe, eines Dante, eines Shakespeare ohnmächtig wäre,  wenn diese Gewaltigen heute lebten und darauf angewiesen wären, ihre Kunst ohne Beihilfe oder gar gegen den Willen der heutigen Macher aller literarischen Berühmtheiten durchzusetzen.

Es ist kein Wunder, daß unter solchen Verhältnissen, wo ein kleiner Kreis literarischer Auguren entscheidet, was die große Mehrheit des Volkes als „einzig wahre“ Kunst hinzunehmen hat, was ihr gefallen, was sie lesen soll, die lebendige Anteilnahme der Nation am literarischen Leben immer mehr verflacht und sich immer mehr und mehr auf die tägliche Massenfütterung mit saft- und kraftloser Unterhaltungsliteratur beschränkt, die keinen anderen Nutzen hat, als daß sie die Zeit totschlagen hilft, dafür aber unberechenbaren Schaden stiftet. So wird es begreiflich, daß auch von der neuesten Revolution, die sich soeben auf dem Gebiete der Literatur vollzieht, die Wenigsten eine richtige, auf eigenes, unbeeinflußtes Urteil gegründete Vorstellung haben.

Daß es keine Übertreibung ist, von einer sich vollziehenden „Revolution“ in der Literatur zu sprechen, ähnlich derjenigen, die in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sich vollzog — nur noch einschneidender in ihren Folgen — bestätigt u. a. ein so gewissenhaft und ruhig urteilender Fachgelehrter wie Oskar Walzel. In der Zeitschrift „Deutscher Wille“ (früher „Kunstwart“) fällt er das schwerwiegende Urteil: „Mag die neue Kunst Expressionismus oder wie immer heißen, Tatsache ist, daß sich seit dem Beginn der naturalistischen Bewegung keine gleich entschiedene Umkehr eingestellt hat. Es fragt sich, ob nicht heute ein noch viel größerer Gegensatz von einst und jetzt waltet als um 1830…“ Er mißt dann die Größe dieses Gegensatzes an seiner notwendigen Folge, an der völligen Umwertung der Werte, die sich in unserer Literatur vollzieht und in der gänzlichen Verwerfung und Geringschätzung der literarischen Größen von gestern, namentlich des Hauptvertreters der Eindruckskunst. Gerhart Hauptmann, endlich in der Wiedergeburt fast gänzlich Vergessener, wie in der Entdeckung und Ausrufung ganz neuer Talente ihren naturgemäßen Eindruck findet.

Es ist beinahe unmöglich, in einem räumlich so beschränkten Rahmen, wie hier, den Wesensunterschied zwischen der Kunst von gestern und von heute, zwischen „Impressionismus“ und „Expressionismus“, zwischen Eindruckskunst und Ausdruckskunst — mit diesen Schlagworten wird der Gegensatz für die Wissenden gewöhnlich bezeichnet — allgemein verständlich darzulegen. Um aus dem, was mit ein paar Worten gesagt werden kann, die richtigen Schlüsse zu ziehen und die richtigen Begriff abzuleiten, muß man eben mit dem Gange der literarischen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten ziemlich vertraut sein; man muß davon nicht bloß das wissen, was die einzelnen „Richtungen“ und Parteien in ihren volltönenden Programmschriften verkündigten, was die Zeitungen gelegentlich über irgend eine literarische Teilerscheinung berichteten, man muß wenigstens eine Ahnung von den inneren Zusammenhängen und tieferen Gründen der Einzelerscheinungen haben, deren Vielheit und Gegensätzlichkeit unser literarisches Leben äußerlich als ein unentwirrbares Chaos erscheinen läßt.

Das Beste wird Wohl sein, sich nicht in spitzfindigen Untersuchungen des Wesens und des Gegensatzes beider Kunstrichtungen zu erschöpfen, sondern lieber die praktischen Forderungen reden zu lassen, die sich daraus ergeben und in ihrer völligen Gegensätzlichkeit am besten den Abstand beider Richtungen kennzeichnen.

Auch solchen, die sich um literarische Streitfragen bisher sehr wenig kümmerten, drängt sich gewiß eine Erinnerung auf: an den ausdauernd auf allen Linien mit größter Erbitterung geführten Kampf gegen die Zweck-, wie man mit einem höhnischen Unterton gewöhnlich sagte: „Tendenzkunst“. Die Lehre, daß die Kunst sich Selbstzweck sei und keinen außer ihr liegenden Zweck, keine „Tendenz“ haben dürfte, das Grunddogma der modernen Ästhetik; und mit einer solchen Sicherheit, mit einem so außergewöhnlichen Aufwande von Stimmitteln wurde diese Lehre als eins selbstverständliche, mit Anrecht auf immerwährende Geltung auftretende Forderung, ja als der Angelpunkt einer geläuterten Kunstlehre hingestellt, daß der suggestiven Wirkung dieses Behauptens auch ein Großteil der katholischen Intelligenz erlag und der Kampf gegen die Tendenz ebenfalls auf seine Fahne schrieb. Man muß freilich zugeben, daß bei der außerordentlichen Vieldeutigkeit und Dehnbarkeit des Wortes über das Wesen und den Begriff der „Tendenz“ zwischen den katholischen und nichtkathoIischen Wortführern in diesem Kampfe erhebliche Unterschiede festzustellen waren — aber es war doch unzweifelhaft ein Eindringen von ursprünglich fremden, auf einem ganz anderen Boden erwachsenen Ideen in den Bereich des katholischen Geisteslebens. Gewiß, auch die katholische Kunstlehre kennt den Begriff einer wirklich kunstfeindlichen, unter allen Umständen zu bekämpfenden Tendenz; aber die Ursache der aus diesen Kämpfen sich ergebenden Schwierigkeiten und Mißverständnisse dürfte darin zu suchen sein, daß einerseits die katholischen Wortführer nicht immer ganz unmißverständlich den Begriff der tatsächlich kunstfeindlichen, deshalb zu bekämpfenden Tendenz klarlegten, während anderseits, auf nichtkatholischer Seite, der Kampf gegen die Tendenz in seiner tatsächlichen praktischen Auswirkung immer ausschließlicher zu einem Kampfe gegen die gesunde, ethisch und religiös aufbauende, also gegen die positivchristliche und namentlich die katholische Literatur sich auswuchs. Tatsache ist es, daß auch während der Zeit des größten Tendenzgeschreis auf der anderen Seite eine ausgesprochene antichristliche, antikatholische Tendenzliteratur nicht nur blühte, sondern auch von den größten Schreiern gegen die Tendenz gehegt und gepflegt wurde und daß es niemandem einfiel, ihren Vertretern den durch laute Reklame billig erworbenen Künstlerruhm zu schmälern oder streitig zu machen.

Die neue, im Werden begriffene Kunst, der „Expressionismus“, hat nun mit dem Glauben an das allein seligmachende Dogma, daß ein Kunstwerk keinen andern als den in sich selbst ruhenden Zweck verfolgen dürfe, gründlich aufgeräumt. Einer der Wortführer der neuen Richtung, Hans Natonek, erklärt klipp und klar in der Frankfurter Zeitung:

 „In der Literatur und Kunst äußert sich die neue Zeitströmung in der Überwindung jener Anschauung, die das Kunstwerk als Selbstzweck wertet. Kunst ist mehr als ein Spiel ästhetischer Gesetze, mehr als ein schönes, unterhaltendes Kaleidoskop der Formen. Auch die Kunst soll etwas wollen. Die Nachahmung der Wirklichkeit (Naturalismus) und die psychologisch feine Wiedergabe von Eindrücken (Impressionismus) blieben ohne gestaltende Wirkung auf das Leben. Die Kunst unserer Zeit hat, wie nie zuvor, ethische Ziele. Der Schaffende, ein paradiesisches Menschheitsglück vor Augen, leidet unendlich an der Verirrung der Welt; er weiß tiefinnerst um das Übel; aus diesem Wissen bricht ohne Hemmung der Schrei der Seele. Dies etwa ist ungefähr das Wesen des vielgenannten Expressionismus.“

Und diese jungen Dichter — das muß man ihnen lassen — packen mit anerkennenswertem Mute den Stier gleich bei den Hörnern an — sie stürzen sich über Hals und Kopf in den Strom der Tagespolitik, wo er am wildesten tobt — sie wollen die Welt „durch den Geist“ umgestalten und zu diesem Zwecke bedienen sie sich, wie Theodor Seidenfaden im Gral ausführt, der Dichtkunst, „um politisch zu wirken, um den Menschen zur Tat fortzureißen, ihn gegen sich selbst aufzuwiegeln“.

Ja, man geht so weit zu behaupten: Die Tendenz, die Durchdringung des Kunstwertes mit entschiedenstem Zweckbewußtsein, seine gewollte Einstellung auf ethische, religiöse, politische Wirkung ist nicht nur erlaubt, sie ist sogar notwendig und die Kunst, die davon absieht, ist keine wahre Kunst, ist überhaupt keine Kunst, sondern leere Spielerei ohne Lebenszweck und ohne wirklichen Wert.

Um diese völlige Umkehr der bislang als unantastbar geltenden Kunstbegriffe zu verstehen, muß man wissen, daß die neue Kunst von ihren Aposteln und Jüngern als der schroffste Gegensatz zu der bisher alleinherrschenden Kunst des Materialismus, der nur durch die Sinne wirkenden Eindruckskunst, aufgefaßt wird. Also eine Kunst des „Psychismus“. — „Die Kunst schreit nach dem Geiste“, sagt einer ihrer Vertreter, das ist der Expressionismus.“ Und weiter: „Der Expressionismus will (im Gegensatz zum Impressionismus) nicht mehr das vorüberhuschend Sinnliche, sondern das Ewige, das Wahre, das Geistige erfassen.“ Also keine bloße Formkunst, sondern Inhaltskunst; keine müde, versonnene, blasierte Ästhetenkunst, sondern tatkräftige, „aktivistische“, stark ins Leben eingreifende Kunst der Starken, der Wirkenden: der Ethiker, Politiker und Religionsstifter. Nicht Kunst der Dekadenz, sondern — wenigstens dem Wollen nach — Kunst des Aufstieges, der Erhebung.

 Da werden nun manche Leser sagen: das klingt ja ganz schön, ganz ähnliche Worte und Anschauungen haben wir ja des öfteren von katholischer Seite gehört, namentlich von jenen, die sich mit dem materialistischen, dekadenten, hauptsächlich sinnlichen Genuß suchenden und fördernden Zuge im Kunstleben der letzten Jahrzehnte nie so recht befreunden wollte. Das ist unzweifelhaft richtig. Namentlich Kralik und feine Freunde haben immer mit größter Entschiedenheit behauptet, daß die Kunst etwas zu wollen habe, daß sie nicht bloß ästhetisches Gefallen, sondern darüber hinaus ethische, religiöse, bis zu einem gewissen Grade auch politische Ziele anzustreben habe; daß wahre Kunst nicht bloße Formspielerei, sondern Inhaltskunst sein müsse, daß sie nicht bloß der Erde, dem Diesseits, sondern ewigen Ideen, letzten Endes der Verherrlichung Gottes und der göttlichen Weltordnung zu dienen habe, also nicht im Materialismus versinken, sondern Innen-, Seelen-, Ewigkeitskunst sein müsse.

Nun stehen wir aber am entscheidenden Wendepunkt. Der Geist, nach dem die neue Kunst schreit, von dem sie sich erfüllen lassen, dem sie dienen, den sie in ihren Schöpfungen Ausdruck verleihen will — es ist nicht der Geist Gottes, der ordnend und gestaltend über dem Chaos schwebt, sondern der Geist seines Widersachers, der Geist, der stets verneint.

Davon spreche ich in einem später folgenden Aufsatze.

In: Reichspost, 7.8.1918, S. 1-2.

Hugo Bettauer: Wie man einen Roman schreibt (1923)

             Es gibt Anleitungen zur Herstellung von Schuhen im Hause, es gibt Kochbücher und Broschüren „Wie schreibt man einen Film?“ Aber, es gibt noch immer keinen praktischen Wegweiser zur Erzeugung von Romanen. Und gerade das scheint einem dringenden Bedürfnis zu entsprechen, wenigstens wird jeder, der Romane schreibt, mehrmals täglich von seinen Bekannten gefragt, wie man das eigentlich macht. Ganz Kluge fragen, ob man das alles selbst erlebt habe, andere halten alles kurzweg für Schwindel, manche blinzeln mit den Augen und meinen: „Aha, da hat Ihnen jemand den Stoff gegeben?“ Man wird gefragt, wie lange man die Idee zu einem Roman mit sich herumtrage, wie viel Stunden täglich man schreibt und ein Mann mit einem blonden Vollbart sagte: „Nicht wahr, ein Roman kann man nur schreiben, wenn man täglich ein paar Stunden im Freien umherläuft?“ „Nein“, erwiderte ich, „dann kann man überhaupt nicht schreiben, weil man den Rest des Tages zum Essen verwenden müßte.“

             Aber wie schreibt man wirklich einen Roman? Ich kann die hundertzehn Rezepte hier nicht veröffentlichen, aber immerhin stelle ich eine kleine Auswahl zur Verfügung. Zuerst muß man sich entschließen, ob man einen historischen, humoristischen, phantastischen, einen aktuellen oder gar einen Konjunkturroman schreiben will. Vor historischen und humoristischen sei gewarnt, Sie sind langweilig und außerdem stellt sich nachher gewöhnlich heraus, daß sie schon ein anderer vorher geschrieben hat. Für den aktuellen gehört eine tüchtige Stenotypistin, weil er rasch fertig sein muß, der Konjunkturroman kann ein gutes Geschäft sein. Je nachdem, läßt man eine deutsche Frau im besetzten Gebiet von schwarzen Unholden ermorden oder man tritt gegen den Mutterschaftszwang ein, für die gleichgeschlechtliche Liebe, für oder gegen die Republik. Man muß eine gute Witterung haben, um immer zu erraten, was die Leute wünschen. Den Familienroman kann man momentan nicht schreiben, weil auf ihn die Courths-Mahler ein deutsches Reichspatent genommen hat. Hingegen findet der erotische Roman noch immer seine Abnehmer, vorausgesetzt, daß in ihm die Erotik sanft verteilt ist. Im erotischen Roman muß unbedingt eine Verführung, eine Vergewaltigung, ein dämonisches Weib, ein perverser Lüftling, eine Berliner Bar und eine ausgesprochene Kokotte vorkommen. Hauptsache sind viele – – – -, gerade dann, wenn etwas passieren soll, weil das die Phantasie der braven Hausfrauen und jungen Mädchen, die die Hauptkonsumentinnen erotischer Romane sind, am angenehmsten anregt.

             Flau ist das Geschäft für den phantastischen Roman. Er hat mit dem Golem seinen Höhepunkt erreicht, konnte dann noch einige Jahre den Büchermarkt belästigen und interessiert heute keine Katz mehr. Für den, der es doch versuchen will, sei hier eine kleine Anleitung gegeben: Man versetze in die reale, dreidimensionale Welt irgend etwas vollständig Unmögliches. So zum Beispiel läßt man jemanden eine Glaskugel bekommen, die ihm die Ereignisse des nächsten Jahres verrät oder einen Regenschirm, der alle Wünsche erfüllt oder eine Tante, die Funken sprüht, wenn man sie kitzelt. Und der Held des Romanes, der die Glaskugel, den Regenschirm oder die Tante besitzt, bekommt dadurch eine ungeheure Macht, viele Millionen (Friedenswährung), alle Frauen, die ihm gefallen, bis ihm – warum erfährt der Leser nicht genau – mies wird und er sich umbringt. Es gibt aber da tausende Varianten, auch ganz moderne, zum Beispiel könnte ich mir eine Schreibmaschine vorstellen, die immer das Gegenteil von dem schreibt, was man will oder einen Gänsekiel mit magischen Ausstrahlungen oder einen Hühneraugenring, der, wenn man ihn auf der kleinen Zehe dreht, einen unsichtbar macht.

             Nun gibt es noch eine große Schwierigkeit zu überwinden. Wie werde ich breit? Was nützt einem der schönste Stoff, wenn aus ihm ein Feuilleton oder höchstens eine Novellette wird? Bücher sind heutzutage sehr teuer, der Käufer will für sein Geld etwas haben, 280 oder 300 Seiten sind das, was der Verleger von einem tüchtigen Romanschreiber verlangt. Es gibt da nun unter den Schriftstellern geradezu geniale Maßschreiber, die aus einem so kleinen Stoff einen so langen Roman herstellen können. Routiniers der epischen Breite. Ich kenne einen, der hervorragendes aus diesem Gebiete leistet. Aus einem Seufzer macht er eine ganze Seite, der kleinste Fehltritt wird zum Druckbogen. Hier ein Beispiel, aus dem man lernen kann:

             Man kann sagen: Adolf hatte mit Emmi um fünf Uhr Rendezvous. Da es erst vier Uhr war, ging er noch ins Kaffeehaus und schlug die Zeit mit der Lektüre der Hebammenzeitung tot.

             Der breite Epiker aber macht das so: „Adolf blieb stehen, knöpfte seinen Winterrock auf und zog seine Glashütte-Uhr, ein Geschenk seines Taufpaten. Die Zeiger wiesen auf vier. Also noch eine ganze Stunde. Volle sechzig Minuten mußte er warten, bevor er Emmi umarmen konnte. Was tun? Wie ekel ist doch das Leben, sagt sich Adolf und schlenderte langsam durch die Stadt, bis er zum Café Herrenhof kam. Zögernd überlegte er. Nur langsam entschloß er sich, das mit Menschen und Gerüchen erfüllte Lokal zu betreten. Er zwängte sich in die Drehtüre hinein, die ihm wie das Symbol der menschlichen Tretmühle erschien und stand unschlüssig inmitten des Stimmengewirres und Lichtermeeres. Adolf wählte einen kleinen Tisch in einer Ecke und klopfte nervös mit dem Siegelring, einem Geschenk seines verstorbenen Großonkels, der in Brünn einen Tuchhandel betrieben, auf die Marmorplatte. Einmal, zweimal, dreimal. Endlich kam der Kellner.“

             Weitere 2 Seiten vergehen mit der Schilderung der Bestellung, des Ankaufs einer Semmel für 520 Kronen (früher hat man einmal dafür zehn Ziegen und Shakespeare in Leder bekommen), endlich ist es beinahe fünf Uhr geworden und Adolf geht. Dies wird so geschildert:

             „Nervös erhob sich Adolf und griff nach seinem Hut. Bevor er ihn aufsetzte fuhr er mechanisch mit der Hand über den Filz, wobei er Emmis Bild vor sich sah. Dann nahm er den Winterrock vom Haken, schlüpfte behend in ihn hinein, zog die Handschuhe aus Antilopenleder an und verließ voll fröhlicher Erwartung das Kaffeehaus.“

             Macht man das so, so bekommt man unbedingt einen vollen, ganze Roman zusammen, einen Roman von 280 oder 300 Seiten, einen Roman, den man einen großen nennen kann.

             Lieber Leser, setz dich an den Schreibtisch, tue desgleichen, schreib einen Roman, aber schick ihn um Himmels Willen nicht etwa mir zur Beurteilung ein.

In: Der Morgen, 1.1.1923, S. 5.

Kurt Münzer: Diktatur der Jugend

Die folgenden Ausführungen Kurt Münzers stehen sicherlich nicht in Widerspruch mit den Bestrebungen, die eine stärkere Heranziehung und Förderung des wirklichen jungen Talents beinhalten.

Altern – einmal fast die Sehnsucht der Verständigen, selbst der Stürmischen – altern, also ernten, überblicken, resümieren: heut ist es Gespenst geworden. Die Frauen, einst ihren weißen Haaren, grauseidenen Roben, Enkeln und Lehnstuhl am Fenster glücklich entgegenalternd, kürzen heut mit jedem Jahrzehnt ihren Rock, halten entschwindende Wangenröte übertrieben fest, tragen die Haare à la Bubi, ziehen an, was den Töchtern zu jugendlich ist, flirten mit Fünfzig in Hotelhallen, auf Schiffdecks und Aussichtsterrassen. Sie lernen Black-Bottom und machen aus dem Schwiegersohn einen flotten jungen Herrn.

Künstler, einmal ihrer Reife froh, gesättigte Alterswerke gelassen vollendend, ihre Dichtung logisch zur höchsten Stufe der Entwicklung führend, ihre Bilder klassisch die Anfänge ihrer Jugend verklären lassend: heut fürchten sie, überwunden zu sein, altmodisch, abgeschmackt, von gestern. Sie lernen um, wo sie einst Lehrer ihrer Errungenschaften wurden. In den Jahren der Meisterschaft werden sie wieder Lehrlinge, sie bemühen sich um den neuen Stil, um die Mode des Jahrhunderts oder Jahrzehnts oder des Jahres, sie verleugnen ihre Götter und tanzen, dennoch altersschwach, um die Götzen des Tages, sie brechen mit sich selbst, brechen sich selbst die Treue, werfen sich in das Gewühl der Jugend, den Kampf der Werdenden, die Ekstasen der Dilettanten.

Man schämt sich, alt zu werden. Man fürchtet, erkannt zu werden als Generation von damals, als Traditioneller, als stetig sich Vollendender. Man marschiert unter fremden, andersweltigen Fahnen: die Menge läuft ja mit. Zurückbleiben? Warten, bis die Einsichtigen um uns wiederkehren? Was glauben sie, zu versäumen? Die Zeit… Ach, die Zeit! Ist das Werk nicht wichtiger? Und haben wir es nicht erlebt? Sie kehren um und wieder! Einmal geht die Sonne über den herrlichsten künstlichsten Lichtern auf, einmal verfault die Erfindung doch in der Glut organisch gewachsenen Seins. Alles zerstiebt, alle zerstreuen sich. Das Große, das Gewordene bleibt und zieht an.

Und dennoch: Wir laufen ihr nach! Ach, wie verirrt müssen wir sein, daß wir von der Jugend uns führen lassen! Und da es Jugend ist, ist es nur Verführung, übermütige Irreführung der Gutgläubigen, der Ratlosen. Niemand leugnet ihre historische Notwendigkeit, ihren schöpferischen Stachel, ihre revoltierende Aufrüttelung. Wir brauchen der Jugend alles enthaltendes Chaos, ihre stürmische Kritik, ihre anarchistischen Widerstände. Aber was nur ein Element der Zeit sein darf, ein Teil des Schöpfungsstoffes, macht sich zurzeit selbst zum allein gültigen schöpferischen Prinzip; und die alten Dichter und Weisen stehen frierend im Winkel.

Herrlich, Freunde, ist die Jugend, ihre Grausamkeit bezaubernd, ihr Übermut göttlich, sie ist zu lieben auch in ihrer Ausschweifung, anzubeten auch in ihren Stürzen Aber – darf sie uns Führer, Tyrann, Gott selbst sein? Bezaubernd sind ihre Unternehmungen, mögen sie sich in Kunstsalons, Theatern, auf Wiesen, Wanderungen, Festen abspielen. Bezaubernd fast noch ist selbst ihre Art, das Alte zu entthronen, ihre Frechheit, mit dem Ewigen abzurechnen, ihre Unbedenklichkeit, sich zu inszenieren, sich zu proklamieren, ihren Imperialismus unbeschränkt zu bekennen. Und haben sie nicht recht? Der Diktator, der sich durchsetzt, die zu dem sie schwören, ist im Recht. Hat er es auch nicht: die Menge gibt es ihm.

Seht euch um: Welcher Theaterdirektor wagt es, ein Programm ohne Zwanzigjährige zu gestalten? Welcher Verleger fürchtet nicht, ausgeschaltet zu werden, wenn er nicht stammelnde Unreife eines Abiturienten in Pappe, Leinen und nummeriertem Leder bringt? In Symphoniekonzerten, die sich zu Bruckner entschließen können, winseln atonale Halluzinationen von Lehrlingen und an den Wänden der Ausstellungen hängen gegenüber von Munch, Degas und Liebermann Kinderzeichnungen. Jugend wird zum Meister erhoben, Stilübung zum Werk; täppisches Lallen ist die neue, die vollendete Sprache, ungehemmte Klänge die neue Musik.

Ihr habt die Jugend verwöhnt, wie ihr einen Meister verwöhnt habt. Nun ist sie abscheulich verzogen. Sie krittelt bis zur Dummheit, sie verwirft alles, was nicht von ihr kommt. Sie vergißt, daß sie auch im Wachsen ist, und macht – mit eurer begeisterten Zustimmung – die Flegeljahre zum Ziel der Entwicklung.

Durchgangstadien, die man früher scham- und rücksichtslos verschwieg, produzieren heut die Kunst des Tages. Alles ist verkehrt, auch das Schamgefühl. Einst redete man nicht von der Pubertät, man wartete das Ergebnis ihrer Krisen ab. Heut sind die Krisen in Büchern festgehalten, in Bildern gemalt, in Dramen ausgeführt. Die Qual, die Unappetitlichkeit, die Zwitterhaftigkeit und Peinlichkeit des Werdens ist künstlerisches Objekt, das Gereifte, Harmonische, Geklärte ist veraltet, lächerlich und fluchwürdig. Nicht mehr das Geborne, sondern die Geburt ist Sinn und Ziel, die Schwangerschaft wertvoller als die reife Frucht.

Ja, ich weiß wohl: Jugend ist das beste und einzige Mittel gegen die Verkalkung des Weltgeistes, der Herzarterien der Menschlichkeit. Aber sie ist nur ein Mittel. Jetzt läßt man es um seiner selbstwillen gelten und schlürft es wie himmlischen Trank.

Alte Weiber zeugen die besten Söhne. War Jugend jemals, kann Jugend in großem Sinne schöpferisch sein? Die Werke unserer Klassiker, die sie mit zwanzig schufen… Ach, ihr Lieben, das ist ja wohl das Merkmal des Genius, daß er schon in der Jugend die wunderbare Reife hat, daß schon die Jugendarbeit die Fügung der Altersweisheit und höchsten Kunsteinsicht hat, während die zwanzig Jahre dem vollendeten Ganzen nur den Flaum, den Duft geben.

Wo haben wir heute das Werk eines Jungen, das die Jünglinge von 1930 noch lesen werden? Ist nicht, was vor fünf Jahren den harmlosen Mitmenschen auf den Kopf stellte, heut schon vergessen, begraben? Über dem Brio eines Werkchens übersehen wir die Leere des Gehaltes. Im Tempo vergessen wir, daß das Thema ein Nichts ist. Das, was an einem Jugendwerk positive Leistung ist, ist immer über Jugend hinaus Gereiftes, ist Altersanwandlung, Vorglanz späterer Meisterschaft.

Sieht die Jugend die Welt nicht falsch an? Ausschließlich vom Standpunkt ihrer saftigen Beine, mit dem Kraftgefühl ihrer trainierten Arme, mit dem Lustgefühl ihrer erlaubten Sinneskräfte? Der Boxer ist Heros und der Ingenieur Weltüberwinder. Der Kanalschwimmer wird von Königen und Präsidenten begrüßt. Der Chauffeur bekommt Banketts und der Läufer Denkmäler. Und der Geist?… Motoren und Maschinen zermalmen ihn schnell. Die Tänzerin schreibt ihre Memoiren und der Filmstar bekommt seine Literatur, denn er kann nicht selber schreiben und zufällig hat er nicht, wie die Tänzerin, einen Dichter, der ihn liebt und ihm das Manuskript liefert. Alles dreht sich. Zurzeit stehen wir auf dem Kopf.

Sie hassen die Jugend. Glauben Sie mir: die meisten hassen sie. Sie sehen ein: auf die Dauer können sie doch nicht mit ihr mithalten. Man verleugnet sich; aber so was kann nicht Dauerzustand werden. Es kommt das Capua der Mitläufer. Oder: wird die Jugend noch früher innehalten, sich bewußt werden, einsichtig werden sich auf ihre Sonderrechte beschränken und höflich Platz machen vor grauen Haaren und wankendem Gebein? Wird sie?

Warum – o, warum, warum schämt man sich, alt zu sein? Innerlich ihr abgewandt – ach, wie unehrlich ist der öffentliche Mensch! – bekennt man sich zur Jugend um selbst noch zu ihr zu gehören. Man will sich nicht „alt“ schelten lassen. O, daß es ein Schimpf geworden ist, fünfzig zu sein! Ich – ich gebe für ein Buch Wassermanns die ganze Bibliothek unserer Zwanzigjährigen her und für ein Finale Bruckners, ein Scherzo Mahlers die ganze erdachte Musik unserer Komponistensäuglinge.

Nichts ist beglückender – und gerade für das Alter – als Jugend zu erleben, ihren Überschwang, ihren Übermut, ihre anfeuernde Torheit und Begeisterung, aber nicht ihre unverständige Tyrannis. Unser Schoßkind macht sich zu unserem Diktator. Und wir werden erliegen, wenn wir es nicht bald wieder in unseren Schoß niederzwingen. Holen wir die versteckte Rute hervor. Schämen wir uns nicht. Weisheit, geläuterter Wille, erprobtes Können, der größere Horizont, weitere Einsicht und also gereinigte Schöpferkraft ist nur bei den Älteren. Denn die haben das ewige Leben, die Jugend aber nur das unaufhörliche Erlebnis.

In: Neue Freie Presse, 15.5.1927, S. 31.

Max Brod: Die Generation des Krieges (1928)

1918, 1928 – wir befinden uns in Erinnerungsluft, die durch das Dezimalsystem bestimmt wird. Die Frage, welche Generation durch den Krieg am meisten gelitten hat, drängt sich inmitten verschiedenartiger Jubiläen und Reminiszenzen auf.

Das Schlimmste hat zweifellos die Reihe von Jahrgängen erlebt, die im Feuer gestanden ist. Viel beklagt wurde auch das Los derjenigen, die knapp nach dem Krieg zur jugendlichen Entfaltung kam – das heißt: nicht kam, denn das Nachkriegschaos betrog sie um das wahre Freudenlicht der Jugend, machte ihren Lebensanfang zu einem abnorm schweren, ja kaum zu gewinnenden Krieg.

Von diesen beiden Generationen wurde schon viel geschrieben und gesprochen. Das Schicksal der Nachkriegs-Jugendlichen stand eine Zeit lang im Vordergrund literarischer und pädagogischer Diskussion. Wenig beachtet wurde eine dritte, ältere Generation: die, welche bei Beginn des Krieges eben fertige Männer geworden waren, die ihr Weltbild und ihre bürgerliche Position eben in den Grundzügen festgelegt hatten – und dann kam der Krieg und warf alles um.

Es sind die Menschen, die heute vierzig Jahre alt oder etwas älter sind. Dem Buchstaben nach. Faktisch sind sie viel älter, steinalt. Sie sind schnell gealtert. Denn sie haben zu viel erlebt. Ihre Entwicklung wurde gewaltsam zerbrochen. Sie näherten sich gerade der Höhe des Menschenlebens, festigten ihre Anschauungen, rangen um Klarheit auf einem ganz bestimmten Weg. Auf einmal war der ganze Weg falsch. Ungeheuerliches geschah. Es mußte von vorn angefangen werden. Und zwar nicht in ganz jungen Jahren, in denen man gern täglich ganz von vorn anfängt. Sondern in einem späteren Zeitpunkt, in dem man nur noch mit Anstrengung, ganz ernsthaft, ganz aus der Tiefe her zu revidieren vermag.

Im geistigen Sinne hat der Krieg diese Generation am schwersten getroffen. Denn er hat sie in ihrer Vollreife getroffen. Man kann daher die Generation der heute Vierzig- bis Fünfzigjährigen im wahrsten Sinn die „Generation des Krieges“ nennen.

Daß sie selbst nicht allzu viel Aufhebens damit machen, nicht so laut schreien wie die Nachkriegs-Jugendlichen: das gerade ist das charakteristische Merkmal und führt schon mitten ins Krankheitsbild dieser Generation hinein. Sie fürchtet sich nämlich, alt zu erscheinen. Sie will krampfhaft jung bleiben. (Analogon: heutige Frauenmode.) Sie ist widerstandslos gegen alles Neue, macht glatt jede aktuelle Konvention mit. Nur möge man um Gottes willen nicht auf den Gedanken kommen, daß die Elastizität dieser Halb-Alten nachlasse und auch nur um eine Gran hinter dem zurückbleiben, was das sogenannte Tempo der Zeit fordert! Früher war man bockbeinig, starrsinnig. Der seltsame Bruch, den der Krieg in den Geistern der „Kriegsgeneration“ angerichtet hat, zeigt sich darin, daß sie bereitwillig jedes neue Diktat annehmen. Nie sind literarische, malerische Moden so schnell vorbeigerauscht wie jetzt. Dem Naturalismus folgte eine wilde Expressionismus-Woge. Man wollte die Dinge nicht mehr sehen, nur sich selbst, das eigene autonome Gefühl. Jemandem sagen, daß er mechanistisch denke, rational und analytisch vorgehe, war (man lese das etwa bei Rathenau nach) ärgste Beschimpfung. Mit einemmal wird die Betonung des freien unkonstrollierbaren „Ich“ von der Unterstreichung des „Es“ abgelöst. Das Individuelle und Irrationale gilt als erledigt. Kollektiv, mechanisch, rational, sachlich – vor wenigen Jahren Schimpfworte – sind jetzt Ausdrücke höchster Lobeskritik. Nicht daß der Geschmack, das Schlagwort wechselt (der wahre Strom der Dichtung zieht und zog ohnehin immer weit fern von solcher Schlagwortschlacht), – sondern daß der Wechsel so schnell, so kampflos vor sich geht, in so weichem, gegenseitigem Einvernehmen, das ist das Bemerkenswerteste – und ist die Schuld der „Generation des Krieges“, die feig und resigniert, im Innersten gebrochen kein Beharrungsvermögen aufbringt, die nach jedem Lüftchen auslugt, ausfühlt, um sich nur ja recht augenblicklich danach umzustellen. Fragte man diese Menschen aber auf Ehre und Gewissen, wo ihr eigentlicher Ernst liegt, – so fände man ihn nicht in diesen flüchtigen spielzeughaften Moden, sondern in einer eigenartigen Bewußtseinsspaltung. „So war es vor dem Kriege – so ist es jetzt“ – das sind die beiden Kategorien, mit denen sie denken. Wer heute zwanzig Jahre alt ist, ja selbst der Dreißigjährige hat kein Bild der scheinbar festgegründeten Ordnung, in der jene aufgewachsen sind, in der sie sich bis zu einer gewissen, schon durchaus profilierten Geisteshaltung entwickelt haben. Er hat diese Ordnung (und konnte sie mit gutem Grund) vergessen. Aber der Mann von vierzig Jahren – er, das eigentliche Kriegsopfer im geistigen Sinne – überall Vergleichsmöglichkeiten haben, jedes Ding in zwei aufschlitzen, in den Zustand „vor dem Krieg“ und „nachher“ – es gehört schon unendlich viel Nervenkraft und Charakterstärke dazu, um nicht in allgemeine Skepsis, in den müden Glauben an die Relativität aller Dinge unterzutauchen. Die besten dieser Generation haben in dieser Gefahr, die sie genau sehen, eine besondere Wachheit erlangt, an der sie einander gegenseitig erkennen. Außerhalb dieses strengen Geheimbundes plätschern die Karrieristen, die Immer-Zeitgemäßen, die auf jung und aktuell geschminkten Kriegsinvaliden des Geistes, die jede neue geistige Bewegung im Moment mitmachen, weil ihnen im tiefsten Grunde durch die eine große Bewegung, die sie wirklich mitmachen müßten, durch den Kriegsbruch ihrer Erfahrung alle anderen noch zu machenden Erfahrungen lächerlich unwichtig und gleichgültig geworden sind.

In: Prager Tagblatt, 8.7.1928, S. 5.

{glossary-ignore]Robert Neumann[/glossary-ignore]: Tollwut an der Börse. (Auszug aus: Sintflut)

Die Riesenkrache an der New-Yorker und der Londoner Börse erinnern an eine Börsenszene aus Robert Neumanns erstem Werk, dem Inflationsroman „Sintflut“. Diese Szene, die ein packendes Bild des verrückten Börsenfiebers gibt, bringen wir nachstehend mit Erlaubnis des Verlages J. Engelhorns Nachf. zum Abdruck.

             Ein Diener ging durch den Saal und schnarrte: „Bauch! Karl Bauch! Karl Bauch, Telephon! Herr Bauch! Bauch! Herr Bauch!“ Die Sensale sperrten ihre Bogen und Bücher ein und kamen in die Kulisse herüber, Schlußkurse ermitteln, kaufen, geben für eigene Rechnung. Niemand dachte daran, den Saal zu verlassen. Die Nachbörse tendierte weiter nach oben. Was Klein anlangt, so stand er neben mir mit schiefer Schulter und hängenden Armen, blaß, matt. Wir zogen uns nach der Exotenkulisse. Pollak stand dort noch immer mit fünf, sechs anderen und handelte Abel. Sie waren auf 480 zu 520. Klein gab tausend Stück zu 510. Namen weniger bekannter Papiere schwirrten da durcheinander; kein Tag verging, daß nicht ein paar neuen aufgetaucht wären. Ein magerer, ärmlicher Mensch mit Bartstoppeln sagte: „Schweizer Glas. Ich gebe Schweizer Glas mit 210. Mit 210. Ich geb‘ mit 210.“ Niemand beachtete ihn. Er sagte: „Ich geb‘ Schweizer Glas mit 200.“ Klein horchte auf. „Ein Schweizer Papier?“ fragte er nah meinem Ohre. Ich hatte den Namen nie gehört. Er sagte: „Kaufen Sie.“ Ich bekam sie zu 195, hundert Stück. Klein sagte laut: „Ich nehme Schweizer Glas mit 230!“ Aus einem Winkel kam Ware. „240!“ Der Unrasierte brachte noch 200 Stück. Klein schrie: „Schweizer Glas! Ich nehm‘ mit 250! Mit 250! Mit 280!“ Ein Fetter, Haarloser sagte: „Mit 320 ist bei mir Ware.“ „Wieviel?“ „Tausend Stück.“ Klein warf die Hand hoch, schrie: „Tausend Schweizer Glas an mich mit 320!“ Das Geschäft in Hochdorfern war eingeschlafen. Um uns standen zehn, fünfzehn Menschen. Einer schrillte: „Geld auf Schweizer Glas 330! 340!“ Bei 360 kam Ware, fünfhundert Stück von einem kleinen Bankier. Weitere zweitausend nahmen die Käufer auf, die uns nachspielten. Klein ward die Hand hoch, gellte: „400! 400! 400!“ Er bekam zweitausend Stück. Um uns standen dreißig Menschen und schrien. Man kaufte zu 450 und zu 480. Die gaben, waren Agenten, kleine Bankiers. Dann schob Fischer seinen breiten Bau in eine Bresche, der Kontermineur stand da, tat den Mund nicht auf. Klein schmiß die Hand hoch, gellte: „480!“ Neben mir sprachen zwei. Einer fragte: „Was ist Schweizer Glas?“ Der andere sagte: „Klein weiß, was er tut. Man kann mitgehen.“ Einer kaufte mit Gebrüll bis 530. Klein hob sein Gesicht zu mir, sagte blaß: „Man jagt den Kurs hoch. Drüben steht Fischer und wartet. Wir müssen stabilisieren. Lassen Sie kaufen.“ „Wieviel?“ Er warf mir einen schrägen Blick zu und sagte knapp: „Soviel Sie bekommen werden.“ Ich fing mir Fenichel bei den Alpinen, gab Auftrag. Er stieß ins Gelände vor, mit kraftlosen Ellenbogen, warf Finger hoch, kreischte greisenhaft: „540! 540! Geld 540!“ Klein brüllte sehr vernehmlich: „Ich geb!“ Fenichel stand verblüfft und übernahm hundert Stück. „540!“ rief er noch einmal. Klein brüllte: „Ich geb!“ Fenichel notierte unruhig, offenen Mundes, und warf mir einen hilflosen Blick zu. „Ich geb!“ rief Klein. Viele lachten, Einer sagte sehr vernehmlich: „Ein Schwindler!“ Klein stand fleckigen Gesichtes. Die Hausse war gebremst. Die zwanzig, die uns noch umstanden, fanden sich nicht zurecht und warteten. Einer legte kleinlaut noch einmal Geld. Klein brüllte: „Ich geb‘ mit 540! Mit 530! Mit 520!“ Man lachte. Einer sagte: „Mahlzeit, ich geh‘.“ Da tat Fischer drüben den Froschmund auf und quarrte: „Ich geb‘ mit 500, – Ich geb‘ mit 480. – Ich geb‘ mit 460!“ Klein hob sein Gesicht zu mir: „Er konterminiert. Wo stehen wir?“ Ich addierte. „Wir haben siebzehntausendzweihundert Stück gekauft.“ Klein, mit zuckendem Mund: „Dann muß ich den Kurs halten.“ Fischer trompete drüben: „Ich geb mit 400.“ Klein kreischte: „An mich!“ Man merkte auf.

             Nun wurde es ernst. Fischer gab zu tausend und tausend Stück. Klein nahm alles. Fischer gab zehntausend zu 380. Klein übernahm und legte Geld bei 410. Fischer gab zehntausend und bot zwanzigtausend zu 370. Klein übernahm. Dreißig, vierzig Leute umstanden uns, gaben leer ab, spielten Fischer nach bis 340, 330, 300. 295 kam neue Ware. Klein, heißer, weißen Gesichtes, die Krawatte aus der Weste gerissen, Schweiß auf der Stirn – Klein übernahm. Es half nichts. Der Kurs glitt auf 220, 200. Fischer trompete: „180!“ Klein keuchte mir ins Ohr: „Die Rechnung!“ Um Gottes willen – die Rechnung!“ Ich addierte dann leise: „Wir haben zweihundertvierundzwanzigtausendachthundert Stück Schweizer Glas gekauft. Durchschnittlich zu 385.“ Fischer trompete: „175! 170 ist bei mir Ware!“ Klein wankte leicht. Er lehnte sich an mich und flüsterte: „Zu Ende. Wir werden nicht zahlen können.“ Und laut// kreischend, losgelassen: „Ich kaufe! Ich kaufe zu 175! Zu 180!“

             Da kamen hinten zwei von den Telephonen, drei, vier. Einer rannte vorüber, schrie: „Der Londoner Schlußkurs! Die Krone 36.400!“ Einer rief, ein Fetter: „Von gestern auf heute die Hälfte!“ Vogel von Vogel junior zog die Brieftasche, nahm Geld in die Finger, schrie: „Dreck ist das! Dreck! Leeres Schreibpapier ist mehr wert!“ Einer lachte. „Leeres Klosettpapier!“ Groß von Bock in Budapest schrie: „Geld auf Rima!“ Er rannte. Einer mit einem Geierkopf schnarrte: „Man muß kaufen, was man bekommt.“ Da warf Samuel Klein beide Hände hoch und kreischte: „Ich nehm Schweizer Glas zu 200! Zu 250!“ Fischer blieb stumm. Einer schrie: „Ich kauf zu 280! 280! 280!“ Leute kamen herüber, drängten sich, Klein kreischte: „300 Geld!“ Man bekam keine Ware. Ein paar Schlüsse standen 320. Drüben tat Fischer das Froschmaul auf und sagte: „Ich seid alle verrückt.“ Einer kreischte ihm Unverständliches ins Gesicht. Ein Ziegenbart meckerte: „Er hat ihm nachgespielt.“ Man kaufte zu 350, 380. Einer drohte Fischer mit beiden Fäusten und schrillte: „Nicht ein Stück hat er! Er hat leer abgegeben!“ Fischer legte mit blassen Lippen 400 Geld. Man schrie, schmiß Hände hoch. Bei 520 wurde Fischer von seinem Schwiegersohn forgeführt. Der Ziegenbart kaufte noch bei 580. Hände flackerten. Eine Dogge bellte 600. Bei 610 gab Klein die ersten zehntausend Stück. Die Dogge brüllte 630. Klein gab. Der Geier hackte herüber und kaufte zwölftausend zu 610. Andere kreischten, Ibisse, Iltisse, Marder. Klein gab. Schweiß troff, ein Hemdkragen lag auf dem Boden, einer kletterte an einem anderen hoch und schrie. Der Geier krächzte 710, die Dogge geiferte 770. Klein gab. Eine Glocke bimmelte. Ein Diener schnarrte: „Bauch! Herr Bauch, Telephon!“ Einer stolperte mit Gebrüll. Einer faßte einen an der Schulter und spie ihm Ziffern, Ziffern, Ziffern aus dem aufgerissenen Mail um die Stirn. Eine Wasserleiche spreizte Finger und griff. Ich addierte. Wir hatten glattgestellt, mit wahnsinnigem Nutzen. Ich ergriff Klein am Arm und riß und schleppte ihn durch die Balgenden nach der Tür.

             Im Rauchsalon sank er um. Ich bettete ihn auf das Plüschsofa und gab ihm Schnaps. Der Reporter einer Börsenzeitung schoß herein und griff nach uns. „Was wissen Sie über Schweizer Glas?“ keuchte er. „Welche Informationen haben Sie über Schweizer Glas?“ keuchte er. „Es ist doch richtig,“ keuchte er, „daß das die Braxer Strickwarenfabrik Schweizer & Glas ist? Aber das Unternehmen steht doch, hör ich, vor dem Konkurs?“ Klein lachte schrill und lachte noch, als ich ihn ins Automobil hob.

In: Arbeiterwille, 1.12.1929, S. 7-8.

Fritz Feder [= Jura Soyfer]: Avantgardistisches Theater im Hagenbund.

GENERALPROBE. Der kleine Theatersaal ist kaum geheizt. Die Schauspieler sind übernächtigt und nervös. „das Technische“ klappt nicht. Ja, wenn ein regelrechter Inspizient vorhanden wäre und eine Schar von Bühnenarbeitern – wenn man Maschinerie und Personal eines großen Theaters zur Verfügung hätte – dann würde sich jetzt gerade in diesem „Technischen“ das ganze Genie des Regisseurs offenbaren. Hier aber muß er in mühseliger Selbstbeherrschung feststellen: es klappt nicht; muß sich von Minute zu Minute immer mehr überzeugen lassen, wie notdürftig sich in Wirklichkeit all die Gongschläge, Grammophon-Melodien, Beleuchtungseffekte ausnehmen, die er blitzenden Auges im Regiebuch vermerkt hat; muß jeden seiner Einfälle krampfhaft verteidigen gegen die ringsum aufsteigende Hysterie, die da fordert: Rette, was noch zu retten ist! Laß alles aus, bis auf den nackten Text! Seien wird froh, wenn wir das Stück überhaupt nur irgendwie abrollen lassen können, auf diesem armseligen Nudelbrett von einer Bühne!

Aber die Schauspieler, der Beleuchter, der Bühnenbildner gebärden sich mutloser, als sie in Wirklichkeit sind. Sie werden bis spät in die Nacht durchhalten. Sie werden am nächsten Tag zu einer weiteren noch generaleren Generalprobe antreten. Sie werden trotz Grippe und Müdigkeit, elektrisiert vom Lampenfieber, sich mit Einsatz aller Kräfte in die Premiere stürzen. So wird die Aufführung auf dem „Nudelbrett“ zustande kommen, wird die Durchschnittsleistung der großen Theater geistig bei weitem übertreffen und dies ohne andere Mittel als die Energie eines Dutzend theaterbesessener junger Menschen.

Das ist ein altes Lied: das Lied vom avantgardistischen Studio.

In dieser Woche war die Theatergruppe des Dr. Ernst Rohner an der Reihe, all die Geburtswehen einer solchen Premiere durchzumachen. Aufgeführt wurde „Die Unbekannte von Arnas“, das Werk eines jungen Franzosen namens Salacrou. Vornehmlich aus zwei Gründen ist diese Aufführung beachtenswert. Erstens ist das Stück selbst künstlerisch sehr interessant und stellenweise von genialen Einfällen getragen. Zweitens ist es dieser seiner hohen Qualität wegen äußerst instruktiv über die ganze künstlerische Richtung, der es angehört, und – was besonders wichtig ist – charakteristisch für die Situation aller avantgardistischen Theatergruppen in Wien.

Ein Mann in gutbürgerlichen Verhältnissen namens Ulysse erschießt sich, weil seine Frau ihn betrogen hat. Ehe er sich aber dem Jenseits zuwendet, hat der Tote noch hienieden ein Stück Weg zurückzulegen. Alle Erinnerungen seines Daseins erscheinen nämlich in der Wohnung und in ihrem Kreise muß er alles noch einmal durchmachen, was ihm seit der Kindheit an menschlichen Erschütterungen begegnet ist, kurz gesagt, er muß sein Leben repetieren. Dieses Nochmals-Erleben erfolgt nicht chronologisch, sondern als sehr bewegtes Durcheinander. (Als ein „Jahrmarkt“, wie der Kammerdiener Nicola es ausdrückt, der eigentlich gar kein Kammerdiener ist, sondern die Fäden des ganzen mystischen Geschehens in der Hand hält.) Das Längst-Vergangene vermischt sich mit dem Eben-Geschehenen und sogar mit der Gegenwart, das heißt, mit dem, was nach dem Tode Ulysse geschieht. In dieser sehr kompliziert verschlungenen Vielheit der Zeiten und in der vollständigen Einheit des Ortes – alle drei Akten spielen im selben Wohnraum – tritt also Ulysse seine Odysse[e] zum zweiten Male an.

Er begegnet den Frauen, die er geliebt hat, angefangen von seiner Mutter. Er stürzt in die Arme seines Jugendfreundes, des sechzehnjährigen Jugendfreundes, der keine Ahnung hat, daß er als Vierzigjähriger dem Ulysse die Frau stehlen wird. Er läßt sich gerührt von einem zwanzigjährigen Offizier in Kavallerie-Uniform segnen: dieser aus einem Bildrahmen Herabgestiegene ist Ulyssens Großvater, blutjung gefallen in der Schlacht von Gravelotte, der Held der Familie. Aber knapp vor seiner Abreise ins Feld hatte dieser prächtige Offizier des Geldes wegen eine alte Frau genommen, und wie alles andere, muß Ulysse jetzt auch den schmerzlichen Moment wiedererleben, da er von dieser Ehe erfährt und damit das Ideal seiner ersten Jugend zusammenbrechen sieht.

Daß er dieses ganze Leben schon einmal gelebt hat, nützt ihm nichts. Jede Illusion und jede Enttäuschung, jeder Schmerz und jede Beseligung ziehen ihn, der doch den Ausgang im voraus weiß, unvermeidlich wieder in ihren Bann. Es ist so, als lebte er all dies zum ersten Male. Nur am Schluß, als er vom Betrug seiner Frau erfährt, scheint es einen Augenblick lang, als dürfte er die Lehre aus dem repetierten Leben ziehen. Er komm nämlich zur Erkenntnis, daß die Frau des Selbstmordes nicht wert ist, daß er dieses Los ertragen muß wie die übrige Durchschnittlichkeit seines Lebens, daß er außerdem hienieden noch viel zu lernen und zu genießen hat. Kurz: er will sich nicht umbringen.

Aber da reicht ihm der Kammerdiener (grotesk und mysteriös wie eine Gestalt von E.T.A. Hoffmann) den Revolver und erklärt: Nichts zu machen! Der Schuß ist schon gefallen. Worauf Ulysse die Waffe nimmt und der Schuß fällt.

Hat er sich zufällig umgebracht? „Nein,“ meint der Autor Salacrou, „es gibt keinen Zufall!“ Und um dieses wichtigste Fazit seines Stückes zu unterstreichen, hat er es eben nach jenem unbekannten Mädchen von Arnas benannt, das dem Ulysse einst im Weltkrieg begegnete. Er hat sie zufällig in einer evakuierten Stadt an der West-Front kennengelernt und sogleich wieder verloren. Es ist ihm nicht gelungen, irgend etwas über sie zu erfahren – nicht einmal ihren Namen. Vielleicht, wenn der Zufall sich anders gewendet hätte, hätte er sie geliebt und geheiratet.

Vielleicht wäre sein Schicksal anders abgerollt, wenn er diese Unbekannte erkannt hätte. Aber sein vorgezeichnetes Erdenschicksal war es eben, sie nicht kennenzulernen. Erst im Jenseits wird sie ihm sagen, wer sie ist.

Das ist die möglichst einfache Wiedergabe des sehr schwierigen Stückes. Lange und ausführlich ließe sich noch an ihm herumdeuten. Lange und ausführlich ließe sich noch vom dramaturgischen und philosophischen Standpunkt pro und contra sprechen.

Aber es gibt anderes dazu zu sagen, das für uns alles wichtiger ist.

Armand Salacrou gehört, seinem Stück nach zu schließen, zu den französischen Surrealisten. In den ersten Jahren nach dem Weltkrieg haben breite Schichten des französischen Publikums und an ihrer Spitze eine Reihe prachtvoll begabter junger Schriftsteller gegen die bestehenden Kunstformen revoltiert. Eine Welt neuer Probleme war stürmisch zutage getreten. Die hergebrachten Formen schienen keine geeignete Ausdrucksmöglichkeit mehr zu bieten. In dieser Zeit haben die Surrealisten, kühn experimentierend, Neues zu schaffen versucht. Was ihnen gelang, war viel zu wenig. Nämlich – was Theater betrifft – nur die Befreiung von starren, formalen Gesetzen der Dramaturgie. In dieser Beziehung haben sie den Expressionismus fortgesetzt und vollendet. Aber weiter kamen sie nicht. Nach einer Etappe wirklichen Fortschrittes trat Stillstand ein: es wurde nur mehr um des Experimentes willen experimentiert, es wurde mit Formen gespielt, was man sagte, wurde sekundär gegenüber der Manier, wie man es sagte.

Um diese Zeit wendete sich einer der führenden Surrealisten, Aragon, von seiner eigenen Schule ab. Und er blieb nicht der einzige. Heute gibt es in Frankreich eine breite Bewegung von Schriftstellern, die sich in Lyrik, Epik und Drama der ewigen Quelle aller Kunst zugewandt haben: dem Volk, mit seinen tausendfältigen lebendigen Lebensproblemen.

Und eines, worüber Lyriker sowie Epiker untereinander noch diskutieren mögen, kann für Theatermenschen doch kaum mehr fraglich sein: nämlich daß in allen Zeiten der Geschichte das Theater nur dort, nur dann groß und fruchtbar war, wo seine Leidenschaften die von Hunderttausenden waren.

Und von dieser Feststellung wollen wir nun zu den Wiener Theatern zurückgehen. (Zurückgehen – in jeder Beziehung.)

Die herrschende Wiener Theaterproduktion, welche sich derzeit merkwürdigerweise einer relativen wirtschaftlichen Konjunktur erfreut, steht geistig auf einem äußerst tiefen Niveau. Was die großen Unternehmungen anstreben, bewegt sich zwischen dem Amüsement und dessen etwas würdiger klingenden deutschen Übersetzung: Unterhaltung. Nur ein erschreckend geringer Prozentsatz der aufgeführten Stücke läßt sich in diese primitive Wertordnung nicht einreihen. Ein künftiger österreichischer Theaterhistoriker wird diese Epoche mit ein paar bedauernden Worten abfertigen müssen. Das weiß so ziemlich jeder, der mit dem Theater zutun hat. Die einen kümmern sich nicht darum – die anderen leiden darunter und wollen es seit Jahren besser machen. Sie waren vor Jahren eine einflußlose Minderzahl. Und das sind sie bis heute geblieben.

Warum? Hat es in diesem Lager an Talenten gefehlt? Gewiß nicht. Die großen Theater haben aus den kleinen Gruppen der Jungen die lohnendste Akquisition gemacht. Hat es am ehrlichen Willen gemangelt? Ohne die Lockungen zu unterschätzen, die von einer großen Gage ausgehen, läßt sich nüchtern sagen: nicht bei allen hat es am ehrlichen Willen gemangelt.

Liegt es also am Publikum? Will das Publikum um keinen Preis etwas anderes sehen als geschickt geschriebene, nichtssagende Stücke? Wenn es wahr ist – warum suchen sich die Studios kein anderes Publikum als das eine, an das sie sich seit soundsoviel Jahren vergeblich wenden? Und wenn es nicht wahr ist, warum ist und bleibt all die bewundenswerte Arbeit eine Sisyphusarbeit?

Über all diese Fragen müßten wir alle, denen es ums Theater zu tun ist, einmal nachdenken.

Gibt es zwischen dem Happyend eines Singspieltenors und dem doppelten Selbstmord eines avantgardistischen Ulysses wirklich keine Möglichkeit, die ein Experiment lohnen könnte?

In: Der Tag, 21.2.1937, S. 22.