Anton Kuh: Von Salzburg bis Leningrad (1928)

Es ist also wieder alles vollzählig da: Max Reinhardts Pensionat der Berühmtheiten, Amerika und Ischl, Alexander Moissi — um­florten Auges dem Anblick des gleichnamigen Tragöden hingegeben, der ihm aus den wieder­erkennenden Blicken der Fremden und Ein­heimischen entgegenschaut —, ich — bis zur Autogrammumworbenheit mit ihm verwech­selt —, der ganze Rundreisekongreß berichterstattender Journalisten von Paul Stefan bis Mr. Lincoln Eyre („New York Times“), die Wiener Oper, das New Yorker Geld und der Salzburger Regen. Überschaut man das ganze Ensemble, so kommt es einem auf den ersten Blick etwas zu gesellig, ich möchte sagen: vereinsmäßig vor; als sei der Betrieb nur von seinen Produzenten beigestellt, nicht von den Konsumenten. Aber das mag von der Altgewohnheit des Bildes kommen. Die Hoteliers und der Landesverband für Fremdenverkehr sehen es rosiger; sie sind überzeugt, daß Salz­burg dank einer Menge vereinter Bestrebungen und neuer Errungenschaften (Gastspiele aus­ländischer Truppen, Unsepariertheit der Geschlechter im Leopoldskroner See, sprachen­kundiger Polizisten, fließendes Wasser) über kurz oder lang in Europa liegen werde…

*

… unter Wahrung der bodenständigen In­teressen, versteht sich.

Aber, Himmel, hier liegt ein schweres, fast unlösbares Problem. Nach allem, was ich in den Paar Tagen erlebte und hörte, haben die kunsteuropäischen Bemühungen des Festspiel­direktoriums etwa mit Stresemanns Stellung in Genf Ähnlichkeit: hinter ihrem Rücken die Schar der Einheimischen (sprich: Eingeborenen), die den zu erlangenden internationalen und repräsentativen Profit nicht mit der Preisgabe der sogenannten heimatlichen Belange bezahlen wollen — vor ihnen die Fremden, die keines­wegs damit zufrieden wären, in Salzburg bloß eine Abart von Bayreuth, Eger, Oberammergau zu erblicken —, zumal sich heute niemand mehr die Schätzung nationaler Eigenart Geld kosten läßt. Die einen empfindlich, schlecht ge­launt, ewig entrüstungsbereit — die andern verwöhnt, skeptisch, snobbisch. Was bleibt dem armen Festspieldiplomaten da zu tun?

Er muß jeden Fußbreit Boden, den er, nach vorn, dem europäischen Kunstrevier abgewinnt, nach rück­wärts als Fremdenattraktion und nationale Unverfänglichkeit rechtfertigen; er muß dem Salzburger Stadtkind Mut zusprechen. Nimm das Geld nur, du wirst nicht daran sterben! Und er muß ihm, zum Schluß, Entschädigun­gen bieten — das sind: Repertoirespenden für den heimischen Charakter. Jedermann von Hofmannsthal genügt da nicht; das dient nur den religiösen Erbauungsbedürfnissen des traveller chek. Hinabgetaucht in die Volkssage und die Landestradition!… Natürlich zahlt der ausgleichsbeflissene Festspieldiplomat ge­rade auf diese Konzessionen drauf. Denn merk­würdig, aber wahr: auch der kernigste Urkern-Salzburger sieht sich die Räuber unter Rein­hardt, ja sieht sich die Iphigenie unter Beer-Hofmann lieber an als das aus bäuerlichen Seelentiefen geschöpfte Perchtenspiel (des übrigens hochbegabten, unverdient zu solchem Beruhigungszweck erkorenen Richard Billinger).

Doch soll hier von einem absonderlichen Fall des „Draufzahlens“ die Rede sein — zugleich dem kuriosesten Abenteuer der Festspiel­diplomatie.

*

Das Direktorium hatte im Frühsommer mit Toscanini und der Mailänder Scala Unterhandlungen angebahnt. Sie verliefen — wunderbarerweise — erfolgverheißend: Toscanini, der, von seiner Amerikafahrt abge­sehen, seinen Fuß noch nicht außer Land gesetzt hat und bisher den unwahrscheinlichsten Geldverlockungen widerstand, schien bereit, nach Salzburg zu kommen. Die „nationalen Verbände“ erfuhren es — und protestierten. Der deutsche Charakter, die Knebelung Süd­tirols, das bodenständige Element— das marschierte alles konzentrisch gegen die Fest­spielgemeinde, und die Sensation, die Salz­burg den zehnfachen Zulauf verschafft hätte, fiel aus. Wo sollte jetzt der zugkräftige inter­nationale Ersatz dafür her? Das Neue, Unabgeleierte, Fremdenanziehende?

Zur richtigen Stunde kam das richtige An­gebot: das Leningrader Opernstudio erbot sich, für wenig Geld (die Spesen waren durch einen Propagandafonds gedeckt) in Salzburg seine Kunst vorzuführen. Nun, dachten die Festspieldiplomaten, haben wir euch Toscanini und die „Scala“ geopfert, so werdet ihr doch wenigstens gegen das Konträre nicht viel einzuwenden haben! Sie stimmten also dem Gastspiel zu. Da aber geschah das Uner­wartete (so etwas wie einem Dolchstoß der Deutschen Volkspartei in Stresemanns Rücken vergleichbar): nicht die Einheimischen — die Wiener liberale Presse, also jene Seite, der doch gerade wieder „Europa“ und „Kosmo­politismus“ konzediert werden sollte, schrie jetzt Zeter und Mordio; sie rief: Salzburg im Zeichen des Sowjetsystems! Totverlegen stand der Festspieldiplomat da: von rechts der Pro­vinzialangriff, von links der Sturm der eige­nen Anhänger — wie kommt man aus dieser Zwickmühle?

Durch neue Heimatskonzessionen. Die strammen Propagandisten aus Leningrad (wer hat etwas gegen die Propaganda der Leistung?) versprachen, mit Mozart den An­fang zu machen; und Numero zwei: ad hoc ein Opernwerk des Salzburger Mozarteum-Dirigenten Paumgartner einzustudieren, um es in neurussischer, Tairoffscher Aufmachung am ersten Abend zu präsentieren.

In diesem Zeichen der Versöhnung von Salzburg und Leningrad erfolgte der Start.

*

Das Haus war nicht übermäßig voll; das „Stadttheater“ spendete aus dem eigenen Be­trieb etliche Schikanen und Sabotagen (Beer-Hofmann hat mir einen Vormittag lang über gleiche Erlebnisse mit der Salzburger Stadt­bühne einen Klagebericht gegeben). Trotzdem wehte von der Bühne der Hauch des Außer­ordentlichen. Das war nicht das alte Opern-Lirumlarum mit gestellten Attitüden und eingeschlafenen Gebärden, sondern wunderbare maskenfrohe Besessenheit. Der treffliche Paum­gartner aus Salzburg erglühte da zu einem Strawinsky.

Und der Lohn? In der Loge neben mir stan­den mitten im Stock ein paar Salzburger Damen auf. Honoratiorengattinnen vermutlich, vom Schlage der gewissen Beethoven-Matronen. Hinter ihnen wallte als Schleppe altpatrizischer Entrüstung der Ausruf: Unverschämtheit!… Ich wollte ihnen auf die Treppe nacheilen, um ihnen zu sagen: Aber, meine Damen, es handelt sich hier doch nicht um Lenin, sondern um Ihren Paumgartner! Rußland effektuierte nur, was Salzburg wollte! — Es hätte mir nicht viel genützt.

Hernach, bei Bastien und Bastienne, wäre bei einem Haar, als der Regisseur ein übriges tat und einen gereimten Epilog aufsagte, schein­bar voll Lobpreisungen der „neuen Zeit“, in Wahrheit aber voll nachträglicher Bücklinge und Entschuldigungen vor dem Ortsnerv, der Sturm losgebrochen. Er erstickte erst und wan­delte sich in Applaus, als daraus das Wort aufflog: „Euer Mozart!“

Der Mozart der Salzburger — ich möchte nicht Wolfgang Amadeus darüber vernehmen, wie es ihm zu Lebzeiten ging.

*

Reinhardt stand in seiner Loge und applaudierte; der Epilog schien ja auch förmlich (als Angriff? als Huldigung? — ich weiß es nicht) zu ihm hinaufdeklamiert. Er stand ruhig, gefaßt, alles überblickend. Der Ober-Diplo­mat, dem hier keiner gewachsen ist.

Ich erfuhr noch am gleichen Abend, was er, in Anlehnung an Weimarer und Jenenser Vorbilder, für die Räuber-Inszenierung vor hat: die Salzburger Studentenschaft wird während der Zwischenakte im gedeckten Orchester Studentenlieder singen. Dadurch verkürzt sich die Zeit des szenischen Umbaues; außerdem ist das etwas für Salzburgs Jung­mannen. Sie reden seit Tagen von nichts anderem, freuen sich kindlich darauf und sind überzeugt, daß nicht Moissis Franz und nicht Hartmanns Karl, sondern ihr Rundgesang das große Ereignis sein wird.

Was keinem Diplomaten gelang — Rein­hardt ist es solcherart gelungen: die Versöhnung zwischen Salzburg und Europa. Der kleine Mann, den man seit langem als obersten Kirchenherrn des deutschen Theaters feiert, thront mit Recht so allgegenwärtig, einsam und erhaben auf seinem Schloß wie der Erzbischof. Er ist ein Schüler der Kirche, der fast schon ihr Lehrer sein könnte.

In: Der Tag, 10.8.1928, S. 3.

[Max] Ermers: Das Licht ruft. (1924)

Zur heutigen Uraufführung im Josefstädter Theater.

Man sollte eigentlich nachdenklich, vielleicht sogar bedenklich werden, wenn man vom Arbeitsraum dieser großen Tänzerin in das rauschende Leben einer Stadt hinabsteigt. Man hat temperamentvolle Worte gehört, Kostüme gesehen und ein Paar ausdrucksvolle Bewegungen. Und eine lange und schöne Geschichte, deren Poetin die Bauroff ist, gehört, die un­unterbrochen den Gedanken aufblitzen läßt: hier wird Ethik getanzt. Die Bauroff ahnt na­türlich diesen Gedankenblitz und wehrt sich. Welcher moderne Mensch, de dato 1924, sollte den Vorwurf auf sich sitzen lassen, Ethik zu tanzen, nota bene wenn er mit einem so überschlank-schönen, praxitelischen Körper gesegnet ist und mit einer überfülle starker, ungedank­licher Gefühle, die ununterbrochen ans Licht der Muskeln und Epidermis ringen.

Das Licht ruft. Kein beliebiges Licht: Teil des Teils, der sich die Welt gebar. Die Welt der Seelen. Die Welt der Göttlichkeit, die Welt des Edlen, die Welt der höheren Sphäre.

Jenes Licht, das die Gemeinheit der Zeit und der Ewigkeit in den Abgrund des Dunkels schmettert. Hymnus an das befreiende, beseeligende, gute Licht… will die Ouvertüre sagen; nicht sagen: tanzen. Dann trifft sieben Menschen der Strahl des Lichts. Sieben Men­schen hintereinander. Sieben Typen. Sieben Bilder.

Sammelt nicht Schätze auf der Erde.“ Diesen Erd- und Sachgierigen, der beinah‘ schon ein Geizhals ist, trifft das Licht. Er hört sein Rufen und er möchte folgen, denn es ist ein Schatz über allen Schätzen. Auf die irdischen Schätze aber will und kann er dabei nicht verzichten. Man kann nicht dem Licht dienen und der Materie der Erde zu­gleich. So wendet sich das Licht von ihm.

Das Geschlecht der Nacht, der Lüge und der Niedertracht ist es, dem sich das Licht dann zuwendet, um es — zumindest vorübergehend — zu zerbrechen.

So ihr nicht werdet wie die Kinder…“ heißt das dritte Bild. Hier ist nicht Sehnsucht nach dem Licht und nicht Ver­neinung. Nicht Kampf und nicht Konflikt. Das Kind lebt einfach im Licht, natürlich, selbst­verständlich, unbefangen. Licht ist seine Daseinsatmosphäre.

Paria. Der ganz Verelendete. Keiner hätte so wie er das Licht gebraucht, keiner seinen wärmenden Strahl so er­sehnt. Es kommt zu spät. Ihm kann nicht mehr geholfen werden.

Es geht leichter ein Kamel…“ Ein goldener Fettwanst stampft auf die Bühne.

Halb Metzger, halb Mammon. „Überall ist das Kapital bluttriefend auf die Welt gekommen“

meint einmal Karl Marx. Man riecht das Blut der Zerstampften. Auch ihn ruft der Strahl. Der Goldene droht und hebt die Faust… und fällt als Opfer seines goldenen Machtwahns.

Närrische Weisheit. Einer der aus Weisheit seine Narretei nicht aufgibt. Diogenes im Faß. Der Bohemien in der Dachstube. Er zittert, wenn es für ihn irgendwo aufleuchtet und schämt sich seines sentimentalen Zitterns. Er ahnt und folgt ins Licht… in seinem dunklen Drange.

Selige Sehnsucht. Einer, der sein ganzes Leben aufs Licht gewartet hat; kämpfend gewartet hat aufs Licht und nur aufs Licht. Bis er schließlich selbst Licht wird.

                                                                       ***

Was Claire Bauroff geben will, ist hier in rohen Worten angedeutet. Eigentlich nur der Rahmen, innerhalb dessen die Tänzerin Visio­nen in sich erlebt und Verwirklichungen. Kaum irgend etwas vom Alltag wird in diese sieben Visionen Hereinplatzen. Verdichtungen aus tausend Erlebnissen an diesen Typen der Menschheit — sie ließen sich vermehren — werden in der Künstlerin gefühlsmäßig Gewalt ergreifen, im Taumel der Glieder sich spannen und lösen. Nirgends aber Theorie, nirgends Symbol, nirgends Allegorie. Daneben, vorher, nachher, darüber läuft die Musik Franz Salmhofers, keine Begleitung der Gefühle, eher eine Transfiguration über Urtiefen. Mehr dem Publikum zugedacht, als der Bauroff.

„Es ist aber doch getanzte Ethik,“ sagt mir der hartnäckige Jüngling, mit dem ich die Stu­fen vom Atelier beim Weggehen herunterschreite.

Mag sein; wir wollen das „Licht“ der Bau­roff abwarten. Vielleicht wird sie uns lehren, daß man auch Ethik tanzen darf, wenn man es kann.

In: Der Tag, 26.10.1924, S. 18.

R.A.B[ermann]: „Ein Geschlecht.“

(Fritz v. Unruhs Tragödie im Burgtheater)

Ein Geschlecht von jungen Menschen tritt aus dem Krieg hervor, das mit einer neuen Stimme große Worte der Empörung ruft. An den Gräbern der toten Brüder hat es sie gelernt.

An eines Bruders Kriegsgrab beginnt das Drama. Fritz v. Unruh, der Junker und Offizier, der Rebell und Pazifist geworden ist, widmet das Buch, das seine Tragödie Ein Geschlecht umfängt, dem Andenken eines im Kriege gefallenen Bruders. Das Stück beginnt; man sieht eine Mutter an einem Grab, die Schwester davor, nahe die Brüder, die noch in das

Entsetzliche des Krieges verstrickt sind. An diesem Brudergrabe beginnt nun die Empörung, das Rasen; kein Wunder, wenn alle Maße gesprengt sind. Das Geschlecht, das den Bruder sterben sah, das gegen andere Brüder selbst die Mordwaffe heben mußte, weiß sich von irdischer Rücksicht frei.

Nacht; ein Friedhof in den Bergen, eine Mutter am Grabe. Bewaffnete schleppen zwei von den Brüdern des Toten gefesselt heran. Ein „Soldatenführer“ (man nennt in diesem Stück die Leute und ein wenig auch die Dinge nicht, bei ihrem Namen) spricht das Urteil:

„Der du geschändet, Kerl, sei festgebunden,
daß deine Gier nicht weiter Unheil stifte
und unsern Sieg entehre. Sterbe hier
bei deinem Bruder, der Gehorsam weigert
und sich der Feigheit Ekel aufgeladen“

Die Männer im Stahlhelm binden den einen rechts vom Friedhofstor an einen Stein, den andren links. Da stehen sie (und bemühen sich, auszusehen wie Akte von Rodin, mindestens wie Holzschnitte vom Titelblatt der expressionistischen Zeitschrift Die Aktion).

Ein anderer Bruder des Toten und der beiden Verurteilten, er, noch im Banne des

Soldatentums, einer von denen, die

„- – kniegebeugt
zum Machtgeist unsres mächt’gen Volkes
beten,“

soll den Feigen, soll den Frauenschänder erschlagen (mit einer Axt). Er hebt sie, und

der expressionistische Holzschnitt ist fertig, voll von handgreiflicher Symbolik, von naivem Raffinement. Aber der jüngste Sohn wird ohnmächtig, ehe er zuschlagen kann; man trägt ihn fort, während der Befehl ertönt:

„Er werde in der Schlacht
zum würd‘gen Glied des großen Volks.
gehämmert!“

Die beiden sollen am Morgen sterben. Bis dahin bleiben sie mit Mutter und Schwester allein. Der eine, den der Schrecken der Zeit zum armen Feigling machte, bleibt die ganze Zeit angebunden (unterdessen bestrebt, nach Kokoschka auszusehen); nur manchmal gellt sein tierischer Angstschrei über die Bühne, er spricht nicht. Den anderen, den empörten Satyr, löst das junge Weib von seinen Fesseln, die seine Schwester ist, von seinem Geschlecht, mitschuldig seiner himmelschreienden Rebellion. Die Mutter tritt dazwischen; und nun be­ginnt zwischen ihr und den Kindern der rasende Kampf, so wie heute überall auf

deutscher Erde die Kinder mit den Eltern ringen, mit allem Elterlichen, Sitte, Vaterland. Dieses Toben des halbnackten Knaben gegen die majestätische Mutter vollendet nun die Tragödie. Die geheimsten Stimmen des Blutes schreien, kreischen. Der Dialog kennt solche Stellen:

Tochter (zur Mutter):

Wie ein Stück Fleisch am Markttag liegst
du feil,
das ich beäugen muß in allen Fasern!“

Man sagt: beäugen. Seltsame Worte, verdreht, verrenkt, füllen das Ohr. Dann aber kommt manchmal ein ganz reiner und ganz tiefer Laut; einmal lächelt die Mutter aus ihrem Entsetzen die ungebärdigen Kinder an:

„Ich lass‘ euch plappern, wie vorm Nachgebet,
da euch mein „Amen“ schließlich doch umschlang.“ //

Ein Delirium von Worten und Argumenten zerwühlt die Szene. Da die Mutter sich von den lebenden Söhnen zu dem heldischen Toten flüchten will, tobt der Schänder gegen das Grab, reißt das Kreuz aus, reicht es triumphierend der Mutter hin, damit sie rieche, wie es stinkt! Diese Menschen heulen, kriechen auf dem Boden; furchtbar krampft sich in diesem jungen Geschlecht die tieft Empörung gegen die Mutter, gegen eine Welt, die ihnen dieses

Leben gab. Umsonst spricht die Mutter von Undank, von allem Schönen, das die Erde hat, von der Sonne, von dem ernteheißen gelben Kornfeld. „Viel lieber tot sein!“ schreit die Tochter. Der Jammer des Feiglings peitscht ihre Wut auf. Taumelnd sagt der Älteste:

„So schreit das Schwein, vom Metzger abgestochen!
Wir haben die Schollen nicht besudelt!
Euch klag‘ ich an, die ihr uns morden heißt!
Hem fette Bäuche hinterm grünen Tisch,
Ihr habt es leicht. die Leuchter anzuzünden
Und aus vergilbtem Recht den Tod zu rufen!“

Und dann kommt mit der Morgensonne auch für den verwegenen Rebellen der Tod. Schon dröhnen die Stimmen der Soldaten aus dem Tal. Da stürzt der Knabe sich vom Fels hinab.

Und nun, da eisenbehelmt die Bewaffneten kommen, ist es die Mutter, die die Worte der Empörung weiterspricht. Aus den Händen des Soldatenführers reißt sie „den Stab der Macht“. (Wirklich einen Stab, der schlicht so heißt) Sie wirft das allegorische Requisit, das aus der Zauberposse ´zu stammen scheint, wieder hin, einem neuen Geschlecht entgegen, das herrlicher den Stab gebrauchen soll; die Eisen bohren sich in ihren Mutterleib, zu dem

sie sprach:

„ – o Leib, so wild, verflucht
und alter Greuel tiefster Anlaß erst,
du sollst das Herz im Bau des Weltalls
werden.“

Und da steht der jüngste Sohn auf, er, der bis dahin der eisernen Macht gehorchte. Schon horchen murrende Kameraden auf seine rächenden Worte; sie heben ihn auf, den Führer nicht achtend, tragen ihn zu Tal. Er spricht:

„O Mutterhauch,
von dir geschmolzen rollte die Lawine
auf die Kasernen der Gewalt hinab,
und was sich je zu frech ins Blau gebaut,
fall‘ hin!“

Das hat, im Herbst 1916 schon, der preußische Leutnant Fritz v. Unruh gedichtet, sicherlich als Sprecher seiner Gene­ration, die bald darauf die rote Fahne der Revolution auf dem Königsschloß der Hohenzollern hissen sollte und auch die rote Fahne des Expressionismus auf den Giebeln der deutschen Kunst. Jetzt weht sie — o tempora! — sogar im Burgtheater.

Fritz v. Unruhs Stuck ist gänzlich ein Spiegel der deutschen Revolution, wie sie maßlos und doch wieder im entscheidenden Augenblick impotent, großartig oft und immer chaotisch, gestaltlos, zukunftsschwanger (Abortus nicht ausgeschlossen). Es stinkt nach Leichen und duftet wieder nach Jugend. Manchmal scheint der Lavafluß seltsam zu erkalten, und kühle, vereinfachte Töne wie aus der antiken Tragödie klingen an das ermüdete Ohr, dann wieder wüstes und — banges Gekreisch. Oft versagt die Kraft, die sich titanisch zum Schlage zu recken schien, oft jongliert sie mit Felsblocken, die offenbar aus Pappendeckel sind. Bald preziöse Kompliziertheit der Worte und Gefühle, bald, wie unter einer Schuttschicht, wirkliche Schlichtheit. Selten ergreift das Geschehen auf der Bühne den Zuschauer; dann machtvoll.

*

Und das brave Burgtheater? Es strengt sich an, daß man den Schweiß plätschern hört.

Es hat keinen Regisseur für ein so außerordentliches Stück. Es hat in Alfred Roller einen Ausstatter, dem geschmackvoller Prunk liegt, nichts aber weniger als die strenge, unkörperliche Stilisierung, deren ein solches Drama unbedingt bedarf. Alles ist leiblich, wirklich; in diesem Rahmen können die Schauspieler gar nicht umhin, dem Stück zu widersprechen. Im Drama tragen sie keine Namen, haben sie kaum Gestalten; auf der Bühne sehen sie aus, als hatten sie soeben Kochsalat zum Nachtmahl gegessen. Selbst Frau Bleibtreu, die die Mutter gibt, verliert ihre Körperlichkeit keinen Augenblick. Natürlich hat die herrliche Künstlerin große und reine Augenblicke; aber ganz weiß sie sich dem neueren Stil des Dichters auch nicht zu assimilieren. Sie strebt danach, und jedermann; aber es geht nicht. Am wenigsten kann es — das ist charakteristisch — der Regisseur des Abends Herr Paulsen, der den Soldatenführer, unsicher, teils ins Biedermeierische, teils ins Intrigante entstellt; wenig auch Fräulein Mayer, die Tochter, deren holde Bürgerlichkeit gänzlich unverletzt aus dem expressionistischen Vitriolbad hervorgeht. Die jüngeren Männer, eher von der Zeit ergriffen, passen besser zum Dichter. Schott ist vortrefflich, so lange er die Lebensgier des Schänders gestalten kann; Herr Edlitz, der immer nur gefesselt dazustehen hat und auszusehen hat, tut es zweckentsprechend; der junge Thimig als der jüngste Sohn ist wirklich halbwegs jung im Wesen, versteht also und formt die formlose Zeit. Halbwegs.

*

Im Publikum gab es zwei Parteien: Leute, die das Stück nicht verstanden hatten, und solche, die so taten, als hätten sie es verstanden. Diese applaudierten den Dichter ein Dutzendmal vor den Vorhang; jene suchten ihn immer wieder wegzuzischen; als sie mit dem Zischen nicht durchdrangen, riefen sie stürmisch nach Frau Bleibtreu, damit sie gegen den Dichter demonstrieren.

In: Der neue Tag, 21.9.1919, S. 9-10.

Leo Feld: Demokratisches Theater (1919)

Daß unser Theater einer Revolutionierung bedarf, das ist eine Erkenntnis, die nicht erst diese bewegten und schöpferischen Tage ausgelöst haben. Man wußte es längst, daß die künstlerische Leitung unseres Theaters sehr fragwürdig geworden war. Gewiß, es ist noch immer dann und wann ein bedeutender Dichter und ein großer Schauspieler auf unserer Bühne anzutreffen. Aber man konnte bisher — in diesem Jahre sind freilich die beiden vornehmsten Schauspielhäuser neuen Leitungen unterstellt worden, aber die fortwährenden Hemmungen der Spielzeit haben diesen noch kaum Gelegenheit gegeben, sich künstlerisch zu betätigen – das Gefühl eines wesent­lichen Ungenügens nicht abweisen. Die künstlerische Gesinnung, die diese Leistungen führte, hatte etwas zeitfremdes. Wenn einmal Reinhardt nach Wien kam, fühlte man sofort, was uns fehlte. Es war eine andere Luft, in der diese Kunst gedieh. Aber eine Luft, die doch auch unsere geistige Atmosphäre war. Und ob dann ein Schauspieler besser oder schlechter war, das war nicht mehr wesentlich. Wenn sich bei uns moderne Kunstbestrebungen vor die Rampe wagten, dann geschah das vorzugsweise auf den kleinen Bühnen, die an der Peripherie unseres Theaterlebens lagen. Die Bühnen, die im Mittelpunkte des gesellschaftlichen Interesses standen, waren von diesem Geiste unberührt.

Und alles erobernd, verdrängend, überflutend, entfaltete sich die Operette. Sie ist die charakteristische Erscheinung des Wiener Theaters. Es ist nützlich, den Bedingungen ihrer beispiellosen Entwicklung nachzu­sinnen, weil sich hier vielleicht die Möglichkeit einer Gesundung unseres Theaters ergebe. Denn die Operette ist das demokratische Theater. Das Theater der breitesten Schichten. Daran sollte man heute nicht mehr zweifeln.

Ihre ungeheure Wirkung wurzelt vor allem im Musikalischen. Der Wiener, auch der musikalisch wenig gebildete, will und braucht Musik. In der Oper findet er sie heute nicht mehr. Das bedeutet nicht den leisesten Einwand gegen die Entwicklung der modernen Musik. Es liegt im Wesen der Kunstentwicklung — nicht nur der musikalischen— daß sie (im geistigen Sinne) natürlich) immer aristokratischer wird. Wir haben heute keine Gleichartigkeit des Geschmacks mehr; und so trägt eine hoch kultivierte Schicht die Kunst immer weiter, ihren immer subtileren, inneren Bedürfnissen gemäß. Und der Wiener, der musikalisch nicht mitschreitende, geht unbefriedigt aus dem Opernhaus. Er hört dort einfach nichts mehr. Die Musik der Operette aber füllt ihm Ohr und Herz. Daher ihr stetig wachsender Anhang. Dazu kommt, daß das Theaterbedürfnis in den unteren Schichten allgemein geworden ist. Wer früher zu den Volkssängern ging, besucht heute das Theater. Es gibt ihm doch mehr in seiner sinnlichen Fülle. Die Librettisten waren klug genug, diesen // populären Charakter der Operette zu verstehen und auszuprägen. Sie kamen der höchst bescheidenen Geistigkeit dieser — letztlich in allen sozialen Rängen heimischen — Bevölkerungsschichte sehr wachsam ent­gegen. Sie stellten keine Ansprüche an ihr Publikum. Sie gaben der Sehnsucht nach Belustigung, die Posse, dem Bedürfnis nach Rührung, die  sentimentale Komödie; das sind die beiden Elemente der heutigen Operette. Und so kamen Alle auf ihre Rechnung. Das Publikum, die Autoren und besonders die Direktoren.

Soll unser Theater wieder auf eine gesunde Grundlage gestellt werden, dann muß die Arbeit hier beginnen. Es ist sinnlos, von diesen breiten, der Unter­haltung bedürftigen Massen Interesse für die große Kunst zu verlangen. Das Burgtheater und das Deutsche Volkstheater haben ihre eigenen Aufgaben, auf die sie sich besinnen müssen und sicherlich auch besinnen werden. Hier handelt es sich zunächst um andere Bedürfnisse. Und bei dem Zusammenhang alles Geistigen wird die Erfüllung dieser Theatererfordernisse auch auf jenen höheren Kunstgebieten fühlbar werden.

Man muß das künstlerisch wenig vorgebildete Volk – denn um dieses handelt es sich hier, nicht um die kultivierteren Schichten – für ein ernsthaftes Theater zu gewinnen suchen. Den Weg zeigt die Operette. Eine einfache, im Volkstümlichen wurzelnde Komödie mit viel Musik, das würde diesen naiven Menschen Freude machen. Produktive Kräfte haben wir genug, die gerade auf diesem Boden Wertvolles leisten könnten. Ein Theater, ein wirkliches Volkstheater, würde sich wohl auch bald finden. Denn so eine musikalisch belebte Wiener Komödie würde ihr großes Publikum erobern.

Nur mißverstehe man mich nicht. Ich möchte den Verdacht vermeiden, als wollte ich dem „Volksstück“ das Wort reden. Das ist vorbei. Das ist endgültig tot. Umso mehr, je intensiver es in den Pro­grammen der Direktoren fortlebt.

Das Volksstück ist heute unmöglich geworden; und der Ruf nach ihm ist ebenso sentimental antiquiert wie etwa der nach der Postkutsche. Das Volksstück wurzelt in dem idyllisch gesehenen Milieu des kleinen Bürgertums. Idyllisch gesehen; denn es fühlt nur versöhnliche Gegensätze, die Ausschaltung des Tragischen ist direkt sein Wesen. Aber gerade diese idyllische Beleuchtung ist uns unerträglich geworden. Sie war wohl nie wirklich getreu; aber immerhin mag das Volksstück vor Jahrzehnten eine gewisse Wahrhaftigkeit besessen haben. Heute haben die großen sozialen Wand­lungen die Menschen und die Lebensweise jener Schichten so gründlich geändert, daß zwischen diesem Theater und unserer Welt keine Berührung mehr ist. Und daher kommt es auch, daß die Motive des Volksstückes sich immer wiederholen. Denn sie beruhen durchaus auf literarischer Tradition.

Die Komödie aber, die wir brauchen, sollte aus dem wir[k]lichen Leben geholt werden. Sie soll ihr Publikum dort ergreifen, wo es am empfänglichsten ist; wo seine eigene Erfahrung leicht eine Brücke zu der Welt der Bühne findet. Sie soll wahrhaftig sein; und der Charakter ihres Vortrages soll doch zu diesen künstlerisch ungeübten Menschen sprechen, Dazu bedarf es eben der Musik und aller sinnlicher Kräfte des Theaters.

Ich glaube durchaus nicht, daß damit der Operette ihr Publikum völlig entzogen wäre. Es liegt auch gar nicht in meiner Absicht, daß das geschehe. Es ist keine Frage, daß ein großer Teil des Publi­kums, das heute die Operettenhäuser füllt, an diesen musikalischen Volkskomödien keinen Gefallen fände; daß es aus einem blasierten und ermüdeten Teil des Bürgertums besteht, dem diese redliche, volkstümliche Kunst erst recht nichts zu sagen hätte. Um diesen Kreis kann es sich bei einer Neubelebung der Kunst des Theaters auch nicht handeln. Was zu erstreben wäre ist: den jungen unverbrauchten Kräften des Volkes die Nahrung zuzuführen, die sie reif und reich werden ließe; statt einer entwertenden, entseelenden, eine stärkende, innerlich aufbauende Art des Theaters ihnen zu bieten. Die komplizierten und anspruchsvollen Formen der Kunst sind ihnen zu entlegen. Und darum gebe man ihnen auf der Bühne das, was sie brauchen: Musik, sehr viel Musik, bunte Lebendigkeit des Theaters, einfache und geradlinige Menschlichkeit, die ihrem eigenen Wesen verwandt ist und sich in ernsten und heiteren Bildern ausprägt. Das wäre ein demokratisches Theater.

In: Die Frau, 22.1.1919, S. 1-2.

D[avid] Bach: Das Arbeiter-Symphoniekonzert (1925)

Das letzte Konzert wurde mit der Aufführung eines neuen Sprechchors, Kerker von Fritz Rosenfeld, eingeleitet. Man muß sich wohl nicht erst verteidigen, daß in unseren eigenen Veranstaltungen ein Werk aufgeführt wird, das sich offen und ausdrücklich zu den Ideen des kämpfenden Proletariats bekennt. Unsere Konzerte heißen nicht bloß Arbeiter-Symphoniekonzerte, sondern sie wollen es auch im höchsten Sinne sein. Darüber also, daß insbesondere am 12. November ein Werk mit sozialistischer Tendenz aufgeführt wird, braucht man kein Wort zu verlieren. Wohl aber müssen die bei uns aufgeführten Werke, und das ist unser Stolz, nicht bloß durch ihre Tendenz, sondern auch künstlerisch gerechtfertigt sein. Der Sprechchor von Rosenfeld nun sucht innerhalb dieser noch ganz jungen Kunstgattung neue Möglichkeiten. Der Sprechchor als solcher ist geboren aus dem Bedürfnis, die Masse selbst zur tätigen Aktion auf der Bühne heranzuziehen. Die ganze Sprechchorbewegung hat natürlich ihre politischen und sozialen Ursachen und sie ist ganz besonders ein Kind der revolutionären Ereignisse des letzten Jahrhunderts. Künstlerisch begegnen sich hier zwei Entwicklungs­tendenzen. Die eine will zur Annäherung der Bühne an das Leben führen. Sie leitet sich aus dem verständlichen Wunsch her, auf dem Theater nicht bloß Angelegenheiten erörtert zu sehen, die dem Fühlen der großen Masse vollkommen fremd sind und fremd bleiben müssen. Die Gefahr eines Mißverständnisses liegt natürlich nahe. Nicht der Stoff, nicht die Handlung ist das, worauf es in Wahrheit in der Dichtung ankommt, sondern der Inhalt, das wahre Problem. Man könnte ein Stück ersinnen d solche werden leider auch oft genug geschrieben, das in Arbeiterkreisen spielt, jede der Figuren die dem Zuschauer wohlgefälligen Reden führen läßt und das trotzdem einem Arbeiterpublikum gar nichts zu sagen hat. Denn das revo­lutionäre Element der Kunst kann niemals vom künstlerischen ganz abgelöst werden. Auf der andern Seite ist es verständlich, wenn Gefühle der Masse durch die Masse selbst ausgedrückt werden. Der Chor des antiken Dramas, der mit Betrachtungen und Gefühlen die Handlung begleitet, wird hier selber der Träger der Handlung, Ausdruck eines Massenwillen und eines Massenschicksals. Die Masse als Held —das ist nicht mehr die Forderung einer nach neuen Stoffen greifenden Dramatik und ihrer ästhetischen Mode, wie es einmal der Naturalismus war, sondern es ist das einleuchtende Ergebnis einer Entwicklung, welche die Kunst im Zusammenhang des gesamten gesellschaftlichen Geschehens sieht. Damit gleichzeitig läuft das Bestreben, Theater und Theaterspielen schneller, als es den wirtschaftlichen Verhältnissen und Gesetzen entspricht, aus dem Zwange zu befreien und den lebendigen, wirksamen Kräften des Volkes zu nähern. Die Lust am Theaterspielen ist keineswegs bloß die Freude des Dilletanten, sie ist das unbewusste, darum doch sehr tiefe und sichere Gefühl: „Es geht um dich“ auch auf der Bühne; wenn der Zuschauer die Schicksale des Helden mitleidet – das ist der Sinn aller dramatischen Kunst –, dann möchte er erst recht auch darstellerisch der Held sein.

Die Versuchung liegt nahe, beim Sprechchor mit ein paar feststehenden Worten und typischen Wendungen auszukommen. Aber wie die großen Dichter des klassischen Altertums einem für sie alle gemeinsamen Stoff, der Götter- und Heldensage, jedes­mal einen neuen großen Inhalt abgewannen, so bliebe in der Gebundenheit des Sprechchors, selbst des streng sozialistischen Sprechchors, erst recht die bewegliche Kraft des Dichters zu erproben. Rosenfeld bemüht sich, von der Abänderung der Form zu neuem Inhalt zu kommen. Er versucht Chorwirkungen, legt großes Gewicht auf das Verhältnis der Gruppen zueinander, ja baut seine Sprechdichtung in verschiedenen Stufen gleichsam symphonisch auf. Weniger neu ist er in der sprachlichen Gestaltung seiner Absichten; hier wird mit den bewährten Mitteln einer poetischen Phraseologie das Auslangen gefunden. So hängt die Wirkung seines Sprechchors[1] wesentlich auch von der Begeisterung ab, die den Chor selbst trägt. Daran hat es der Sprechchor der Kunststelle wahrlich nicht fehlen lassen; sein Sprechen war erfüllt von Hingabe an die Sache des Werkes und der durch dieses ausgedrückten sozialistischen Idee, für das man der Leiterin Elisa Karau zu danken hat. Sie war auch die verständnisvolle Hauptsolistin kleinere Solostimmen waren mit tapferen und begabten Mitgliedern des Chors besetzt — des Sprechwerkes; daß die Solistin nicht gleichzeitig dirigieren kann, schon deshalb nicht, weil der Anblick stört, wird sich die Künstlerin für spätere Gelegenheiten wohl selber sagen.

Die Musik zu diesem Sprechchor hat unser Freund Paul A. Pisk beigestellt. Es ist keine Musik zu gesprochenen Worten, soll es nicht sein. Wenn einmal die Literatur der Sprechchöre ein gewisses Maß erreicht haben, wenn genügend Material und Erfahrungen aus den notwendigen Versuchen vorliegen werden, darin kann auch die Frage des Verhältnisses von Musik zu Sprechchor theoretisch geprüft werden. Augenblicklich scheint der Sprechchor an sich eine Abkehr von der Musik in Tönen zu be­deuten; will er doch gerade die Musik der Sprache mit den Mitteln der Sprache allein vernehmbar machen. Aber Massensprechen, rhythmisches, chorisches Sprechen stellt nun doch einen Übergang zur Musik dar. Friedrich Theodor Vischer, der berühmte Ästhetiker, hat deshalb in den Chören der Braut von Messina eine Vorahnung der Bestrebungen der deutschen Oper gesehen. Überdies haben von der Seite der Musik her die Künstler, trotz aller Warnungen der ästhetischen Theorie, niemals aufgehört, Versuche mit dem Melodram, der musikalischen Untermalung des gesprochenen Wortes, anzustellen. Dieses Problem wird von der Musik zum Kerker nicht berührt. Pisk beschränkt sich darauf, die Übergänge mit Musik zu füllen, die Szene an entscheidenden Punkten musikalisch anzudeuten. Er tut dies mit den einfachsten Mitteln, mit Geschmack und Können. So einfach diese Musik ist, so ist sie, um das Geheimnis zu verraten, doch „modern“; daß dies weiter gar nicht auffällt, sondern daß diese Art Musik als selbstverständlich empfunden wird, beweist, daß die Entwicklung der Musik eben ins allgemeine Bewußtsein eingegangen ist; man schreibt auch sonst heute die einfachste Begleitmusik anders als vor vierzig Jahren, die Tanzmusik ist anders geworden, die Salonmusik, die Hausmusik, die symphonische Musik — welche Frage also, ob der Arbeiter dafür „reif“ sei! Er hat auch hier nicht um die Erlaubnis gefragt, „reif“ zu werden…

Paul Pisk dirigierte auch die Musik zu Mozarts „Petits riens“, das sind „Nichtigkeiten“ oder besser „Kleinig­keiten“. Es ist eine Ballettmusik, deren textliche Grundlage verloren gegangen ist. Es lockte die Aufgabe, aus der Musik selbst das neue tänzerische Gebilde entstehen zu lassen. Die Hellerauer haben dies wahrlich verstanden. Mit Geist, Witz, Anmut und vor allen: mit musikalischem Verständnis ist hier eine Handlung ersonnen, die mit der Musik eine natürliche Einheit zu bilden scheint. Valeria Kratina, die Tanzdichterin,  Tanzkünstlerin und Führerin ihrer Gruppe, ist an erster Stelle zu nennen, dann die Damen ChIadek, Berg, Hougberg, schließlich alle anderen Mitwirkenden. Die von Emmy Ferrand entworfenen Kostüme verdienen besondere Erwähnung. Was die Musik selbst angeht, so steckt in diesem entzückenden Werkchen der spätere, größere Mozart. Einzelne Teile der Musik haben als Einzelstücke auch andre Verwendung gefunden, so die reizende Gavotte, oder das eine Hauptthema, das auch dem Bearbeiter der Grünen Flöte so gefallen hat, daß er es hinübernahm. Diese Musik wurde vorn Orchester ganz lustlos und unaufmerksam, auch technisch nicht einwandfrei, heruntergespielt. Es lag nicht am Dirigenten. Es wäre schlimm, am schlimmsten für das Orchester selbst, wenn in den Arbeitern jemals die Meinung entstünde, das Orchester glaube, sich manches gerade mit einem Arbeiterpublikum erlauben zu dürfen. Die Meinung ist auch sicherlich falsch; aber dann sollte das Orchester selber darauf Wert legen, solche Mißverständnisse zu unterdrücken.

Das Konzert enthielt noch eine zweite größere, auch umfangreichere choreographische, das heißt der tänzerischen Um­schreibung gewidmete Nummer, die Bilder aus einer Ausstellung von Mussorgsky. Es sind Klavierstücke (Paul Weingartner hat sie vor einigen Jahren zum erstenmal öffentlich in Wien gespielt), welche die Eindrücke einer Bilderausstellung wiedergeben. Es ist eine Umsetzung des Bildes in Musik. Ein Bild kann in Worten kaum umfassend beschrieben, schon gar nicht etwa durch ein Gedicht vollkommen ersetzt werden; wie sollte dies in Tönen, in der Form einer geschlossenen Komposition möglich sein? Dies meint der Komponist auch gar nicht. Denn die Aufbaugesetze, die formalen Notwendigkeiten eines Musikstückes sind andre als die eines Bildes; schon deshalb, weil dieses sich in der Gleichzeitigkeit einer Ebene, jenes aber in der Aufeinanderfolge der Zeit vollzieht. Wenn in beiden Fällen von „Komposition“ gesprochen wird, so ist jedesmal etwas andres gemeint, nämlich jedesmal eine andre Anordnung, eine andre „Zusammenstellung“, wie Komposition deutsch heißt. Bei der Umsetzung des Musikstückes in Tanz oder vielriehr in rhythmische Bewegung, Anordnung der Gruppen und so weiter, wird das Musikstück eigentlich wieder mehr dem Bild angenähert. Aber vor allem mit dem Unterschied, daß die Ebene des Bildes in den Raum der Szene übertragen, doch dabei der Rhythmus mit dem Rhythmus der Musik in Übereinstimmung [gebracht] werden muß. Diese schwierige Anfgabe hat auch hier Fräulein Kratina ausgezeichnet gelöst, sowohl schöpferisch wie, mit ihrer Gruppe als Tänzerin, als Nachschöpferin der eigenen Gedanken. Manche Nummern wurden geradezu bejubelt und mußtein wiederholt werden. Es erübrigt sich also auch hier die Frage, ob die Arbeiter, sich dafür interessieren; da entscheidet der Erfolg, geradeso wie im vorletzten Konzert die einfache Tatsache, daß ein Satz aus dem Violinkonzert von Prokofieff stürmisch zur Wiederholung begehrt wurde, die Frage nach der Berechtigung der modernen Musik im Arbeiter-Symphoniekonzert zumindest für diesen einen Fall erledigt. Kaum ein andrer Pianist hätte, übrigens, um auf Mussorgsky zurückzukommen, die Musik an sich den Hörern näher bringen können als Professor Friedrich Wührer durch sein technisch vollendetes, plastisches und farbenreiches Klavierspiel. Er wurde mit Recht durch Beifall und Hervorrufe geehrt.

Auch ohne Unterstützung der Szene behauptet die Musik zu Viel Lärm um Nichts von Erich Wolfgang Korngold ihren Rang und ihren Wert. Diese Musik ist manchem Arbeiter schon aus den Aufführungen des Burgtheaters bekannt; die sie im Konzert zum erstenmal kennen­lernten, erfreuten sich hier an der anmutigen Erfindung, an dem beweglichen Geist der Rhythmik, an der witzigen Instrumentation. Der Komponist dirigierte selbst und gewann die Hörer ohne weiteres trotz gelegentlicher Hindernisse des Orchesters; auch hier gab es Wiederholungen. Ein wahres Prachtstück bot Herr Korngold als Dirigent noch vor der Ouvertüre zu den Lustigen Weibern von Windsor von Nicolai. Der Schwung dieser in jeder Einzelheit durch­dachten Wiedergabe riß alle mit sich fort. Korngold wurde sehr gefeiert.

In: Arbeiter-Zeitung, 3.12.1925, S. 20.


[1] [Orig. FN] „Kerker“ ist im Verlag der Brüder Suschitzky, Wien, erschienen.

Alexander Lernet-Holenia: Analyse des Publikums (1926)

Seit der Zeit des eigentlich großen, abendländischen Theaters, des elisabethinischen also etwa in England, des französischen in Versailles, des spanischen mit Calderon und der alles andere befruchtenden Variabilität des italienischen des 17. Und 18. Jahrhunderts, geht der Erfolg eines Stückes immer mehr auf den Zufall zurück als eigentlich auf bewußte Kunst und Fähigkeit des Dichters und der Schauspieler. Je größer, je ausgebreiteter ein Erfolg, wenn er nur überhaupt eintritt, im Vergleich zu früher heute sein kann, je unbestimmter und zufälliger, je unbekannter ist die Art geworden, auf die er herbeizuführen ist. Der Begriff dessen, was auf den Bühnen wirkt, ist völlig ins Schwankende gekommen, das Gute, oberflächlich betrachtet, steh schon im Gegensatz zum Wirkungsvollen, und Stücke sind im voraus auf ihre Wirksamkeit fast nicht mehr einzuschätzen. Unsere Zeit, als die eines Übergangs, läßt künstlerische Dramen immer weiter hinter sich und tendiert zu den natürlichen, in denen die Kunst zwar insgeheim mitwirkend notwendig ist, allein niemals sich auch als solche aussprechen darf. Wo man diese Direktion auch erkennt, hat man doch noch immer nicht das Herz, sich das Ältere, offensichtlich Künstlerische sozusagen aus dem Leib zu schneiden. 

Schulen des Theaters, der Politik, der Religion waren gut für Zeiten von langem Bestand, in denen ältere Erfahrung irgendwie immer noch weiterhin gültig blieb. Heute, in so eminenter Veränderung der Welt, existiert Erfahrung fast nicht mehr. Wer jetzt auf Publikum angewiesen ist, muß in großer Schnelle aus demselben Tag selbst alle jene Kenntnis ziehen, die am selben Abend vor den Leuten wirken soll. 

Es ist damit nicht gesagt, daß die Welt fortwährend in solcher sich überstürzender Veränderung weitergehen würde. Völlig verändert aber, wie sie ist, hat alles, was mit ihr und den Leuten zu tun hat, erst neu erkannt zu werden. So bedeutet auf dem Theater Genialität des Autors und der Schauspieler allein so lange nichts, als sie überhaupt eigentlich nicht wissen, vor wem sie ihre Stücke spielen; den dieses ihr Publikum ist vor dem den Jahres 1900, auf das sie alle noch eingestellt sind, weiter entfernt, als das Schillers von dem des Shakespeare. 

Völlig unvorbereitet freilich, veralteter als alles klassizistische und etwa von solchem Bezug zu wirklichem Schauspiel wie eine Gipsfigur zu einem griechischen Marmor, trat das Theater in die Veränderungen dieser Jetzt-Zeit ein. Es hatte ja schon damals angefangen, so zu sein, wie es bis vor zehn Jahren blieb, als Goethe, das große theatralische Antitalent, die Bühnen von Weimar und Lauchstadt unter seine enorme Persönlichkeit unterwarf und von dort aus überallhin sich auswirkte. Dieser Mann ist dem Theater teuer zu stehen gekommen und als, wegen des Auftretens eines gewissen Pudels, der vielleicht immer noch theatralischer gewirkt haben möchte als der Egmont, er die Intendanz hinwarf, war es schon zu spät. Er hatte ein Publikum von Hofräten herangezüchtet, ein total unnatürliches, und das blieb und blieb und überdauerte das Jahrhundert, verdarb alles und ist immer noch stark genug, alles Natürliche des Neuen zu verwirren und schwankend zu machen, womit allerdings nicht gesagt sein soll, daß das meiste Neue nicht höchst unnatürlich wäre. 

An jenes klassizistische Publikum sind die Theaterleute nun noch so ausschließlich gewöhnt sich zu wenden, daß sie das moderne kaum erst begreifen. Wenn das klassizistische Theater für alles eher als für ein wirkliches Publikum da war, so ist das heutige für nichts eher da. Hier nun hätte die augenblickliche Auffassung anzufangen, das Begreifen, was dieses neue Publikum eigentlich sei und wie es sei. Aber da zeigt es sich, daß der Versuch noch nicht im allgemeinen unternommen worden sei, bestenfalls im besonderen, indem es heißt: „Der kennt seine Leute“, oder: „Jener weiß, was die Stadt, in der sein Theater steht, für Aufführungen verlangt“. Aber man wird sich entschließen müssen, das höchst Schwankende des heutigen Theaters zu befestigen. System ins Umgestürzte und Neue zu bringen, damit das Theater über der ganzen gegenwärtigen Konsternation nicht zugrunde gehe. Es wird darauf ankommen, dort anzufangen, wo alles Theater anfängt: nämlich beim Publikum. Man wird alle behindernde Tradition zurücklassen müssen, alles Didaktische, die ganze Sucht, von der Bühne aus das Publikum zu antiquisieren, was es bis vor kurzem noch war: zu etwas Respektvollem vor dem Klassizismus. Aber es gibt nichts Überlebtes, das ein Theater noch bringen müßte, unbedingt bringen, um ein Theater noch zu sein: die deutschen Klassiker am wenigsten. Ein Theater ist nur das, zu dem die Gegenwart es macht. Ein Theater ist nur das, zu dem die Gegenwart es macht. Alle Einbildung, zu einem Spieljahr seien Klassiker unbedingt notwendig, wird sofort falsch, wenn das Publikum eben keine Klassiker will. Ein Theater ist kein Museum für sogenannte Unsterbliche und, wie das Theater heute ist, stört alle solche verfehlte Tradition, dieses ganze Zurückschauen auf etwas nur künstlich existent Gewesenes, den Theaterleuten den reinen Einblick ins Publikum und die klare Anschauung vom Gegenwärtigen und von dem, was aufzuführen jetzt notwendig ist. Viel weniger noch als Direktionen und Schauspieler versteht freilich die junge Generation der Autoren vom Publikum, die sich in einem fort bloß selbst aussagen will und ohne Rücksicht darauf ist, daß die Leute Stücke sehen wollen, nicht Beichten anhören. Aber man wird bald dazu kommen müssen, das Publikum zu analysieren, es anzuschauen und das Erschaute rasch zu überdenken, damit man es erkenne, denn dazu ist keine Zeit mehr, erst zu warten, bis Erfahrung und Versuche von Jahrzehnten ergeben würden, mit was für Leuten denn man’s eigentlich in dem inzwischen erloschenen Theater zu tun gehabt habe. Schon ist fast alles Interesse zu Revuen, zu Films und zu Kabaretts abgewandert, aber die Leute dort zu beobachten, wie sie auf das Dargestellte reagieren, und dann etwas aufs Theater zu bringen, was sie ebenso angeht, mit einem Wort: das Publikum für das man da ist, erst zu kennen, wird von allem dem, was die Theater zu tun haben werden, das Entscheidendste sein. 

In: Der Tag, 23.6.1926, S. 8

Joseph Gregor: Republik und Theater (1919)

             Es ist kein Zweifel mehr: Unser Leben hat sich geändert. Der schwerfällige Wiener denkt dabei zunächst an den bitteren Unterschied der Kost von einst und jetzt und kämpft einen harten Kampf, jede seiner Gewohnheiten in die sogenannte neue Zeit hinüberzuretten. Es wird aber nicht dabei bleiben. Die Einstellung auf das alte Österreich, uns allen noch gründlich im Blute, wird weichen und einem unbekannten, geheimnisvollen Neuen zur Gänze Platz machen. Die Speisekarte wird noch oft geändert werden.

             Dieses Neue, so unbekannt es ist, und so zaghaft unsere Schritte in die neue republikanische Ära sein mögen, muß doch irgendwie in uns geschlummert haben, denn selbst ein so unerhörter wirtschaftlicher und militärischer Zusammenbruch vermag eine so unerhörte Revolution nur unzureichend motivieren, wenn wir nicht seelische Kräfte annehmen, die dahin zerrten. Wir in Österreich sind mit einer Erklärung ja bald zur Hand: Das waren die Nationen, de nach der großen verlorenen Schlacht binnen weniger Wochen das „unteilbare und untrennbare“ Gefüge dieses alten Staates zerissen. Bleibt eben noch immer die Erklärung zur Republik, vermutlich bis heute die einzige Einmütigkeit der alten Volksgenossen, als nicht ganz erklärter Rest. Vollends in Deutschland wird es schwer, sich den auch in der kürzesten Zeit bewirkten Wechsel von straffstem, musterhaftesten Imperialismus und linksstehender Republik auch nur vorzustellen, dazu mit der unberuhigten Neigung zu weiterem, blutigen Bürgerkrieg. Rache an der alten Ordnung der Dinge, die möglichst durcheinandergeschüttelt werden soll, um das Neue, immer dieses geheimnisvolle Neue, aussichtsreich aufzubauen? Der Nachahmung des östlichen Beispiels, dieses offenbar unerfreulichen Lichts aus dem Osten, über das wir jahrelang gestaunt und gelächelt haben?

             Es gibt natürlich tausend Erklärungen. Der Politiker, der Nationalökonom, der Historiker, sie werden nicht verlegen sein. Wir tun ja nichts als erklären. Wir bewegen uns zwischen Kohlensorgen und Vermögensabgabe und trachten, unser Leben den neuen Tendenzen gemäß zu regulieren und gewiß gibt es auch solche, denen vor der eigenen Gottähnlichkeit bange ward. Indessen, man regt sich und fordert. Man organisiert sich bis zur Taferlklasse hinab, wählt Räte und Räte. Und was das Erstaunlichste ist: Man erreicht sogar! Freiheit des gesprochenen, geschriebenen, gemalten Wortes war ein Federstrich, warum sollten nicht mehr folgen? Kühner denn: Weg mit dem abgeblaßten Mediceertum, das der Kunst solange trübe geleuchtet hat, weg mit der Protektion, die sich mit so unfehlbarer Sicherheit die Ungeeigneten holte, weg mit Clique und Klüngel, die sie monarchisch regierten – dem freien Volk eine neue Kunst! Wobei man – und das ist ja das wirklich Schönste an der // Republik – nicht vergessen darf, daß der Republikaner diese Forderungen an keine höhere Macht mehr richten kann als an sich selber, freilich eine Weisheit, die dem geborenen Österreicher erst nach einer Weile aufgehen wird.

             Der Gedanke liegt nahe, Macht und Wirksamkeit der neuen Schlagworte – wobei der Ausdruck durchaus nicht abfällig genommen zu werden braucht! – auch an jener Kunst zu erproben, die stets als der deutlichste Spiegel des Lebens genommen wurde, an der geheimnisvollen, fluktuierenden, lebendigen Kunst des Theaters. An dieser Kunst, die sich nicht mit einem gelungenen Vers oder einem guten Bild oder gar einer schönen Attitüde der Ausdruckstänzerin erschöpft, sondern die etwas von einer Volksversammlung, einem Ball, etwas von einer Messe und etwas von einem Geschäft hat, also schon darum geeignet, unser Leben zu symbolisieren, an dieser Kunst, die darin besteht, Tausende zu Tränen zu rühren, während man an die unerschwinglichen Preise des Schuhzeugs denkt, an dieser Kunst, wo ein Schrei Gold sein kann und ein unechtes Atmen ein Hinauswurf, die läutert, indem sie demütigt, beglückt, indem sie ärgert, mit einem Firlefanz von falschen Bärten zu den Sternen erhebt und mit dem letzten Vorhang unweigerlich, aber auch unwiederbringlich zu Ende ist. Trug auch unser Theater den Keim der Republik in sich und wie gedenkt es sich mit dem plötzlich zauberhaft ausgewachsenen Baum zu verhalten?

             Zunächst: innere Hemmungen kennt das Theater nicht. Man konnte schon früher auf denselben Brettern ohne Scheu Gorkys Nachtasyl neben Schönthans Maria Theresia spielen, am selben Tage sogar, und es ist einfach nicht abzusehen, was entstanden wäre, hätte Hamlet nicht solche, sondern eitel monarchistische Verse in die Rede des ersten Schauspielers geflickt. Diese Charakterschwäche ist natürlich seine Stärke. Wir werden dieses stärkste Instrument auf den Geschmack der Masse bereit zu allem finden, die Frage ist nur, wie wir es handhaben. Wir haben solange Detektivstücke im Kino angesehen, bis wir uns eines Tages wunderten, wie gut man zu rauben verstand. Im Gegenteil aber wußten die römischen Cäsaren genau, warum sie ihre Macht, Menschen verbluten zu lassen, mit Vorliebe im Theater demonstrierten, und kein deutscher Fürst, der sich nicht gerne mit einem Hoftheaterchen drapierte, Lenin oder die Sowjets haben denn auch sofort irgend welche Schritte getan, um durch die Theater den „Bauern“ die Kunst zuzuführen und die ungarische Kommune ließ es als eine ihrer ersten Sorgen sein, noch vor der Zahlungseinstellung die Theater zu requirieren. Man applaudiert füglich zu allem.

             Das Theater wieder braucht die Tendenz wie wir die Lebensmittel. Aus der sprühendsten Comédie wird ein nüchternes Lustspieltheater, wenn die Coquelins ausgehen. Wir müssen gar nicht so weit gehen – war es doch alltäglich, daß ein Theater mit guten literarischen Anlagen plötzlich zur Operette abbog, weil die einzige Tendenz einer gewissen geduldigen Stadt die seidenbestrumpften Beine der Choristinnen waren. Unsäglich viel ist über den Rück//gang der ersten deutschen Bühne geredet und geschrieben worden und alles waren nur Glossen zu der alten Weisheit, daß man keine Bühne der Welt mit wehmütigen Erinnerungen allein speisen kann, sondern nur mit der Tendenz, mit dem Gedanken, der auf das Leben gestellt ist. Umgekehrt hat so mancher vor Jahren dem schlichten, alten Haus in der Schumannstraße in Berlin ein unrühmliches Ende geweissagt. Aber siehe da – ein eifriger Direktor holte sich Material aus der mächtig aufsteigenden Moderne, scheute sich nicht, mit Kühnheit zu verblüffen, seine Leute zu dressieren, jenes Geschimpf zu erregen, das beim Theater immer die Vorbedeutung des Erfolgs ist, übertrieb maßlos um wenigstens etwas zu retten – und landete wohl oder übel dort, wo von Rechts wegen die „erste deutsche Bühne“ hätte sein sollen; ein einer stark tendenziösen Stilkunst, der sich kein Theater, aber auch kein Zuschauer der Welt mehr entschlagen konnte.

             Absichtlich ist hier vermieden, die Namen zu nennen, die allerdings auch so deutlich sind, weil es ja nicht um Lob und Tadel geht, sondern um die Kräfte, die aus diesen Häusern hervorgehen und die wir in sie hineintun. Und man sieht, es ist immer noch ein bißchen so, wie in den alten Zeiten der Karren mit den grüngestrichenen Rädern. Man zahlt sein Geld und geht hinein. Man lacht oder weint, klatscht oder pfeift, je nachdem. Daß es aber zweierlei ist, den Geschmack des Publikums glatt zu befriedigen oder die große Tendenz zu bestätigen, hat schon bei Goethe Direktor und Dichter entzweit. Man kann aber, gewitzigt durch mehr als ein weiteres Jahrhundert, hinzufügen: Wehe dem Herren der Gaukler, der Lieb und Hassen, der die Tendenzen seines Gottes Publikum nicht ebensogut verstünde wie die leichtbewegliche Seele seiner Komödianten und der nicht entschlossen wäre, in beiden in gleichem Streben zu modellieren. Es wäre Shakespeare übel gestanden, inmitten seines von allen Kräften der Renaissance durchbebten Zeitalters bei den Untiefen der Marlow und Chapman zu verharren und keine Truppe von heute kann daran vorbeispielen, doch diese Zuhörer, wenn sie auch willig zu allem kommen, innerlich doch durchbebt sind von Leiden, Entbehrungen, Mühsalen, Gefahren – von Gewalten, die wiederum Ernst verlangen und sich nichts vorspiegeln lassen, sozusagen Schattentänze und Fahrten ins Blaue. Und wehe auch dem Publikum, das solche Spiegel für rein hält und das Theater, das nicht seines Geistes ist, nämlich seines besseren, freiheitlichen Geistes, nicht sofort und nachdrücklichst ablehnt, nicht eben mittels Referendum, aber mit dem Selbstbestimmungsrecht des Geschmackes, das älter ist als jenes andere.

In: Der Merker H. IV (1919), S. 668-670.

Oskar M. Fontana: „W.U.R.“ von Karel Capek

             Der Golem war die Erfindung eines individualistischen Zeitalters. Als dieses kollektivistisch wurde, mußten auch aus dem Golem Golems werden. Diesen Schritt ging Karel Capek – merkwürdig die Vorliebe der Prager zum Golemmythos –, indem er das utopische Kollektivdrama von den Robotern schrieb. Roboter sind die in der Maschine erzeugten Menschen, viel einfacher und zweckmäßiger gebaut als die wirklichen Menschen. Die Natur wurde auf den Ingenieureinfall reduziert. Und so unempfindlich für Freude und Schmerz sind diese Roboter, daß die Gesellschaft zu ihrer Erzeugung (eben W.U.R. oder Werstands Universal Robots) ihnen schmerzempfindliche Nerven geben muß, damit sie länger in Gebrauch sein können, damit sie durch den Verlust der Schmerzlosigkeit auch sich selber schonen. Nach zwanzig Jahren sind sie kaputt, zerfallen sie, müssen sie in den Stampftrog, wo sie wieder von Maschinenhänden geknetet werden. Aber die Roboter, geschaffen zur Entlastung der Menschen von der Arbeit, werden sein jüngstes Gericht. Statt zum Friedenswerkzeug, werden sie als Mordinstrumente benützt. Der Mensch selber erträgt die Nichtarbeit nicht und geht in Orgie unter wie ein mit Wasser vollgesoffener Schwamm, bis sich die Roboter aller Länder gegen den Menschen vereinen und ihn unerbittlich, mit der Prägnanz von Maschinen, ausrotten. Mit den Menschen ging das Geheimnis der Roboterfabrikation unter, die Formel wurde vernichtet, und keiner findet sie mehr, auch der einzig überlebende, der letzte Mensch nicht. Millionen Roboter fallen jährlich in Stücke, ohne daß neue erzeugt werden, ohne daß sie selber neue zeugen können, denn sie haben nur die Zeichen des Geschlechts, aber nicht das Geschlecht selber. Aber wieder wird Adam und Eva. Aus den Robotern wächst ein Paar, das mehr als Maschine ist, das Mensch wird – in Liebe. Dieser Bogen, der von der Empörung zur Liebe führt und als ganzes die Menschwerdung überspannt, ist schön. Aber er wird mehr im Gedanklichen fertig als im Dichterischen. Dieses bleibt am Rand, vermag sich nicht auszubreiten, schimmert über, aber nicht aus den Szenen, ist nicht Karels Kraft, sondern seine Sehnsucht. Nicht daß er von Shaw, Wells und Georg Kaiser gelernt hat, ist seine Schwäche, sondern daß er in entscheidenden Wendungen zu schematisch, zu logisch wird, Gedankliches und Dichterisches verkürzt bringt, aber nicht seelisch verkürzt, sondern theatralisch verkürzt. Schon in den Namen: So heißt der Zentraldirektor Domin (von Dominus – Herr), der die Maschinenmenschen zum Aufstand bewegende Roboter Radius, das letzte Schiff, das den Menschen bleibt, Ultimus, und der erste Roboter, der Mensch wird, Primus. Alles wird dir, Theaterbesucher, gesagt, es bleibt dir nichts zu erraten. Aber das Geheimnisvolle bei aller Klarheit gehört zum Wesen der Kunst. Theatralische Verkürzungen: Wenn eine Amme Volkesstimme und damit Gottesstimme posaunen soll – wenn die Formel zur Erzeugung der Roboter verbrannt wird, nicht von einer Frau (das wäre schön), sondern von einer Laune – wenn die Liebe aus den Robotern Menschen macht (oh, wie wird Capek da banal, daß sich aber die ersten Menschen um Tisch und Sessel wie im Lustspiel verfolgen, ehe sie sich fangen und küssen, ist Banalitätssteigerung der Regie.)

             Aber auch mit seinen Schwächen bleibt Capeks Drama in seiner Gescheitheit, seinem Gefühl für Sozialität und in der sicheren leichten Hand beim Szenenbau ein tapferes, neu- und eigenartiges Theaterstück. Es würde noch sehr gewinnen, wenn man es ganz als Theaterstück und nicht als heilige Dichtung spielen und die etwas breite realistische Sprache straffer zusammenziehen würde. Das Beste an der Aufführung der Neuen Wiener Bühne sind die Dekorationen Friedrich Kieslers, die aus Sachlichkeit und Maschinenprägnanz szenische Phantastik gewinnen. Der romantische Samtvorhang, der im letzten Akt so gar nicht zu den Glaskolben, Feuerkannen, Chemikalien und geißlerischen Röhren paßt, dürfte von fremder Hand hinzugetan worden sein, er ist wirklich, alles andere aber überwirklich, wie es das Drama verlangt. Roberts Regieleistung ist Roboterarbeit: bei Erfüllung alles Technischen durch Technik ohne eigene Musik und Seele – aber fleißg, sehr, sehr fleißig. Schauspielerisch am stärksten ist Karl Götz als der letzte Mensch. Seine Phantastik, die niemals spielerisch wird, zwingt. Stahl-Nachbaur spricht noch immer Stahl, spielt noch immer Stahl, manchmal, nicht immer, sieht man bei diesem Zusammenprall Funken stieben. Maria Eis ist eine vorzügliche, aber keine mondaine Schauspielerin. Nicht Damen, sondern elementare Volksgestalten muß sie spielen. Dem kleinen Fräulein Schafranek glaubt man die Erweckung eines Golems zum Adam, so sehr decken sich bei ihr Schauspieler- und Frauentum.

In: Neues 8 Uhr-Blatt, 11.10.1923, S. 7.

Fritz Feder [= Jura Soyfer]: Avantgardistisches Theater im Hagenbund.

GENERALPROBE. Der kleine Theatersaal ist kaum geheizt. Die Schauspieler sind übernächtigt und nervös. „das Technische“ klappt nicht. Ja, wenn ein regelrechter Inspizient vorhanden wäre und eine Schar von Bühnenarbeitern – wenn man Maschinerie und Personal eines großen Theaters zur Verfügung hätte – dann würde sich jetzt gerade in diesem „Technischen“ das ganze Genie des Regisseurs offenbaren. Hier aber muß er in mühseliger Selbstbeherrschung feststellen: es klappt nicht; muß sich von Minute zu Minute immer mehr überzeugen lassen, wie notdürftig sich in Wirklichkeit all die Gongschläge, Grammophon-Melodien, Beleuchtungseffekte ausnehmen, die er blitzenden Auges im Regiebuch vermerkt hat; muß jeden seiner Einfälle krampfhaft verteidigen gegen die ringsum aufsteigende Hysterie, die da fordert: Rette, was noch zu retten ist! Laß alles aus, bis auf den nackten Text! Seien wird froh, wenn wir das Stück überhaupt nur irgendwie abrollen lassen können, auf diesem armseligen Nudelbrett von einer Bühne!

Aber die Schauspieler, der Beleuchter, der Bühnenbildner gebärden sich mutloser, als sie in Wirklichkeit sind. Sie werden bis spät in die Nacht durchhalten. Sie werden am nächsten Tag zu einer weiteren noch generaleren Generalprobe antreten. Sie werden trotz Grippe und Müdigkeit, elektrisiert vom Lampenfieber, sich mit Einsatz aller Kräfte in die Premiere stürzen. So wird die Aufführung auf dem „Nudelbrett“ zustande kommen, wird die Durchschnittsleistung der großen Theater geistig bei weitem übertreffen und dies ohne andere Mittel als die Energie eines Dutzend theaterbesessener junger Menschen.

Das ist ein altes Lied: das Lied vom avantgardistischen Studio.

In dieser Woche war die Theatergruppe des Dr. Ernst Rohner an der Reihe, all die Geburtswehen einer solchen Premiere durchzumachen. Aufgeführt wurde „Die Unbekannte von Arnas“, das Werk eines jungen Franzosen namens Salacrou. Vornehmlich aus zwei Gründen ist diese Aufführung beachtenswert. Erstens ist das Stück selbst künstlerisch sehr interessant und stellenweise von genialen Einfällen getragen. Zweitens ist es dieser seiner hohen Qualität wegen äußerst instruktiv über die ganze künstlerische Richtung, der es angehört, und – was besonders wichtig ist – charakteristisch für die Situation aller avantgardistischen Theatergruppen in Wien.

Ein Mann in gutbürgerlichen Verhältnissen namens Ulysse erschießt sich, weil seine Frau ihn betrogen hat. Ehe er sich aber dem Jenseits zuwendet, hat der Tote noch hienieden ein Stück Weg zurückzulegen. Alle Erinnerungen seines Daseins erscheinen nämlich in der Wohnung und in ihrem Kreise muß er alles noch einmal durchmachen, was ihm seit der Kindheit an menschlichen Erschütterungen begegnet ist, kurz gesagt, er muß sein Leben repetieren. Dieses Nochmals-Erleben erfolgt nicht chronologisch, sondern als sehr bewegtes Durcheinander. (Als ein „Jahrmarkt“, wie der Kammerdiener Nicola es ausdrückt, der eigentlich gar kein Kammerdiener ist, sondern die Fäden des ganzen mystischen Geschehens in der Hand hält.) Das Längst-Vergangene vermischt sich mit dem Eben-Geschehenen und sogar mit der Gegenwart, das heißt, mit dem, was nach dem Tode Ulysse geschieht. In dieser sehr kompliziert verschlungenen Vielheit der Zeiten und in der vollständigen Einheit des Ortes – alle drei Akten spielen im selben Wohnraum – tritt also Ulysse seine Odyssee zum zweiten Male an.

Er begegnet den Frauen, die er geliebt hat, angefangen von seiner Mutter. Er stürzt in die Arme seines Jugendfreundes, des sechzehnjährigen Jugendfreundes, der keine Ahnung hat, daß er als Vierzigjähriger dem Ulysse die Frau stehlen wird. Er läßt sich gerührt von einem zwanzigjährigen Offizier in Kavallerie-Uniform segnen: dieser aus einem Bildrahmen Herabgestiegene ist Ulyssens Großvater, blutjung gefallen in der Schlacht von Gravelotte, der Held der Familie. Aber knapp vor seiner Abreise ins Feld hatte dieser prächtige Offizier des Geldes wegen eine alte Frau genommen, und wie alles andere, muß Ulysse jetzt auch den schmerzlichen Moment wiedererleben, da er von dieser Ehe erfährt und damit das Ideal seiner ersten Jugend zusammenbrechen sieht.

Daß er dieses ganze Leben schon einmal gelebt hat, nützt ihm nichts. Jede Illusion und jede Enttäuschung, jeder Schmerz und jede Beseligung ziehen ihn, der doch den Ausgang im voraus weiß, unvermeidlich wieder in ihren Bann. Es ist so, als lebte er all dies zum ersten Male. Nur am Schluß, als er vom Betrug seiner Frau erfährt, scheint es einen Augenblick lang, als dürfte er die Lehre aus dem repetierten Leben ziehen. Er komm nämlich zur Erkenntnis, daß die Frau des Selbstmordes nicht wert ist, daß er dieses Los ertragen muß wie die übrige Durchschnittlichkeit seines Lebens, daß er außerdem hienieden noch viel zu lernen und zu genießen hat. Kurz: er will sich nicht umbringen.

Aber da reicht ihm der Kammerdiener (grotesk und mysteriös wie eine Gestalt von E.T.A. Hoffman) den Revolver und erklärt: Nichts zu machen! Der Schuß ist schon gefallen. Worauf Ulysse die Waffe nimmt und der Schuß fällt.

Hat er sich zufällig umgebracht? „Nein,“ meint der Autor Salacrou, „es gibt keinen Zufall!“ Und um dieses wichtigste Fazit seines Stückes zu unterstreichen, hat er es eben nach jenem unbekannten Mädchen von Arras benannt, das dem Ulysse einst im Weltkrieg begegnete. Er hat sie zufällig in einer evakuierten Stadt an der West-Front kennengelernt und sogleich wieder verloren. Es ist ihm nicht gelungen, irgend etwas über sie zu erfahren – nicht einmal ihren Namen. Vielleicht, wenn der Zufall sich anders gewendet hätte, hätte er sie geliebt und geheiratet.

Vielleicht wäre sein Schicksal anders abgerollt, wenn er diese Unbekannte erkannt hätte. Aber sein vorgezeichnetes Erdenschicksal war es eben, sie nicht kennenzulernen. Erst im Jenseits wird sie ihm sagen, wer sie ist.

Das ist die möglichst einfache Wiedergabe des sehr schwierigen Stückes. Lange und ausführlich ließe sich noch an ihm herumdeuten. Lange und ausführlich ließe sich noch vom dramaturgischen und philosophischen Standpunkt pro und contra sprechen.

Aber es gibt anderes dazu zu sagen, das für uns alles wichtiger ist.

Armand Salacrou gehört, seinem Stück nach zu schließen, zu den französischen Surrealisten. In den ersten Jahren nach dem Weltkrieg haben breite Schichten des französischen Publikums und an ihrer Spitze eine Reihe prachtvoll begabter junger Schriftsteller gegen die bestehenden Kunstformen revoltiert. Eine Welt neuer Probleme war stürmisch zutage getreten. Die hergebrachten Formen schienen keine geeignete Ausdrucksmöglichkeit mehr zu bieten. In dieser Zeit haben die Surrealisten, kühn experimentierend, Neues zu schaffen versucht. Was ihnen gelang, war viel zu wenig. Nämlich – was Theater betrifft – nur die Befreiung von starren, formalen Gesetzen der Dramaturgie. In dieser Beziehung haben sie den Expressionismus fortgesetzt und vollendet. Aber weiter kamen sie nicht. Nach einer Etappe wirklichen Fortschrittes trat Stillstand ein: es wurde nur mehr um des Experimentes willen experimentiert, es wurde mit Formen gespielt, was man sagte, wurde sekundär gegenüber der Manier, wie man es sagte.

Um diese Zeit wendete sich einer der führenden Surrealisten, Aragon, von seiner eigenen Schule ab. Und er blieb nicht der einzige. Heute gibt es in Frankreich eine breite Bewegung von Schriftstellern, die sich in Lyrik, Epik und Drama der ewigen Quelle aller Kunst zugewandt haben: dem Volk, mit seinen tausendfältigen lebendigen Lebensproblemen.

Und eines, worüber Lyriker sowie Epiker untereinander noch diskutieren mögen, kann für Theatermenschen doch kaum mehr fraglich sein: nämlich daß in allen Zeiten der Geschichte das Theater nur dort, nur dann groß und fruchtbar war, wo seine Leidenschaften die von Hunderttausenden waren.

Und von dieser Feststellung wollen wir nun zu den Wiener Theatern zurückgehen. (Zurückgehen – in jeder Beziehung.)

Die herrschende Wiener Theaterproduktion, welche sich derzeit merkwürdigerweise einer relativen wirtschaftlichen Konjunktur erfreut, steht geistig auf einem äußerst tiefen Niveau. Was die großen Unternehmungen anstreben, bewegt sich zwischen dem Amüsement und dessen etwas würdiger klingenden deutschen Übersetzung: Unterhaltung. Nur ein erschreckend geringer Prozentsatz der aufgeführten Stücke läßt sich in diese primitive Wertordnung nicht einreihen. Ein künftiger österreichischer Theaterhistoriker wird diese Epoche mit ein paar bedauernden Worten abfertigen müssen. Das weiß so ziemlich jeder, der mit dem Theater zutun hat. Die einen kümmern sich nicht darum – die anderen leiden darunter und wollen es seit Jahren besser machen. Sie waren vor Jahren eine einflußlose Minderzahl. Und das sind sie bis heute geblieben.

Warum? Hat es in diesem Lager an Talenten gefehlt? Gewiß nicht. Die großen Theater haben aus den kleinen Gruppen der Jungen die lohnendste Akquisition gemacht. Hat es am ehrlichen Willen gemangelt? Ohne die Lockungen zu unterschätzen, die von einer großen Gage ausgehen, läßt sich nüchtern sagen: nicht bei allen hat es am ehrlichen Willen gemangelt.

Liegt es also am Publikum? Will das Publikum um keinen Preis etwas anderes sehen als geschickt geschriebene, nichtssagende Stücke? Wenn es wahr ist – warum suchen sich die Studios kein anderes Publikum als das eine, an das sie sich seit soundsoviel Jahren vergeblich wenden? Und wenn es nicht wahr ist, warum ist und bleibt all die bewundernswerte Arbeit eine Sisyphusarbeit?

Über all diese Fragen müßten wir alle, denen es ums Theater zu tun ist, einmal nachdenken.

Gibt es zwischen dem Happyend eines Singspieltenors und dem doppelten Selbstmord eines avantgardistischen Ulysses wirklich keine Möglichkeit, die ein Experiment lohnen könnte?

In: Der Tag, 21.2.1937, S. 22.

Ludwig W. Abels/Hans Tietze: Unsere Kunstgüter in Gefahr!

Das „Neue Wiener Journal“ hat vor einigen Tagen die Nachricht gebracht, daß mit 31. Dezember der als Kunstforscher sowie als schneidiger Kritiker bekannte und vielgenannte Universitätsprofessor Hans Tietze aus seinem Amt als Referent des Staatsamtes für Unterricht ausscheidet. Schon die Seltenheit des Falles – in einer Zeit, da jeder so lange als möglich an der Krippe zu verbleiben trachtet – hat weit über die engeren Kunstkreise hinaus Aufsehen erregt. Man weiß, daß Tietze nach dem Umsturz durch energische und logisch gewappnete Verteidigung unseres Kunstbesitzes gegen die Gelüste des Auslandes sich hervorgetan hat, daß er bald darauf das großzügige Programm für den Ausbau der staatlichen Sammlungen aufstellte, das vor allem den glücklichen Neuschöpfungen des Barockmuseums sowie der Galerie des 19. Jahrhunderts ec. zugrunde liegt, das aber noch lange nicht in allen Punkten durchgeführt werden konnte. Und so könnte man glauben, daß einer der Vorkämpfer um die gute Kunstsache die Flinte ins Korn geworden hätte. Die Gegner aller Art – an denen es bei einer so entschiedenen Erneuerungstätigkeit nicht fehlen kann – werden vielleicht im ersten Moment triumphieren. Nun, sie kennen die Motive dieses Schrittes nicht und ahnen kaum die Gefahren, die mit den schuldtragenden Verhältnissen verbunden sind!

             Die Abschiedsfeier, die vorgestern im Oberen Belvedere veranstaltet wurde, zeigt das einmütige Zusammenstehen aller am Gedeihen unserer Kunstinstitute interessierten Persönlichkeiten. Sie zeigte, wie tief die Trauer über diesen wohlerwogenen Schritt geht. Dem Scheidenden wurde eine von sämtlichen Beamten der Museen und vielen anderen Fachleuten von Rang unterzeichnete Denkschrift überreicht, in der Dr. Tietze der Dank für sein selbstloses Wirken ausgesprochen und das Festhalten an seinem Programm betont wird.

             Unter den vielen betrübenden Ereignissen, die in den letzten zehn Jahren über Österreich herniederstürmten, war der Stolz auf unseren vielbewunderten Kunstbesitz eines der wenigen tröstlichen Momente. Trotz Geldnot und Abbaumaßnahmen schienen unsere berühmten Institute, die einstigen Hofmuseen, die Hof- (jetzt National-)Bibliothek, die Kupferstich- und Handzeichnungensammlungen, die Galerien neuerer Kunst und andere in ein Stadium des Fortschrittes und der Vergrößerung getreten zu sein, ähnlich wie wir es bei den ehrgeizigen reichsdeutschen Instituten in Berlin, München, Hamburg usw. sehen können. Eingeweihten konnte jedoch nicht verborgen bleiben, daß viele Maßnahmen in den Anfängen stecken blieben; der Arbeitseifer schien zu erlahmen – kein Wunder, wenn die Arbeitslast, an der früher fünf Personen zu tragen hatten, nur oft auf einem einzigen Direktor oder Kustos ruht. Aber es gibt auch tiefer liegende Fermente der Zerstörung. Nicht etwa die Angriffe mancher Zeitungsreferenten sind hier gemeint, denn offener Kampf fördert.

Vielmehr: dem aufmerksamen Beobachter der österreichischen Nachkriegsvorgänge (und zwar auf allen Gebieten der Politik!) kann es nicht entgehen, daß seit einigen Jahren ein ganz eigener Typus von Beamten in den verschiedenen Staatsämternn auftritt, dem es weniger um das allgemeine Wohl, als um die eigene Karriere zu tun ist; es sind Männer, die ihre Ziele mit um so größerer Energie verfolgen, als ihr Gemüt und Gedächtnis „von keinerlei Sachkenntnis beschwert ist“. Sie finden bei jenen Verwaltungsbeamten, die sich möglichst lange am Ruder halten wollen und denen alles andere „Wurst“ ist, keine ernstlichen Hindernisse. Die Folge dieser Erscheinung ist eine vollkommene Stagnation in den betreffenden Gebieten.

[…]

             Hofrat Tietze formuliert die Symptome der Zersetzung in der staatlichen Kunstpolitik in zwei Punkten. In erster Reihe steht das Verhalten der Behörden in den bekanntlich so wichtigen Geldangelegenheiten. Die Krise kennzeichnet sich durch die seit Jahr und Tag bemerkbare Unlust, die genügenden Geldmittel selbst für die spärlichste Befriedigung der sachlichen und Personalbedürfnisse zu bewilligen. Es liegt diese scheinbare Sparsamkeit durchaus nicht im Sinne der Versailler Beschlüsse, ebenso wenig wie der ganz übertrieben gehandhabte Abbau im Personal künstlerischer und wissenschaftlicher Institute. Es war niemals die Absicht der Mächte oder des Generalkommissars Dr. Zimmermann in gedankenloser Schematisierung auch auf die lebendigen und unersetzlich wichtigen Kulturgüter anzuwenden. Welcher Widersinn einerseits in begeisterten Tiraden die zum Weiterbestand Österreichs und zu seiner Reputation so wichtigen Kunstgüter zu preisen, anderseits sie durch Entfernung der bewährten Hüter und Verweigerung der erforderlichen Gelder langsam aber sicher zugrunde zu richten! Jüngere Beamte werden nicht angestellt und herangezogen; die wenigen, die als Volontäre arbeiten, in Erhoffung späterer Anstellung, müssen im Existenzkampf zur Lehrtätigkeit oder Schriftstellerei übergehen. Auswärtige Kräfte lehnen jede Berufung ab, da die gebotenen Gehälter kaum die Hälfte der gewohnten Bezüge betragen!

             Als zweiten Grund des Rückgangs bezeichnet Hofrat Tietze die oben angedeutete Zersetzung, die sich in der Verwaltung selbst vollzieht. Die gesamte Verwaltung Österreichs, speziell auf dem Gebiet der geistigen und Kunstpflege, ist zu ihrem Schaden politischen Einflüssen, den Wünschen der verschiedenen politischen Parteien zugänglich. – Während in Deutschland trotz der Zerklüftung und der Gegensätze in den Meinungen doch die Durchführung wichtiger Ankäufe und wichtiger Reformen nicht behindert wird, erscheint Tietze eine ersprießliche Tätigkeit im Unterrichtsamte bei den gegenwärtigen Verhältnissen vollkommen unmöglich. „Und da ich es unter diesen Umständen für eine Gewissenlosigkeit halten würde, mich aus den Steuergeldern des verarmten Volkes bezahlen zu lassen, ohne etwas zu leisten oder leisten zu können, habe ich von dem Abbaugesetz Gebrauch gemacht, indem ich mich selber abbaute!“

In: Neues Wiener Journal, 6.1.1926, S. 6.