Ernst Fischer: Das große Welttheater. Von Hugo Hofmannsthal

In dieser Zeit der Skepsis und der Regie, der entfesselten Technik und der geknebelten Seele, der großen Maschinen und der kleinen Herzen, in dieser Zeit, die wie eine schreckliche Pause zwischen dem zu Ende gespielten Gestern und dem noch wenig erprobten Morgen ist, treten die Gaukler vor die Rampe, die Schlangenbeschwörer der toten Kultur, die wunderlichen Fakire des Geistes, die letzten Artisten der Alten Welt. Sie haben die Kunst der Steinzeit, die Plastik der Neger, die Malerei der Südseevölker, die Geheimlehren der Inder, die Gifte aller Mysterien und den Katholizismus entdeckt. Sie haben alle Gräber geplündert und von den Tafeln der Toten betäubende, erregende, nervenbeklemmende Dinge mitgebracht. Sie füllen die Pause, die schreckliche Pause zwischen gestern und morgen mit ihren grellen und müden Künsten.

            Einer von diesen Gauklern und Schlangenbeschwörern ist Hugo von Hofmannsthal. Er hat uns die zarte und süße Musik empfindlicher Nerven gegeben, er hat mit kühlen, zuckenden Händen Elemente der Renaissance, der Antike, chinesische Märchen und barocke Geschichten, seltsame Anekdoten und katholische Mysterienspiele in leise Krankheit verwandelt und die große Skepsis und Müdigkeit zu sanften Ekstasen verführt. So hat der Meister des kleinen Welttheaters das große Welttheater des Katholizismus zu schattenhaftem Leben erweckt und ein geistliches Schauspiel Calderon de la Barcas, des genialen katholischen Dichters, durch eine ästhetische Injektion vergewaltigt. Reinhardt hat in den Salzburger Festspielen das Stück zur jüdischen und christlichen Sensation gemacht und der internationalen Halbwelt des Geistes und der Finanz zwischen Börse und Fußball die zauberhafte Regie der katholischen Kirche verabreicht.

            Helmut Ebbs, der das Stück in Graz inszenierte, hat die Dichtung, in der Vergangenheit sich wunderlich mit Gegenwart paart, in der die Revolution und der Sozialismus neben dem christlichen Dogma lyrisch über die Bühne geistern, in der neben künstlicher Einfalt allzu kluge Worte vieldeutig aufleuchten, entkatholisiert und Hofmannsthals Flirt mit der Kirche weise gedämpft. Was unter seiner Regie sich formte, war wirkliches, starkes und buntes Theater. Es wurde kein Hochamt zelebriert, es wurde Theater gespielt, es wurde nicht in Katholizismus gemacht, es wurde eine Dichtung in Bild und Gebärde geformt. Nichts erinnerte an eine gotische oder barocke Kirche, in weite, mystische Landschaft öffnete sich die Bühne. Der Gott, der sein Werk, die Schöpfung, vollendet hat und nun, da alle Rollen verteilt und alle Stellen besetzt sind, nicht weiß, wie er sich die Zeit, die tolle Tochter der Ewigkeit, vertreiben soll, war keine körperlose Stimme aus dunklem Gewölbe, sondern ein Greis mit bronzenem Antlitz und strotzenden Muskeln, der christlicher, jüdischer oder heidnischer Konfession sein konnte und sich nicht in dogmatischen Abstraktionen aufgelöst hatte. Seine Musikantin, die „Welt“ der Dichtung, die das Menschenmaterial für die Spiele zu liefern hat, war zur braunen Erde und heidnischen Mutter geworden, die fahl und magisch beglänzt, in einer Höhle kauert und Lieder von Tod und Leben singt (ein Bühnenbild von ungewöhnlicher Schönheit), der Tod selber, der Bühneninspizient des Welttheaters, trat nicht als christliches Knochengerippe auf, sondern als einer „aus des Dionysos, der Venus Sippe,“ wie der junge Hofmannsthal ihn einst, als er noch bei Goethe, Nietzsche und der Antike zu Gaste saß, gestaltet hat. Ebbs spielte den Tod in grauer Seide, rot umblutet von seidenem Bande, mit weichem, lockenden Bariton und seltsamer Anmut der Bewegung.

            Der Bettler, die eigenartigste und modernste Gestalt der Dichtung, wurde von Theodor Grieg dargestellt, der in der leidenschaftlichen, aus edlen Versen auflodernden Anklage gegen die Welt der Könige, der Händler und der Bauern zu wenig metallisch, in der heiteren Resignation und hohen Verklärung des Schlusses aber sehr wirkungsvoll war. Dieser Bettler ist mir behutsamer Überlegenheit du großer Klugheit gestaltet; der Ästhet Hofmannsthal berauscht sich an der erregenden Kraft der Revolution, wie er sich an der Antike oder am Katholizismus berauscht. Aber der Dichter denkt, doch dunkles Menschenschicksal lenkt seine Hand; der Bettler mußte, über die kühle Ruhe dessen hinaus, der ihn schuf, die stärkste Figur in diesem Welttheater werden. Sie alle sind meisterhaft aus der Zeit auf die Bühne gestellt, der Bauer, „ein Laib mit Brot mit zwei Füß“, der Reiche, der die Macht, und der König, der ihren Schein besitzt. aber sie alle sind fest und klar charakterisiert und begrenzt, nur der Bettler flammt über sich selber ins Grenzenlose hinaus. Er hebt das Beil gegen alle und einen Augenblick lang weiß niemand, weiß weder der König auf der Bühne noch das Publikum, der Engel und die Heiligen, ob das noch zur Rolle gehört oder ob das rebellische Improvisation ist. Das Stück, das zur Ehre und zur Lust Gottes aufgeführt wird, ist in Frage gestellt – dann aber geschieht das Wunder, das die Weisheit, die das traditionelle Gewand der Nonne trägt, das Herz des Rebellen erschüttert, weil sie nicht gegen ihn, sondern für alle Kreatur ist. Und die Weisheit schenkt ihm das Beil, da der Bettler sich weigert, ein Werkzeug zu führen, das nicht ihm gehört. Ist es des klugen Dichters Absicht, habe nur ich aus dieser Szene herausgehört, daß die Weisheit dem alten Besitzer den Produktionsapparat nimmt und ihn in die Hände des Proletariers legt, und daß nur so das Unheil und die Gewalt von dieser Welt abgewendet werden? Ist die Dichtung Hofmannsthals mehr als ein Zwischenspiel, grüßt der große Könner die Kommenden oder -?

            Das ist es, was mir an dieser Inszenierung so gut gefiel: daß sie aus dem Scheine der Vergangenheit in das Sein der Gegenwart eine Brücke schlug, daß sie aus dem katholischen Mysterium den menschlichen Mythos schälte. Abgesehen von kleineren Störungen, die schwer zu vermeiden sind (der fatale Sprechchor, die Unzulänglichkeit der weiblichen Stimmen, die dem großen Raum nicht gewachsen sind), war die Aufführung ein Maximum des an unserer Bühne Möglichen, dank der wundervollen Regie, dank den Schauspielern, unter denen außer den schon genannten vor allem Hugelmann als meisterhaft gestalteter Bauer und Kreidemann als vortrefflicher Widersacher auffielen. Allerdings war die optische Wirkung stärker als die akustische, die Sinfonie der Farben bezwingender als die Sinfonie der Worte: so vollendete Bühnenbilder wie den Tanz der Glücklichen, das Lied der Erde, den rhythmisch gelösten Totentanz und die weiße Verklärung des Schlusses haben wir selten gesehen. Das Wort litt manchmal unter den Dimensionen des Opernhauses.

In: Arbeiterwille (Graz) 11.3.1925, S. 3-4.

Joseph Gregor: Mayerhold

Die Erscheinung des Theaters von Mayerhold – zweifellos die bedeutendste des ganzen modernen russischen und vielleicht europäischen Theaters – ist nicht frei von Ironie. Mayerholds Vorstoß, um zu den reinen Elementen des Theaters zu gelangen, ist noch weit energischer: führte der Tairoffs ins Barocktheater zurück, der Wachtangoffs ins Shakespeare-Theater, so befinden wir uns bei dem Mayerhold in der Gegend des klassischen Theaters und des Mimus. Seine Räumigkeit des Theaters ist die größtmöglichste: für ihn ist jedenfalls auch Tairoffs Raumkonstruktion nur Kulisse und so spielt er ohne Vorhang vor dem leeren Bühnenhause. Man denke aber nicht, daß damit auf die verschiedenen Raumwertigkeiten, wie sie die Bühne gewährt, verzichtet sei: Ausgangsebene ist meist eine kreisförmige oder oblonge Orchestra („Der Lehrer Bubus“, „Mandat“, „Der Revisor“), die eine Rückwand besitzt (im ersten aus Stäben, im zweiten und dritten aus politierten* Flächen). Durch diese Maßnahme wird endlich erreicht, den Schauspieler tatsächlich räumlicher, von verschiedenen Seiten beschaubar zu machen. In der Tat erlauben sogar schon die hier beigebrachten Figuren, sich von der großen Plastik der menschlichen Erscheinungen und Gruppen jedenfalls der größten, die je auf einer Bühne erreicht würde, zu überzeugen. Wird nur das Bühnenhaus mit seinen Rohwänden verwendet („Der Wald“, „Die Erde bäumt sich“, „Tarelkins Tod“, „Die Morgenröte“), so dient ein konstruktiver Aufbau auf der Bühne dazu, die in Gefahr stehenden Raumwertigkeiten wieder zu gewinnen. Öfters so deutlich, daß er in einem Anlauf vom Proszenium bis hoch über die Bühne führt („Der Wald“) oder daß praktikable Gerüstaufbauten errichtet werden („Die Erde bäumt sich“), auf denen sich Vorgänge abspielen können. Es ist also in jedem Falle vorgesorgt, keinen Teil des an sich leeren Bühnenraums unbeschäftigt, ungespielt zu lassen. Doch mehr als das. Die von Mayerhold angewandten Konstruktionen sind im Gegensatze zu den in dieser Untersuchung mehrfach genannten nicht fix, sondern beweglich. Die ganze Fallenkonstruktion in „Taraelkins Tod“ ist fahrbar, die Maschinerie in „Der großmütige Hahnrei“ ist in Gang zu setzen, im „Revisor“ fährt die ganze geneigte Spielfläche mehrmals auf die Bühne hinaus und verschwindet wieder. Bewegliche Wände, („Trust D. E.“), Flächen, die eigentlich Drehtüren sind, die Verwendung allerlei wie immer gearteten Vehikels ist keine Seltenheit. Zu dieser außerordentlichen Beweglichkeit und turnerischen Grazie seiner Schauspieler ­– was nicht wundernehmen kann, da sie so stark im Blicke stehen – gesellt sich die bewegte Dekoration. Es herrscht ein wahrer horror quietatis, ein Abscheu vor der Ruhe, das Theater in Bewegung.

Man kann nicht annehmen, daß dieses System nur zufällig sei oder einer billigen Sensation entsprechen würde. Dagegen spricht seine ganz außerordentliche starke Wirkung und der hohe Ernst seines Autors. Es ist vielmehr nichts Geringeres beabsichtigt, als den Ausdruck des Spiels statt im Bilde und in der Stimmung, statt in der Rede und in der Beleuchtung in der Bewegung zu finden, motorischer Symbolismus. Für dieses Theater wäre beispielsweise eine Abendstimmung nicht in den üblichen Beleuchtungsszenarien zu suchen, sondern in den Reihen der müde aus den Fabriken heimgehenden Arbeiter, eine Morgenstimmung im machtvollen Ausschreiten eines zuversichtlichen, erwartungsvollen Chores. Tatsächlich ist beides bei der Inszenierung der „Morgenröte“ Verhaerens in dieser Weise aufgefasst worden. Chorischer Ausdruck ist also die notwendige Ergänzung des tänzerisch-turnerischen des Schauspielers, wird in dieser ein Prinzip des Minus, so in jener gewiß eines der leider verloren gegangenen mimischen Anweisungen des antiken Chores erreicht.

Es wird sich lohnen, eine ganze Inszenierung Mayerholds auf diese Prinzipien zu untersuchen, um deren wechselweise Anwendung und Anschaulichkeit kenntlich zu machen. Wir wählen einen Fall, von dem als einer Art, Gradmesser der russischen Bühne schon mehrfach die Rede war, den „Revisor“, und gehen das Stück analytisch auf die eben genannten Elemente ebenso durch, wie sie nacheinander zum Bewußtsein des Beschauers treten.

Mayerhold spielt den „Revisor“ vor der genannten Wand hochglanzpolitierter Türen. An Stelle des eliminierten Vorhangs tritt das Licht; nach akustischen Anfangszeichen erfolgt das Aufleuchten der meist ungedeckten Scheinwerfer, es erscheint, auf Rollen hereingeschoben, die kleine, geneigte Spielfläche, mit der für alle im Interieur spielenden Szenen das Auslangen gefunden wird. Einige Möbelstücke, Kasten, Chaiselongue, Fußschemel, stellen auf dieser Spielfläche für diesen Fall den Eindruck eines Zimmers der gewünschten Zeit her. Die außerordentliche Enge, die insbesondere bei der Verwendung größerer Gruppen entsteht, ist deutlicher räumlicher Symbolismus, in ihr findet die Begriffsenge des Milieus ihren, wenn auch sehr naiven, immerhin aber für die große Masse schlagkräftigen Ausdruck. Aus dieser Kleinformung der Szene ergreift aber der Regisseur jeden sich bietenden Anlaß, um zu der gewohnten Großformung zu greifen; als erster bietet sich die Heimkehr Chlestakoffs nach dem Frühstück dar, die als Freilichtszenerie, über die ganze Breite der Szene, längs einer hereingeschobenen Barrière gespielt wird, auf deren einer Seite der falsche Revisor, auf deren anderen die devoten Begleiter in fortwährendem Auf und Nieder begriffen sind. Natürlich liegt der Ton auf diesem motorischen Moment. Desgleichen wird, im fortwährenden Alterieren mit der engen Interieurszene – ein Motiv besonderer Wirkung – natürlich auch die Übergabe der Gesuche und das Vertreiben der Bittsteller des Städtchens sehr breit motorisch durchgeführt. Schließlich sogar die Bestechungsszene, mit dem gespensterhaften Motiv der vielen Türen, aus denen immer wieder Personen sichtbar sind, Hände mit zerknüllten Banknoten greifen usw. Damit übergeht für Mayerhold das Stück schon von dieser Szene an in die pathologische Atmosphäre, die für den Schluß auch dem Autor nicht unerwünscht war. Nach der Schlußrede des Polizeimeisters an das Publikum beginnen die Figuren des Stückes Hand in Hand, in langer Reihe, von der Szene hinab ins Publikum zu schwirren, umkreisen turbulent das ganze Haus, bis der Zuschauer gewahr wird, daß sie verschwunden und auf der Szene eine Reihe von Wachspuppen übrig geblieben sind, verfallen, abgetötet, aber genau im Kostüm und den Haltungen der Darsteller.

Wir leugnen nicht, daß sich die hier verbergende Symbolik, die für den Leser unserer Untersuchungen jetzt schon bereits Schritt für Schritt erkannt werden wird – bildlicher, räumlicher, motorischer Symbolismus – recht naiv ist, daß sie gar keinen Vergleich aushält mit hohen optischen oder akustischen Symbolismus einer Aufführung Stanislawskis; sie ist aber, insbesondere wenn an ein Massenpublikum gedacht wird, wirksam und theatralisch richtig. Auch die Symbolik des antiken Theaters war naiv, auch bei diesem der Wunsch, auf eine zu Tausenden zählende Zuhörerschaft zu wirken, für die jede andere als eine deutliche, gegenständliche Aktion unverstanden geblieben wäre. Naiv und motorisch ist ferner der Symbolismus der ganzen simultanen Spielweise des Mittelalters, wo an einer Spielstraße, an Häusern, denen bescheidener Raumsymbolismus anhaftet, – Haus des Kaiphas, Ort der Dornenkrönung usw. – in fortdauernder Bewegung gespielt worden ist.

Diese Bemerkung müssen leider genügen, um die fortschreitende Analyse erkennen zu lassen, die auch das Theater Mayerholds bietet. Mit dem Wegfall der Bühne ergab sich die Notwendigkeit des Aufsuchens anderer symbolischer Kategorien, die geschichtlich ganz folgerichtig in einer Zeit gefunden worden sind, die gleichfalls keinen dreiseitig begrenzten Bühnenraum kannte. Die Rückkehr Mayerholds zum Mimus, also einer Theaterform der hellenistischen Zeit, ist oft bemerkt worden, es führt jedoch nur ein Schritt zur Rückkehr zu den Tänzen und Bewegungen des Chors, also zu einem Element der klassischen Zeit selbst. Ebenso sind die Aufbauten der Bühne beweglich gestaltet – man vergleiche im Gegenteil die fixen Aufbauten Tairoffs, zum Beispiel des „Gewitter“ – um auch darin keinen „toten Punkt“ und die weitestgehende Möglichkeit der Raumausnützung zuzulassen. Auch werden diese Aufbauten technisch einfacher gehalten, Räder, Anläufe, Kreisel, Gitter, durchbrochene Treppen, um überall ihren symbolischen, flüchtigen Charakter zu betonen und nirgends eine die motorische Freiheit der Szene sperrende Verbauung zuzulassen. Das räumliche Symbol wird also als gefährlich befunden und in strenger Antithese zu Tairoff abgelehnt, die Bühnenumrahmung, der „Guckkasten“, nach mehr als vielhundertjähriger Geltung vom offenen Theaterraum wieder abgelöst.

Aus dem im Amalthea-Verlag erscheinenden Werk über die russische Theaterkunst von Joseph Gregor und Renée Fülöp-Miller.

In: Die Bühne (1927), H. 163, S. 24ff.

Jonny, der Jazz, die Opernbühnen und die Menschen

Ein Gespräch mit Ernst Krenek

            Wir sitzen im menschenleeren Spielzimmer eines Ringstraßen-Cafés, von fern klingt das einförmige Geräusch des Betriebs in die ‚Einsamkeit‘. „Sehen Sie“, sagt Krenek, „diese Selbstverständlichkeit, mit der wir hier unseren Kognak trinken, diese unkomplizierten Vorgänge, wie der Kellner uns bedient, wie wir zahlen, wie wir aufstehen, wie wir von unseren Mitmenschen behandelt werden, die innere Zweckmäßigkeit, die unseren Alltag durchpulst, war es vor allem, die in mir die Idee des Jonny reifen ließ. Vier Jahre sind es her, als die ersten Umrisse der Handlung in meinem Innern sich verdichteten, als die Figuren aus dem ungeformten Nichts in meine Welt traten. Ich habe eine große Wandlung, eine grundlegende Umstellung meines Ich, meines Empfindens, meiner Anschauungen über Kunst, Leben und Menschen durchmachen müssen, ehe ich an die Ausführung des Werkes schritt. Und von da an bis zum Abschluß der Dichtung und der Komposition war noch ein weiter Weg.

            Ein Wust von Mißverständnissen hat den weiten Weg des ‚Jonny‘, der über neunundfünfzig Bühnen innerhalb eines Jahres gegangen ist, begleitet. Und weniger die wenigen ablehnenden Stimmen, als vielmehr die der Wohlwollenden, der ehrlich Begeisterten, haben dazu beigetragen, dieses Werk und meine Einstellung zu ihm, überhaupt meine ganze Einstellung als Komponisten, vor der breiten Öffentlichkeit in ein durchaus falsches Licht zu rücken. Man stempelte mich kurzerhand zu einem Erfolgskomponisten, zu einem Artisten, der, mit besonderen Bühnenkenntnissen ausgerüstet, eine Revue geschrieben hat, in der es nicht um ein Erlebnis, sondern nur um den Publikumserfolg geht.

            Das ist falsch. Aber ich kann mich gar nicht darüber erregen, wenn ich die Dinge betrachte, wie sie gekommen sind. Denn auch ich war vor meinem Pariser Aufenthalt1 der einen entscheidenden Einschnitt in meinem Leben bedeutet, auf einem ähnlichen Standpunkt, wie das deutsche Publikum und – auch die Kritik bis zu den ersten Musikschriftstellern hinauf. Auch für mich war früher die Idee eines Kunstwerkes das Primäre, dem sich alle anderen Faktoren, der Theaterapparat und die Menschen, zu beugen hatten. Das ist deutsch.

            Nach jenem erwähnten Pariser Aufenthalt aber, als ich zum Theater kam und Kapellmeister und Dramaturg in Kassel und später in Wiesbaden wurde, als ich an der lebendigen Theaterarbeit teilnehmen durfte, als ich die unsagbaren Klüfte zwischen den Werken und den tatsächlichen Erfordernissen der Bühne sah, und weiters die Divergenz zwischen dem Resultat der Bühnenwirkung und der tatsächlichen Empfindungswelt des naiven Publikums, empfand ich den Wunsch, ein Werk zu schreiben, dessen Anlage von vornherein all diesen Hindernissen Rechnung trug, sie ausschloß. So ist mein ‚Jonny‘ förmlich auf der Bühne entstanden, das Erlebnis von früher ist durch das spätere abreagiert.

            Ich habe viel und oft über die Jazzattrappe dieser Oper sprechen und schreiben müssen. Erlassen Sie es mir diesmal. Jeder Einsichtige wird erkennen müssen, daß in einer Welt der Selbstverständlichkeit, der Einfachheit und Zweckmäßigkeit, in der meine Oper spielt – und wozu sollte ich auch eine fremde, griechische oder orientalische, oder historische Atmosphäre aufbieten, um vom Publikum ein unnötiges Plus an Umstellung zu verlangen? – der Jazz ein Bestandteil ist wie ein Tisch, ein Smoking und andere Requisiten.

            Aber der deutsche, so stark im Spekulativen, im Theorem befangene Geist hat eine Weltanschauungssache aus dem Ganzen gemacht. Schlagworte, nichts als Schlagworte, die mich begleiten!

            Dieser Hang zum Schweren, Gründlichen, Ethischen, zur Doktrin, zur Philosophie, hat bekanntlich auch das deutsche Theaterwesen gründlich infiziert. So haben gerade mittlere Opern und kleine Opernhäuser wie Leipzig, Hamburg, Mainz, Mannheim, Frankfurt, Wiesbaden usw. mein Werk glänzend herausgebracht, weil man ohne viel Spekulation die sehr wichtigen Regievorschriften beachtet hat. In Berlin hingegen, an einer der größten Bühne

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des Reichs, tat der Regisseur zu viel des „Guten“ und das Resultat war eine Überinszenierung, die der ganzen Aufführung schadete. In Kassel wurde ‚Jonny‘ gerade während einer Lohnbewegung aufgeführt. Um die Theaterarbeit zu sabotieren, beschädigte jemand die Waberlohe in der ‚Walküre‘, sodaß der ganze Feuerzauber verdorben wurde. Am nächsten Tag mußte meine Oper daran glauben. Denn jemand durchschnitt das Seil, an dem der Expreßzug im letzten Bild bewegt werden sollte.

‚Jonny‘ liegt hinter mir. Es ist der Ausfluß, sagen wir die Abreaktion einer Epoche, die hinter mir liegt, wie der große Gegensatz zwischen Romantik und Gegenwartsgefühl, den die großen Massen im Begriff sind zu überwinden. Und es bedeutet mir reine Freude, wenn ich den Theaterapparat, die Sänger, das Orchester, den Kapellmeister und den Regisseur glatt und reibungslos an meinem Werke arbeiten sehe. Wie speziell die großen Sängerpersönlichkeiten an der Wiener Staatsoper, wie Vera Schwarz, Elisabeth Schumann, Alfred Jerger, Hans Duhan und Pataky, aus ihrer persönlichen Auffassung immer mehr in die meinige, hier durch den glänzenden Regisseur Dr. Wallerstein2 verkörpert, hineingeraten. Ich freue mich schon auf die Orchesterproben mit Kapellmeister Heger, auf die fabelhaften Dekorationen von Professor Strnad, die ich zwar noch nicht gesehen, aber aus ihrer Andeutung bei den Proben im Prinzip als sehr richtig angelegt erkannt habe.

Ich hoffe, daß diese Aufführung nicht nur mir, sondern auch den Wienern ein frohes, heiteres Erlebnis bedeuten wird.

                                                                                   Argos

In: Der Tag, 18.12.1927, S. 12.

  1. Bezieht sich auf seinen Parisaufenthalt vom Spätherbst 1924, bei dem er u.a. mit Darius Milhaud bekannt wurde, dessen „Fähigkeit, erstaunliche Mengen interessanter, ‚moderner‘ und trotzdem ‚brauchbarer‘ Musik hervorzubringen“ Krenek ausdrücklich bewunderte. Vgl. E. Krenek: Im Atem der Zeit. Erinnerungen an die Moderne. Hamburg 1998, S. 489.
  2. Lothar Wallerstein (1882, Prag – 1949, New Orleans), von 1927-1938 Oberspielleiter an der Wiener Staatsoper; 1939 Flucht ins US-Exil aufgrund seiner jüd. Abstammung; von 1941-46 Regisseur an der Metropolitan Opera in New York. 1928 verantwortete er auch die Uraufführung von Strawinskys Oedipus Rex.

Karel und Josef Čapek: Wie ein Theaterstück entsteht.

Mit Zeichnungen von Josef Čapek.

1. Die ersten Anfänge.

            In seinen ersten, ursprünglichen, tastenden Anfängen entsteht das Theaterstück natürlich außerhalb des Theaters, auf dem Tisch des ehrgeizigen Autors; ins Theater gelangt es zum erstenmal, wenn der Autor annimmt, daß es fertig ist. Natürlich zeigt sich’s bald (nach einem halben Jahr etwa oder so), daß es nicht fertig ist; denn im günstigsten Fall wandert es dann zum Autor mit der Aufforderung zurück, daß er es kürze und außerdem den letzten Akt umarbeite. Aus irgendwelchen geheimen Gründen ist es stets der letzte Akt, der überarbeitet werden muß, ebenso wie es immer der letzte Akt ist, der auf der Bühne bestimmt versagt; darin ist sich die Kritik mit seltener Übereinstimmung einig, da sie die Schwäche des Stückes immer im letzten Akt entdeckt. Es ist verwunderlich, daß die Dramatiker, trotz dieser stets gleichbleibenden Erfahrung darauf bestehen, daß ihr Stück überhaupt einen letzten Akt hat. Es sollte einfach gar kein letzter Akt geschrieben werden. Oder der letzte Akt sollte grundsätzlich abgeschnitten werden, wie man es mit dem Schweif der Bulldoggen macht, der ihre Gestalt verdirbt. Oder das Stück sollte umgekehrt gespielt werden, der letzte Akt am Anfang und der erste Akt, der stets als der beste anerkannt wird, zum Schluß. Kurz, es müßte etwas geschehen, damit von den Theaterautoren der Fluch des letzten Aktes genommen werde.

            Wenn daher der letzte Akt zweimal oder dreimal zusammengestrichen und überarbeitet und das Stück angenommen worden ist, so beginnt für den Autor die Wartezeit. Es ist die Periode, in der der Autor aufhört zu schreiben und überhaupt etwas zu tun, wo er nicht einmal imstande ist, die Zeitung zu lesen, noch in den Wolken zu leben, zu schlafen oder die Zeit totzuschlagen; denn er lebt in der Trance des Wartens, daß er gespielt wird, wann er gespielt wird, wie er gespielt wird usw. Mit einem Autor, der sich erwartet, kann man überhaupt nicht reden; nur ganz abgehärtete Autoren sind imstande, ihre Unruhe zu unterdrücken und sich so zu benehmen, als dächten sie teilweise auch an etwas anderes als an ihr angenommenes Stück. Der dramatische Autor stellt sich wahrscheinlich vor, daß der Theaterdiener schon hinter ihm steht, währenddem er das Stück zu Ende schreibt, und daß er atemlos bestellen komme, der Herr Autor möge um Gottes willen den letzten Akt schon schicken, da übermorgen die Première sein soll und er, der Bote, ohne den letzten Akt nicht zurückkommen dürfe.

            So geht es aber in Wirklichkeit nicht zu: ist das Stück angenommen, so muß es eine bestimmte Zeit im Theater abliegen; dort erreicht es die richtige Reife und zieht, sozusagen, Theatergeruch an. Es muß eine Zeitlang schon aus dem Grund abliegen, daß es als die „mit Spannung erwartete Uraufführung“ angekündigt werden kann. Manche Autoren greifen rücksichtslos in diesen Prozeß des Reifens mit persönlichen Urgenzen ein, die zum Glück keine Wirkung haben. Man muß der Sache den natürlichen Lauf lassen. Wenn das Stück genügend abgelegen ist, beginnt es verdächtig zu riechen. Dann muß man damit hinaus auf die Bühne, d. h. zunächst in den Probesaal.

[Wir beginnen mit der Veröffentlichung einer Artikelserie, in der die berühmten tschechischen Dramatiker ihr Theaterweltbild entwickeln, vom ironischen Standpunkt des Autors gesehen]

2. Die Leseprobe.

            Sind Sie ein Bühnenautor oder beabsichtigen Sie einer zu werden, so rate ich Ihnen, nie zur ersten Leseprobe zu gehen. Es ist ein niederschmetternder Anblick. Es kommen sechs oder acht Schauspieler zusammen; sie sehen todmüde aus, gähnen, ihnen ist kalt; sie stehen oder sitzen in kleinen Häufchen und husten halblaut vor sich hin. Dieser düstere, heißere Moment dauert etwa eine halbe Stunde; endlich ruft der Regisseur: „Meine Damen und Herren, fangen wir an!“

            Der todmüde Chor nimmt an einem wackeligen Tische Platz.

            „Der Wanderstab, Lustspiel in drei Akten“, beginnt der Regisseur und leiert das Szenarium schnell hinunter. Ein armes, bürgerliches Zimmer. Rechts die Tür ins Vorzimmer, links ins Schlafzimmer. In der Mitte ein Tisch usw. Georg Danesch tritt ein.

Autorisierte Übertragung von Anna Auředniček, Wien.

            Nichts.

            „Wo ist denn Herr X?“ fährt der Regisseur auf, „weiß er denn nicht, daß wir Leseprobe haben?“

            „Er probiert auf der Bühne“, brummt jemand voller Unlust.

            „So werde ich seine Rolle lesen“, entschließt sich der Regisseur. „Georg Danesch tritt ein. Klara, mir ist etwas Unerwartetes geschehen. – Klara.“

            Nichts.

            „Sakrament“, sagt der Regisseur, „wo ist denn die Klara?“

            Nichts.

            „Wo ist Frau Y?“

            „Vielleicht ist sie krank?“ spricht eine Grabesstimme.

            „Sie ist auf ein Gastspiel gefahren“, hetzt ein Zweiter.

            „Gestern hat mir die Marie gesagt“, fängt jemand zu erzählen an, daß –“

            „So werde ich die Rolle der Klara lesen“, seufzt ergeben der Regisseur und leiert schnell, als jage jemand hinter ihm her, den Dialog des Georg Danesch und der Klara herunter. Niemand hört ihm zu. Am andern Ende des Tisches entwickelt sich ein leises Gespräch.

            „Die Katuscha tritt ein“, atmet endlich der Regisseur erleichtert auf.

            Nichts.

            „Na also, Fräulein“, schimpft der Regisseur, „geben Sie doch Acht! Sie sind doch die Katuscha oder nicht?“

            „Ich weiß,“ erwidert das Fräulein Naive.

            „So lesen Sie. Erster Akt. Die Katuscha tritt ein.“

            „Ich hab‘ die Rolle zu Hause vergessen“, erklärt schalkhaft das Fräulein Naive.

            Der Regisseur brummt etwas Entsetzliches und sagt selbst den Dialog der Katuscha und der Klara her. Er brabbelt schnell, so wie der Priester bei einer Armenleiche das Vaterunser betet. Nur der anwesende Autor zwingt sich zuzuhören; sonst spielt sich die Sache bei allgemeinem Desinteressement ab.

            „Gustav Včelak tritt ein“, schließt der Regisseur mit einem heiseren Aufschrei.

            Einer der Mimen fährt zusammen, sucht seinen Zwicker in allen Taschen; nachdem er ihn aufgesetzt hat, blättert er in der Rolle. „Welche Seite?“, fragt er endlich.

            „Die sechste.“

            Der Mime wendet die Seiten und beginnt mit tragischer Grabesstimme seinen Part herunterzulesen. „Mein Gott,“ entsetzt sich der anwesende Autor, „das soll ein lustiger Bonvivant sein! Währenddessen sagen der die Klara vertretene Regisseur und der den lustigen Bonvivant spielende Mime düster die Antworten auf, die ein funkelnder Dialog sein sollen.“

            „Wann kommt Ihr Gutte zurück?“ liest der Mime mit ersterbender Stimme.

            „Gatte“, verbessert der Regisseur.

            „Bei mir hier steht Gutte“, beharrt der Mime.

            „Das ist ein Fehler beim Abtypen, bessern Sie’s aus.“

            „Man soll ordentlich abschreiben“, entgegnet der Mime voll Widerspruch und wühlt mit dem Bleistift in seiner Rolle.

            Indessen kommt eine gewisse Bewegung in den agonisierenden Chor; und es heißt plötzlich: Warten! In einer Rolle fehlt ein Satz; warten! Hier ist ein Strich von … „es war die erste Liebe“ bis „sie essen gern“; warten, die Rollen sind vertauscht. So, jetzt weiter; knurrend, stolpernd, erschöpft läuft der Text der mit Spannung erwarteten Uraufführung. Wer seine Rolle heruntergesagt hat, packt zusammen und geht seines Weges, wenn auch nur mehr drei Seiten bis zum Schlusse fehlen. Wie es scheint, interessiert es niemand auch nur im geringsten, wie das Ganze ausfällt. Schließlich ist das letzte Wort des Stückes gesprochen und Stille tritt ein; eine Stille, in der das Stück von seinen ersten Interpreten abgewogen und beurteilt wird.

            „Was für ein Kleid soll ich dazu anziehen?“, kräht die Heldin des Stückes inmitten des schweren Schweigens.

            Der Autor taumelt hinaus; er ist von der Überzeugung erschüttert, daß bisher in der Weltgeschichte niemals ein so graues, erfolgloses Stück geschrieben worden ist wie das seine.

In: Die Bühne, Nr. 168, 26.1.1928, S. 14-15.

N.N.: Das Ende des Opernrummels

Einige kulturpolitische Gesichtspunkte zur Jonny-Affäre.

            Wien hat schon zu lange keinen Mordprozeß gehabt […] Es kann doch nicht im Sinn der ewigen Gerechtigkeit liegen, daß sich diese Stadt ins Normale zurückverirre, daß sie sich auch einmal an sachlichen, vielleicht sogar an politischen und wirtschaftlichen Dingen erhitze, die uns doch wahrlich stark genug an Leben, Ehre und Eigentum berühren. Aber da wird schon immer rechtzeitig vorgesorgt und kaum hat man das nachtröpfelnde Schmutzwasser des Falles Grosavescu verschwinden sehen, die Auspressung des Interesses bis zu dem letzten Restchen, bis zur gänzlichen Schamvergessenheit, da beschert uns der Himmel wieder etwas Neues, etwas wirklich Ungewohntes, nämlich einen solennen Opernrummel mit aller Verrohung, mit aller Niedertracht, die ja eine solche geistige Rauferei mit sich bringt. Gewisse Herrschaften können nicht vertragen, daß man anderer Meinung ist als sie […] daß unser Musikkritiker nicht seit gestern, sondern seit Jahren und Jahren den Standpunkt strenger Ablehnung gegen die Orgiasten des Mißklangs einnimmt; gegen jene, die alles, was bisher auch dem kühnsten Musiker heilig war, in Grund und Boden stampfen und höchstens als billige Zutat für ihre Verstiegenheiten benützen. Das Klampfelanhängen, das böse Getratsch, das Altweibergewäsch mögen auch die alten Weiber männlichen Geschlechtes sein, das gehört offenbar zu der Atmosphäre von Wien. Auch verdiente Züchtigungen würden an diesem Zustand nichts ändern.

            Aber nicht von solchen Häßlichkeiten wollen wir sprechen. Was uns interessiert, das sind die Ursachen der grenzenlosen Ueberbewertung einer Arbeit, die so gar nichts Geistiges zu bieten vermag, so gar nicht den Kontakt sucht mit den mächtigen Problemen unserer Epoche, so wie sie wirklich ist und nicht wie sie neckische Fratzerei so gerne haben möchte. Ist diese Epoche wirklich auch nur durch eine Szene getroffen, die in dieser Oper gespielt wird? Alle großen Opernschöpfer seit Gluck, seit Beethoven, seit Myerbeer und Wagner haben versucht, den Stoffkreis zu erweitern, neue, mächtige Leidenschaften zu schildern, soweit sie Tragiker in der Musik gewesen sind, oder durch den Reichtum an Erfindung, durch den Glanz der Melodien, durch die innere Süße zu bestricken, soweit sie das musikalische Lustspiel zum Vorwurf nahmen. Sind neue Leidenschaften in dem Werke, das die Oper zur Einleitung des Schubert-Jahres dem Publikum gespendet hat? Wir haben nichts davon bemerkt […]

            Worin sollte auch die Neuigkeit bestehen? Darin etwa, daß Elemente der Revue sich in die Oper drängen und daß statt Walzer und anderer Phantasietänze nun auch Modernes und Modernstes in diese Sphäre eindringt? Wir glauben nicht, daß die Lorbeeren des Jonny so bald wieder irgendeinen Komponisten von Rang und Namen, von innerer seelischer Machtentfaltung verlocken werden. Denn die Erweiterung des Stoffkreises hat doch nur dann einen Sinn, wenn sie produktiv ist; wenn die höhere Kunstform neu befruchtet wird durch Elemente des Naturhaften und Urwüchsigen, wenn die höhere Kunst die Kraft hat, diese Elemente an sich zu ziehen, sie zu assimilieren, sie gleichsam zu verdauen, um dadurch an Frische zu gewinnen und innerer Gesundheit.  […] Im Musikalischen war es insbesondere der Walzer, der aus dem Dörflichen ins Städtische gezogen, der von Schubert durchseelt worden ist, sowie er von Lanner und Strauß beflügelt und emporgehoben wurde in die Sphäre der sinnlich-übersinnlichen Berauschung, immer im Rahmen des Gesetzes, immer hoch//gehalten durch die nicht zu bezweifelnde Urgewalt eines beispiellosen Könnens.

            Nun werden manche behaupten, dasselbe Experiment sei in der neuen Oper versucht worden und dem dürfe man nicht entgegentreten. Aber genau das Umgekehrte ist der Fall. Es gibt Negermusik, die so seelenhaft, so tiefgefühlt, so ergreifend ist wie das Adagio eines klassischen Meisters. Haben wir von diesen Ergießungen armer gequälter Herzen auch nur den kleinsten Abglanz in dem Werke des Opernrummels? Ja selbst dort, wo die originale Negermusik wie ein Katarakt durcheinander schwirrender Tonfiguren ist, selbst bei den ganz gewöhnlichen und tausendfach abgespielten Tänzen ist viel mehr Temperament innerhalb des Minderwärtigen herauszuspüren, viel mehr zischender, zappelnder Rhythmus, viel mehr handfeste, freche Energie als in dem matten Aufguß, den uns diese Oper zu servieren sucht. Weder ist also Idealisierung versucht worden, ein Empor aus dem Dschungel des Afrikanertums, die Europäisierung des Niggerwesens, noch ist auch nur jener prickelnde, wenn auch unkünstlerische Reiz erweckt, den der musikalische Affenkäfig Jazzband hervorzubringen vermag. Bleiben also die Szenenbilder, bleibt der Spaß, daß eine Lokomotive auf die Bühne kommt, bleibt die Uebersetzung der Automobil- und Eisenbahnstimmung ins Musikalische. Und das soll eine neue Epoche sein? Deswegen bricht ein Rummel los, als müßten sich die Schleußen des Himmels öffnen? Nein, wir glauben, daß solche Bocksprünge keinerlei Apotheose verdienen, daß sie durchaus nicht würdig sind, aufgeplustert zu werden als Erzeugnisse des Weltgeistes. Amerika ist keineswegs mehr der Kontinent, wo Jonny regiert, und wer nur eine Spur von Kenntnis hat von den tiefgreifenden Veränderungen der intellektuellen Atmosphäre dieses Landes, der wird schon deswegen die Flachheit und Anmaßung dieses eingebildeten Amerikanismus belächeln. Ein Werk wie die amerikanische Tragödie von Theodor Dreiser1, Romane wie sie Sinclair Lewis geschaffen hat, die Lebensarbeit eines Menschen, sie beweisen das Gegenteil, wie sehr die Gebildeten sich freimachen wollen von dem Ideal oberflächlicher Clownerien, von dem Geist der reinen Quantität; wie sehr sie nach psychologischer Entfaltung, nach ernster durchgreifender Kritik ihres Kulturzustandes streben. Der große Opernrummel ist zu Ende. Aber der Nachgeschmack ist schal und bitter. Das Schubert-Jahr hätte schöner anfangen können als mit der Ouvertüre zur Entweihung des Hauses.

In: Neue Freie Presse, 6.1.1928, S. 1-2.

  1. Theodor Dreiser (1871-1945): An American Tragedy (1925). Die erste deutschsprachige Ausgabe erschien 1927 im Wiener Zsolnay Verlag.

Julius Korngold: Operntheater.

(„Jonny spielt auf“ von Ernst Krenek)

            „Es gibt immerhin auch heute noch einige charakterlose Bühnenleiter, die lieber auf dieses Schauspiel verzichten, als sich von der Schmutzwelle der „Jonny“-Hausse ihr kulturellen Zwecken geweihtes Haus verunreinigen zu lassen.“ So stand es kürzlich in einer namhaften deutschen Musikzeitung zu lesen. Baron Frankenstein, der Intendant der Münchner Staatsoper, ist ein solcher charakterfester Bühnenleiter. Nicht minder charakterfest hat sich Bruno Walter – wir wollen sein auch über das Technische von „Jonny“ vernichtend lautende Urteil nicht wiedergeben – zu dirigieren geweigert, als die auch Operetten geöffnete Berliner städtische Oper mit dem Werke befaßt wurde. Wo deutsches Kunstgefühl unverseucht geblieben ist durch die Phrasen der „neuen Musik“, deren Bloßstellung übrigens gerade dieses Werk bedeutet, werden scharfe Proteste laut. Ja, auch Wortführer der Partei fallen ab, überrumpelte Kritiker widerrufen. Gedruckter Katzenjammer da und dort…

            Zu den charakterfesten Bühnenleitungen hat leider nicht auch die des Wiener Operntheaters gehören wollen. So ist der Jazz-Nigger auch in das Haus des Figaro, des Fidelio, des Hans Sachs, des Tristan, der Ariadne eingezogen. Was für Geschäft wäre nicht mit jazzgesegneten Operetten, wie „Zirkusprinzessin“ oder „Orlow“ im Operntheater zu machen, von einer Marischka- oder Grünbaum-Revue nicht zu reden, die übrigens die Gattungsgemäßheit der Amüsiermittel und vor allem ein wirkliches Amüsement vor „Jonny spielt auf“ voraus haben. Gerade in allerjüngster Zeit ist von der Kunstverwaltung auch in Hinsicht des Operntheaters die Abgrenzung von Kunststätte und Geschäftstheater betont worden. Eine Kunststätte vom Range, von der Tradition, von der Kunst- und Kulturmission des Operntheaters hat aber den Geschmack zu bilden, nicht zu verwirren, vor allem auf reinliche Scheidung der// Gattungen zu achten. Die „Fledermaus“? Dieses Meisterwerk dramatischer Musikheiterkeit auch nur in einem Atem mit „Jonny spielt auf“ zu nennen, würde eine Majestätsbeleidigung gegen Johann Strauß bedeuten. Hat übrigens das Operntheater nicht sein böses Gewissen verraten? Es setzte die Premiere für den Silvesterabend an, dessen wahllose Lustigkeit das Sinken unter das Niveau decken sollte. Das schämige Operntheater! Tut es nicht so, als handle es sich nur um diesen einen Abend? Und ist nicht eine anständige Frau nicht minder gefallen, wenn sie bei Silvesterchampagner gefallen ist?

            Aber der Leser will hören, was in „Jonny“ vorgeht. Das erste der elf Bilder zeigt uns, wie Max, der Komponist, auf einem Gletscherspaziergang Anita, die Opernsängerin kennenlernt; das zweite, wie Anita von ihrem Liebhaber Max Abschied nimmt, um eine Gastspielreise nach Paris anzutreten. Im dritten Bild – Korridor in einem Pariser Hotel – sehen wir endlich den famosen Nigger, der nach allen Weibern, aber auch nach einer Geige giert, die dem Balkanvirtuosen Daniello gehört. Daniello ist „schön“ und Jonny ist „stark“. Als Anita, wie sie selbst andeutet, sexuell erregt aus der Vorstellung kommt, bietet sich ihr Jonny brutal an: „Oh, ich bin stark – warum wollen Sie nicht? Alle Mädchen wollten bisher und haben es nicht bereut.“ Und Anita: „Da ist es wieder, das Blut, gegen das ich nicht kann.“ Aber auch der schöne Daniello hat sofort den psychologischen Moment heraus: „Welche Sinnlichkeit in ihr!“ Gibt der „schwarzen Bestie“ einen Tausendfrancschein Abstandsgeld, worauf Jonny seine „tierisch-sinnliche-wütende Fratze in ein breites Grinsen“ wandelt und einen Jazz zu einem Abschiedstanz mit dem Stubenmädchen Yvonne benützt, die er „lange genug gehabt“ hat. Daniello aber macht die dem Nigger abgekaufte Anita mit fürchterlichem Phrasenwust auf die Wärme des Blutes aufmerksam, das sie zurückgestaut habe: „Brich auf, brich auf, die Schleuse!“ Damit eine solche Schleuse breche, muß ein lüsterner Tango der Hoteljazzband nachhelfen. Bald drängt der Geiger Anita in ihr Zimmer, halb zieht sie ihn hinein. Wobei beide in der Brunst Französisch zu parlieren beginnen. Die Bühne bleibt leer. Man hört Liebesstöhnen aus dem Zimmer – ganz wie es ein beliebiger szenischer Sexualeffekt  der „Blauen Katze“ seligen Angedenkens war, dieses berüchtigten Budapester Nachtlokals, das nun auch im Operntheater würdige Nachfolge gefunden hat. „Monsieur s’amuse!“ konstatiert der lüstern horchende Jonny…

            Während sich Monsieur im Zimmer Anitas amüsiert, schleicht sich der Schwarze in das Daniellos, stiehlt die Geige und verbirgt sie vorläufig im Futteral des Anita gehörenden Banjos. Am anderen Morgen – gleicher Schauplatz – bedauert die ungesättigte Yvonne, daß sie keinen für die Nacht gehabt habe, während die gesättigte Anita als das traurige Tierchen des lateinischen Spruches Herrn Daniello frostig verabschiedet. Sie habe in dieser Nacht viel zugelernt, bekennt sie mit lieblicher Offenherzigkeit, und schenkt ihrem nächtlichen Lehrer einen Ring zum Andenken. Sowie aber dieser edle Künstler den Diebstahl seiner Geige entdeckt, übergibt er diesen Ring racheschnaubend der Yvonne zur Ausfolgung an Anitas Komponisten. Er will  seiner Rache nachfahren, der diebische Jonny der im Banjofutteral verborgenen Geige; und Anita unterschreibt einen Vertrag nach Amerika… Mit Hilfe des rettenden Vorhanges verlassen wir vorläufig das nette Gelichter. Wenn man diesen Akt einen Operettenakt nennt, so bedeutet das schon eine Standeserhöhung. Und wenn es ein Operettenakt ist, dann ist es der einer schlechten Operette, einer, der nicht lustig, nicht anmutig, nicht pikant, sondern nur dilettantisch, platt und unsauber ist.

            Aber auch diese schlechte Operette bleibt nicht Operette; sie geht in Revue, Varietè, Kino, Detektivstück über… Vorerst aber macht sie – was dem Autor als Verächter der Romantik, jener Beethovens miteingeschlossen, besonders gut ansteht – in verlogener Romantik. Allerdings sind die romantischen Umstände, in die er seinen Gletschermenschen Max bringt, den für einen armseligen Schwächling und Schwätzer zu halten wir nicht erst der Diagnose der sich nach einem „Starken“ sehnenden Anita bedürfen, eben wieder nur ganz nach den Rezepten jener schlechten Operetten ersonnen, die bekanntlich eine burleske, niedrig-drastische Handlung mit unbedenklicher Plötzlichkeit in ein sentimentales Operngetue übergehen lassen. Nachdem uns nämlich der Anitas harrende Max mit ebenso geschwollenen als undramatischen Monologen und die ausgiebig sexual aufgeklärt rückgekehrte Anita mit Reflexionen gleicher Art gelangweilt haben, schließlich Max  durch das Neuheit und Modernität sprühende Ringmotiv von Anitas Untreue erfahren hat, sehen wir ihn wieder auf seinem Gletscher, der  – „höher geht’s nicht mehr“ im Romantischen – zu singen beginnt. Hat nicht übrigens Lehar in „Endlich allein“ solche Operetten-Bergszenen vorausgeahnt? Um an der Unwahrhaftigkeit dieser Gebirgssentimentalitäten keinen Zweifel zu lassen, läßt uns der Autor in der Nähe des Gletschers zugleich die Hotelterrasse erblicken, von der aus einem Lautsprecher Gesang herüberklingt und Jazz und Tanz dazu. Aus dem Jazz hört Daniello den Ton seiner Geige heraus, die von Jonny mittlerweile aus dem Banjofutteral geholt wurde…

            Nunmehr dreht sich alles um dieses Requisit, geht die armselige „Handlung“ ganz in einer beispiellos öden, geist- und witzlosen Revue- und Kinojagd nach dem gestohlenen Instrument auf. Von der Polizei, die hinter dem Dieb einher ist, wird irrtümlich Max auf dem Bahnhofsperron verhaftet. Worauf der im Verfolgungseifer ausgleitende Daniello vor die Lokomotive eines einfahrenden Zuges fällt (!) […] Worauf das Auto – nebenbei ein abgedroschener Kinoeffekt – durch „beleuchtete Großstadtstraßen“ fährt, Jonny auch die Polizisten niederstößt (!) und das Auto scheinbar in das Publikum hineinlenkt (!), der D-Zug mit Max und Anita abdampft, auf der Bahnhofsuhr, die sich in den Erdglobus verwandelt, Jonny zu sitzen kommt und der johlenden Menge zum Tanz aufspielt…

            Der Nigger, der Bringer der Jazzkultur, mit gestohlener Geige, über das Europa Beethovens triumphiert? Man glaube nur ja nicht an eine satirische Pointe. Dazu schwärmt Herr Krenek seit Beginn seiner Laufbahn zu sehr für Fox, Shimmy und jenen Jazz, der nach den Parteilehren der „Richtung“ die europäische Kunstmusik befruchten soll, dazu liebt Herr Krenek zu wenig Beethoven. Es ist eine // augenzwinkernde, zynische Verherrlichung, die verständnisvollen, für Amerikanisierung begeisterten Zeit- und Zeitwillensgenossen gewidmet ist. Die Sache würde ja auch gar nicht stimmen; denn nicht der Schwarze ist es, der nach der europäischen Geige verlangt, sondern der Europäer greift leider nach dem Niggerbanjo. Wie sich denn jede geistige Auslegung, jede kritische Erörterung dieses dilettantischen, schließlich in szenische Ausstattungstricks auslaufenden Gemenges von Operette, Revue, Kino, Detektivstück mit seinen nichts weniger als lustigen, sondern geradezu trübselig berührenden Sketch- und Farcefiguren, mit seiner Uncharakteristik und Unpsychologie, mit seinem Wechsel zwischen banaler Alltagsprosa und banalem Schwulst verbietet […] Diese Folge kurzer Bilder mit Alltagsbetonung, dieser Dialog in Alltagsprosa – ist das nicht aus Strauß‘ „Intermezzo“ geholt? Und dieser Musiker, dessen Geliebte in sexuelle Abenteuer gleitet, diese fernen Gletscherklänge – erinnert das nicht an die Oper Schrekers? Allerdings werden weder Strauß noch Schreker von der Banalisierung erbaut sein, die dort ein Stilgedanke, hier ein romantisch-phantastisches Motiv gefunden haben.

            Wir weisen jede geistige Ausdeutung dieser traurigen Farce ab. […]

            Aber freilich der Jazz, die Niggersongs, die Niggertänze! Musikalischer Zeitausdruck? Blicken wir doch in die Operngeschichte zurück. Sind zur Zeit der reichen Opéra-comique-Produktion die auch nach Deutschland gelangten Quadrillemelodien der Auber1, Adam2, Halévy3, Thomas4, deren Schablonenhaftigkeit und Ausdruckslehre schon Berlioz und Wagner ihre Mißachtung bezeugt haben, für „Zeitausdruck“ ausgegeben worden? Recht bemerkenswert übrigens , wie diese Quadrillemotive und der aus ihnen herauswachsende Cancan in der stoßenden Rhythmik und im sexualen Einschlag den derzeitigen Niggertänzen ähnelten, die eigentlich nur synkopierte Schnellpolkas und Schnellmärsche sind. […]

            Welche Falschmünzerei überhaupt, die Tonkunst von einem imaginären Zeitwollen abhängig zu machen! Daß sie, die Zeitlose und von der Zeit souverän Unabhängige, gerade in ihren bedeutendsten Schöpfungen nie den Beruf gefühlt hat, den Zeitinhalt oder, nennen wir das Kind beim rechten Namen, die Zeitmode wiederzugeben, sagen wir nicht das erstemal. Wenn aber unsere Zeit – und hier erlauben wir uns ein Selbstzitat – wirklich so entgöttert und entnüchtert, so entseelt und demoralisiert, so unernst und geschmacksverlassen wäre, wie es uns die „neue Musik“ in ihren Produkten glauben machen möchte, wenn Vorherrschaft von Kino, Revue, Jazz, seelenloser Amüsierkunst, wenn gesteigerter Entblößungs- und Tanztrieb und ähnliches auf die Gefahr tieferer psychologischer Aenderungen der Menschennatur und nicht auf bloße modische Oberflächenerscheinungen weisen würden, so hätten gerade die Musiker einer solchen Zeit die Pflicht, von den stärksten und edelsten Kräften ihrer Kunst Gebrauch zu machen und – gegen die Zeit zu komponieren. Und rücken wir der unerträglichen Phrase weiter zu Leibe. Die Zeit will ihre Musik, heißt es. Da aber für die gedankenlos Parteiformel die Maschine, der Großstadtlärm die Zeit bestimmt und nicht der sich im innersten Fühlen nie ändernde Mensch, so wollen eigentlich – und das wird ja tatsächlich behauptet – nur Maschine und Großstadtgetöse ihre Musik. Und das soll denn auch nur eine maschinenmäßige, mißtönende, chaotische Musik sein, das soll in zu unverhältnismäßiger Bedeutung erhobener Tanz- und Unterhaltungsmusik der Jazz sein. Sind Maschinen und Großstadt erst eine Sache von heute? Gab es nicht ein Maschinenzeitalter, Eisenbahnpfiffe, Autogetute bereits vor dem Eindringen des Jazz, mag auch noch das Schwirren des Luftschiffes gefehlt haben? Ja, war das Maschinenzeitalter nicht schon zu Wagnerischen Bayreuthzeiten da? Merkwürdigerweise hat damals kein Zeitwille korrumpierte Geräuschmusik gefordert, kein Zeitwille den Eroberungszug von Wagners zeitfremden romantischen Götter- und Heldenpathos vereitelt: das Genie war // der Zeitwille. Damals kam eben auch noch Amerika nach Europa, um geniale europäische Musik aufzunehmen, nicht etwa um zugleich mit seinem Barwesen – ein Zusammenhang, der nie übersehen werden sollte – den Rhythmus seines schwarzen Spelunkentanzes und Spelunkenmusikulks zu exportieren und damit nicht etwas den Rhythmus der Zeit ausdrücken zu helfen, sondern nur den Rhythmus der falschen Amerikanisierung europäischer Kultur. […]

            Aber kehren wir zum aufspielenden Jonny zurück, der so wenig wie mit seiner Handlung mit seiner Musik in das Operntheater gehört. Nicht mit seinem sich hinter Opernform bergenden Revue- und Operettengeist, nicht mit seinem Jazz- und Liedkitsch, auch nicht mit der in Häßlichem wie Nurgewöhnlichem gleich flüchtigen Faktur. Den Komponisten brauchen wir nicht erst vorzustellen: der Leser kennt ihn aus unseren Berichten von der Walstatt der „neuen Musik“. Ursprünglich Wiener Schreker-Schüler, hatte Ernst Krenek das Glück, rechtzeitig nach Berlin zu kommen und hier von den zeitgenössischen Königsmachern auf den Schild erhoben zu werden. Er praktizierte über Nacht wechselnde Grundsätze der „Richtung“ sozusagen in grundsatzloser Weise, war mit besonderer Betonung klangphysiologischer Spiel- und Bewegungsmusiker und selbstverständlich „anti“- gerichtet in Hinsicht des Psychischen und Psychologischen, des Gefühsmäßigen, des Romantischen. Treu blieb er sich in einem gewissen Unernst, im Sinn für Bluff und in der Schwärmerei für Fox und Jazz. […]

            Was an der Musik zu „Jonny“ zunächst auffällt, ist der opportunistische Bruch mit den bisher vertretenen „neuen Kunstidealen“, das Auch-anders-Können – oder sollen wir sagen das  Auch-anders-nicht-Können? Krenek ist nicht mehr gegen das Romantische, nicht gegen das „Konventionelle“ des Melodischen, und er ist schon gar nicht „linear“ oder „atonal“. Was sich den Kakophonien der Harmonik, der Stimmführung und der Instrumentation nach „atonal“ anhört, ist nur ungrammatikalisch und unsauber, rührt nur aus hemmungslos hingeworfenem, korrumpiertem Satz her: Mißklangsunfug ohne jene Logik der Technik, wie sie Hindemith zuzubilligen ist. Daneben aber wird der Komponist so tonal, ja so primitiv und banal dreiklangtonal, wie nur irgendein „rückständiger“ Musikspießer des neunzehnten Jahrhunderts. […] //

            Für Ausstattung, Maschinerie, Szene, Beleuchtung hat das Operntheater mit Künstlern wie Professor Strnad und Dr. Wallerstein das Erdenkliche aufgeboten, dabei manches Grobe und Drastische gemildert. Um so unbegreiflicher, daß in dem blendenden Schlußbild, das ganz Revue ist, die transparente Inschrift „Die neue Zeit rückt an, versäumt den Anschluß nicht!“ nötig befunden wurde. […]

             Die Silvesterstimmung hat für den äußeren Erfolg das Erwartete getan. Aber seien wir nicht ungerecht, auch die Partei- und verpflichtenden Interessensgruppen waren rührig. Gleichwohl gab es Pfuirufe und Unruhe auch im Silvesterpublikum, zum Schlusse auch Zischen und Pfeifen. Aber der Komponist konnte sich vielmals mit den Darstellern zeigen. Er schreibt einmal für die dramatische Wendung des Autos auf der Bühne wörtlich vor, daß „zwei mächtige Scheinwerfer das Publikum blenden“ sollen. An solchem Schein, der das arme Publikum blenden soll, ist auch sonst kein Mangel in dem Werke, das sich auf die Jazzmode, auf die Pikanterie, Niggermusik singender und tanzender Opernsänger, auf Ausstattungsspielzeug, auf eine regsame Partei und vor allem auf die kitzelnden Verblüffung, dort Dinge zu hören und zu sehen zu bekommen, wo man sie nicht erwartet. Je weniger also eine Angelegenheit wie „Jonny spielt auf“ in ein Haus wie das Operntheater gehört, desto größer müßte eigentlich der Erfolg des Scheines, der Scheinerfolg sein. Aber je größer dieser Scheinerfolg wäre, desto größer auch die Verantwortung des Hauses und seiner Leitung dazu die Hand geboten zu haben.

In: Neue Freie Presse, 1.1.1928. S. 1-5 (Auszüge ab S. 2).


  1. Daniel-François-Esprit Auber (1782-1871), komponierte rund 15 Opern.
  2. Adolphe Charles Adam (1803-56), Komponist von über 50 Opern und Vaudevilles.
  3. Jacques François Elie Fromental Halévy (1799-1862), Komponist von rund 40 Opern verschiedenen Genres.
  4. Ambroise Thomas (1811-96), Komponist von 19 Opern, darunter Mignon nach Goethes Wilhelm Meister Lehrjahre  und kammermusikalischen Werken.

Oskar Jellinek: Epilog vor der Aufführung des „Reigen“

            In den Kammerspielen des Deutschen Volkstheaters soll dieser Tage Artur Schnitzlers „Leutnant Gustl“ zur Aufführung gelangen … Oder der „Reigen“? Der Monolog oder die Dialoge? Gleichgültig. Beides ist unaufführbar.

            Man kann natürlich auf der Bühne ein Paar auftreten lassen, das irgendein Gespräch führt. Man kann ferner dort dieses Gespräch von anderen Paaren wiederholen lassen. Mit dem Drama oder auch nur dem Theater hat jedoch eine derartige Darbietung nicht das Geringste zu tun. Sie bedeutet vielmehr eine vollkommene Mißachtung der dramatischen Form, einen Mißbrauch mit dem Emporium der Bühne und ist daher, auch jenseits vom Inhalt der Dialoge, ein Unfug.

            Stümper, literarische Verbrecher und edle Monomanen haben sich in unserer Zeit zusammengetan, um die ewige Kunstform des Dramas fallen zu lassen, zu zertrümmern oder die Bestimmung des Theaters zu verrücken. Eine vierte Gruppe, deren richtige Bezeichnung aus ihrem unsauberen Tun sich leicht ergibt, sorgt für die Sättigung eines nach erotischen Sensationen lüsternen Publikums, das, ob es nun zu den „neuen Reichen“ gehört oder schon im alten Reiche keine andere Theaterlust kannte, zu verhalten wäre, vor Beginn einer der tragischen Gestaltung geschlechtlicher Probleme geweihten Vorstellung Austrittskarten zu lösen. Es ist also wohl eine Zeit, in der ein Dramatiker von Ansehen besonderen Grund hat, seiner alten Sendung um so fester sich bewußt, den Gesetzen seiner Kunst und der mit diesen eng verbundenen Aufgabe der Bühne durch jedes neue Hervortreten seine Ehrfurcht zu bezeigen.

            Artur Schnitzler ist ein Dramatiker von Ansehen. Es ist hier nicht zu untersuchen, bis zu welchem Grade dieses Ansehen durch eine dichterische Anschauung gedeckt ist und inwieweit es auf Momenten außerkünstlerischer Art, etwa stofflichen, lokalen, gesellschaftlichen, beruht. Jedenfalls hat das Lebenswerk des Dichters in hohem Maße die Fähigkeit, Liebe zu erwecken; jedenfalls sind hier ein repräsentativer Mann und seine Pflicht.

            Dieser Pflicht war Artur Schnitzler, als er zur „Aufführung“ des „Reigen“ seine Zustimmung gab, nicht eingedenk. Wie wäre es sonst zu begreifen, daß der Meister einer Form sich einverstanden erklärt mit der theatralischen Vorführung eines Werkes, das abseits von dieser Form entstanden ist und sogar nach des Urhebers eigenem Zeugnis nie für das Theater (ja nicht einmal zur Veröffentlichung) bestimmt war? Muß es den dramatisch Strebenden, der im Gewirr der falschen und unlauteren Aspirationen auf das Theater nach Vollendung ringt, nicht schmerzlich berühren, wenn er sieht, wie ein so oft als echt und lauter Bewährter im wichtigen Augenblicke sich verleugnet, die Fahne der Innung sinken läßt und ein anderes, trübes Zeichen aufsteckt? Darin scheint mir der sittliche Fehler dieses Falles – eines Falles in jedem Sinne – zu liegen, daß ein Berufener die Begriffsverwirrung mehrt, die hinsichtlich dessen, was des Theaters ist und nicht ist, noch niemals so turbulent war wie jetzt.

            Ich habe es bereits eingangs kurz gesagt: Ein Kreis von Zwiegesprächen, deren jedes einen Bogen dieses Kreises bildet, aber keinen in die dritte Dimension gespannten, also dramatischen, gehört nicht auf die Bühne. Diese Dialoge haben ein Vorher und Nachher, kein gestuftes Hintereinander, einen Höhepunkt, der nichts als ein Mittelpunkt ist und übrigens dem Auge des Zuschauers entrückt werden muß, was allein schon ein klarer Beweis für das Bühnenwidrige der ganzen Vorführung ist. Denn ein Höhepunkt, dessen Darstellung im Fallen eines Vorhangs oder in der Verdunkelung der Bühne besteht, ist dramatisch ein Unsinn. Man kann also diesen Reigen im Wesen ebensowenig aufführen wie eine Novelle, wäre sie auch mono- oder dialogisiert, ebensowenig wie – ganz drastisch gesprochen – den Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe oder die Kritik der reinen Vernunft. Auch ein Gedicht von Rilke ist unaufführbar, und daß es mit der Konstantin in der Titelrolle immerhin ein Zugstück werden könnte, vermag meine dramaturgischen Bedenken nicht zu zerstreuen.

            Alle diese Einwände hätten, wie man sieht, auch dann Geltung, wenn der Gegenstand des „Stückes“ einem dezenten Familienprogramm zur Zierde gereichte. Daß im Gegenteil der „Reigen“ einen schon vor seiner Abfassung ziemlich allgemein bekannten Inhalt hat, bildete bisher das einzige Argument der Aufführungsgegner. Aber auch dieser Umstand erscheint mir nur deshalb ethisch belangvoll, weil er es ästhetisch ist: Ein namhafter Künstler des Theaters, behutsamer Künstler der Hand noch dort, wo kein unerbittlicher Trieb sie regiert, erlaubt die Überschreitung der Grenze zwischen dem Theater und anderen, beliebteren Vergnügungsorten, während er dem Range nach zum Grenzschutz bestellt ist. Die Menge der oberen Hunderttausend gröhlt.

            Mag man es immerhin Mißdeutung nennen, wenn sie diese Vorführung nur jener Akte wegen besucht, die keine Theaterakte sind; wenn sie etwa einem freundlichen Kritiker, der den „Reigen“ ein Meisterwerk der Gattung nennen würde, in ihrem Sinne zustimmte: der Torwächter selbst hat, indem er der Aufführung Tor und Tür öffnete, sie jeder Auffassung geöffnet. Freilich: so zwiespältig, so in einem tieferen Sinne zweideutig ist dieses Ereignis, daß auch jene Leute nicht auf ihre Rechnung kommen werden. Die „Flamme“ im Herzen, werden sie das Theater betreten und, trotz allem – Artur Schnitzler finden. Keine tragische Berührung allerdings (so Arges wird ihnen nicht geschehen), auch kein Lustspiel, sondern nur Spiele der Lust – aber eben doch Schnitzler. Also auch in diesem Lager Enttäuschung! Und von der Bühne der Roland werden die Enttäuschten zur Rolandbühne flüchten, wo sie eher befriedigt werden dürften, wenn man dort nicht gerade die „Weihnachtseinkäufe“ von Artur Schnitzler spielt.

            Schnitzler hat wohl kaum der unvergeßlichen Uraufführung der „Büchse der Pandora“ beigewohnt, durch die Karl Kraus dem bis dahin als eine Art Lieber Augustin der Sexualität in Kabaretts auftretenden Wedekind die tragische Bühne erschloß. Auch ein Grenzübertritt – doch welch ein Unterschied! Ich weiß nicht, mit welchen Erfahrungen die Mehrzahl des geladenen Publikums damals ins Theater kam, aber bin Zeuge der Empfindungen gewesen, mit denen es dieses verließ. Dieser Abend gehört der Literaturgeschichte an. Die Aufführung des „Reigen“ wird höchstens ein Kapitel der literarischen Sittengeschichte bilden.

            Karl Kraus hat selbst einen Reigen geschrieben. Wagenknechte tanzen ihn mit Generalstäblern und er heißt: „Die letzten Tage der Menschheit“. Derselbe Theaterleiter, der, ich zweifle nicht daran, der eigentliche Anstifter der Vorführung des „Reigen“ ist, hat auch nach der Tragödie des Krieges seine Hand ausgestreckt. Kraus hat sie nicht ergriffen. Mochte ihm für die durch keine Aufführung erreichbare Gewalt seiner Szenen bloß ein „komisches Theater“ weit genug erscheinen, mochte dem letzten großen Burgschauspieler der Vortragstisch als Bühne genügen – er hat durch diese Haltung auch für den überlieferten Rahmen des Theaters gewirkt, dem er eine Zersprengung ersparte. Er, der „Niederreißer“, hat eine konservative Pflicht erfüllt. Der bürgerliche Dramatiker hat sie hintangesetzt.

            Schnitzler hat Schüler. Ob ihm diese Bezeichnung für Leute, die seinen Stoff- und Erlebniskreis berauben und oft durch skrupellose Vergröberung bloßstellen, recht ist, weiß ich nicht. Er hat diese Erscheinungen jedenfalls niemals öffentlich abgeschüttelt, was gewiß persönlich vornehm, aber künstlerisch nicht gerechtfertigt ist. Diese „Schüler“ hätten jetzt durch ernsten Einspruch bei dem Manne, dem sie ihre Existenz verdanken, ein wenig von dem gutmachen können, was sie an ihm verbrochen haben. Sie hätten ihm sagen müssen: „Der ‚Reigen‘ ist ein Buch, ein episches Werk, von vornherein nur als solches gedacht. Auf dem Theater ist es fehl am Orte. Man kann nicht auf Bäumen ernten, was auf Sträuchern gewachsen ist. Ein solches Tun würde uns ziemen – nicht dir. Die militärische Degradation als Folge der Veröffentlichung des ‚Leutnant Gustl‘ war eine Auszeichnung; die Degradation durch die theatralische Darbietung des ‚Reigen‘ wäre eine künstlerische.“ Ihnen lag nichts an der Verhinderung, sie werden sie vielmehr irgendwie nachahmen, besser, weil es um eine schlechte Sache geht.

            Die Aufführbarkeit eines unaufführbaren Werkes kann nicht damit bewiesen werden, daß man es einfach „aufführt“. Auch die schauspielerisch wirksame Leistung, auch der Erfolg, der überdies nur eine Strafe wäre, kann daran nichts ändern. Und man darf der „Aufführung“, der niemand beiwohnen wird, der sie wahrhaft verurteilt, daher schon vorher die Grabrede halten. Die Lebhaftigkeit des Leichenschmauses wird ein totgeborenes Kind niemals lebendig machen.

            Dennoch: Der Walzerkönig tritt zum Foxtrott an. Das hat Christine nicht um ihn verdient. Gibt es unter den früheren Werken des bald Sechzigjährigen keines, das seiner Sehnsucht, es der Bühne zuzuführen, würdiger und bedürftiger wäre? Doch. Auch Schnitzler, das Schoßkind des Wiener Theaterbodens, hat sein Teil unentrinnbaren Grillparzer-Schicksals dahin: Sein nach der „Liebelei“ edelstes Werk hat in Wien keine Aufführung erfahren. Sie unterblieb in Folge eines Kulissenstreites im Burgtheater. Kainz und die Hohenfels, die berufensten Darsteller, sind darüber hinweggestorben. Schnitzlers unentwegten Anhängern mag das gleichgültig sein. Man versteht sich besser mit Bernhardis und in der Hall des Karer See-Hotels, als im versumwallten Florenz. Und gar die Schauplätze des „Reigen“ wecken sympathische Assoziationen. Aber hat der Dichter verschmerzt, was seiner vom Glücke sonst so begünstigten Laufbahn in einer Hauptsache versagt geblieben ist? Diesem Werke die Aufführung zu erringen, wäre ein angemessenes Unternehmen für ihn – und eine Sühne für dieses. Damit über den widerwärtigen Theaterreigen der Schleier der Vergessenheit sich breite, müßte vom Burgtheater der Beatricens wehen!

In: Die Wage, 5.2.1921, S. 67-69.

Anna Lesznai: Die Melodie der Dekorationen

Die Helfer der „Gildenen Pawe“ an der Arbeit.

Man schreibt mir vor, der Teufel soll rosafarbene Kleider haben…

Nicht etwa, weil im Jüdischen Rosa die Farbe des Bösen ist; sondern man hat beim Partiewarenhändler eine große Menge rosa Silk wohlfeil erhalten. Und bei der ›Gildenen Pawe‹ muß gespart werden! Talent und Enthusiasmus sind zwar vorhanden, aber sehr wenig Geld. Die zarte Esther Halpern – wie wird sie wohl mit ihrem christlichen Heiligengesichterl die dicke Frau Rebbe spielen? – schneidert die ganze Nacht. Die Flügel der Engel werden aus Resten zusammengeflickt – geflickte Engel entsprechen ja unserer Zeit. Auffallend ist auch, wie gut der Regisseur Halpern Kulissen anstreichen kann. Er arbeitet ohne Leiter am oberen Teil der Dekorationen, er ist zwei Meter lang. Zwischendurch spricht er so interessant von seinen Absichten, daß der Maler Gergely, der unten arbeitet (weil er kleiner ist), immerfort die Arbeit unterbricht und in die Höhe schaut. Dabei spritzt ihm von oben die Farbe aus Halperns Pinsel in die Augen.

Als ich bei der Wilnaer Truppe im ›Dybuk‹ gespielt habe – erzählt Halpern – hatte ich schon die Absicht, mit der bisherigen Tradition des jüdischen Theaters zu brechen. Den Naturalismus haben wir satt. Die Gildene Pawe, erster Versuch der Kleinkunstbühne im jüdischen Theater, soll einen neuen Stil schaffen. Der Blaue Vogel…nein! Wir wollen was ganz anderes! Der Schwerpunkt des jüdischen Volkslebens liegt im Religiösen. Deshalb geht unsere Intention nicht nur vom heiter-traurigen Treiben auf der Gasse und im Kleinkrämerladen aus, sondern es will in den Bewegungen, Melodien und Rhythmen des Ritus wurzelnd, einen liturgischen Bühnenstil schaffen. Die jüdische Geste, der jüdische Tonfall sollen nicht nur in der Karikatur ihren Ausdruck finden, sie sollen auch in ihrer religiösen Sinnhaftigkeit, in ihrer dekorativen orientalischen Ausdrucksmöglichkeit neu belebt werden. Wir wollen darstellen, wie uralte Tänze, Volkslieder, Lebenden mit bunter Symbolik den Alltag durchweben und deuten. Wir gehen von gesprochener Prosa zum Gesang über – wie es uns der jüdische Tempel gelehrt hat und wie es und das jüdische Leben lehrt. Jeder chassidische Rabbiner hat seine eigene Melodie, an der sich seine Jünger erkennen, die heiligen Bücher werden singend studiert….

„Bitte Frau Lesznai, möchten Sie meine Pantoffel färben?“

Abgetragener grauer Filz soll schwarz werden – mit Tusche: es wird gehen.

Ben Lewy, auch von der Wilnaer Truppe, hat die Welt bereist. Er spricht verständnisvoll mit dem fast zärtlichen Kosmopolitismus der Juden von der westlichen Literatur. „Aber zu Hause ist man ja doch nicht darin. Für uns müßte das Wort wegweisender, prophetischer klingen.“

Unsere Dekorationen gefallen ihm. „Es ist religiöser Schwung in dem zuckenden Mogendowid1 des Gebetshauses.“ Ja! das will der Gergely: den erdliebenden Mysthizismus des Baalschem, die alte Zeichen- und Symbolsprache auch in der Dekoration versinnbildlichen…

„Verzeihen Sie, Frau Lesznai, diese Pantoffel sollen gilden werden. Erzvater Abraham braucht im Himmel gildene Pantoffeln.“ Diesmal sind es tiefschwarze Filzpantoffel. Werde ich dieser Aufgabe gewachsen sein?…

Hinter dem Vorhang rezitiert Miriam Schnabel-Hoeflich den Prolog. Erst Prosa. Die dunkle, traurige Geschichte des Alltags. Plötzlich geht ihre Stimme in den Klagenrhythmus des Gesanges über…

…Israel weint, die verbannte Erde weint mit. Sie möchten nach Hause kehren, in das Wunschland des Urmythos, in den Garten Eden…

Das sagen ihre Worte, das singen ihre Melodien und – das wollen auch unsere Dekorationen ausdrücken – – . 

In: Die Bühne, H.13, 5.2.1925, S. 22.


  1. hebr. מגן דוד, Magen David „Schild Davids. Zum Bericht von Lesznai vgl. auch: Armin A. Wallas (Hg.): Eugen Hoeflich (Moshe Ya’akov Gavriêl). Tagebücher 1915 bis 1927. Wien-Graz-Köln 1999, S. 819-820 (Hoeflich unterstützte das Projekt dieser jüdischen Kleinkunstbühne).

Hans Liebstoeckl: Das Theater in der Republik

Für das Theater ist die Festlegung der republikanischen Staatsform von einiger Bedeutung gewesen. Ohne politische Dinge erörtern zu wollen, kann man hier wohl davon sprechen, denn der republikanische Gedanke einhält ja gleichsam den Begriff der Meinungsfreiheit in sich, und es ist gewiß, daß Presse und Bühne ohne ein weitgehendes Maß von Freiheit nicht existieren können. Auch die Monarchie hat eine bestimmte Dosis von Freiheit besessen, sie ging manchmal weiter, als man erwarten durfte, aber sie blieb natürlich schwerhörig in allen Dingen, die den Hof und die zum Hofe gehörige Gesellschaft betraten. Ich selbst konnte ein Lied davon singen.

            Als Maria Jeritza seinerzeit ihren Übergang von der Volksoper n die Wiener Hofoper vollzog, schrieb ich eigens eine Oper für sie, zu der Max Oberleitner die Musik gemacht hat. In dieser Oper, „Aphrodite“ (mit Benützung des Romanes von Pierre Louys), gab die Jeritza die Chrysis (Aphrodite). Das Buch, im Laufe von 14 Tagen in Stockholm von mir niedergeschrieben, ward an der Hofoper sofort angenommen und die Musik, gleichfalls rasch entstanden, wurde kurz darauf geprobt. Die maßgebenden Faktoren der Hofoper verhehlten sich nicht, daß der Stoff für die damaligen Verhältnisse ein bißchen kitzlig war. Meine Oper schilderte Aufstieg und Fall einer Buhlerin, aber man hoffte, die unglückliche Chrysis ungefährdet in die Oper bringen zu können, denn damals war ja die Glanzzeit der „Salome“ und der „Elektra“ von Strauß, zweier Opern, die sicherlich das Normalmaß der Keuschheit, das sich die Monarchie setzte, überschritten. Die berühmte Affäre der „Salome“ mit ihren sieben Schleiern kam glatt unter Dach. Bei meiner „Aphrodite“ konnte es insofern Bedenken geben, als der Höhepunkt der Handlung darin bestand, daß die Buhlerin ein Standbild der Aphrodite zertrümmert und sich selbst in ihrer strahlenden Schönheit n deren Stelle setzt. Da das Bild der Aphrodite gänzlich unbekleidet war, sollte für die Inszenierung in der Hofoper eine Art durchsichtigen Schleiergewandes gewählt werden, das die schöne Gestalt der Jeritza ziemlich aufrichtig erraten ließ. Die Proben waren schon im Gange, aber es sprach sich herum, daß Mitzi Jeritza in dieser Partie nahezu unbekleidet vor den Augen des Publikums erscheine. Nun bekam der Hof Wind davon, und insbesondere eine der Erzherzoginnen nahm Anstoß an dieser Szene. Man debattierte hin und her, doch kam schließlich ein Kompromiß zustande: der Schleier blieb, aber er mußte durch dickere Gewänder ersetzt werden! …

            In diesem Punkt hat die Republik volle Freiheit geübt. Obschon die lokale Zensur in Wien mancherlei Schwierigkeiten machte, blieb die Tendenz doch sichtbar: die Schaustellung des menschlichen Körpers nicht als Ärgernis zu betrachten. Eine Zeitlang überwogen die erotischen Stücke und die Nacktheit auf der Bühne. Ich erinnere bloß an die „Lysistrata“, an manche Novität der Kammerspiele, an Wedekind und Kaisers „Sorina“ und Sternheims „Kasette“, die, obgleich ein außerordentlich schlüpfriges Stück, sogar im Burgtheater Aufnahme fand, von den Freudkomplexen, wie Unruhs „Geschlecht“ und manchen Anstößigkeiten in Wildgans „Kain und Abel“, gar nicht zu sprechen. In den heikelsten Fällen half sich die Wiener Zensur mit Aufführungen vor einem geladenen Publikum, die dann en suite weitergespielt wurden. Der Kampf um Schnitzlers „Reigen“ ist wohl noch in Erinnerung. Noch liberaler verhielt sich die republikanische Regierung zu Stücken mit politischem Hintergrunde. Man spielte Toller und machte in dem einen wie in dem anderen Fall die Erfahrung, daß die „Gefährlichkeit“ aller dieser Dinge von selbst abstumpft. Es gab sogar einen Augenblick, da sich die Abneigung des Publikums gegen reine Schaustellungen und allzu frivole Bühnenkunst darin kundgab, daß die Leute anfingen, aufzuhören; sie hatten die Nacktheit satt. und das kann man verstehen.

            Heute liegen die Dinge so, daß ein Stück mehrere Zensurstellen passiert. Die erste natürliche Zensurstelle sind der Lektor und der Dramaturg, die zweite der Direktor. Dann erst kommt die Behörde, und die Fälle, in denen sie einschreitet, sind immer seltener geworden. Hie und da wird ein allzu gewagtes Wort gestrichen, eine allzu verfängliche Situation gemildert, und es geschieht bisweilen, daß sie auch, bei Schlüsselstücken und Schlüsselfilmen, Rücksicht auf jene Kreise nimmt, die davon betroffen werden. Jedenfalls haben die Zeiten aufgehört, da die Theaterdirektoren wünschen, daß ein eingereichtes Stück verboten werde. Das war ein beliebter Trick, ein solches Verbot wirkte wie Reklame und die Direktion kam mitunter auf ihre Rechnung, mitunter auch nicht.

            Der heutige Zustand lebt also von einem Minimum an Zensur, und es zeigt sich, das möglichst weitgehende Freiheit zur Läuterung des Geschmackes beiträgt, daß sich also gleichsam von selbst ein Regulativ gegen allzu große Üppigkeit einstellt. Das Publikum hat eine viel feinere Nase, als man glaubt, und nichts wäre verkehrter, als die Annahme, die Leute kämen nur deshalb ins Theater, um ihre Sinne und ihre Schaulust zu befriedigen. Die reine Pornographie auf der Bühne hat sichtlich abgewirtschaftet, man läßt sich sie von keinem anderen als von einem wirklichen Dichter gefallen. Nur so scheint es wieder möglich geworden zu sein, daß Dichter wieder zu Worte kommen, die man für erledigt hielt. Die „Wallenstein-Trilogie“ mit Bassermann ist jedesmal bis auf das letzte Plätzchen besetzt. Das ist wahrhaftig kein schlimmes Zeichen, und es macht der Republik alle Ehre. Nach wie vor kann man nur wünschen, daß es so bleibe und daß der Staat seine Oberaufsicht über die von Steuern schier erdrückten Bürger so zahm und linde als möglich ausübe. Er soll da sein, aber je weniger man von ihm weiß, desto besser. Sonst kommen wir eines Tages in die schrecklichen Verkehrtheiten, unter denen heute die russische Kunst leidet, und deren Widersinn nicht nur außerhalb Rußlands, sondern auch in Rußland selbst als lächerlich empfunden wird.

            Es zeigt sich, daß in der Freiheit allein die Kunst gedeiht und daß die Willkür und Ausschweifung sich selbst ein Ende setzen. Das ist menschlicher Gewinn genug, und indem wir davon sprechen, bringen auch wir der jungen Republik Österreich unseren Glückwunsch dar.

In: Die Bühne, H. 53, 12.11.1925, S. 4.

Otto Bauer: Hoppla, wir leben!

Ernst Tollers „Hoppla, wir leben!“ – das ist die Tragödie des Sozialismus in der bürgerlichen Revolution.

Die Münchener Räterepublik ist zusammengebrochen. Sechs Revolutionäre, zum Tode verurteilt, harren im Gefängnis seit zehn Tagen der Hinrichtung. Als ihnen nach zehn Tagen grauenvollen Wartens die Begnadigung verkündet wird, wird einer von ihnen, Karl Thomas, wahnsinnig. Acht Jahre verbringt Thomas im Irrenhaus. Nach acht Jahren wird er aus dem Irrenhaus entlassen. Er hat das Entstehen der Welt, in die er entlassen wird, die allmähliche Stabilisierung des Kapitalismus, die allmähliche Restauration der Bourgeoisie, das allmähliche Schwinden des revolutionären Enthusiasmus nicht miterlebt. Noch voll der Stimmung von 1919, gerät er in die Welt von 1927.

Jazz-Band-Klänge. Lebemänner mit aufgeputzten Weibern. Wer denkt noch an die Millionen Toten des Krieges, wer noch an die Gefallenen und Gefangenen der Revolution, wer noch an die gestorbenen, begrabenen Hoffnungen großer Tage? Die Jazz-Band jubelt: „Hoppla, wir leben!“

Karl Thomas erträgt die Welt nicht, in die er sich plötzlich hineingeschleudert sieht. Und zur Verkörperung all des Widerlichen, all des Unerträglichen dieser Welt wird ihm Wilhelm Kilman, der sozialdemokratische Minister.

Wilhelm Kilman, der Kampfgenosse von 1919. Wilhelm Kilman, der damals, vor acht Jahren mit ihm zum Tode verurteilt worden ist, in derselben Zelle mit ihm zehn Tage lang des Todes geharrt hat. Wilhelm Kilman ist jetzt Minister. Er speist abends mit Bankdirektoren und gibt tags im Auftrage der Bankdirektoren den Befehl, Arbeiterstreiks niederzuwerfen.

Karl Thomas greift zum Revolver, um Wilhelm Kilman zu töten.

*

Die bürgerliche Revolution kann die Königsgewalt nur besiegen, indem sie die breiten plebejischen Volksmassen ihre Schlachten schlagen läßt. Aber wenn erst der revolutionäre Enthusiasmus plebejischer Volksmassen das absolutistisch-feudale Regime hinweggefegt hat, dann wirft die Bourgeoisie die Volksmassen nieder und monopolisiert die Früchte ihrer Siege für sich. Das ist das Entwicklungsgesetz jeder bürgerlichen Revolution.

So haben in der großen englischen Revolution des 17. Jahrhunderts die in dem siegreichen Revolutionsheer vereinigten Bauern und Handwerker das Parlament auseinanderjagen, den König auf das Schafott schicken müssen, um den Absolutismus unmöglich zu machen für immer. Aber wenn die Kämpfer des Revolutionsheeres glaubten, ihre Siege würden das Gemeinwesen der Heiligen, das neue Israel begründen, so war in Wirklichkeit ihre Diktatur nur eine vorübergehende Phase in dem großen revolutionären Prozeß, dessen schließliches Resultat die Konstitution von 1688, die gemeinsame Herrschaft der Grundaristokratie und der Geldaristokratie, der Privilegierten des Blutes und der Privilegierten des Goldes war.

So haben in der großen Französischen Revolution des 18. Jahrhunderts die Kleinbürger und Arbeiter von Paris den König und alle Fraktionen der Bourgeoisie nacheinander zur Guillotine schicken müssen, um mit eisernem Besen alle Überbleibsel des Feudalismus hinwegzufegen. Aber wenn die Sansculotten von 1792 und 1973, wenn ihre Nachfahren, die Pariser Arbeiter vom Februar bis zum Juni 1848 und vom September 1870 bis zum Mai 1871 immer wieder glaubten, das Reich wahrer „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ aufzurichten, so war das wirkliche Resultat ihrer Kämpfe nichts als die Republik der Bourgeoisie.

Ganz ebenso haben 1918/19 nur die Arbeiter das Kaisertum der Hohenzollern und der Habsburger stürzen, nur sie die republikanische Neuordnung Mitteleuropas erzwingen und gegen die reaktionären Gefahren ihrer ersten Anfänge schützen können. Aber wenn die Arbeiterklasse im Enthusiasmus des Revolutionsjahres glaubte, damit ihre Republik, die sozialistische Republik, aufrichten zu können, so blieb das objektive Resultat der Revolution abermals weit zurück hinter den subjektiven Zielen der Revolutionäre, war ihr objektives Resultat nichts als die Bourgeois-Republik.

Tollers Karl Thomas hat die achtjährige Entwicklung, deren Ergebnis sich schließlich in der Bourgeois-Republik stabilisiert hat, nicht miterlebt. Er wird plötzlich, noch voll der subjektiven Illusionen der Revolutionskämpfer, an das objektive Resultat der Revolution geschleudert. Darum sieht er in dem Geschehen dieser acht Jahre nichts als Niederlage, nichts als Reaktion.

Aber wie die kapitalistische Entwicklung selbst, deren Resultat sie ist, ist auch die bürgerliche Revolution zwieschlächtigen Charakters. Was, gemessen an den Hoffnungen der Revolutionskämpfer, als Reaktion erscheint, das ist, an dem durch Revolution gestürzten alten Regime gemessen, dennoch ein gewaltiger geschichtlicher Fortschritt.

Haben in der Monarchie die Dynastie, die Generalität, die Bürokratie nur mit der Oberschicht des Grund-, Bank- und Industrieadels die Herrschaft geteilt, so herrscht in der Republik die Gesamtheit der Bourgeoisie. War in der Monarchie die Oberschicht der Bourgeoisie hinter ihren Privilegien gegen das Volk verschanzt, so kann in der Republik die Gesamtheit der Bourgeoisie nur herrschen, solange sie die Mehrheit des Volkes unter ihrem geistigen Einfluß zu erhalten vermag. Sie kann dies um so schwerer, da die Republik einerseits alle Fraktionen der Bourgeoisie zur Herrschaft beruft und damit vor dem Volke demaskiert, andererseits die Aktionsmöglichkeiten des Proletariats gewaltig erweitert und damit die in ihm schlummernden geistigen Kräfte weckt und entwickelt. So entwickelt die demokratische Herrschaft der Bourgeoisie selbst die Voraussetzungen ihres Sturzes. War die Revolution des Proletariats, aus der die Bourgeois-Republik hervorgegangen ist, nur die letzte Phase der bürgerlichen Revolution, so ist diese bürgerliche Revolution doch nur eine Phase in der Entwicklung des Proletariats zur Eroberung der Macht.

Sieht der proletarische Revolutionär von 1918/19 in der Befestigung der Bourgeois-Republik die Niederlage seiner Hoffnungen, so sehen die durch die Revolution gestürzten privilegierten Klassen der Monarchie in der Befestigung der Republik die Besiegelung der Niederlage ihrer Privilegien. Karl Thomas haßt Wilhelm Kilman, weil er, der Sozialist, der herrschenden Bourgeoisie dient. Die Junker hassen denselben Wilhelm Kilman, weil er, dem noch „der Prolet aus allen Ritzen stinkt“, sich anmaßt zu regieren, wo vordem zu regieren ihr Privileg war. Als Karl Thomas zum Revolver greift, um Wilhelm Kilman zu töten, kommt ihm ein völkischer Mörder zuvor. Sein Schuß streckt den republikanischen Minister nieder.

*

Toller stellt in Karl Thomas‘ Geschichte sein eigenes Schicksal dar. Noch allzusehr Karl Thomas, steht er noch nicht über seinen Gestalten. So sieht er Wilhelm Kilman zu sehr mit Karl Thomas‘ Augen.

Sehen wir ihn mit Tollers-Thomas‘ Augen, so erscheint Wilhelm Kilman schon in der Revolution als Feigling, schon im Gefängnis als ein Verräter, in seiner Ministerzeit aber als ein den Verlockungen kapitalistischer Korruption erliegender Parvenü.

Aber wäre Wilhelm Kilman ein Schuft, dann wäre das ein Einzelfall ohne allgemeines Interesse. Ins Allgemeine hebt sich uns der Fall Wilhelm Kilman erst dann, wenn wir uns ihn als redlichen Sozialdemokraten vorstellen, der als Minister der bürgerlichen Republik der Arbeiterklasse ehrlich zu dienen bemüht ist.

Er ist in die Regierung eingetreten, um die Republik gegen monarchistische Reaktionäre und faschistische Gegenrevolutionäre zu verteidigen. Aber die Republik die er verteidigen will, ist schon zur Bourgeois-Republik geworden. Er arbeitet, um die Arbeiterklasse gegen den Druck der Arbeitslosigkeit zu schützen, ob dem Wiederaufbau der Wirtschaft. Aber die Wirtschaft, die er aufzubauen sich müht, ist eine kapitalistische Wirtschaft. Er kann die bürgerliche Republik nicht verteidigen und die kapitalistische Wirtschaft nicht aufbauen ohne Einvernehmen mit der Bourgeoisie und nicht, ohne in schroffe Gegensätze zu geraten mit Proletariern, die sich gegen die Bourgeois-Herrschaft in Staat und Wirtschaft auflehnen. So wird er, trotz ehrlichstem Wollen, der Arbeiterklasse zu dienen, zum Verbündeten der Bourgeoisie gegen einzelne Schichten der Arbeiterklasse. So entstehen die Wilhelm Kilman.

In einer Zeit der Revolution, der gewaltigen Machtentfaltung des Proletariats, des realen Gleichgewichts der Klassenkräfte, kann der sozialdemokratische Minister wirklich, auf die drohenden Kräfte der Arbeiterklasse gestützt, dem Kapital wesentliche Machtpositionen abringen. Ferdinand Hanusch ist nicht zu einem Wilhelm Kilman geworden. In einer Zeit der rückläufigen Bewegung, in der Phase der Stabilisierung des Kapitalismus, die, wer immer sie leite, unabwendbar auf Kosten des Proletariats erfolgt, gerät der sozialdemokratische Minister unweigerlich in Gegensatz gegen breite Proletarierschichten und muß darum wider Willen zu einem Wilhelm Kilman werden.

Dürfen, können, sollen Sozialdemokraten in eine Koalitionsregierung eintreten? Sie dürfen es nur dann, wenn das Proletariat so stark ist, daß kein sozialdemokratischer Minister zu einem Wilhelm Kilmann werden muß, wenn die sozialdemokratischen Minister in der Regierung eine Wirksamkeit zu entfalten vermögen, die keinen Karl Thomas zur Auflehnung zwingt.

*

Karl Thomas und Wilhelm Kilman – das sind die beiden entgegengesetzten Pole des Sozialismus der Nachkriegszeit. Dort der Revolutionär, der sich nicht zu finden vermag in den eintönigen Alltag, der der Revolution gefolgt ist; da der Staatsmann, dem in der Alltagsarbeit der revolutionäre Glaube verloren gegangen ist.

Aber zwischen beide hat Ernst Toller den Proletarier Albert Kroll gestellt, den alten unerschütterlichen Genossen, der ein Held war im Barrikadenkampf und ein Held geblieben ist in der schlichten Pflichterfüllung des Alltags.

Ein Epos, ein Roman könnte an Albert Kroll mehr zeigen, als das Drama zeigen kann: die gewaltige geistige Entwicklung des Proletariats der Nachkriegszeit unter dem Einfluß der Revolutionserlebnisse, der verkürzten Arbeitslosigkeit, der vervielfachten Wirksamkeit im Betriebsrat, in der Gemeindeverwaltung, in den Organisationen. Nicht diese innere Entwicklung, aber die durch alle geschichtliche Situationen fortwirkende Beharrlichkeit proletarischer Gesinnung zeigt Toller an Albert Kroll.

Er donnert dem Revolutionär zu, der sich in den Heroismus schlichter Pflichterfüllung im Alltag nicht finden kann: „Du möchtest, daß um deinetwillen die Welt ein ewiges Feuerwerk sei, mit Raketen und Leuchtkugeln und Schlachtengetöse. Du bist der Feigling, nicht ich.“ Aber wenn er weiß, daß die Zeiten andere geworden sind und darum auch die Pflichten, so bleibt er doch der alte, unerschütterlich gläubige Proletarier, der mit der triumphierenden Bourgeoisie nicht paktiert und sich ihr nicht beugt und seine Gewißheit, sie schließlich dennoch zu besiegen, nicht verliert: „Man muß sehen lernen und sich dennoch nicht unterbekommen lassen.“

In der Tat, das ist es: „Sehen lernen.“ Ohne alle Illusionen verstehen, daß die Revolutionsphase vorbei, der Kapitalismus stabilisiert, aus unserer Republik die Bourgeois-Republik geworden ist. „Und sich dennoch nicht unterbekommen lassen.“ Das heißt: sich darum nicht abfinden lassen mit einem warmen Plätzchen am Herde der Bourgeoisie, sondern die alten Kämpfer gegen sie bleiben. Denn waren unsere Taten nur eine vorübergehende Phase in einer ihrem Ergebnis nach bürgerlichen Revolution, so ist die bürgerliche Revolution doch nur eine Phase auf unserem Wege zu unserem Ziele.

In: Der Kampf, Jänner 1928, H. 1, S. 1-4.