Roda Roda: Der amerikanische Literaturmarkt
Immer wieder fordern meine
deutschen Freunde, ich sollte ihre Dichtungen hier an den Mann bringen: Den
Verleger, Theaterdirektor. Wie aussichtslos solche Versuche sind, ist meinen
Freunden schwer begreiflich zu machen. Amerika hat ein großes einheimisches
Schrifttum. Der Verleger ist von Talenten belagert. Aus Britannien, Frankreich,
Italien, Schweden, Rußland lockt der hohe Dollarstand Angebote herbei; aus
Böhmen, Ungarn. Bei den Proben der Vaudevilles, Revuen, Lustspiele sitzen
erfindungsreiche junge Leute im Parkett , um dem Theaterleiter auf dem Fleck
neue Einlagen aufzuschwatzen – Text und Musik – wenn eine Szene, eine Arie zu
mißfallen scheint. Denn nirgend sind Kunst und Kitsch industrialisiert wie
hier, nirgend der kommerzielle Betrieb der Bühne so riskant: Ein Erfolg macht
zum Millionär; ein Durchfall zum Bettler. Ein virtuoses Stück „läuft“ drei,
vier Jahre: in New York und – in zweiter, fünfter, neunzehnter Besetzung –
strahlenförmig bis Florida, Oregon und Texas. Bei uns kann ein Schwank, ein
Buch von Hamburg, Leipzig, München seinen Weg antreten. Hier startet man immer
in New York; Chicago wollte eine Zeitlang eigne Rennen machen und gab das
Beginnen nach einigen kostspieligen Versuchen reumütig auf. Der Verleger muß
viel Kapital in jedes einzelne Buch stecken. Herstellung, Anzeigen, Kritiken
sind teuer. Jawohl auch die Kritiken … Ein Verleger, der nicht Inseratseiten
kaufen kann, fängt besser gar nicht erst an zu edieren. Da überlegen denn
Direktor und Verleger zweimal, ob sie ein Stück, einen Roman lancieren sollten;
und stehen von dem Unternehmen ab, wenn der geringste Zweifel an der
Nutzbarkeit ihnen abrät. Ein deutsches Werk? Wird es verstanden werden? Es ist
vorweg durch Gedankenballast gehandikapt. Das amerikanische Werk ist sicherer
Sieger auf wohlvertrauter Bahn. Denn welche Qualitäten bringt der europäische
Wettbewerber mit? In unserer Literatur steht das Sexualproblem an erster
Stelle. Nicht so im amerikanischen Leben. Die Beziehung der Geschlechter ist
hier einerseits kameradschaftlicher als bei uns – kraft einer durch Schule,
Sport und Arbeit ausgebildeten Gemeinsamkeit – andererseits weist die Sitte
(vielleicht von der frauenlosen Kolonialzeit her) dem Weib einen Vorrang an,
das Gesetz stärkern Schutz. Mir scheint manchmal, als klinge in Amerika noch
von fern das europäische Mittelalter nach mit Kirchenstreit und Minnedienst.
Man lasse sich durch die New Yorker Halbnackttänze nicht täuschen (die hier,
wie man mir sagt, auch erst seit dem Krieg zu sehen sind): Amerika ist prüde;
eine ledige Mutter hat nicht auf Teilnahme zu rechnen; ein Don Juan nicht auf
jene heimliche Bewunderung, die wir ihm zollen; Ehebruch nicht auf schmunzelnde
Vergebung. In diesem Land einer schwächern Erotik und stärksten Hypokrisie
fehlt es also der größern Hälfte außer Literatur an den beim Publikum
vermuteten Voraussetzungen.
Das häusliche Leben ist von
unserm grundverschieden. Es spielt sich in engern Räumen ab und andern
Hemmungen, mit andern Bequemlichkeiten. Ebenso fremdartig für europäische Augen
sind die Einrichtungen der Öffentlichkeit, des Gemeinwesens, Universität, des
Studententums. Es gibt keine historische Stadt in Amerika: das älteste Gebäu
kann man im allgemeinen sagen, steht seit dreißig Jahren – die älteste Familie
hat noch europäische Großeltern. Ein Dorf, einen Bauernstand kennt Amerika
nicht. Fast jeder Wohlhabende ist hier Emporkömmling. Arbeit schändet nicht,
Aufstieg durch Arbeit macht nicht lächerlich. Wenn hier ein Sattler
Staatspräsident würde, rechnete man ihm die Schwielen seiner Hände wie Orden
an. Die paar Patrizierfamilien mögen hoch angesehen sein: im weiten Land zählt
ihr Einfluß kaum. Manche unsrer Schriftsteller haben amerikanische Gestalten zu
zeichnen versucht. Die Gestalten blieben im Konventionellen stehen, sind völlig
verzerrt, mißraten in den Umrissen. Auch die gesellschaftliche Erörterung also
in unsrer Literatur stößt hier auf Unverständnis. Nationale Fragen … Dieselben
Völker, die sich in Europa schlagen, vertragen sich auf dem Boden der Union –
vielleicht mit Ausnahme der Iren, die leidenschaftlich heimischen Chauvinismus
mitmachen. Europäische Streitereien sind dem Yankee Hekuba; wie dies Europa im
ganzen; es gilt nur – im Sommer – als beliebter, wohlfeiler, nicht
uninteressanter Ausflugsort, die Fahrt dahin für eine Sache, aus der man nicht
Wesens macht. Etwa wie der Dresdner sagt: „Ich gehe nach Schreiberhau.“ Die
kommunalen Angelegenheiten von Schreiberhau lassen ihn dabei völlig kalt. Die
Vereinigten Staaten sind ja selbst so groß wie Europa; die Entfernung von San
Frisco nach New York genau wie jene von Madrid nach Moskau; die europäischen
Fürstentümer und Republikchen sind herzlich lächerlich: es könnte ja Italien
Krieg mit Deutschland führen, Polen Krieg mit Ungarn, Rumänien mit der Türkei,
indem die beiden Gegner das Land dazwischen, ohne es zu betreten, überschießen…
Was aber bleibt unsrer Literatur, wenn man ihr die Liebe abstreicht, die
Familie, das Städtchen, das Dorf, den Bauern, Bürger, Adel, das Volk und die
Geschichte? Es bleibt ihr: Verstand und Seele; Philosophie, Psychologie, das
Wissen um den Menschen und die Welt. Es hört sich groß genug an…
Europäische Literatur – du lieber
Gott! Wenn der Zuschauer eines Dramas, der Leser eines Buches vor Langeweile
gähnt, doch voller Hochachtung für den tiefschürfenden Dichter: So ist er
überzeugt, ein Kunstwerk mitgenossen zu haben. Und hat der Dichter die Ergebnisse
exakter Forschung ungenau in Dialog und Reim gebracht, so liegt ein Kunstwerk
vor. Der Amerikaner lehnt eins wie das andre ab: Seelenkenntnis und
Weltweisheit; ihm fehlt es an Vorbildung und Wissen, sich zu vertiefen; er
denkt primitiver, niedriger. Er möchte im Theater, durch Lektüre gespannt sein.
Er pfeift auf Strindberg, das Armeleutestück, Wilhelm Raabes durch Tränen
lächelnder Humor. Der Amerikaner sucht kaustischen, drastischen Witz in handgreiflichen
Verwicklungen. Da habt ihrs. Wünscht auf den Brettern ein Dasein zu sehen, wie
er es gern haben möchte: ohne Sorg und Qualen – und am Schluss muß rührende
Lösung, Erlösung sein – allenfalls noch eine kindliche Symbolik mit Feen,
Sternenbanner und bengalischem Licht. Je schwerer der Alltag den Amerikaner
belastet: desto weiter will er im Kunstwerk der Wirklichkeit entrückt sein.
Psychische Notwendigkeit, eine Lehre vom Ausgleich, die auf eine Formel erst
noch zu bringen ist.
„Schön,“ erwidern meine
europäischen Kameraden, „wir beginnen einzusehen, warum neunundneunzig Werke
wiederkommen – von hundert, die wir über den Ozean schicken. Wir haben dem
Amerikaner wenig zu sagen. Doch dem Deutschen in der neuen Welt? Wie steht es
mit dem Deutschtum? Freunde, ich rede ungern davon – und nur, weil ihr mich
zwingt: Es gibt kein Deutschtum in Amerika, wie ihr euch es vorstellt: eine
organisierte Partei oder Masse. Es gibt da und dort hervorragende, sehr kluge
Männer mit deutschen Herzen; gibt sogar vereinzelt deutsche Städtchen. Doch im
allgemeinen hat der Krieg das Deutschtum erwürgt – wenn ich noch deutlicher
sprechen soll: geköpft. Beinah allenthalben sind grade die kulturell
wertvollsten, eingeschüchtert durch ungeheure, heftige Feindespropaganda, aus
den deutschen Reihen gewichen. Der Nachwuchs redet meist englisch, selbst die
Kinder rein deutscher Eltern. Zuzug aus der Heimat fehlt. Was in den
gelichteten Turn-, Schützen-, Gesangvereinen zurückblieb, sind (nach einem Wort
Eulenbergs) „Gustav Freytag“-Deutsche. Gute, treue, prächtige Menschen, die
unendliche Opfer für das hungernde Vaterland gebracht haben. Ihre Kunst- und
Weltanschauung steht oft auf dem Niveau des Einwanderungsjahrs, bis dahin hatte
sie Anschluss an die deutsche Bildung. New York, die Stadt mit angeblich
600.000 Deutschen, hat kein deutsches Schauspiel, könnte es auch nicht
erhalten. (Die deutsche Oper – mit Leo Blech – hat begeisterte Liebhaber
gefunden, ist aber wirtschaftlich verkracht.) Hingegen macht das russische
Kabarett „Chauve fouris“, direkter Nachkomme der Wiener „Fledermaus“, Enkelkind
also der „Elf Scharfrichter“, seit ungezählten Monaten volle Häuser, trotzdem
es die höchsten Eintrittspreise unter sämtlichen Vergnügungsstätten verlangt. –
Max Reinhardt wird im November herkommen, aber englisch spielen: (er bringt
wahrscheinlich Hugo von Hofmannsthal in Person mit.) – die deutschen Zeitungen
Amerikas sind zum Teil eingegangen; die am Leben blieben, haben bejahrte
Bezieher, die dem Blatt aus Gewohnheit anhangen.
Noch eins von der Praxis des
Literaturbetriebes! Da ist der mangelhafte urheberrechtlich Schutz deutscher
Dichtungen in Amerika. Der deutsche Autor ist nicht etwa (wie der Tischler oder
Schmied ohneweitres Eigentümer seins Werkes: sein Werk ist vielmehr Gemeingut,
wenn er es nicht (unter Beischluß eines Dollars) in Washington zum Copyright
anmeldet. Auch dann bleibt die Arbeit sein ein kurzes Jahr; und ist sie nicht
innerhalb dieses einen Jahres hier im Land gedruckt worden, erlischt der
Schutz.
So kommt das Copyright nur den
berühmten Opern- und Operettenkomponisten zugute. Denn kaum ein anderes Produkt
ist in Amerika so begehrt, daß es schon innerhalb eines Jahres vervielfältigt
würde – oder es lohnte (wie der Aufsatz einer Tageszeitung) das umständliche
Nachsuchen des Schutzes nicht.
Daß dieser unmögliche Zustand uns
Autoren nicht noch mehr beschäftigt, verdanken wir ganz allein der
Interesselosigkeit des amerikanischen Lesers an unsern Büchern. In der Tat
nämlich druckt man deutsche Bücher hier nicht nach. Geschah es gelegentlich, so
sind die Auflagen so gering geblieben, daß sie für uns nicht in Betracht kamen.
Der amerikanische Verlag ist ein großes Ding – Mister Editor ist auf seinen Ruf
bedacht und läßt sich unsaubre Machenschaften nicht nachsagen – umso weniger, als
ihm deutsche Bücher nichts einbrächten. Skandinavier aber und Russen sind hier
um den Ertrag ihrer Federn gebracht worden („Sfanin.“) – Immerhin hat man mir
in der „.Kibitzarnia“ (142. Division Street), dem Literatencafé New Yorks,
Leute vorgestellt, die „mit ihren Familien seit Jahren von mir leben“, indem
sie meine Anekdoten übersetzen und verkaufen. – Man erwägt übrigens im Weißen
Haus den Anschluß der Vereinigten Staaten an die Berner Konvention. Und dem
Mißbrauch der deutschen Zeitungsbeiträge durch amerikanische Blätter soll
einigermaßen ein privates Abkommen steuern, das man mit den Blättern eben
vorbereitet. Gesetzlicher Schutz wäre ohnehin illusorisch, weil das kleine
Objekt nicht lohnt, im einzelnen Fall den Apparat der Gerichte in Bewegung zu setzen.
– – – Alles in allem bedaure ich,
nicht zwanzig Jahre früher hergekommen zu sein, den Planeten Erde nicht schon
mit jungen Augen von der andern Seite gesehen zu haben. Und kann nur jedem
deutschen Dichter raten, das Experiment so bald wie möglich anzustellen. Hier
erst wird er gewahr werden des Sterblichen, Örtlichgebundenen, Engen in seiner
und der Zeitgenossen Begriffswelt.
In: Prager Tagblatt, 15.6.1923, S. 2-3.
Anm: in der Transkription wurde die Orthographie (einschließlich ihrer Besonderheiten) beibehalten.