Berta Zuckerkandl: Eine Bittfahrt um Brot
Berta Zuckerkandl: Eine Bittfahrt um Brot (1923)
Am 12. November 1918 präsentierte die Weltgeschichte den Habsburgern ihre Rechnung. Die Kosten mußte aber auch das alleingebliebene deutschösterreichische Volk zahlen. Als die sozialdemokratische Regierung die laufenden Geschäfte übernahm, fand sie eine Situation vor, die an Elend, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit kaum ihresgleichen in den Annalen zugrundegerichteter Länder finden dürfte. Stand bereits im Sommer der Hunger grinsend neben seinem damals geschäftigsten Freund, dem Tod, so trat durch den Umstand, daß die Auflösung der Monarchie mit einem Schlag Kornkammern und Kohlenschächte jenseits der neuen Grenzen ließ, eine absolute Absperrung jeder Zufuhrmöglichkeit ein. Wien besonders glich einer von einem zornigen Weltmeer umbrandeten verlassenen Insel. Und der Leiter des Auswärtigen Amtes, Dr. Otto Bauer1881 als Sohn des wohlhabenden jüdischen Textilindustriellen Philipp Bauer in Wien geboren, setzte er sich bereits wäh..., mußte tatsächlich als moderner Robinson die Aufgabe zu lösen versuchen, diese verwüstete Insel lebensfähig zu machen.
So trat gleich in den ersten acht Tagen der deutschösterreichischen Republik als brennendes Problem das Problem der Verproviantierung hervor. Damit war aber auch die Aufrollung der neu zu schaffenden internationalen Anlehnung gegeben. Daß diese vor allem in — Entlehnungen bestehen mußte, war die bittere Erkenntnis, aus der die deutschösterreichische Regierung bestimmende Entschlüsse zog. Der Weg über die Schweiz, von der Schweiz, durch die Schweiz allein stand offen. Aber auch dieser konnte dem sterbenden Österreich nur Nahrung zuführen, wenn das uns ethnographisch ferne Amerika, wenn das uns menschlich noch fernere Europa die Schweiz zum Transitlager einer organisierten Welthilfe erwählen würden.
Daß nun die ersten Rufe nach einer solchen Organisation nach Paris dringen, wo seit dem Endsieg der Entente die Versailler Diktatur an dem neuen Modell „Europa“ stümperte, dazu war es vor allem notwendig, sich den entscheidenden Fürsprecher zu sichern, der eben erwählt worden war, das niedergebrochene Europa durch neue Ernährungsquellen zu speisen. Hoover mußten von Österreichs Lage authentische Daten mitgeteilt und Wege gefunden werden. Aber! Wo diesen Unauffindbaren erreichen? Niemand, selbst in den neutralen Ländern wußte, wo er gerade weilte. Da aber Bern, mehr noch als während des Krieges unmittelbar nach dem Krieg der Brennpunkt aller internationalen Annäherungen geworden war und sozusagen diplomatisch als der Vorhof zum Versailler Allerheiligsten gelten konnte, so beschloß die deutschösterreichische Regierung: erstens eine neue, die eben gegründete Republik vertretende Gesandtschaft für die Schweiz zu ernennen und zweitens eine vollständig unabhängige Kommission für die einzuleitende Ernährungsaktion nach Bern zu entsenden. Als Leiter dieser Kommission wurde Baron Leopold Hennet (der nachmalige Ackerbauminister und provisorische Leiter des Staatsamtes für Äußeres) ausersehen. Hennet hatte neun Jahre hindurch in Bern die wirtschaftlichen Interessen der Monarchie in mustergültiger Weise vertreten, war in der Schweiz Persona gratissima und verfügte auch sonst über weitreichende Verbindungen. Ihm wurde ein Stab von industriellen Finanziers und Fachmännern beigegeben. Auch der ausgezeichnete Organisator Dr. Schwarz-Hiller und der in England und Amerika so populäre Slatin-Pascha, ein Freund Hoovers, waren Mitglieder der Kommission. Zu meinem Erstaunen erhielt auch ich vom Staatsamte des Äußern die Anfrage, ob ich geneigt wäre, in einer sowohl von der neuen Gesandtschaft als auch von der Kommission vollkommen unabhängigen Mission die Mitreise nach Bern anzutreten. Ich hatte diesbezüglich am 22. November im Staatsamt des Aeußern eine Unterredung mit Dr. Otto Bauer.
Was von mir verlangt wurde, war: die Lebensmittelfrage und die Kohlenfrage als Menschlichkeitsfrage vor allen jenen Faktoren ins Gewissen zu senken, die — wie man am Ballplatz zu wissen glaubte — sich vorläufig absolut jeder Hilfsaktion für Deutschösterreich verschließen wollten. Dr. Otto Bauer sagte mir: „Was von Frankreich zu erbitten ist, wäre dies: Es soll keinen Einspruch erheben gegen Amerika, das uns rasch helfen will. Im Dezember jedoch kommt diese Hilfe vielleicht schon zu spät. Das beste Volk der Welt ist auf das äußerste erschöpft — es hält es nicht mehr aus. Der Bürgerkrieg ist unaufhaltsam, wenn nicht rasch, wenn nicht von der Entente vereint, Hilfe kommt. Frankreich nun hat in Österreich große wirtschaftliche Interessen. Hat hier sehr bedeutendes Kapital. Es kann deshalb schon unmöglich im Interesse Frankreichs liegen, einen chaotischen Zustand bei uns herbeizuführen. Dieser aber muß unabwendbar kommen, wenn die Entente noch vor allem Menschlichkeit übt und das deutschösterreichische Volk von Verzweiflung erlöst.“
Welche Frau hätte in diesem Augenblick sich einer solchen Aufgabe entzogen? Ich unterschätze wohl keinen Augenblick die Schwierigkeiten, die gerade ich zu überwinden haben würde. Denn: wer Georges Clemenceau, den damals Allmächtigen, genau kannte, der mußte wissen, daß gerade ein verwandtschaftliches Verhältnis das größte Hindernis zu irgendeiner zu erlangenden Begünstigung bilden mußte. Lieber würde er als grausam gelten wollen, denn als parteiisch. Nicht also durch Georges Clemenceau die französische Hilfe unserem Lande zu sichern, sondern trotz Clemenceau sie in die Wege zu leiten – war der Versuch, den ich zu wagen unternahm.
Unsere Fahrt, ins Graue — die Abreise des neuernannten Gesandten Dr. Haupt und aller Mitglieder der Gesandtschaft sowie der unter Führung des Baron Hennet stehenden Ernährungskommission, welcher ich mich anschloß, fand an einem düsteren Morgen des 26. November 1918 statt. Ein Schlafwagen war für uns dem einzigen nach Feldkirch verkehrenden Bummelzug angehängt worden. Unbeschreibliche Szenen spielten sich auf dem Bahnhof ab, da der Zug von Tausenden Personen bestürmt wurde. Erst bis der Gesandte Haupt in einer Anrede den Zweck unserer Reise erklärte und erzählte, welche traurige und lange Bittfahrt um Brot alle in diesem Schlafwagen Reisenden anzutreten im Begriffe seien, trat ein Umschwung ein. Zwei Tage und zwei Nächte dauerte die Reise. Sie verging mit Pläneschmieden. In Bern angelangt, fanden wir jedoch eine Situation vor, die niemand als so ernst vorausgesehen hatte.
Der neuen Gesandtschaft verweigerte vorerst die Schweizer Regierung das Agreement. Was soviel hieß: daß eine nicht an-//erkannte Gesandtschaft an keiner offiziellen Stelle des Landes sowie auch des Auslandes Zutritt erhielt. Was aber das Schicksal unserer Ernährungskommission betraf, so schien es sich noch düsterer zu gestalten. Der Plan, den Baron Hennet mit Unterstützung seiner Mitarbeiter ins Auge gefaßt hatte, war folgender: Durch Hoovers Vermittlung sollte die Entente eine interalliierte Kommission nach Bern entsenden, die die Informationen, Daten, Vorschläge unserer Delegierten entgegenzunehmen hätte, um dann auf Grund eines solchen von Fachmännern ausgearbeiteten Materials wieder an Hoover Bericht zu erstatten. Drei Punkte waren von unserer Kommission als Verhandlungsbasis festgelegt worden: 1. Lebensmittelvorschüsse der Entente. 2. Selbstlieferungskonsens von der Entente an die Schweiz zu erteilen. 3. Zuschübe der Lebensmittelvorschüsse nach Wien, ohne daß Österreich dafür sofort Geld zu erlegen hätte.
Wir aber fanden hermetisch verschlossene Türen.
(Ein zweiter Artikel folgt.)