Paul Wertheimer: Georg Kaisers „Gas“
(Erstaufführung des ersten und
zweiten Teils an einem Abend im Raimund-Theater)
Das Raimund-Theater hat den von
Georg Kaiser selbst gebilligten
Versuch unternommen, die beiden Teile des sozial-revolutionären Dramas „Gas“ zu
einem Abend zusammenzuschließen, zu ballen wie man in der
Expressionistensprache sagen müßte. Auf der Bühne rasen die Explosionen, die
äußeren und die inneren, stürmen in überhitzt glühender Atmosphäre fieberhaft
erregte Menschen durch sieben Akte gegeneinander, gegen jede Gewaltherrschaft,
auch gegen die der Natur – beklommen, angeregt und erregt, menschlich und
künstlerisch zweifelnd und zuletzt widersprechend, sieht man vor diesem Getöße,
ohne darum die dramatische Stoßkraft vieler dieser Szenen und die Bedeutung des
ganzen Werkes zu verkennen, die Bedeutung eines wichtigen künstlerischen
Zeitsymptoms.
Ein Werk, nicht
wie „Die Weber“, oder selbst noch Tollers „Die Maschinenstürmer“, geboren aus
Strömen der Gestaltenfülle oder aus mitleidigem Weltverstehen, vielmehr, selbst
chaotisch-ideologisch, kraft- und willensbewußt, aus dem Chaos einer gärenden
Zeit. Ein Werk, das sich eine über alle klaren Theatermöglichkeiten hinausgreifende
Doppelaufgabe gesetzt hat; die soziale Revolution soll mit den Errungenschaften
der künstlerischen auf dem Theater aufgezeigt, ja, das soziale Problem soll mit
dem künstlerischen zugleich in einem mehr gedachten, als geformten Werk gelöst
werden. Ein Versuch, unternommen mit den Mitteln einer großen Begabung, als die
wir Georg Kaisers schätzen – er ist doch wesentlich anders als seine Mitläufer
im Expressionistischen und bei allem Kalt-gedanklichen seiner Art doch nicht
bloß ein „Hirnhund“, wie sich seine Genossen selbst verzweifelnd nennen.
Gestützt wird dieser Versuch durch einen scharf intellektuellen, zu jedem
kühnsten Experiment aufgelegten und dabei praktisch bühnenkundigen Regisseur,
wie es Dr. Rudolf Beer ist. Dennoch konnte ein solches Wagnis nicht zur Gänze
gelingen, weil abstrakte Gebilde, seien sie noch so mutig gedacht, auf dem
Theater trotz aller explosiven Heftigkeit uns nie innerlich aufwühlen, weil sie
doch nur wie gewalttätige Schemen an uns vorüberziehen.
Man erinnert
sich aus der Darstellung des ersten, stärksten Teiles dieses Dramas im
Deutschen Volkstheater an die Umrisse des Geschehens. Umrisse, die wie aus
einem feurigen Gedankennebel auftauchen. Georg Kaiser hat den „Milliardärssohn“,
dessen Geschicke im ersten Teil seines Schauspiels „Gas“ gezeigt werden, aus
seiner Tragödie „Die Koralle“ übernommen. Dort sieht man den zu ungeheurem
Reichtum hinaufgeklommenen Emporkömmling. Dessen Sproß ist eben jener Milliardärssohn mit dem
sozialen Gewissen. Er ist Herr über einen Riesenbetrieb, in dem er sich selbst
nur als Arbeiter betrachtet. Der Gewinn wird gleicherweise verteilt, ohne daß
darum die Anklagen, Leidenschaften, Wünsche rings zur Ruhe gebracht werden. Da ereignet sich während des Hochzeitsfestes
seiner Tochter mit einem Offizier die Katastrophe, jene Explosion im Gaswerke.
Wer ist daran schuld? Der Ingenieur, dessen mathematische Formel ohne Zweifel
richtig gewesen ist? Irgend ein Zufall? Nein, die Natur selbst, nicht immer
durch eine Formel zu binden, hat gegen ihre Versklavung aufbegehrt, wie es diese
Menge gegen den Erfinder der Formel, den Ingenieur, unternimmt. Der
Milliardärssohn deckt seinen Helfer vor den Ausbrüchen der Waffe. Ihm, diesem
unbeirrbaren, wenig klaren Ideologen, ist nun ein anderer Plan aus der Schule
Tolstois oder Henry Georges gekommen: die Arbeiter sollen Bauern werden. Doch
jener Ingenieur reißt die Menge durch seine hymnischen Lobpreisungen der Arbeit
mit; sie helfen das Werk wieder bauen. Inzwischen ist der Krieg aufgeflammt,
der Staat verlangt das Werk für sich: der Milliardärssohn sieht solcherart auch
seinen Beglückungsplan zerstört, er bricht in dem Augenblick zusammen, da die
Tochter heimgekehrt ist. Ihr Gatte, der Offizier, hat sich wegen schimpflicher
Schulden erschossen, ein letzter Traum lockt und narrt den phantastischen
Unternehmer: das Kind, das die Tochter im Schoße trägt, soll der neue
Menschenheiland werden….
Dieses Kind, zum
Mann herangewachsen, steht im zweiten Teil des Dramas „Gas“ im Mittelpunkt der
ungewissen Ereignisse. Jener Krieg, dessen blutige Schatten Kaiser in den
ersten Teil seines Werkes warf, ist in dem zweiten noch nicht zu Ende. Der
staatliche Betrieb, dem das Gaswerk jetzt untergeordnet wurde, bringt nur
Enttäuschungen hervor. Georg Kaiser ist doch zu sehr Dichter und darum
Individualist, um das sozialistische Programm vorbehaltlos anzuerkennen. Er
zeigt oder deutet viel mehr nur skizzenhaft an, wie sich auch hier sehr rasch
Uneinigkeiten und Streits entwickeln. Der Milliardärarbeiter, Enkel jenes
ersten Besitzers, wird Führer der Waffe, in Weltbrüderschaft will er sich mit
dem bisherigen Feind zu einem Menschheitsbund vereinen. Aber der Feind selbst
besetzt das Werk und bestellt den Großingenieur, der es bisher geleitet hat,
zum Bürgen für die Kriegsschuld. Als Frondienst wird die Arbeit nunmehr unter
ehernem Kriegsgebot – Arbeit noch dazu den Feind – betrieben. Kaiser ist auch
hier Dichter und Individualist genug, um das nationale Element gegenüber der
sozialistischen These nicht zu verkennen. Neuer Unfrieden, neuer Haß, neue
Debatten und, wie sein Großvater der Milliardärssohn, steht jetzt dessen Enkel,
der Milliardärarbeiter, zwischen der Waffe, und rät, eine Giftgasbombe, die der
Großingenieur konstruierte, gegen die feindliche Besetzung zu schleudern und so
die hier Eingeschlossenen und, symbolisch, die Welt zu befreien. Aber sein Ruf
bleibt ohne Widerhall. Nun greift er selbst nach der Bombe und schleudert sie
gegen sich. In Dampf und Feuer lodert das Werk: der Tod schreitet über der
vernichteten Welt….
Diesem zweiten,
ganz gedankenhaften Teil, sind nicht mehr die erregenden Kräfte des ersten
eigen. Was hier geschieht, sind nur Gedankenkämpfe, Debatten, die trotz der
hitzigen Explosionsatmosphäre nur doktrinär ausgefochten werden. Und
künstlerisch-doktrinär erweist sich hier die expressionistische Technik, die
anfangs mit ihrem Telegrammstil, den stoßweisen Worten, den in hitzigen Ekstasen
aufgetürmten Bildern steckt. Aber eine Ermüdung des Interesses tritt bald,
zumal in dem zweiten Teile, in jeder Weise ein. Auf dem Theater, modern oder
nicht, mit jeden „Ismus“ oder davon befreit, wie wir für die Zukunft erhoffen,
immer gibt es hier nur ein Gesetz: alles ist erlaubt, wenn es sich nicht
wiederholt. Aber hier wiederholt sich alles: die Debatten, in das Endlose
geführt, das Nebulose der Weltbeglückungspläne, die Atmosphäre bleibt die
gleiche. Hier steht alles, so heftig auch die Worte prasseln, dramatisch still,
und selbst die Detonation zum Schluß erschüttert oder entsetzt nicht mehr, weil
sie ja nur Wiederholung ist, benutzte Wiederholung diesmal. Wie anders hat sie
einmal bei Björnson in „Ueber unsere Kraft“ gewirkt, wo man grauenhaft ihr
Herannahen fühlte. Wie selbst noch in diesen ersten Szenen dieses Schauspiels
„Gas“, in dem zuletzt Schemen statt Menschen durch Dampf und Rauch und
Gedankennebel irren. So ist das Spiel, die Waffe dramatisch zu packen, trotz
redefrohen Antagonisten nicht erreicht.
Dennoch bleibt
dieser ersten Wiener Aufführung der beiden Teile des Kaiserschen „Gas“ der
Eindruck eines Ereignisses von einer gewissen theatergeschichtlichen
Wichtigkeit. Dieses Schauspiel bedeutet den Gipfelpunkt einer ganzen Richtung,
einen Gipfel, der bereits zum Abstieg führt. Heute ist, wie jeder praktische
Theatermann weiß, der Expressionismus, dieser Schrei des Theaters von morgen,
bereits eine Formel von gestern geworden. Nur das Dichterische auch an den
Werken dieser Epoche hat Bestand. Aus einem Werk wie „Gas“, so stark man auch
daraus die nervös zuckende Faust eines Dramatikers – eines Dramatikers von
preußischem Zuschnitt trotz der Revolutionsgeste – spürt, erwächst doch nur die
Sehnsucht nach Menschen und ihren Schicksalen, nicht nach Schemen und explodierenden
Ideen. Aus diesem Nebelland geballter Zeitgedanken wird auch Georg Kaiser den
Weg in das Menschenland, mit dem er vielverheißend begonnen, zurückfinden. Er
hat ihn bereits in Werken, die „Gas“ nachfolgten, gefunden.
Regie und
Darstellung sahen sich hier vor einer nicht geringen Aufgabe. Das unheimliche
Tempo mußte bewahrt und dabei der Eindruck der Gehetztheit vermieden werden. Er
ist im zweiten Teil, der dadurch ungewollt zu einer leichten künstlerischen
Persiflage des ersten wurde, nicht ganz, trotz Dr. Beers wieder höchst kluger
Führung, vermieden worden. Die Darstellung hatte die eine Aufgabe, sich auf
Stil, den expressionistischen Stil, zu stellen. Der Eindruck des linienhaft
Typischen, nicht das Individuell-Menschliche, mußte im Gesamtbilde dieses
Abends festgehalten werden – man sieht, daß diese auf Schrei und seelische und
Wortexplosion gestellte expressionistische Kunst auch den Schauspieler
typisieren und um sein Eigentümlichstes, das persönliche Gestalten, bringen
muß. Hans Ziegler, Rudolf Zeife, Richard Duschinsky, Hermann Wail, Louis Böhm,
Grete Witzmann, Lilly Karoly, Lina Loos, Karl Ehmann, Heinrich Schnitzler,
Friedrich Rosenthal, Wolf B. Kersten, Eduard Loibner, Rosa Fasser, Alfred
Neugebauer, und Karl Skraup wußten stilecht zu typisieren und fast, immer
verständlich, „gebrüllt“ zu sprechen. Der Heftigkeit der Wirkungen entsprach
die Heftigkeit des Erfolges. Die Beifallsdetonationen begannen auf der Galerie
und setzten sich, freilich zuletzt sehr wesentlich abgeschwächt, nach unten
fort.
In: Neue Freie Presse, 9.3.1924, S. 14f.