Oberspielleiter Dr. Fritz Peter Buch: Ein Drama der Revolution. Zur Aufführung des Dramas „Brülle China!“ von Tretjakow im Neuen Wiener Schauspielhaus.

             Als ich im Sommer vorigen Jahres die Rohübersetzung von „Brülle, China!“ in die Hand bekam, war ich einigermaßen erstaunt über die scheinbare Dürftigkeit dieses Szenengerüstes, das kaum die Hälfte von dem normalen Umfang eines Theaterstückes betrug. Neun kleine Szenen, oft nicht länger als drei bis vier Seiten, in einer kargen, sehr knappen Sprache, ganz wenigen, nicht sehr aufschlußreichen Regieanweisungen, vielen Personen, von denen jede ganz wenig zu reden hatte. Ich las zwei-, dreimal und war doppelt erstaunt, als ich allmählich fühlte, was für ein Reichtum an Phantasie, an szenischer Vorstellungskraft in diesem skizzenhaften Gebilde steckte. Als ich daranging, das Regiebuch für die deutsche Uraufführung in Frankfurt herzustellen, wurde mir klar, daß hier nicht ein Dichtwerk geschaffen werden sollte, dessen Schwerpunkt in der formalen Vollendung liegt, sondern daß ein ergriffener Mensch einem Erlebnis seiner unmittelbarsten Gegenwart, das ihn tief erschüttert hatte, den einfachsten und stärksten dramatischen Ausdruck gab. Es lag also für den Regisseur, der dieses Szenarium für das Theater lebendig zu machen hatte, nahe, vor allem auf den Tatsachenbestand selbst, den das Stück zu gestalten versucht, zurückzugehen.

             Im Sommer 1925, als die fortschreitende nationale Erhebung Chinas zu einer Verschärfung des alten Konflikts zwischen China und den fremden imperialistischen Mächten führte, die sich aus Handelsinteressen im Laufe der letzten Jahrzehnte immer mehr in die innerchinesischen Verhältnisse eingemengte hatten, kam ein amerikanischer Kaufmann in Wanxian, das ist eine Stadt am Oberlauf des Jangtsekiang, bei einem Streite mit einem chinesischen Bootsführer ums Leben. Der Kapitän eines englischen Flußkanonenbootes erzwang, als man den angeblich Schuldigen nicht ermitteln konnte, unter dem Drucke seiner Geschütze gegen jedes Völkerrecht die Hinrichtung von zwei an dem Vorfall ganz unbeteiligten Schiffern. Die Empörung der Volksmassen wurde in diesem Falle mit Mühe zurückgehalten. Als aber ein Jahr später der Kapitän desselben Kanonenbootes wegen eines ähnlichen Zwischenfalls – er hatte zwei chinesische Dschunken gerammt und weigerte sich, Ersatz zu leisten – mit den Behörden der Stadt Wanxian abermals in Konflikt geriet, kam es zu Zusammenstößen der Schiffsmannschaft und einigen Kulis; im Verlauf dieser Zusammenstöße legte der englische Kapitän eigenmächtig die Stadt Wanxian durch die englischen Schiffsgeschütze in Trümmer, wobei nach englischen Meldungen dreitausend, nach amerikanischen sogar fünftausend an den Vorfällen unbeteiligte Chinesen ums Leben kamen. Tretjakow hat diese zeitlich auseinanderliegenden Ereignisse zusammengezogen und daraus ein Stück voll leidenschaftlicher Anklage gegen die Uebergriffe imperialistischer Kolonialmächte in wehrlos gemachten und wirtschaftlich unterworfenen Gebieten geformt. Dem Ursprung und der Absicht des Stückes entspricht es, daß die Handlung nicht von einer individualistischen Heldengestalt getragen wird, sondern von einer Gruppe chinesischer Kulitypen, hinter denen das ganze, seiner wirtschaftlichen Selbständigkeit beraubte chinesische Volk steht. Die Typisierung der Gestalten und des Konflikts erweitert den sozial-kritischen Horizont des Stückes; sein Schauplatz könnte auch Indien oder Südafrika sein, wo ja aus ähnlichen Ursachen stammende Reibungen auf der Tagesordnung sind. Der Dichter hat diese historischen Tatsachen nicht mit kalter Nüchternheit aufgezeichnet, sondern mit menschlicher Wärme durchglüht.

             Um auf der Bühne die unmittelbar lebendige Wirkung zu erzielen, die dem Dichter vorgeschwebt hat, muß auch die Inszenierung den Wirklichkeitsgehalt der dramatischen Fabel betonen. Ich bringe im Lichtbild eine Reihe von dokumentarischen Belegen, die die tatsachenmäßige Grundlage der Handlung dem Zuschauer nahebringen sollen. In der schauspielerischen und szenischen Gestaltung des Stückes wird versucht, einen sozusagen photographischen Realismus zu geben und die Grenzen des Sprechtheaters durch die Einbeziehung des Films und dem Film entlehnter mimischer Ausdrucksmittel zu erweitern. Auch die Verwendung einer Vorderbühne, die die Geschehnisse näher an das Publikum heranträgt, liegt in der Absicht des Dichters nach einer möglichst unmittelbaren und eindringlichen Wirkung. Aus diesem Bemühen um einen dokumentarischen szenischen Stil ergab sich bei der Frankfurter Aufführung die Beziehung eines chinesischen Assistenten, dessen Mitarbeit sich auch in der Wiener Inszenierung auswirkt.

In: Arbeiter-Zeitung, 26. April 1930, S. 9. Weitere Aufführungsdebatten finden Sie hier.

B.: Theater, Kunst und Musik. „Brülle, China!“. Schauspiel von S. Tretiakow

(Neues Wiener Schauspielhaus.).

             Ein reichlich großmauliger Titel. Aehnlich jenem Plakat eines Kleiderhauses, auf dem ein Mann den Mund sperrangelweit aufreißt. Und gleichwie die Worte, die dieser Mann hervorstößt, mit ihren ersten Buchstaben ganz klein zwischen seinen Lippen stehen und mit ihren letzten riesengroß draußen in der Luft schwimmen (eine höchst unlogische Vorstellung, weil ganz im Gegenteile die erstgesprochenen Buchstaben gewissermaßen schon groß draußen im Raume schweben müßten, während die letzten eben neugeboren dem Gehege der Zähne entspringen), so plakatiert auch das Schauspielhaus auf dem Theaterzettel und auf den Wandtafeln sein „Brülle, China!“ in schiefer, rapid anschwellender Schrift, mit einem winzigen B beginnend, mit einem großmächtigen A schließend. Höchst apart, in der Tat! Jetzt wissen wir, wie chinesisches Gebrüll graphisch darzustellen ist. Phonetisch macht uns die Regie des Herrn Fritz Peter Buch mit ihm bekannt: Es erweist sich als widerlicher, mißtönender, demagogischer Lärm.

             Dieses angebliche Schauspiel des Russen S. Tretiakow dürfte dem Programm jener revolutionären Machwerke angehören, mit denen Sowjetrußland die übrige Welt belästigt. Der Tretiakow mischt sich da frech in eine Sache hinein, die ihn einen großen Schmarren angeht, nämlich in einen chinesisch-englischen „Zwischenfall“, der Jahre zurückliegt und, wenn er sich überhaupt so zugetragen hat, wie er hier geschildert wird, längst abgetan ist. Damals nämlich soll der Kapitän eines englischen Kriegsschiffes zur Sühne dafür, daß ein Amerikaner im Streit mit einem Chinesen ertrank, von den Einwohnern der Stadt Wansien unmenschliche Sühne verlangt und, da der wirkliche Täter nicht aufzutreiben war, zwei Geisel aufgeknüpft haben. Solche Grausamkeiten, wo und wann immer sie sich ereignen mögen, kann niemand schärfer verurteilen, als wir Christen, für ihre Opfer kann niemand aufrichtigeres Mitleid empfinden, als wir. Mit welchem Rechte aber heuchelt der Vertreter einer Weltanschauung Entrüstung und Mitleid, die den Martertod ungezählter Christen in Rußland, in Mexiko auf dem Gewissen hat, die das Blutregiment eines Bela Kun, den Geiselmord der Münchner Räteregierung zu ihren Ruhmesblättern zählt, die allerorten Mord und Greuel zum Parteidogma erhoben hat? So unerfindlich es ist, mit welchem Rechte er dies tut, so durchsichtig ist es, zu welchem Zwecke: Aus dem Einzelvorfall, der freilich jedem fühlenden Menschen ans Herz greifen muß, formt er revolutionäre Haßpropaganda. Eine Art von „Haßgesang wider England“. Dabei kommt es ihm nicht darauf an, die ganze weiße Rasse maßlos zu beschimpfen und zu verunglimpfen: Sie alle, die da, von geschäfts- oder berufswegen nach China kommen, Amerikaner und Engländer, sind wahre Bestien, beuten die armen Chinesen aus, mästen sich an ihren Hunger, mißbrauchen ihre Töchter, demütigen und kujonieren sie auf jede nur mögliche Art. Während die zum Tode geängstigten Gelben zitternd die beiden Opfer auslosen, tanzen die Europäer auf dem Kriegsschiff, spielen Tennis, flirten und singen zur Feier des blutigen Ereignisses das „God save the king“. Der katholische Missionär, die fromme Engländerin, auch sie, herzlose Scheinschriften, höhnen mitleidslos die gepeinigten Chinesen. Keine einzige fühlende Brust unter diesen Larven. Seht ihr, sagt Tretiakow triumphierend, so schaut die sogenannte Kultur aus! Die Wilden sind doch bessere Menschen! Da gibt es nur ein einziges Mittel: Revolution! Haut sie nieder, diese fremden Eindringlinge, murkst sie ab, erhebe dich, brülle China! Früher wird keine Ruhe sein. Ueberhaupt – so erzählt ein Kuli, der Herr Jakob Feldhammer – haben sie es drüben in Europa schon längst so gemacht, die Mächtigen, die Bedrücker gestürzt, davongejagt, sich ihre Menschenrechte erkämpft. Na also . . .

             Dieser Jakob Feldhammer, Direktor des Neuen Wiener Schauspielhauses, hat sich eine recht bequeme Rolle ausgesucht: Der Kuli hetzt nämlich fortgesetzt aus sicherem Hinterhalte, erzählt den armen Schiffern, jeder müsse die revolutionäre Kunst erlernen, für den anderen zu sterben, dabei fällt es ihm nicht entfernt ein, sich freiwillig für den alten Todeskandidaten oder für den gleichfalls zum Strick verurteilten Familienvater zum Sterben zu melden. Daran erkennen wir dich, du tapferer Revolutionär! Nur immer die anderen in den Tod geschickt, mein mutiger Phrasendrescher!

             Ein starkes Theaterstück? Mag sein. Gepeinigte Menschen in ihrem Leid zu sehen, ist immer „starkes“ Theater. Aber sicherer noch ist diese Aufführung in Wien ein starkes Stück. Es wird an einem Theater gewagt, das brave Währinger Bürger aus ihren mühsamen Ersparnissen zum Regierungsjubiläum des Kaisers Franz Josef bauten. Es wird mit all seiner maßlosen Verunglimpfung der englischen Nation in einer Zeit gewagt, da der österreichische Bundeskanzler in London herzliche und wertvolle Freundschaftsbeweise empfängt.

             Die Leistungen der einzelnen Darsteller zu würdigen müssen wir uns versagen. Die Regie des Fritz Peter Buch klappte ausgezeichnet. Gut gebrüllt China! Ein offenkundig parteimäßig eingestelltes Publikum raste vor Entzücken. Gut gebrüllt, Wien!

In: Reichspost, 4.5.1930, S. 13. Weitere Aufführungsdebatten finden Sie hier.

N.N.: „Brülle China“. Neues Wiener Schauspielhaus.

             In der dumpfen schwülen Wüste des völlig geistlosen, bürgerlichen Wiener Theaters eine kleine Oase. Sie sticht umsomehr von der Umgebung ab. Sie kommt für die Arbeiterschaft gerade dieser Stadt umso überraschender und kann deshalb mit umso größerer Freude begrüßt werden, weil das Theater in Wien überhaupt aufgehört hat, auf die Arbeiterschaft, die zu neunzig Prozent die Bevölkerung Wiens bildet, irgendwie Rücksicht zu nehmen. In keiner anderen Stadt z. B. Deutschlands wäre es möglich, daß ein solcher Kurs in den Theatern eingeschlagen wird wie in Wien, wo nahezu sämtliche Theater völlig abhängig sind von der Sozialdemokratischen Kunststelle und der sozialdemokratischen Gemeindeverwaltung. Darüber wird noch zu sprechen sein.

             Aktuelles Theater. Ein Ausschnitt aus den Kämpfen, den brennendsten Kämpfen der Gegenwart. Das bedeutendste Ereignis des gegenwärtigen Weltgeschehens: der Befreiungskampf der unterdrückten Kolonialsklaven, die Flammenzeichen gegen die imperialistischen Unterdrücker. Ein Russe, Genosse Tretjakow, hat ein bewußtes Tendenzstück geschrieben, das von Meyerhold in einer Weise inszeniert wurde, die in der ganzen Welt Beifall und Aufsehen erregte. Beide, Tretjakow und Meyerhold, haben damit neuerlich den Beweis geliefert, daß ein wirkliches Kunstwerk, das imstande ist, die Massen zu erfassen und mitzureißen, nur entstehen kann aus dem kämpfenden Leben bei eindeutiger und klarer Stellungnahme. Das ist verpönte „Tendenz“, die das Bürgertum und mit ihm auch die Sozialdemokratie aufs tiefste haßt und ablehnt.

             Die Handlung, die der Wirklichkeit entnommen wurde: Ein amerikanischer Kaufmann kürzt den Kulis, die ihn Lasten schleppen, den kärglichen Hungerlohn. Er beginnt auch mit dem Schiffer, der ihn auf einem kleinen Boot vom englischen Kriegsschiff an Land bringt, Streit wegen des Fuhrlohns, versucht dem Chinesen das Ruder zu entreißen, um ihn damit zu schlagen. Er kommt aber dabei selbst zu Fall, stürzt, fällt über Bord und ertrinkt. Viele Zeugen haben vom Ufer aus den Vorfall beobachtet, auch die Offiziere. Dennoch verlangt der Kommandant des „Kanonenboots Seiner Majestät des Königs von England“ von der Stadt Wanshien Sühne für den „Mord“. Entweder sofortige Hinrichtung des Schiffers, in dessen Kahn der Kaufmann fuhr oder – da dieser von den Schiffern versteckt wird – Hinrichtung von zwei Mitgliedern der Schiffergilde. Falls diese Forderung bis zum nächsten Tag nicht erfüllt ist, wird die Stadt bombardiert. Der englische Journalist drahtet an die Weltpresse: „Schamlose Ueberfälle von Chinesen auf Europäer, drei Kaufleute ermordet, als Auftakt zu weiteren Morden.“ Ein Telegramm der chinesischen Behörden wird nicht befördert. Die Chinesen sagen: „Auch ein englischer Kapitän muß sich in seinen Forderungen mäßigen, wir werden uns beim sozialistischen Ministerpräsidenten von England beschweren“. „Ich kenne keinen solchen“, antwortet der Kapitän, „ich kenne nur einen Ministerpräsidenten Seiner Majestät, des Königs von England.“

             Die Masse der verhungernden Kulis, die um sich vor dem Hungertod zu retten, ihre Kinder und Frauen für ein paar armselige Münzen an Europäer verkaufen, beginnt zu rebellieren. Noch kennen sie nicht den Grund ihrer Unterdrückung, noch haben sie kein Klassenbewußtsein. Allmählich – und das bringen Autor und Regisseur meisterhaft zum Ausdruck – dringt die Erkenntnis durch, daß die Kulis ganz Chinas zusammenstehen und kämpfen müssen gegen die Unterdrücker. Die Kulis fragen nach Recht. „Für euch gibt es keins“, antwortet einer aus ihrer Mitte, „ihr werdet getreten, geschunden, geköpft, euch nimmt man euer Land, weil ihr arm seid.“ Die Chinesen gehen nochmals aufs Kanonenboot, um den Kapitän zu bitten, von dem Mord an den Schiffern abzulassen. Der chinesische Bürgermeister erniedrigt sich vor dem englischen Offizier, kniet vor ihm nieder. Aber je mehr sich die Chinesen erniedrigen, desto frecher werden die Bedrücker. (So ist es nicht nur in China!) Zwei Schiffer werden ausgelost, um dem imperialistischen Blutsauger als Opfer vorgeworfen zu werden. Die ganze Stadt würde sonst in wenigen Stunden in Flammen stehen. Ein Kuli stirbt für den andern! Das Klassenbewußtsein beginnt, feste Formen anzunehmen. „Sag mir einen von jenen, die sich gegen die Ausbeuter auflehnen und sie zusammenschlagen, sag mir einen, ich will mittun.“ Der andere Kuli, ein Wissenderer, antwortet: „Du, ich, er, wir alle!“

             Die beiden Schiffer werden zur Richtbank geschleppt, der Kapitän ist unerbittlich. „Hier stehe ich und keine Macht der Welt kann mich zwingen, diesen Platz zu verlassen.“ Es fehlt nicht der Millionär, der den Mord mitvorbereitet hat und nun Krokodilstränen vergißt, von den Chinesen aber schroff abgewiesen wird, es fehlt nicht die Wohltätigkeitsdame, die verspricht, den kleinen Sohn des ermordeten Schiffers in ein Waisenhaus zu bringen.

             Das Programm des Kapitäns ist erfüllt. Stolz und auf die Chinesen zynisch herabblickend, will er sich entfernen. Aber da geht auch die Geduld der Kulis zu Ende, der Sturm bricht los und unter den derben Fäusten der Proleten bricht der „Offizier Seiner Majestät, des Königs von England“ und Seiner Exzellenz, des sozialistischen Ministerpräsidenten Macdonald tot zusammen. Schon krachen auch die Salven vom Kanonenboot gegen die Stadt Wanshien, aber die Kulis sind zu einer eisernen Masse zusammengeschweißt, vorwärts, aufwärts geht es unter der Fahne Sunyaisens. Aufschreien die Kulis: „Brülle, China!“

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             Der Originaltext wurde an einigen Stellen geändert. So wurden alle Hinweise auf die Sowjetunion, die die Kulis im Kampfe gegen die imperialistischen Unterdrücker unterstützt und wegweisend voranschreitet, gestrichen. Der revolutionären Kraft des Stückes konnte aber dadurch nicht Abbruch getan werden.

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             So wirksam wie das Stück selbst ist die Regie Fritz Peter Buchs, die für Wien eine wahre Revolution bedeuten könnte, wenn wir nicht wüßten, daß nach dieser kleinen Oase wieder endlose schwüle geisttötende Wüste kommt. Auch die Darstellung steht durchaus auf dem gleichen künstlerischen Niveau.

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             Die Wiener Arbeiter haben es sich im Lauf der Jahre abgewöhnt, ins Theater zu gehen und so ist es nicht weiter verwunderlich, daß die proletarischen Massen dieser Stadt nur sehr spärlich ins Schauspielhaus strömen. Bezeichnend für die sozialdemokratische Kunststelle ist es, daß sie wohl Operettentheater und Bühnen, die allen erdenklichen Mist und Schund aufführen, füllt, bisher aber nicht die Massen auf das wirklich revolutionär-proletarische Stück „Brülle, China!“ aufmerksam machte.

             Es ist zu hoffen, daß die Direktion des Schauspielhauses, die in Tretjakows Stück nichts als ein Kunstwerk sieht und glaubte, damit gute Geschäfte zu machen, auch den revolutionären Arbeiterorganisationen den Besuch von „Brülle, China!“ durch Abgabe von ermäßigten Karten ermöglicht. Kein Arbeiter soll die Möglichkeit, einmal in einem Wiener Theater ein aktuelles revolutionäres Stück, geschrieben von einem russischen Genossen, zu sehen, ungenützt vorübergehen lassen.

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             Die gesamte bürgerliche Presse brüllt auf. Skandal! Bolschewisierung des Theaters! Verbieten! – Wir erwähnen das als Bestätigung der Richtigkeit des von uns vorher Gesagten.

In: Die Rote Fahne, 7. Mai 1930, S. 5. Weitere Aufführungsdebatten finden Sie hier.

Bidens: Theater und Kunst. Revolutionstheater im Neuen Wiener Schauspielhaus. Die Erstaufführung von „Brülle, China!“

             Es ist ein müßiges Beginnen, dem Publikum einreden zu wollen, daß Tretiakows „Brülle, China!“ kein bolschewistisches Propagandastück ist. Man abstrahiere einmal vom chinesischen Milieu, setze statt der Werte „Engländer“ und „Kuli“ die Begriffe „Unternehmer“ und „Angestellter“ und das schönste kommunistische Hetzdrama ist fertig. Man führe nicht an, daß Gerhart Hauptmann in seinen „Webern“ gleichfalls den Konflikt zwischen Lohnherren und Lohnsklaven dramatisch verwertet hat. Zunächst ist Gerhart Hauptmann ein Dichter, der Licht und Schatten gleichmäßig verteilt, dem brutalen Geldmenschen Dreißiger den skrupellosen politischen Abenteurer Moritz Jäger gegenübergestellt hat. Und dann sind die „Weber“ aus der Zeit geschöpft. Wo gibt es aber heute noch einen Befreiungskampf der Unterdrückten? Die Gesellschaft ist vielmehr gezwungen, gegen die Ueberhebung, gegen den Terrorismus der arbeitenden Klassen Gesetze zu erlassen oder wie in Rußland in Knechtschaft zu versinken, die schlimmer ist als die vielverlästerte Gewaltherrschaft eines auf dem Altar einer Schlagwortfreiheit geopferten absolutistischen Regimes. Erst künftige Geschlechter werden den Fluch einer Neuordnung büßen, die allen physikalischen und logischen Gesetzen zum Trotz die Rädchen einer Maschine über den Motor stellt.

             Wem außer Herrn David Bach und seiner Kunststelle will Direktor Feldhammer zu Gefallen sein, wenn er diese dramatische Hetzrede, in der noch der heiße Atem fanatischer Moskauschergen glüht, nach Wien verpflanzt? Wer an der Währingerlinie, deren Anrainer doch für das Neue Wiener Schauspielhaus in erster Linie als Publikum in Betracht kommen, hat Interesse dafür, was am Rande der Wüste Gobi vorgeht? Gut, die mit allem Haß des enragierten Kommunisten gezeichneten kapitalistischen Gewalthaber sind gegen die einheimische Schifferbevölkerung schonungslos und ungerecht vorgegangen. Hat man aber die Greueltaten eines Bela Kun, eines Tibor Samuely ganz vergessen, die, bedeutend näher einem Kulturzentrum, sich gegen wehrlose Bürger ausgetobt haben?  Wem stehen also die Herren zu Diensten? Grausamen Terror hat es überall und jederzeit gegeben, wenn eine Partei oder eine Volksschichte in Gefahr war, die Herrschaft zu verlieren. Merkwürdig war nur, daß die durch einen Umsturz in die Höhe gekommenen „Befreiten“ immer viel bestialischer und hemmungsloser gehaßt haben als die besiegten „Unterdrücker“.

             So werden denn auch in „Brülle, China!“ Wort und Handlung nicht vom Schwung des dichterischen Genius, sondern von der Zentrifugalkraft entfesselter Tendenz getrieben und es ist schade um die Regiekünste des Herrn Peter Fritz Buch aus Frankfurt, der sicher der Bühne viel Interessantes geben könnte, wenn er nicht den Ehrgeiz hätte, Piskator [sic!] II. zu werden. Er hat jedenfalls aus dem Schauspielermaterial des Neuen Wiener Schauspielhauses das Größtmögliche herausgeholt, so daß vieles, was Dressur war, wie Natur erschien. Man muß aus der Menge der Mitwirkenden die Damen Horeschofsky, Rambausek und Eschbaum sowie die Herren Rothauser, Koch, Kniedinger, Varndal, Iwald, Lipschütz und Grassow besonders hervorheben und feststellen, daß Frau Feldhammer in einer kleinen Rolle viel dramatischen Impetus zeigt. Herr Feldhammer aber, der mit sichtlicher Hingabe den Räsoneur des Stückes, einen Anführer der Kulis, spielte, möge bedenken, daß nur ein superkluger Unternehmer beide Geschäfte zu machen versucht. Er wird das Stück vielleicht der sozialdemokratischen Kunststelle zu Dank spielen, das Stammpublikum an der Währingerlinie aber wird sich bestimmt aus dem maskierten Klassenkampf nach der gesunden Hausmannskost des „Roten Tuches“ zurücksehnen.

             Die grau in grau gezeichneten Szenen fanden bei einem Auditorium, das zum großen Teil aus marxistischen Parteigängern bestand und in dem bezeichnenderweise auch Bürgermeister Seitz nicht fehlte, eine Aufnahme demonstrativen Charakters. Die zum Teil von der „nichtbolschewistischen“ Regie eigens eingelegten, im Original nicht enthaltenen Hetzschlagworte (zum Beispiel „Kulis wie wir haben anderswo die Unterdrücker davongejagt!“) wurden mit donnerndem Applaus der „Gesinnungstüchtigen“ aufgenommen und als der zu einem Tyrannenmord umgedichtete Schluß vorbei war, erhob sich ein ohrenbetäubendes Zustimmungsgeheul. Ueber diesen Beifall mag sich aber Direktor Feldhammer keinen Illusionen hingeben. Auch Direktor Berisch haben die Gefolgsleute der sozialdemokratischen Kunststelle zugejubelt. Als er aber Pleite machte, waren sie die ersten, die ihn verleugnet und fallen gelassen haben.

In: Neues Wiener Journal, 3.5.1930, S. 10-11. Weitere Aufführungsdebatten finden Sie hier.

Oskar Maurus Fontana: Brülle China! Neues Wiener Schauspielhaus

             Unterdrückung und Befreiung sind die zwei starken Akzente dieses Schauspiels von S. Tretjakow (deutsch von Leo Lania). China ist unterdrückt, ist ausgebeutet von den weißen Männern, die die großen Schiffe und das viele Geld haben. Ein Beispiel dafür erzählt in neun Szenen Tretjakow. Ein englisches Kanonenboot und ein amerikanischer Händler liegen vor der Stadt Wanshien. Geschäfte werden gemacht, Löhne gedrückt. Die Kanonen schauen wie unbeteiligt zu. Wie sehr sie aber beteiligt sind, zeigt sich sofort, als der Amerikaner bei einer Rauferei mit einem Chinesen zugrunde geht. Nun drohen die Kanonen offenen Mord, nun sprechen sie die Sprache der Unterdrückung. Die Stadt und China mit ihr werden rücksichtslos gedemütigt. Der Schuldige ist nicht gefunden worden, also müssen zwei Unschuldige als Sühne sterben.  Alles Flehen hilft nichts, die Kanonen sind aus Erz, sie hören nichts. Die zwei Unschuldigen werden angesichts der ganzen Stadt gehängt. Stumm und leidend hat sie es geduldet. Bis plötzlich die Not der Unterdrückung die Dämme der Angst bricht, bis das Volk der Stadt Wanshien aufsteht, den englischen Kapitän niedermacht und auch dem Bombardement des Kanonenbootes mit der aufgerollten, flatternden Fahne der Kuomintang den unbrechbaren Trotz der Befreiten gegenübersetzt: Brülle China, brülle gegen die Knechtschaft, brülle gegen die Kanonen, die den Nutzen des Händlers sichern!

             Das Stoffliche des Stückes ist seine Stärke. Das Panorama einer Kolonialwelt, das da entrollt wird, regt auf, so sehr seine Zeichnung im einzelnen primitiv und grob sein mag. Menschliche Not und Überwindung menschlicher Not (und geschehe sie auch nur auf dem Theater) rufen seit je am stärksten die Herzen und Geister der Menschen an und damit die Dichter und ihre Gefolgschaft. Denn, darüber darf man sich trotz der alarmierenden Wirkung dieser Szenen keiner Täuschung hingeben, Tretjakow gehört nur zur Gefolgschaft der Dichter, nicht zu ihnen selbst. Sein Schauspielverhält sich zu einer Dichtung wie ein Plakat zu einem Ölgemälde. Tretjakows Schwarzweißtechnik – tieferes Schwarz für die Herren, strahlendes Weiß für die Unterdrückten – genügt für ein wirksames Gegeneinanderausspielen wirkender irdischer Kräfte, aber nicht für die Gestaltung von Menschen, für die innere Erhellung von Situationen. Tretjakows Schauspiel, in einer bereiten Welt entstanden, lebt dennoch, wie die unendlich gültigeren, unendlich reicheren „Weber“ nur von der Trotzmelodie einer unterdrückten Welt: „Ihr fesselt der Armen Hab und Gut und Fluch wird euch zum Lohne!“ Tretjakows Schauspiel kommt darum als künstlerisches und auch revolutionäres Dokument nicht über die Wiederholung hinaus. Das Neue, das es gibt, ist das Stoffliche, ist eine Ahnung der Welt Chinas, ist ein fernes Grollen der Tragödie des chinesischen Volkes.

             Aus diesen Möglichkeiten schlägt die Regie Fritz Peter Buchs Funken. Er gibt ein leidenschaftlich bewegtes Theater im Anschwellen, Abbeben und Wieder-Hochfluten der Massen. Er findet für die Feierstimmung im Schatten der Kanonen auf dem Kriegsschiff spitze Töne der Satire wie er der Verzweiflung der Chinesen den leisen Schmerz und den brüllenden Ausbruch zu geben weiß. Eine starke Regieleistung. Auch dort, wo sie Elemente der Inszenierungen Piscators und Eisensteins (Potiomkin) übernimmt, tritt sie nicht auf dem gleichen Fleck, sucht sie Anregungen weiter zu entwickeln. Daß Buch kein Nachahmer des Szenenaufbaus ist, merkt man an seiner Arbeit – am Schauspieler besonders deutlich. Hier ist nichts verwischt oder beiläufig, hier ist jede Type zu einem lebendigen Ausdruck gebracht.

             Wie ausgezeichnet Josef Zechell als chinesischer Student, geduckt aufbegehrend, wie voll fremder Würde der Dauyin des Herrn Rothauser, welche dunkle Klage ist in Anna Feldhammers Worte gebannt, was für leidende Menschen sind die alten Schiffer der Herren Weiß, Kalwoda, Lipschütz, welche Weißglut der Empörung in Jakob Feldhammers Kuli, welcher Trotz in Kurt Liecks Aufschrei gegen die Kanonen, wie stark und gar nicht theatralisch der Kapitän des Herrn Koch, wie gut ist die exakte, militärisch sachliche Besatzung des Kriegsschiffs von den plaudernden ahnungslosen weißen Zivilisten unterschieden, wie ergreifend mit ein paar Sätzen und Bewegungen der arme Chinesenboy der Elisabeth Eschbaum. Das alles ist starkes Theater und eine Bereicherung des Wiener Theaters.

             Ist es Bolschewistentheater – wie die Hetze höhnt? Nun, dann auch „Die Räuber“ mit ihrem Ruf „In Tyrannos“ als Bolschewikentheater ausgegeben werden. Daß es Revolutionen gegeben hat und geben wird, soll das auf dem Theater verschwiegen werden? Nicht Blindheit und die Torheit der sich Blindstellenden arbeiten den Revolutionen entgegen, sondern nur Erkenntnis und der Mut zur Erkenntnis.

In: Der Tag, 4.5.1930, S. 18. Weitere Aufführungsdebatten finden Sie hier.

Béla Balazs: Das entfesselte Theater

             Gelt, das klingt gefährlich? Das klingt nach Unbändigkeit und Wahnwitz, nach Revolte gegen alle Gesetze und Regeln, nach formlosem Sturm und Drang. Ein entfesseltes Theater! Was stellt man sich dabei vor? Die Phantasie bricht aus seinem Kulissenkäfig und rast durch die Straßen der Nüchternheit? Das Spiel schwillt an, steigt über die Dämme der isolierten Kunststätte und überschwemmt den Ernst des Lebens. Eine brausende Sturzflut von Masken und Kostümen ergießt sich mit Harfenklang und Schellengeläute – entfesselt – über die philiströse Ordnung des Alltags.

             Es klingt nur so, es scheint nur so, Tairoff, der Direktor der Moskauer Künstlerspiele, der seinen Reformversuchen diesen populär gewordenen ausdrucksvollen Namen gab, ist kein zügelloser Stürmer und Dränger, der alle Gesetze verachtet. Im Gegenteil. Er ist ein streng-dogmatischer Ästhet. Wenn er ein Revolutionär ist, so ist er ein doktrinärer wie die Kommunisten, denen er angehört, die nach den Vorschriften eines gelehrten Buches die Welt neuschaffen wollen. Er könnte auch ruhig sagen: ich bin nicht gekommen, das Gesetz zu zerstören, sondern um es durchzuführen. Tairoff, der prominenteste Vertreter der neuesten Bühnenreformbewegung, der Schöpfer des „entfesselten Theaters“, ist ein fanatischer Pedant.

             Denn was meint er eigentlich mit der Entfesselung des Theaters? Er meint die Befreiung von der Diktatur der Literatur. Das Theater, sein Theater, will nicht mehr dienend die vorgeschriebenen Wege des vorher geschriebenen Dramas gehen. Es will nicht mehr bloß Kanzel der Dichter, unselbständiger Dolmetsch außerhalb stehender Schriftsteller sein.

             Das Orchester meutert und empört sich gegen die Partitur, will autonom, aus seinem eigenen Element, spontane Gestalten schaffen. Das Theater soll nicht mehr Ausschank der Literatur sein, sondern ursprüngliche Quelle einer eigenen, selbständigen Kunst werden.

             So ungewohnt diese Absicht auch heute ist, ist sie nichts weniger als neu und unerhört. Bekanntlich ist das Theater älter als das geschriebene Drama, das nur als nachträgliche Kodifizierung und Regelung der allgemein üblichen Stegreifspiele entstanden ist. Die Stücke der Commedia dell’ arte waren keine Literatur, und selbst Shakespeares Dramen sind zum Teil auf der Bühne entstanden. Neu ist also diese revolutionäre Idee nicht. Noch weniger aber ist sie anarchistisch und wider das Gesetz. Vielmehr wird mit ihr die pedante Durchführung eines alten akademisch-ästhetischen Dogmas bezweckt. Es ist das ästhetische Dogma vom „reinen Stil“, von der materieechten, ungemischten Kunst. Denn ein Gemälde etwa, das musizieren täte, oder eine Statue, die Verse sprechen könnte, wäre doch ein grauenhafter Kitsch. Und hat man nicht ästhetische Bedenken gehabt gegen Textillustrationen oder gegen die Oper, gegen diese Mischform von Musik und Drama? Hat man sich nicht ereifert gegen die „literarischen“ Bilder, die irgend einen erzählbaren Inhalt haben? Ja, die Forderung einer reinen, ungemischten Kunst schien ein unbezweifeltes, ästhetisches Dogma zu sein, wiewohl sie auf keinen steinernen Tafeln geschrieben stand. Auch ging man nicht soweit in der Konsequenz, etwa dem Lied die Existenzberechtigung abzusprechen und zu behaupten, Schubert, Schumann, Brahms, Wolff wären Kitscheure, weil sie Musik mit Literatur mischten. Es kommt eben darauf an, ob dabei durch eine wirklich „chemische“ Mischung ein organisches drittes Ding entsteht. Und man kann wohl kaum leugnen, daß dies bei der Mischung von geschriebenem Drama und Bühnenpantomime in vielen Fällen restlos gelungen ist.

             Und doch scheint die Freiheitsbewegung des Theaters um sich zu greifen. Die selbsttätige Bühne in der Form von Balletts, Pantomimen und Sprechchören (bei denen das Wort lediglich nur als akustische Masse mit den Form- und Farbwirkungen kombiniert wird) ist ohne Zweifel aktuell geworden. Das muß außer den besagten ästhetischen Bedenken tiefere Gründe haben. Gewiß ist ein so unliterarisches, autonomes, „entfesseltes“ Theater eine sinnvolle und berechtigte Kunstgattung. Aber daß sie just in unseren Tagen modern wird, das wird mit Dingen zusammenhängen, die außerhalb der Ästhetik liegen.

             Warum kommt man heute vom Worte ab? Warum ist man heute mehr für dekorative Schaustellungen als früher? Das kommt daher, daß das Wort heute nicht mehr zielsicher ist. Dichter und Schauspieler wissen nicht mehr, ob ihr Wort auch richtig verstanden wird. Die geschlossene bürgerliche Kulturgemeinschaft hat aufgehört. Man ist nicht mehr intim unter sich, wie man es seinerzeit in den fürstlichen Theatres parés und auch später im Kreise der gebildeten Patrizier war. Soziale Schichten haben sich verschoben, Klassen und Stände sind durcheinandergewürfelt. Das Publikum ist nicht mehr homogen; es ist ein zufälliges, und man weiß nicht mehr, zu wem man spricht. Was der eine versteht, muß dem anderen fremd klingen. Will man also das Theater für die breite Öffentlichkeit retten und doch auf einem artistischen Niveau erhalten, so greift man eben zu den dekorativen Schaustellungen. Denn diese sind nicht so präzisen Sinnes wie das Wort. Man kann sie auslegen, stimmungsgemäß, je nach Anlage, und subjektiv verschieden deuten. Jeder holt sich daraus, was ihm entspricht. Die unbegrenzte Möglichkeit des Mißverständnisses bürgt für allgemeine Wirkung.

             Das entfesselte Theater deutet eine Freiheit aus Not. Hier ist eine Kunst wieder einmal frei geworden, wie ein Vagabund, der seine Heimat verloren hat.

In: Der Tag, 1. November 1924, S. 2.

Ernst Lothar: Gegenwart und Zukunft des Theaters. Kritik und Prognose.

Wir beginnen heute mit der Veröffentlichung des Vortrages, den Ernst Lothar in Deutschland und der Czechosowakei gehalten hat. (Anm. d. Red.)

             Das Wort Theaterkrise ist ein Schlagwort geworden, dessen Schlagkraft die Vernunft zu Fall zu bringen und eine Panik zu erzeugen droht, worin die Begriffe wanken und nichts als steriler Pessimismus oder Nutznießertum der Desperation aufrecht bleibe. Da ist es an der Zeit, sich klar zu machen, was an dem alarmierenden Schlagwort wahr, was übertrieben, was mißverstanden daran ist. Und ob ihm tatsächlich der ganze Schrecken innewohnt, den ihm die Krisenlustschnapper nachsagen.

             Daß es bedrohlich um die Gegenwart des deutschen Theaters steht, leugne ich nicht. Und ich will, ärztliche Gepflogenheit annehmend, die Symptome der Krankheit nennen, bevor ich mich zur Diagnose und damit zur Therapie vorwage. Eine Anamnese ist zu fordern, Geschichte des Krankheitsverlaufes, wie von jedem Patienten, der Heilung sucht; beides, das Leiden, das Geheiltwerdenmüssen, trifft ja auf das kranke Gegenwartstheater und insbesondere auf das Schauspielwesen, dem meine Ausführung gelten, zu. Welche Symptome zeigt der Patient? Gestatten Sie mir, die Dinge nicht nur beim Namen, sondern sogar bei Ziffern zu nennen und auf jede Ziffer einzeln zurückzukommen:

             Erstens: das heutige Schauspieltheater ist zum Schauspielertheater (und zum Regisseurtheater) geworden, wodurch die geistige Situation des Theaters Schaden litt; zweitens: das Schauspieler- und Regisseurtheater wurde zum Prominententheater, wodurch das Ensembletheater, aber auch (mit der geistigen Kontinuität) die wirtschaftliche Prosperität des Theaters Schaden litt; drittens: dieses Theater folgerte aus der Geschäftsstockung, daß es Geschäftstheater zu sein habe; viertens: es bekämpfte und bekämpft die ihm durch den Tonfilm erwachsenen Konkurrenz mit absolut untauglichen Mitteln.

             Erstens: Die geistige Situation des heutigen Theaters hat sich grundlegend geändert. Als Max Reinhardt, zu dessen überzeugten Anhängern ich zähle, soweit es sich um die schauspielerische Regenerierung des Theaters und seiner Erlösung vom Pathos der Verstellung handelt, im Vorjahr jubilierte, sagte er öffentlich: „Das Theater von heute gehört dem Schauspieler.“ Dieser verlesene, also keineswegs einer Bankettimprovisation überlassene Trinkspruch klang wie ein Urteilsspruch. Er war einer. Er sprach der geistigen Bedeutung des heutigen Theaters das Urteil und – verurteilte sie, ohne es zu wollen. Denn vom Standpunkt des Jubilars Max Reinhardt angeschaut, erschien dieser Zustand nicht beklagenswert. Er, Schauspieler von Geblüt, Schauspielerführer von Genie, konnte nicht anders als, indem er der Wahrheit die Ehre gab, den Schauspielern die Ehre geben. Sie, die Schauspieler, waren es, die in ihm gefeiert wurden; sie, die Schauspieler, an die der Erinnerungsglanz sich knüpfte, mit dem der Name Reinhardt zum Theaterhimmel steigt. Sonderbar, daß fast niemand aus diesen Bankettworten heraushörte, was sie waren: die solenne öffentliche Erklärung der Diktatur, der die private längst vorangegangen war. Mit den Worten: „Das Theater von heute gehört dem Schauspieler“, hatte der größte Schauspielerdirektor der Gegenwart die Abdankungserklärung des Bühnenautors und die Herrschaftsübernahme durch die Schauspieler verkündet. Nicht zufällig – in jener geheimnishaften Vorahnung, die ihm eignete und ihn die spirituellen Zusammenhänge so seherisch durchschauen ließ – hatte der zu früh abgerufene Hofmannsthal für Reinhardts neues Wiener Theater 1924 schon den Namen gewählt: „Die Schauspieler im Theater in der Josefstadt, unter der Führung von Max Reinhardt“, ein scheinbar preziöses Firmenschild, das trotzdem jene Entwicklung vorausnahm und in Worte faßte: in diesem Aushängeschild sind die Schauspieler Firmeninhaber und der Dichter zeichnet für das Unternehmen nicht einmal mehr per Prokura.

             Meine Damen und Herren, diese Entwicklung war der Keim des Uebels. Sie stellte zu einer Zeit, als das Wort Tonfilm ungekannt und die wirtschaftliche Stagnation noch nicht von solchem Weltumfang wie heute war, das Theater auf eine Grundlage, die es nicht tragen konnte und daher nicht ertrug. Nichts gegen die Magie des Schauspielerischen! Faszinierter Freund und Beurteiler jeder mimischen Bedeutung, überzeugt davon, daß das Glück des Theaters Verwandlung des Zuschauers durch Illusion ist, fände ich mich in der lächerlichsten Rolle, wollte ich diese Bedeutung auch nur mit einem Worte schmälern. Mit allen Worten dagegen will ich sagen, daß die Ueberbedeutung die man dem Schauspieler und die der Schauspieler sich gegenwärtig zuerkennt, ihm nicht zukommt. Deshalb nicht, weil sie zu der falschen Rechnung führt, welche das Dargestellte zur Null, den Darsteller zur Unendlichkeit macht und uns hinbringt, wo wir halten: zur Schauspielerdiktatur über den Autor.

             Hier meldet sich vielleicht unter Ihnen und bestimmt in mir der Einwand, den jeder Theaterkenner pflichthaft zu erheben hat: Welche Autoren sind gemeint? Ist jene schädliche Entwicklung nicht dadurch erzwungen, daß die Gegenwart an Autoren, welche Werte für das Theater schaffen (und nur um solche kann sich’s handeln) bettelarm, ja, daß sie daran ärmer ist als je eine Epoche? Ja und nein. Ja: Denn wollte ich die deutschen Autoren der jüngeren Generation, von denen das Gegenwartstheater Werte oder zumindest Impulse empfängt, aufzählen, die Finger einer einzigen Hand genügten mir dazu, und noch da bliebe der Daumen unbeschäftigt. Sollen wir’s versuchen? Der Mittelfinger für Bruckner (und erst seit „Elisabeth von England“); der Zeigefinger für Georg Kaiser (aber er hat die Richtung verloren); der Ringfinger für Werfel; der kleine Finger für Zuckmayer. Und sonst – ? Brecht, der steil begann, ist abgestürzt; Unruhs edle Leidenschaft hat „Phäa“ nicht vermeiden können. Leonhard Frank: „Hufnägel“ waren die Sargnägel einer Theaterhoffnung; Hasenclever, Bronnen: konjunkturisiert, politisiert. Von den anderen jüngeren Deutschen nicht zu reden. Sie haben das Schreidrama des Expressionismus mitbegründet oder mitgemacht und sind nun drauf und dran, die neueste Dramenmode mitzumachen: das Agitationsdrama. Hier muß ich zur Klarstellung der Kategorien innehalten und die Begriffe „expressionistisches Drama“ und „Agitationsdrama“ abgrenzen. Niemand kann bestreiten, daß der Expressionismus abgewirtschaftet hat. Das aber beweist nichts gegen die organische Bedingtheit seiner (Nachkriegs-) Erscheinung; nichts gegen die Konsequenz seiner Idee, nichts gegen seine künstlerische Berechtigung. Ich bin weit davon entfernt, im Expressionismus wie andere „ein Kostüm bluffwilliger Schwindler“ zu erblicken und sehe vielmehr in ihm den Ausdruck seiner amusischen Epoche: er war das dramatische Sekundenecho der Kunst auf das Toben der Sekunde; er war und blieb wörtlich wie inhaltlich: Zeitausdruck. Dem Weltmaschinensaal, dem Weltkrampf, dem Weltumsturz einen Theatersaal in Stuck und Gold entgegenzustellen, dessen Bühne dieselben Konflikte, Worte, Kulissen ungeändert hätte beibehalten sollen wie zu Zeiten Wildenbruchs, schien unerträglich. So weit richtig. Trotzdem litt das Richtige Schiffbruch. Der Grund war simpel: es fehlte an Genie. Der Dichter fehlte, der das unwidersprechlich Richtige mit neuen Mitteln zur neuen Gestallt gebildet hätte. „Das Drama schreiben heißt, einen Gedanken zu Ende denken“, notierte Georg Kaiser damals pro domo. Der Gedanke war gedacht, doch nicht gestaltet. So blieb er, ohne eine Tat zu werden, ein Programm. Vom Kino und der Telegraphie entlehnten die Expressionisten die Form. Sie bilderten, statt zu bilden, sparten am Wort und leider geizig an der Seele. Im Formalen lag ihnen der Weg, in der Sprengung der Form. Doch mit dem Sturz der Form läßt sich das Drama nicht erneuern. Nur aus seiner Natur. Aus seiner Natur aber wäre das Drama dann erneuert, wenn es das zu Gestaltende (schematisch gesprochen) nicht wie bisher im Zufall, sondern im Schicksal sähe. Das Drama ist Konflikt. Der Sinn des Dramas die Optik und die Ueberwindung des Konflikts. Der Konflikt des Mißglückten Expressionistendramas entstand aus einem individuellen oder kollektiven Zufall: er war schicksallos. Der Konflikt des wahren künftigen Dramas dagegen müßte aus dem Zusammenstoß zwischen Bestimmung und Willen erfolgen: schicksalhaft. Ziel des neuen Dramas: statt Zufall Schicksal. Statt Realität Vision.

             Dies hatte ich zu sagen, um zu kennzeichnen, welchen Abstieg das sogenannte Agitationsdrama, das in vielen Spielarten hergestellt und gepriesen worden war, dem beschimpften expressionistischen Drama gegenüber (gesehen vom hier maßgebenden Standpunkt des dramatischen Kunstwertes) bedeutet: Dieses, das expressionistische, war zumindest als Kunstform und ideell geboten; jenes, das agitatorische, bloß als Plattform und konjunkturell. Dieses war das Schrei-, jenes ist das Letzte-Schreidrama: Abstieg von der Idee zur Propaganda-Mode. Allerdings hat man auch hier Idee hineinzutragen und -zugeheimnissen versucht, hat mit dem nebulosen Begriffe „Zeitdrama“ Wesens getrieben. Was ist ein Zeitdrama? „Die Dinge auf der Bühne“, formulierte erst kürzlich ein deutscher Beurteiler von Rang, „müssen mich angehen, und sie gehen mich nur an, wenn das Zeitsubjekt weltanschauungshaft in mir getroffen wird“. Da möchte ich mir aber, so verführerisch die Formulierung klingen mag, energisch zu widersprechen erlauben! Hier will man, und tut es ja auch, dem Drama den Reportage- samt dem Kolporteur- und Propagandist seiner Tage anweisen und es zur poltisch-parteiischen Zeitung der Ereignisse, statt im Drama die bedingten Ereignisse zu unbedingten Erscheinungen machen. Kunst als Waffe? Warum nicht. Aber durch das Massewerden darf sie nicht an Kunst verlieren! Der Irrtum, der den Propagandisten hier unterläuft, hat zwei Grundlagen: es ist irrig, daß Dauer und Vergänglichkeit eines Dramas sich auf seine Weltanschauung gründen; und es ist irrig, daß der Besucher des heutigen Theaters in weltanschaulichem Sinn anspruchsverschieden von dem irgendeiner theatralischen Epoche sei. Trotz anderer oder anders gewordener Weltanschauung – und das letztere gilt für den Gegenwartswert der Klassiker – kann ein Drama heute und immer wirken, weil die Wirksamkeit nicht von der im Drama ausgedrückten oder ihm zugrundeliegenden Weltanschauung, sondern bestimmend von der darin gebildeten Gestalt abhängt. Ist diese Gestalt gültig, das heißt: für eine ganze Menschengruppe repräsentativ, dann wirkt sie in der Zeit und überwirkt die Zeit. Daß der Prinz von Homburg den Krieg als geboten voraussetzt, wird pazifistischen Zuschauern gleichgültig vor der gültigen Gestalt des Menschen, der zwischen sich und seiner Pflicht schwankt. Daß der König Lear das Gottesgnadentum der Könige zur selbstverständlichen Bedingung hat, wird dem demokratischen und republikanischen Zuschauer gleichgültig vor der gültigen Gestalt eines Vaters, der sein Kind beweint. Genau so irrig aber, wie die Wirkung von der Weltanschauung abhängig machen zu wollen, ist es, daß der Theaterzuschauer Weltanschauungen oder programmatische Vorgänge (Vorgänge seiner Weltanschauung) auf der Bühne verlangt, um das „tua res“ zu spüren. Wahr ist, daß er sich sozial geändert hat, nach wie vor aber auf der Bühne Menschen sehen will, die ihn angehen. Diese Menschen gehen ihn nicht nur dann an, wenn sie seine Gesinnungsgenossen, sondern entscheidender und allgemeiner dann, wenn sie gültige Gestalten sind, die keinen Privatfall, sondern einen Menschenfall, also auch den seinen inkarnieren. Das sind, sie mögen in der Steinzeit spielen, Zeitdramen. Das sind aktuelle Dramen, weil ihre Aktualität nicht im Januar 1931, sondern im Menschenhaften liegt, und das Menschliche bekanntlich dauernd aktuell, das Aktuelle dagegen desto seltener menschlich ist. Um es meinerseits zu formulieren: das echte Drama ist immer Zeitlosigkeits- und dadurch Zeitdrama, weil es die Zuschauer aller Zeiten zu Menschheitsgenossen macht; das sogenannte Zeitdrama ist bloß Augenblicksdrama, weil es die Zuschauer bestenfalls zu Parteigenossen macht. Es waltet (auch hier) derselbe Tiefen- und Größenunterschied wie zwischen Menschheit und Partei.

             Entschuldigen Sie diesen Exkurs, er war unumgänglich, um zu erkennen, warum die jüngere deutsche Dramenproduktion so mißgeleitet ist: im Expressionismus gestrandet, hat sie im Agitationsdrama den gestalterischen Boden unter den Füßen verloren, weil sie die Gestalt als agitatorischen Vorwand statt als das dramatische Ziel betrachtet, das sie ist. So steht es um die jüngeren deutschen Dramatiker. Die älteren, soweit sie nicht enttäuscht oder verdrossen dem Theater fernbleiben oder sich dem Roman zugewendet haben, sind die kräftigsten nicht mehr und, wenn sie es sind, nicht imstande, die klaffenden Lücken allein zu füllen –: dem deutschen Dichterdrama geht es schlimm. Und dem ausländischen? In England: Shaw, Galsworthy (im Roman unvergleichlich fähiger), Sherriff (mit der „Anderen Seite“), Maugham mit einigen hintergründigen Gesellschaftsstücken. In Frankreich: Romains, Geraldy, Lenormand, Bernard, Bourdet, Savoir. In Italien: Pirandellos längst verblasener Ruhm. In Ungarn: das Theatergenie Molnar und schwache Nachahmer. In der Czechoslowakei: Frantisek Langer, Karel Capek. Davon nähren wir Deutschen uns in der Hauptsache. Wer also sagt: es werden zurzeit nicht genug wertvolle Stücke geschrieben, um das Schauspiel ausschließlich mit ihnen zu beleben, hat recht. Insoweit gilt mein: Ja. Aber das Nein, das ich vorhin zur Antwort gab, gilt insoweit, als diese unanzweifelbare Tatsache zur fragwürdigen Konsequenz verführt, das deutsche Theater sei dem Autor nicht mehr und nur noch dem Schauspieler verpflichtet! Wenngleich es in der Tat wenige neue Dramen und Dramatiker gibt, die der Mühe verlohnen: zunächst müßten einmal diese wenigen aufgeführt werden, was nicht immer geschieht. Und dann, meine Damen und Herren: sollte es außerdem nicht ein paar ältere geben, vor denen die Schlußfolgerung: Weil nicht genug Dichter wirken, muß Konjunkturschmarrn und Konfektionskitsch das Theater überschwemmen, haltlos wird? Unter anderen gibt es einen Dichter, dem die wildesten Zeitgeistschwärmer Mangel an Aktualität nicht werden nachsagen können. Er heißt Shakespeare. Man zähle die deutschen Bühnen, die den Timon von Athen, Coriolan, Caesar, Antonius und Cleopatra: lauter brennende Aktualitäten, im Spielplan haben. Es gibt aber auch einen Dichter namens Schiller: seine Aktualität (in jenem Frühjahr angezogenen Sinne) ist rasant. Ich wenigstens wüßte Weniges, was heutigen Menschen ihre eigene Sache spürbarer machte als der Carlos, der weltanschauungshaft eineinhalb Jahrhunderte vorwegnahm. Kann man sich eine dem Augenblick nähere und wesentlichere Auseinandersetzung denken, als die zwischen Posa und Philipp? (Herr Theodor Tagger, der auf den Namen Ferdinand Bruckner hört, entschuldige, daß sein Philipp diesen Vergleich nicht aushält!) Findet sich jenes erlösend und sozial betonte Wort „Mensch“, das zum eisernen Inventar der letzten Literaturepoche gehört, irgendwo überwältigender ausgesprochen als hier? Und Grillparzer, gänzlich unentdeckt für Deutschland, ja verkannt in Deutschland, beschämend unterschätzt: Sein „Bruderzwist“ vor allem, politisch-geistig zur letzten Gegenwart gewendet! Und Hebbel: für das Zeitalter der Individualpsychologie von einer phantastischen Modernität! Und Grabbe! Und Kleist! Aber, mag man sagen: das alles sind Stücke, sind Dichter, die jedes Kind kennt! Ich weiß nicht, meine Damen und Herren, ich habe nicht den Eindruck, daß jedes Kind die Ehre dieser Bekanntschaften hat. Jedes Großstadtkind wird Ihnen heute die bestakkreditierten Automobilmarken nennen, ja Ihnen aus entferntem Motorengeräusch prompt Bescheid sagen können, welche Automarke da vorüberfuhr. Ob es den Kindern mit Shakespeare, Schiller und anderen bestakkreditierten Marken eben so ergeht? Bei einer Carlos-Aufführung, die ich in Wien zu sehen bekam, lachte die Galeriejugend stürmisch, als Carlos sich ins Zimmer der Eboli verirrte: Die Sache war der Galeriejugend ganz neu, sie fand sie daher komisch. Man darf den Bekanntenkreis der jungen Generation nicht überschätzen. Manches fehlt darin. Hie und dar sogar die Bekanntschaft mit dem Geist. Aber diese Bekanntschaft ihr zu vermitteln, ja sie ihr lockend, so herrlich erlebnishaft zu gestalten, wie sie ist: dazu sind unter anderem die deutschen Theater da. Bildungstheater? Das Wort hat einen fatalen Präzeptorgeschmack und klingt nach Nachmittagsvorstellung zu ermäßigten Schülerpreisen. Trotzdem sind die Begriffe „Bildung“ und „Theater“ nicht so himmelweit verschieden, wie man heute glauben machen möchte, die Meinung, das Theater sei verpflichtet, nicht nur zu unterhalten, sondern auch zu lehren, nicht so hirnrissig und antiquiert, wie man sich heute in Direktionskanzleien anzustellen pflegt: Wenn man, wie ich, jenes Galerielachen über Don Carlos‘ Fehltritt noch im Ohre hat, kommt einem die Sache gar nicht so lustig vor.

             Aber doch Don Carlos! Habe ich mir da nicht selbst widersprochen? Also doch aufgeführt, was aufgeführt sein soll? Allerdings. Aber –: warum aufgeführt? Die Frage ist nicht unwichtig. Denn der Don Carlos war nicht aufgeführt worden, weil es der Don Carlos war … bewahre! Er war aufgeführt worden, um Bassermann Gelegenheit zum Philipp zu geben, zu einem prachtvollen Philipp, wie man weiß. Immerhin, dies war der Anlaß. Und dies und dergleichen ist der Anlaß, um heute Werke des dichterischen Welttheaters auf die Bühne zu bringen: nicht um der Werke willen tut man’s, sondern weil der Clavigo eine Moissi-Rolle, weil die Julia eine Bergner-Attraktion sein soll. Nicht, weil das Theater seine Verpflichtung zum Wert erkennt, durchbricht es die Unwertserien: es erniedrigt vielmehr den Wert zur schauspielerischen Gelegenheitsmacherei. Ob hiebei gute oder schlechte Vorstellungen zustandekommen, entscheidet nicht so sehr; entscheidend bleibt zunächst unser Punkt Eins: Die Unterwerfung des Theaters unter die Schauspielerherrschaft sogar dort, wo es sich um Ewigkeitswerte handelt. Jene grundlegende Aenderung der geistigen Theaterstruktur wird dadurch unverkennbar. Sie besteht in der ungeheuren und ungeheuerlichen Bagatellisierung des Inhalts des Aufgeführten. Was ist Bagatelle. Wichtig ist nur, daß „Was“ da ist, um schauspielerische Gelegenheit zu machen.

             Zu der Gelegenheitsmacherei für den Schauspieler tritt die für den Regisseur, die bei klassischen Reprisen am vernichtendsten bemerkbar wurde. Reinhardt, von den fehlgeratenen Großen-Schauspielhaus-Experimenten belehrt, hat für seine Person die Tollheit vermieden und seine geniale Regiekraft wieder ganz dem Schauspieler gewidmet. Er ist kein „Auffassungsregisseur“, kein Zeitgeisteinbläser, deshalb auch kein Werkvergewaltiger. Aber wie viele solche liefen herum! Ihr Stern ist im Verblassen, gottlob. Sie haben trotzdem Unheil genug gestiftet, nicht zuletzt dadurch, daß sie einer Generation, der man das Theater der Größe vorenthielt und die es daher kaum vom Hörensagen kannte, durch tolle Verstümmelungen und Verzerrungen die Meinung beibrachten, es sei so klein wie seine ungebetenen Erneuerer. Jene „Krise der klassischen Darstellungsform“, die Herbert Ihering in seiner Schrift „Reinhardt, Jeßner, Piscator oder Klassikertod?“ hervorhebt, ist nicht zuletzt dem Regisseurgrößenwahn zur Last zu schreiben. Unter dem Vorgeben, es sei in dem falschen Sinne zeitgemäß zu machen, von dem die Rede war, fühlte man sich befugt, dem klassischen Drama eine Form zu geben, welche die überkommene zertrümmerte, ohne die neue gefunden zu haben. Befugt aber fühlte sich die Unbefugten, und unbefugt sind da fast alle, die Ausnahmen bestätigten die Regel. Wenn etwa der Dichter Beer-Hofmann die „Iphigenie“ dramatisch kürzte und zusammenfaßte, wie er’s getan hat, dann war er dazu befugt, als Dichter trat er zu der Dichtung, fühlte sie nach, verehrte sie so sehr, daß er um der Dichtung willen sie neu belebten wollte und belebte. Wenn aber ein zünftiger Auffassungsregisseur, er sei der fixeste, desgleichen tut, dann tut er’s nicht um der Dichtung, sondern eben um der „Auffassung“ willen, die er angeblich hat und die er zeigen wollte: aus selbst Zweck also. Solche Selbstzweckregisseure, die ein Werk inszenieren, um sich dadurch in Szene zu setzen und nach Tragödienschluß im Namen Shakespeares zu danken, haben das epochale Theaterübel verbittert und verschärft. Von der Insolvenz abgesehen, die dazu gehört, daß jemand, der keine andere Legitimation als die der Eisenbahn hat, vor Shakespeare, vor Schiller als eingebildeter Retter mit dem Gedanken tritt: „Das Kind will ich schon schaukeln“, sind solche Schaukler weit davon entfernt, zu retten, und näher daran, zu morden! Lernt die Generation, wie es ihr zu Berlin in der Aera Jeßner erging, das klassische Drama (man erinnere sich an Wilhelm Tell !) aus Auffassungsregien kennen, dann enthält sie eine Vorstellung, deren geistige noch quälender als die szenische ist; von den Abendkassenschränkern der klassischen Hinterlassenschaft ganz zu schweigen, die den Hamlet in den Frack steckten und die Situation unhaltbar, weil sie sie lächerlich machten. Es war daher nicht unverschuldet, daß Jeßner auf seiner Treppe wirtschaftlich zu Falle, der ungleich stärkere Piscator auf dem laufenden Band um keinen Kunstschritt weiterkam. „Vom Ibsen zu Piscator“ betitelte Bernhard Diebold diese Entwicklung, der man kaum anders als durch den Untertitel „Weit gebracht!“ gerecht werden kann.

(Fortsetzung folgt.)

In: Neue Freie Presse, 22. Februar 1931, S. 1-4.

Ernst Fischer: Der Neger Jonny und das freiheitliche Wien

            Seit Silvester hat Wien sein großes Ereignis. Eine neue Oper „Jonny spielt auf“ von Ernst K r e n e k hat die Gemüter erhitzt und das träge, vom Beharrungsvermögen niedergehaltene, gegen alles Neue voreingenommene Wiener Publikum aufgerüttelt. Umso erfreulicher, daß dies einem bescheidenen, blonden, kaum 28jährigen jungen Mann gelang, der ohne große Phrasen, ohne leeren Schwulst, ohne blutleeres Pathos frisch und frei drauflos komponiert. Er will keine Ewigkeitswerte schaffen und schon gar nicht mit  Ewigkeitswerken in Wettbewerb treten. Er hat einfach gedichtet und gesungen, wie es ihm ums Herz war, ja wie es in unserer von Benzingestank geschwängerten Luft liegt. Er umgibt sich mit keinem falschen Heiligenschein, er gestaltet die Tonwelt als Abbild einer entgötterten äußeren Welt und er hat den Mut, den Jazz opernfähig zu machen, wie vormals Mozart das Menuett oder Richard Strauß den Walzer. Da er genau weiß, was er will, fürchtet er weder Tod noch Teufel und sein Jazz wird förmlich zu einer Apotheose jener rhythmischen Urkraft, die unserem Maschinenzeitalter die Welt beherrscht.

            Sein „Jonny“ hat, wie vorher schon an Dutzenden anderen Bühnen, nun auch an der Wiener Staatsoper aufgespielt und der Neger hat es auch den Wienern angetan. Das Geheimnis seines Erfolges ist die Einfachheit, die Wahrhaftigkeit des Ausdrucks, die moderne schlanke Linie im Orchester, die Selbstverständlichkeit, mit welcher Kreneks Tonsprache in der unmittelbaren Gegenwart lebt und sich an die breitesten Schichten des Publikums wendet. In seinem leichtbeschwingten Spiel mischen sich ernste mit heiteren Episoden, es will nach dem Rezept des alten Theaterdichters Goethe vielerlei und jedem etwas bringen. Ohne jede Dogmatik, ohne alle Moralpauken vollzieht sich hier die Annäherung des alten, in der Ideologie seiner Kunst erstickenden Europa an das von künstlerischer Vergangenheit unbeschwerte, im raschesten Jazztempo dahinstürmende Amerika. Der schwarze, skrupellose Jonny, der Geiger und Banjospieler, Posaunist und Saxophonbläser, gewinnt mit allen Mitteln der List und Gewalt die kostbare alte Geige des künstlerisch entarteten {sic!} Danielo, der von den Rädern der Lokomotive zermalmt wird. Siegreich schwingt sich Jonny auf die Bahnhofsuhr, welche sich zur Weltkugel weitet, auf der Jonny auf der alten Geige der ganzen Welt im Jazzrhythmus aufspielt. Er ist stärker als der lüsterne Danielo, stärker als der schwerfällige romantische Tondichter Max, der hochanständige, dem Leben nicht gewachsene Schwächling, der die geräuschvolle Wirklichkeit fürchtet und sich in die Einsamkeit des Gletschers verbirgt. Aber das rasche Leben stürmt vor unseren Augen und Ohren unerbittlich weiter, jenseits von Pathos, Empfindsamkeit und Moral, mit allen seinen Lastern und Leidenschaften, mit Eisenbahn und Auto, Film, Lautsprechern, Detektiv,  falschem Chauffeur und boxenden Polizisten, mit dem täglichen und nächtlichen unromantischen Treiben auf dem Hotelkorridor, mit Tötung und Einbruch, mit Blues, Saxophon und Charleston.

            In all diesen bunten Bildern, die filmartig rasch vorüberziehen, vermag uns Krenek mit dem Urinstinkt des Theatermenschen im D-Zugstempo unserer Zeit auf der Opernbühne aufzuspielen, ein gegenwartsfroher Wirklichkeitsmensch, der, ohne nach rechts oder links zu schielen, ohne in Symbolen und Problemen dick aufzutragen, der Oper von heute etwas gibt, was sie längst suchte und nicht fand. Sein ungekünstelter „Jonny“ ist für die Opernbühne unserer problemfeindlichen Zeit förmlich ein Ei des Kolumbus!

            „Jonnys“  naiver Realismus, seine Ehrlichkeit und Unbefangenheit haben in Wien wie anderwärts Publikum und Kritik im Sturm erobert. Jede Aufführung ist trotz phantastisch hoher Preise ausverkauft und vor dem Wunder dieses Publikumserfolgs verblassen alle „Wunder der Heliane“.1

            Ein Blatt freilich schrie Zeter und Mordio über die Unsittlichkeit und über den Dilettantismus  der Negeroper: Die „Neue Freie Presse“, unfehlbar wie stets tat dem „Jonny“ die Ehre an, ihn mit den gleichen überheblichen Phrasen in Acht und Bann zu tun, mit dem sie vormals Wagner und Brunner, Richard Strauß und Neger belegt hatte. So wenig es jenen geschadet hat, so sehr mag es Krenek ehren, wenn die „Neue Freie Presse“ jede schwache Operette und jede schwächere Revue höher stellt und reinlicher, // kurzweiliger und zeitgemäßer findet als den „Jonny“. Mit der einmaligen Abschlachtung des „Jonny“ gab sich aber die Sittenrichterin nicht zufrieden; das „Weltblatt“ verlor den letzten Rest von Haltung und ließ wenige Tage nachher einen von Sittlichkeit und Kulturidealen triefenden Leitartikel los2, der förmlich zur Absetzung des „Jonny“, der „Ouvertüre zur Entweihung des Hauses“ aufforderte. Das Weltblatt, einst der Vorkämpfer für Freiheit und Fortschritt, kämpft da in schimmernder Wehr für das Deutschtum und der Menschheit Würde – welche durch Kreneks Oper bedroht werden! – Schulter an Schulter mit dem Wiener Hakenkreuzlerblatt, welches von einer „Entweihung des ältesten deutschen Opernbühne“ durch den „Jonny“ sprach. „Schluß machen mit der unerhörten Schande!“ rief empört das deutsche Bruderblatt aus. Schon munkelte man von einer lauten Demonstration der sittlich unentwegt Entrüsteten gegen die weiteren Aufführungen des „Jonny“ und die Polizei im Opernhause wurde vervierfacht. Aber das angesagte Revolutiönchen blieb aus und die Aufführung verlief friedlich unter dem einmütigen Beifall des ausverkauften Hauses.

            Der Musikkritiker Julius Korngold wird dem Rad der Zeit nicht in die Speichen greifen, es dreht sich weiter, unbekümmert um Korngolds wichtige, oberstrichterliche Meinung. Ernst Krenek ist übrigens dem unfehlbaren Kritiker die Antwort nicht schuldig geblieben. Er bezeichnete ihn – gelegentlich eines Vortrages über seinen „Jonny“ – unter lebhaftem Beifall seiner Zuhörer als einen älteren, gereizten Herrn, dessen Einstellung ja ohnedies zur Genüge bekannt ist.3 Ebenso bekannt ist längst die Einstellung der „Neuen Freien Presse“, ihr Geist, der stets verneint und sich gegen alles Neue und Freie wendet. Gleichwohl soll es festgenagelt werden, dass sie es nicht verschmähte, ihr schwerstes Geschütz, ihren Leitartikel, gegen eine harmlose Oper in Bewegung zu setzen. Die geöltesten Phrasen von Sittlichkeit und Kunstschönheit werden da aufgetischt, der arme „Jonny“ wird ein {recte: in} einem Zerrspiegel gezeigt, in dem er sich selbst nicht mehr erkennen mag. Alle Bonzen der hohen, strengen Kunst von Lessing und Herder bis zu dem vormals in den gleichen Feuilletonspalten verunglimpften Richard Strauß werden heraufbeschworen, ja sogar das Schubertjahr muß herhalten und der tote Schubert wird gegen den lebenden Krenek ausgespielt. Dies alles, um ein das Antlitz seiner Zeit tragendes, zugkräftiges, aber dem „Weltbaltt“ und seinen Hintermännern unbequemes Theaterstück aus dem Opernspielplan herauszubeißen. Alles vergebens! Das „Weltblatt“ hat seinen wohlvorbereiteten Feldzug gegen Krenek verloren. Er war die beste Reklame für dessen „Jonny“, welcher der „Neuen Freien Presse“ wohl noch lange in der Staatsoper aufspielen wird.

Wien im Jänner.                                                                                            e. f.

In: Arbeiterwille, Graz, 14.1.1928, S. 3-4.


  1. Oper von Erich Wolfgang Korngold, die 1927 am Stadttheater Hamburg uraufgeführt wurde und 1928 im Operntheater Wien am Programm stand. Das Libretto stammt von Hans Müller-Einigen nach dem Drama Die Heilige von Hans Kaltnecker. Die Aufführungen, auch in neuerer Zeit, wurden eher reserviert bzw. kontrovers aufgenommen und diskutiert. Vgl. z.B. die ablehnende Kritik zur britischen UA 2007 in der Royal Festival Hall: http://www.telegraph.co.uk/culture/music/opera/3669482/Das-Wunder-der-Heliane-Operas-biggest-load-of-codswallop-rises-from-the-grave.html  während jene zur Brünner 2012 Aufführung deutlich positiver ausfiel: http://www.der-neue-merker.eu/brunn-das-wunder-der-heliane-von-korngold-derniere. (Aufgerufen am 22.8. 2014)
  2. Bezieht sich auf den Leitartikel Das Ende des Opernrummels in der NFP vom 6.1.1928; siehe: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=nfp&datum=19280106&seite=1&zoom=33
  3. Gemeint ist der Vortrag Kreneks im Kulturbund

David Josef Bach: Die Dreigroschenoper im Raimundtheater

Kommentiert von Julia Danielczyk und Johannes A. Löcker.

Das Raimundtheater1 ist gestern der Schauplatz eines theatergeschichtlichen und musikhistorischen Ereignisses gewesen. Daß uns Berlin darin vorangegangen ist, wird man, wie die Dinge liegen, wohl schon als selbstverständlich empfinden; aber wir wollen froh sein, daß die „Dreigroschenoper“ nun doch auch nach Wien gekommen ist. Dieses Werk ist es, mit dem nach mannigfachen Vorbereitungen und Experimenten ein neues Kapitel in der Geschichte des Theaters anhebt.

Es mag musikalisch wie dichterisch anspruchsvollere Werke geben, pomphaftere, tiefsinnigere, von dem Unverständnis der Gegenwart in das Verständnis der Zukunft sich flüchtende Werke; aber keines, das so entschlossen wie die „Dreigroschenoper“ sich an die Bedürfnisse der Gegenwart wendet und bei allem Bruch mit der Vergangenheit, bei aller Verwurzelung in der Gegenwart, Neues, Zukünftiges aufbaut. Die Zukunft der Oper als Kunstform ist fraglich geworden. […]

Die „Dreigroschenoper“ erklärt sich selbst mit eigenen Worten: „Sie werden heute Abend eine Oper für Bettler sehen. Weil diese Oper so prunkvoll gedacht war, wie nur Bettler sie erträumen, und weil sie doch so billig sein sollte, daß Bettler sie bezahlen können, heißt sie „Die Dreigroschenoper“.“ […] Die „Dreigroschenoper“ nun stellt das Singspiel unserer Zeit dar. Das Lumpenproletarische, in dem sich seine Handlung bewegt, ist nichts als eine Möglichkeit, sich den Problemen unserer Zeit, den Tatsachen des sozialen Lebens zuzuwenden. Daß solche Stücke geschrieben werden, in Dichtung und Musik, beweist, daß die Künstler der neuen Generation, ganz gleichgültig, ob sie politisch denken, sich den sozialen Problemen nähern, die unsere Zeit erfüllen, sich mit ihnen auf irgendeine Art abfinden müssen. […] auf der Bühne ist keine armselige Wirklichkeit vorgetäuscht, sondern die Wahrheit der Empfindungen, die sich aus einem bestimmten Milieu ergeben, im Guten wie im Bösen, in der Liebe wie in ihrer Käuflichkeit, im Heldenhaften einer Räuberromantik , im Bewußtsein des Unrechts, das an den armen Leuten geübt wird und das sie mit Ungesetzlichkeit vergelten, in dem Bewußtsein ihrer Unterwerfung unter das Gesetz der Reichen und Mächtigen , dem sie ausgesetzt sind, und in ihrer kindlichen Hoffnung auf ein glückliches Ende: „Damit das Publikum sehe, daß wenigstens in der Oper Gnade vor Recht gehe“, heißt es am Schluß. Und so kommt mit der unwahrscheinlichsten und darum doch nicht weniger erwarteten Gnade ein nicht minder unwahrscheinliches, künstlerisch aber sehr begründetes Opernfinale.

Die Handlung so geführt, daß sie jedesmal im rechten Augenblick in Musik mündet. Schon durch diese Form ist der Widerspruch zwischen Text und Musik beseitigt, der dem Opernstil so leicht anhaftet. Ueberdies entspricht auch die Musik, für sich allein betrachtet, den Bedürfnissen einer neuen Zeit. Keineswegs etwa im Aestethischen oder nur in diesem. Der Komponist Kurt Weill2 ist schon mit mehreren modernen Orchesterwerken und mehreren kleineren Opern hervorgetreten, die man, fast selbstverständlich, in Wien gar nicht kennt. Aber in der „Dreigroschenoper“ sind die Ergebnisse moderner Kompositionsweise geradezu popularisiert. Diese soziale Musik, die sich der rhythmischen Formen und der instrumentalen Möglichkeiten der Jazzmusik bedient, wird von jedermann verstanden werden und die Schlager dieser „Dreigroschenoper“ werden bald und ebenso gesungen und gespielt werden wie so viele Nummern aus Operetten und Revuen. Die „Dreigroschenoper“ ist kein Ersatz dafür; sie bringt nicht einen neuen Operettenstil, sondern sie bringt die Möglichkeit eines neuen musikalischen Stiles für Theaterzwecke. Sie wendet sich an ein Publikum, dem die große Oper bisher aus wirtschaftlichen Gründen ebenso verschollen war wie aus den Gründen, die im Ursprung dieser höfischen Kunst liegen. Wenn das Publikum nicht in die Oper geht, ins musikalische Theater kann es gehen. Die „Dreigroschenoper“ sprengt ein Tor und verschafft jedermann Zugang zu neuer Musik. An ihr werden sich viele Tausende erfreuen, ohne lange darüber nachzudenken, wodurch sich diese Musik von andrer unterscheidet. Sie werden ihre lebendige Frische, ihre echte, unserer Zeit entsprechende Volkstümlichkeit empfinden und sich ihr gerne hingeben.

Durch die Aufführung der „Dreigroschenoper“ im Raimund-Theater ist Direktor Beer3 zu seinen ersten ruhmreichen Bestrebungen, das Neue zu bringen, die er später gelegentlich immer wieder erneuerte, mit Begeisterung und Erfolg zurückgekehrt. Die von Karlheinz Martin4 geleitete Aufführung ist der Wichtigkeit des theatergeschichtlichen Ereignisses würdig. Alfred Kunz5 hat die Bühnenbilder so entworfen, daß sie den Erfordernissen des Werkes selbst und den Einfällen des Regisseurs vollkommen entsprechen. Unter den Darstellern steht Harald Paulsen6 als Räuberheld obenan. Er ist nicht nur Tänzer und Sänger, er ist ein bedeutender Darsteller wie unter anderem seine Szene im Käfig, vor der Hinrichtung beweist. […] Der Erfolg wird noch steigen, wenn die richtigen Leute das Haus füllen, die Jedermann.

In: Arbeiter-Zeitung, 10.3.1929, S. 5-6.


  1. Das Raimundtheater (Wallgasse 18–20, 1060 Wien) wurde am 28. 11. 1893 eröffnet. Es war der erste Theaterneubau nach der Stadterweiterung im Jahr 1890. Adam Müller-Guttenbrunn leitete die Bühne von 1893–1896, Ernst Gettke führte sie von 1896–1907, Siegmund Lautenburg und Karl Rosenbaum im Jahr 1907, es folgten Wilhelm Karczag und Karl Wallner bis 1920. Im Herbst 1921 hatte das Haus einen neuen Pächter und Direktor: Rudolf Beer. Er machte aus dem Operettentheater eine renommierte literarische Bühne. Sein Konzept beinhaltete drei Schwerpunkte: zeitgenössische Literatur, moderne Klassik und Unterhaltungsstücke. Ab 1924 leitete Beer sowohl das Raimundtheater als auch das Deutsche Volkstheater. Dies eröffnete Möglichkeiten alternativer Programmgestaltung und Austausch des Ensembles. 1926 trat Hubert Marischka der Direktion Beer bei. Das zwischenzeitliche Engagement von Ferdinand Exl (Leiter und Besitzer der Exl-Bühne in Innsbruck) als künstlerischer Leiter erwies sich als Fehlschlag, da sein bäuerlich-volkstümliches Programm vom Wiener Publikum eher im Sommer angenommen wurde. 

    Als eines der bedeutendsten Ereignisse unter der Direktion von Beer gilt die österreichische Erstaufführung von Bertolt Brechts „Die Dreigroschenoper“. Harald Paulsen war als Macheath (Mackie Messer), Kurt von Lessen als Peachum, Julius Brandt als Tiger Brown, Pepi Kramer-Glöcker als Frau Peachum, Barbara Hohenberg als Polly, Elisabeth Markus als Lucy, Thea Braun-Fernwald als Seeräuber Jenny sowie Alexander Marich, Karl Ehmann und Karl Skraup als Bandenmitglieder zu sehen. Für das Bühnenbild sorgte Alfred Kunz, das Jazzorchester leitete Norbert Gingold, für die Regie verantwortlich zeichnete Karl Heinz Martin.

    „Die Dreigroschenoper“ wurde von der Presse mit Hugo von Hofmannsthals „Jedermann“ verglichen, das 1920 bei den Salzburger Festspielen seine österreichische Erstaufführung (UA 1911 in Berlin) erlebte. Die „Probleme des Daseins“, wie Felix Salten schreibt, sind in keinen anderen Stücken so gut angesprochen wie in „Jedermann“ und der „Dreigroschenoper“. Im „Berliner Börsenkurier“ heißt es anlässlich der österreichischen Erstaufführung: „Die Triebe, von denen die Figuren bewegt werden, sind so zeitlos menschlich wie etwa das Leben und Sterben des ‚reichen Mannes‘ in Hofmannsthals ‚Jedermann‘. Beer hat mit dieser Aufführung seine Position und die seines Theaters weitgehend gefestigt.“ Felix Salten rezensierte in der „Neuen Freien Presse“ am 10. März 1929: „Man hat ein Werk vor sich, das von Tradition und alter Herkunft getragen wird, das mit Menschlichem und Allzumenschlichem anspricht, das nach Heute und Morgen riecht, das von Talent und Jugend umwittert ist. Dieses Werk den Wienern in einer so guten Aufführung gezeigt zu haben, war jedenfalls Pflicht, war vielleicht sogar ein Wagnis, aber es bleibt unter allen Umständen ein Verdienst“.

  2. Kurt Weill (* 2.3.1900 Dessau – 3.4.1950 New York). 1927 begann die Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht, 1928 verfassten sie zusammen „Die Dreigroschenoper“. Sein ab 1927 entwickelter sogenannter „Songstil“ prägte „Die Dreigroschenoper“.
  3. Rudolf Beer (*21.8.1885 Graz – + 9.5.1938 Wien). Beer war Schauspieler, Regisseur und Theaterdirektor. Er leitete 1918–21 das Brünner Stadttheater, 1921–24 pachtete er das Raimundtheater und 1924–32 das Deutsche Volkstheater in Wien. Unter Rudolf Beer war das Volkstheater mit dem Raimundtheater fusioniert, der Spielplan war stark an den Berliner Bühnen orientiert. Zu Beers wichtigsten Regisseuren zählte Karl Heinz Martin. Beer lud viele Ensembles zu Gastspielen ein, darunter das Moskauer Kammertheater unter Alexander Tairoff oder Stars mit eigenen Ensembles wie Fritz Kortner oder Paul Wegener. Beer förderte moderne, progressive Literatur, besonders Luigi Pirandello, von dem 1926 „Heinrich IV.“ mit Alexander Moissi gespielt wurde. Moissi spielte auch den Hamlet im Frack in einer zeitgenössische Shakespeare-Deutung, einem der seltenen Klassiker in der Direktion Beer. 1929 verkörperte Moissi hier seinen legendäre Jedermann, den er bei den Salzburger Festspielen unter Max Reinhardt dargestellt hatte. Dramaturg an Beers Haus war der Autor Franz Theodor Csokor. Ab 1931 war am Volkstheater auch eine Schauspielschule angegliedert, Karl Paryla und Paula Wessely, die dem Ensemble einige Jahre angehörte (Wendla in Wedekinds „Frühlings Erwachen“, 1928) studierten hier. Karl Heinz Martin inszenierte 1929 Bertolt Brechts „Die Dreigroschenoper“ mit großem Erfolg, 1930 Molnárs „Liliom“ in einer Berliner Fassung. Eine Sensation war das Auftreten Emil Jannings in Gerhart HauptmannsDer Biberpelz“ (1930) und „Fuhrmann Henschel“ (1931). 1932 wurde Beer kurzfristig als Nachfolger Max Reinhardts ans Deutsche Theater Berlin berufen, seine Tätigkeit fand aber infolge der Machtergreifung Hitlers schon 1933 ihr Ende und er kehrte nach Wien zurück. 1932 erhielt er den Berufstitel Professor. 1933–38 leitete Beer das Theater „Scala“ in Wien. In dieser Zeit war er auch Präsident des Verbandes österreichischer Theaterdirektoren. 1938 wurde Beer nach dem ‚Anschluss’ Österreichs während einer Vorstellung von CalderónsDer Richter von Zalamea“ vom NS-Betriebszellenleiter Erik Frey gemeinsam mit Robert Valberg aus einer Loge gezerrt und schwer misshandelt. Beer nahm sich am 9. Mai 1938 das Leben. Der Regisseur und Direktor des Theaters in der Josefstadt (im Zeitraum 1935–1938) Ernst Lothar (1890–1974) sagte über Rudolf Beer: „Beer ist an keiner Sensation vorbeigegangen, er hat Hamlet in den Smoking und sich selbst den Respekt von hohen Stil an den Hut gesteckt; aber sein Theater war lebendig, hatte Ehrgeiz und Mut.“
  4. Karl Heinz Martin (*6.5.1888 Freiburg im Breisgau – + 13.1.1948 Berlin). Karl Heinz Martin war Regisseur und Theaterleiter. Martin debütierte 1904/05 in Kassel, wechselte dann nach Hannover und Mannheim , wurde 1910/11 Direktor des Komödienhauses in Frankfurt am Main, 1912/13 Oberspielleiter der dortigen Städtischen Bühnen, 1917–1919 war er Oberspielleiter des Thalia-Theaters in Hamburg. 1919 gründete Martin zusammen mit Rudolf Leonhardt in Berlin das erste deklariert proletarische Theater „Die Tribüne“ (wo er die Uraufführung von Ernst Tollers „Die Wandlung“ mit Fritz Kortner übernahm). 1920–22 war er Regisseur an den Reinhardt-Bühnen in Berlin. Martin wurde in den 1920er Jahren als Regisseur expressionistischer Stücke bekannt, er brachte – ähnlich wie Erwin Piscator – Massen auf die Bühne und förderte progressive Dramatik. 1923 gründete er zusammen mit Heinrich George das Berliner Schauspieler-Theater, ab diesem Zeitpunkt inszenierte Martin in Breslau, Salzburg, an verschiedenen Berliner Bühnen sowie am Raimundtheater in Wien, wo er für die Regie von Arnolt Bronnens „Anarchie in Sillian“ (1924) von Frank Wedekinds „Franziska“ (1924) sowie Bertolt Brechts „Die Dreigroschenoper“ (1929) verantwortlich zeichnete. 1929–1932 war Martin Leiter der Berliner Volksbühne, Ende 1932 wurde er zusammen mit Rudolf Beer als Nachfolger zum Direktor seiner Bühnen ernannt. Nach Gastinszenierungen in Wien 1933/34 war Martin vor allem als Filmregisseur tätig, da er als Theaterregisseur Berufsverbot hatte. Ab 1940 konnte er dank befreundeter Intendanten einige Gastinszenierungen gestalten, etwa an den Münchner Kammerspielen Grabbes „Hannibal“ (1940) und Laubes „Die Karlsschüler“ (1941). Am 15. August 1945 eröffnete er das Berliner Hebbel-Theater (dessen Intendant er bis zu seinem Tod bleib) mit Brechts „Die Dreigroschenoper“ wieder und brachte zahlreiche Uraufführungen heraus. Mit seiner Inszenierung von Gorkis „Nachtasyl“, Molnárs „Liliom“ (mit Hans Albers) sowie durch Gastregisseure wie Jürgen Fehling (Sartres „Die Fliegen“) machte er das Hebbel-Theater zu einer der lebendigsten Berliner Bühnen. Wolfgang Langhoff sagte 1948 über Karl Heinz Martin : „Er wußte, daß die Umschichtung und Umerziehung des Publikums die Aufgabe des Theaters von heute ist, und so wurde er nach dem ersten Weltkrieg ein Mann der Volksbühne, ein Mann des Fortschritts, ein rastloser und suchender Regisseur neuer Stücke, neuer dichter, die mit ihrer Zeit verbunden waren. Diese Seite seines Wirkens ist die größte und ihr muß dauernder Wert zugesprochen werden.“
  5. Alfred Kunz (*26.6.1894 Wien –  2.8.1961 Wien). Kunz war Kostüm- und Bühnenbildner. Ab 1918 wirkte er als freischaffender Architekt, ab 1922 als Bühnenbildner und Ausstatter an vielen Wiener Bühnen. Kunz arbeitete auch für den Film und war als Modezeichner einflussreich. 1938–1945 war er künstlerischer Leiter des „Wiener Hauses der Mode“ im Palais Lobkowitz und wesentlich beteiligt an der 1939 erfolgten Umgestaltung der Wiener Frauenakademie in eine Modeschule der Stadt Wien. 1945–1955 leitete er als erster Direktor die wieder gegründete Modeschule, er baute auch die heutige Modesammlung des Wien Museums auf.
  6. Harald (Johannes David) Paulsen (*26.8.1895 Elmshorn/Hamburg – +4.8.1954 Hamburg-Altona). Paulsen war ausgebildeter Tänzer, Regisseur, Schauspieler. Paulsen debütierte 1913 am Hamburger Stadttheater, spielte am Fronttheater Mitau und kam 1919 nach Berlin ans Deutsche Theater. Paulsen, zum damaligen Zeitpunkt vor allem Operettenstar, spielte sowohl in der Uraufführung von Bertolt Brechts „Die Dreigroschenoper“ (am 31.8.1928 am Berliner Theater am Schiffbauerdamm, die Inszenierung wurde 200 Mal gespielt, bis Ende 1932 wurde „Die Dreigroschenoper“ in 18 Sprachen übersetzt und erfuhr mehr als 10 000 Aufführungen in Europa) als auch in der österreichischen Erstaufführung erfolgreich die Rolle des Mackie Messer. 1938 übernahm Paulsen die Intendanz des Theater am Nollendorfplatz in Berlin, wo damals hauptsächlich Operetten aufgeführt wurden. Er führte auch Regie und übernahm Gesangspartien. Bis 1945 leitete er die Bühne, danach wechselte er ans Schauspielhaus Hamburg. Paulsen wirkte in zahlreichen Filmen mit. Von der „Dreigroschenoper“ existieren heute noch Gesangsaufnahmen mit Harald Paulsen.

Raoul Auernheimer: Mehr Ibsen

Jene Theaterfreunde, denen die Schaubühne mehr als einen bloßen Zeitvertreib bedeutet und das große Amt des Dramatikers nebst allem anderen auch eine Art weltlicher Seelsorge ist, sehen sich, wenn sie bei Ibsen beten oder beichten wollen, in den letzten Jahren immer häufiger gezwungen, sich auf die gedruckten Schriften dieses Dichters zurückzuziehen. Ibsen wird ja kaum mehr in Deutschland gespielt, in Wien so gut wie gar nicht. Ist es wirklich, wie säumige Theaterdirektoren oder oberflächliche Theatergänger so gern zur Entschuldigung eines unentschuldbaren Mißstandes behaupten, bereits „veraltet“ (als ob das wahrhaft Gute je veralten könnte)? Ist es der Krieg, der eine Wandlung des Geschmackes von Ibsen weg herbeigeführt hat – im Gegensatz zu jenem anderen Nordländer, Strindberg, den die Kriegsjahre in der Gunst des großen Publikums so sehr befestigt haben? Oder sind es in erster Linie die darstellerischen Mittel, die zu seiner dramaturgischen Bewältigung derzeit mangeln? Diese letzte Vermutung, die das Phänomen, daß Ibsen nicht mehr gespielt wird, ohne Wunder zu erklären sucht, dürfte für Wien genügen. Ibsen, der als ein großer Dramatiker auch an den Schauspieler bedeutende Ansprüche stellt, verlangt, um zu wirken, nach einem abgestuften Ensemble, wie es zurzeit keine Wiener Bühne besitzt. Das Deutsche Volkstheater bildet selber keine Ausnahme. Daß es sich trotzdem nicht davon abhalten ließ, wenigstens ein großes Ibsen-Stück dem Spielplan neu einzuverleiben und damit eine geistige Ehrenschuld gegen den Dichter einzulösen, ist verdienstlich, wenngleich es fraglich bleibt, ob gerade der szenisch so anspruchsvolle und dramatisch unzulängliche „Peer Gynt“ das hierfür geeignetste Werk war.

„Peer Gynt“, den Ibsen ebenso wie die „Gespenster“ und manches andere seiner nordischen Prachtstücke im sonnigen Süden, in Sorrent, zu Papier brachte, ist, obwohl unter italienischem Himmel entstanden, eine äußerst dunkle Dichtung. Sie ist so dunkel, daß der unbelehrte Zuschauer sich kaum darin zurechtfände und wie in einem finsteren Walde ganz verirren müßte, wenn nicht da und dort ein Stern durch das wirre Geäst schiene oder eine phosphoreszierende Dialogstelle ihm die Richtung wiese. Eine solche blitzt etwa in jener Szene bei den „Trollen“ auf, wo Peer Gynt sich mit dem Dovre-Alten unterhält. Der Dovre-Alte, der, wie die dunkeln Ehrenmänner bei Ibsen gewöhnlich, eine philosophische Konversation liebt, fragt den Ankömmling, unter anderm, worin seiner Meinung nach der Hauptunterschied zwischen Mensch und Troll bestehe. Der liederliche und geweckte Bauernbursch, der Peer Gynt ist – er soll das norwegische Volk symbolisieren, belehren uns die Ibsen-Kommentatoren – antwortet zynisch, der Unterschied werde so beträchtlich nicht sein. Aber der Dovre-Alte erklärt ihm, er sei unendlich; denn, so sagt er – und von dieser Stelle geht das Licht aus -: Das höchste Gebot des Menschen laute: „Sei du selbst!“, das der Trolle aber heißt: „Sei du selbst – dir genug!“ Hier drückt uns der Dichter den Schlüssel in die Hand, der in das Innere seiner Dichtung hineinführt.

Freilich, um ihn zu gebrauchen, müssen wir vorerst ein Stück zurückgehen. Herr Gynt ist, wie schon erwähnt, ein norwegischer Bauernbursch, eine symbolische Figur, aber auch eine menschliche. Als solche stammt er von leiblichen Eltern, und Ibsen, der uns einen Charakter immer auch naturwissenschaftlich durch seine Abstimmung erklärt, macht uns gewissenhaft mit beiden Elternteilen bekannt. Die Mutter lernen wir persönlich kennen; sie ist eine phantasievolle Närrin, unzufrieden mit ihrem mißratenen Sprössling und doch verliebt in ihn, mit einer Ohrfeige rasch bei der Hand, wenn sie sich über ihn ärgert, aber jederzeit bereit, ihn, wenn ihm jemand nahetritt, wie eine Löwin ihr Junges zu verteidigen. Vom Vater erfahren wir nur aus den Schilderungen der Mutter, daß er ein Verschwender, ein Lump war, und das ist auch der Sohn, dazu ein Lügner, wenn auch einer von der liebenswürdigen Sorte, ein Lügner aus Phantasie. Seine eigene Mutter beschwatzt er, gleich in der ersten Szene mit einem erdichteten Jagdabenteuer, und da sie ihm seine Verkommenheit vorhält, setzt sie der Unband lachend auf das Dach der Mühle und sucht, während sie sich schreiend abzappelt, lustig das Weite. Aber der Lügenpeter ist auch ein Don Juan, den die ehrbaren Mädchen im Dorfe meiden, ja dem sogar die liebliche Solveig, da er sie bei einer ländlichen Hochzeit zum Tanze bittet, angstvoll einen Korb gibt. Um sie dafür zu strafen, entführt er von der Hochzeit weg, unter der Rase des Bräutigams, die Braut ins Gebirge, indem er mit ihr auf den Armen die unwegsamen Schroffen emporklettert.

Am nächsten Morgen stößt er sie dann wieder von sich, ins Elend, in die Schande; denn er liebt sie gar nicht, er liebt Solveig, und sie, die engelsreine Solveig, liebt ihn, den wegen Frauentrubel aus der Gemeinde Ausgestoßenen, gleichfalls. Sie sucht ihn in seiner Hütte auf, will ihr Schicksal mit dem seinen für immer vereinigen. Allein, nun ist es dazu zu spät; Die Verführte tritt mit ihrem Kind dazwischen, und Peer Gynt bleibt nichts übrig als die Flucht – die Flucht vor sich selbst und, als äußerlicher Ausdruck dieser seiner inneren Lage, die Flucht ins Ausland. Zuvor aber hat er noch eine Szene mit der sterbenden Mutter, die dichterisch schönste des Stückes. Er lügt sie über ihren Zustand hinweg, gaukelt ihr eine Schlittenfahrt vor, wie sie ihn, als er noch ein Kind war, vor dem Einschlafen zu tun pflegte, und – kutschiert sie so unvermerkt in den Tod . . . Euthanasie nennen die Ärzte diese letzte Wohltat. Die arme Aase hat sie ganz umsonst, bloß weil sei einen so reizend verlogenen Sohn hat.

Sollte er vielleicht trotz alldem „er selbst“ sein? In dieser Szene hat es fast den Anschein, aber in dem nun folgenden vierten Akt droht der Mensch in Peer Gynt ganz zum Troll auszuarten, das heißt zu einem Erzegoisten, der, nur im materiellen Genuß, auf- und untergehend, „sich selbst genug“ ist. Peer Gynt ist in diesem Akt, der ein Menschenalter später in Afrika spielt, ein reicher Mann und großer Herr, ein „Kaiser“ von Heldes Gnaden, ein „Prophet,“ dessen im Negerhandel ruhende Anfänge längst vergessen sind, ein Lebenskünstler und Genießer, den die liebliche Anitra ausplündert und der sich von dieser Schönen willig plündern läßt, weil, wie er sagt: „ein achtbarer Schriftsteller behauptet, daß uns das Ewig-Weibliche anzieht . . .“ All das ist pure Ironie, romantische Ironie, wie dieser ganze eingeklemmte und beklemmende Akt, dessen letzte Szene, tiefsinnig bis zur Unverständlichkeit, im Irrenhause in Kairo spielt. Der nächste, in dem Peer Gynt wieder um ein paar Jährchen älter und um die Erfahrung reicher ist, daß der bloß materielle Egoismus notgedrungen zum Wahnsinn führt, endigt das abenteuerliche Schicksal Peer Gynts dort, wo es seinen Anfang nahm, in des Dichters nordischer Heimat. Es beginnt jene Auseinandersetzung mit Gott, die den faustischen Kern dieser seltsamen Dichtung ausmacht. Der heimkehrende Peer Gynt begegnet dem „Knopfgießer“, einem jener unheimlichen Gesellen von nüchternster Symbolik, die Ibsen in den Gestaltenkreis des modernen Theaters eingeführt hat. Der Knopfgießer droht dem Gealterten, ihn einzuschmelzen, wie die meisten, die weder gut noch böse gewesen sind und deshalb noch einmal in den Schmelztiegel zurück müssen; denn nur diejenigen, die im Bösen ganz „sie selbst“ gewesen sind, verfallen dem Teufel. Hier also blickt zum zweitenmal jenes rätselhafte Wort auf, und diesmal leuchtet es auch Peer Gynt besser ein. Unwillkürlich wehrt sich sein Egoismus gegen die Unterstellung, nicht ganz „er selbst“ gewesen zu sein. Um dem Knopfgießer zu entgehen, will er in Gottesnamen sich sogar dem Teufel überantworten und macht sich erbötig, den Beweis zu liefern, daß er dessen nicht ganz unwürdig ist. Aber der „Magere“, der, als Jesuit verkleidet, mit einem Schmetterlingsnetz über der Schulter, auf den Seelenfang ausgeht, weist ihm diabolisch nach, daß alle seine Sünden an dilettantischer Halbheit kranken. So droht nun Peer Gynt, vom Teufel wie von Gott verworfen, endgültig dem Knopfgießer, der Namenlosigkeit, der Spurlosigkeit zu verfallen. Denn „wie und wo war er, wie sein Gott sich verstanden“, fragt er Solveig verzweifelt. Allein die mütterliche Solveig, die all die Zeit in Treue seiner geharrt hat, ist um eine Antwort nicht verlegen. In ihrem „Glauben, Hoffen, Lieben“, erwidert sie, war er die ganze Zeit über derjenige, der er wirklich war, er selbst, und als solcher der Erlösung würdig. Mit anderen Worten: Das Ewig-Weibliche zieht schließlich, wie Faust, so auch Peer Gynt hinan – diesmal ohne alle Ironie.

Das rätselreiche, im Lesen unendlich anziehende, aber auf der Bühne in seiner Vielbildrigkeit kaum ohne Erlösung erträgliche Stück stammt aus Ibsens dramatischen Gesellenjahren, in denen der spätere Meister noch tastend nach der ihm eigentümlichen Form und Technik suchte. Halb episch gedacht, wie der ungefähr gleichzeitige „Brand“ – Peer Gynts dramatischeres Seitenstück – dazu aus dem Märchengrund der Sage hervorgewachsen, somit dem mit der nordischen Märchenwelt nicht vertrauten Ausländer zur Hälfte gar nicht, zur anderen Hälfte kaum verständlich, ermüdet die einer spannenden Verwicklung ganz entbehrende Dichtung auf der Bühne schon durch ihre unverhältnismäßige Länge. Diese Ermüdung zu bannen, müßte die erste Sorge des Regisseurs sein, und man kann nicht sagen, daß dies Herrn Direktor Bernau völlig gelungen ist, so wenig, wie es vor Jahren dem in Wien gastierenden Direktor Barnowsky gelang. Das überlebensgroße Stück ist wohl überhaupt zu groß für einen Abend, man müßte es an zwei aufeinanderfolgenden spielen. So wäre der vierte Akt, mit dem ein neues Stück oder das Stück von neuem beginnt, an den Anfang des zweiten Teiles gestellt, allenfalls erträglich, während er in der jetzigen Form ein für das Publikumsinteresse fast unüberwindliches Hindernis bedeutet, zumal der häufige, fünfmalige Szenenwechsel den Ablauf dieses gefährlichen Aktes immer wieder unliebsam verzögert. Diese weltläufigen Szenen müßten, wie der zum Weltmann gewordene Peer Gynt einmal sagt „vorüberfliegen wie ein Bonmot“, was derzeit keineswegs der Fall ist. Hiezu wäre freilich auch erforderlich, daß die bloße szenische Andeutung an die Stelle des realistisch ausgemalten und auf Massenwirkungen zugespitzten Bühnenbildes träte. So vollendet dieses im einzelnen Falle geraten ist – beispielsweise die sehr malerisch angelegte Hochzeit und das unheimliche Gemengsel moosfarbiger Trolle – so wenig tragen diese Bilder in ihrer Gesamtheit zur Vollendung des Ganzen bei, so wenig können sie auch vergessen machen, daß es dem Deutschen Volkstheater für die interessante Hauptrolle an einem eigentlich interessanten Schauspieler fehlt. Herr Everth sucht, was ihm in vieler Richtung abgeht, durch angenehmste Mittel und eine gewisse liebenswürdige Allerweltsmunterkeit zu ersetzen; er besetzt von Anfang an den guten Kerl, der Peer Gynt unter anderm ist, und täuscht so eine Zeitlang darüber hinweg, daß Peer Gynt doch auch noch mehr, noch anderes ist: die Verallgemeinerung der Gestalt, den Ecce-Homo=Zug bleibt er uns schuldig.  Die Solveig, die eine ewige Gestalt, obwohl eine kaum angedeutete Theaterfigur ist, wird von Fräulein Denera seelisch reizvoll verkörpert; ihr Widerspiel, Anitra, ein allerliebster Troll unter den Weibern, dem es weniger um die Seele als um Opale und Fußspangen zu tun ist, machte das Publikum mit Fräulein Gettke bekannt, einer zierlichen und, wie es scheint, wohlunterrichteten jungen Schauspielerin, die auch sehr hübsch tanzt. Dem besonderen Ibsen-Ton, jener scheinbaren Nüchternheit, die, wenn man sie abklopft, so unheimlich klingt, kam in der Rolle des Knopfgießers Herrn Teubler am nächsten.

Der Philosoph Otto Weininger nennt Ibsens „Peer Gynt“ eines der gewaltigsten Erlöserdramen aller Zeiten, nur mit dem „Faust“ und „Parzival“ vergleichbar. Diese überschwängliche Meinung schien das durch die übermäßige Länge des Abends ermüdete Publikum der gestrigen Aufführung nicht zu teilen, aber die hingebungsvolle Aufmerksamkeit, mit der die meisten die Strapazen eines nicht alltäglichen Theaterabends ertrugen, ließ erkennen, wie groß und wie allgemein das Bedürfnis nach Ibsen ist. Das Beste an dieser wohldurchstudierten, fleißigen, von der Griegschen Musik wie von einem goldenen Band stimmungsvoll durchwirkten „Peer-Gynt“-Aufführung ist doch, daß sie uns zu Ibsen zurückführt. Ihr schönster Erfolg wäre es, wenn sie unsere Theaterdirektoren veranlassen würde, einer auf dem Theater immerhin problematischen Dichtung die Meisterstücke Henrik Ibsens von den „Gespenstern“ bis zu „John Gabriel Borkmann“ folgen zu lassen. Daß die Schauspieler dazu fehlen, kann auf die Dauer keine Entschuldigung sein; wenn sie fehlen, so müssen sie gefunden und an Wien gebunden werden. Das Wiener Theater würde sich selbst zur Armut und literarischen Bedeutungslosigkeit verurteilen, wenn es sich einer fortwirkenden geistigen Anregung, wie sie die Beschäftigung mit der großen Ideenwelt Ibsens bedeutet, auf die Dauer entziehen wollte.

In: Neue Freie Presse, 21.3.1920, S. 2-3.