Felix Salten: … Er kann nicht anders.
Felix Salten: … Er kann nicht anders.
Ernst Tollers „Hoppla, wir leben!“ im RaimundtheaterDie Gründung des Raimundtheaters ging auf eine Initative von rund 500 Wiener Bürgern zurück, die sich 1890 zum „Wie....
Zwei Kinder stehen vor dem Arbeiter Karl Thomas. Sie find halbwüchsig beide, der Knabe wie das Mädchenm und sie sind ahnungslos. Vom Krieg wissen sie nur die ruhmreichen Schlachten, die sie in der Schule lernen müssen. Da erzählt ihnen Karl Thomas ein Erlebnis aus dem Schützengraben, enthüllt ihnen mit dieser Erzählung das ganze, große,
blutige Leiden der Menschheit, aber die Kinder verstehen ihn nicht. Sie gehen davon, mehr erschrocken, als gerührt, mehr gelangweilt, als überzeugt. Der Arbeiter bleibt zurück, einsamer denn je, und er begreift, daß nur die persönliche Erfahrung, nur die Qual am eigenen Leib, an eigener Seele erduldet, den Menschen zu bewußter, entschlossener Reife bringt. Nur diese. Sonst nichts.
Es ist die schönste Szene dieses Stückes, seine Herzkammer.
Dann gibt es einen Moment, da tönt der Ruf, der den Titel des Stückes bildet, fünfmal von fünf verschiedenen Schauplätzen. „Hoppla, wir leben!“ sagt der Mann am Schaltwerke des Radio-Telegraphen. „Hoppla, wir leben!“ klingt’s ans dem Chambre séparée, wo der Generaldirektor mit dem Minister zecht, aus dem Zimmer der Journalisten, aus der Lasterecke, in der sich das ehemalige Proletariermädchen dem Grafen hingibt, und aus der elenden Kammer, // in der die Arbeiter bei Tisch sitzen. Die Schauplätze sind nebeneinander und Übereinander gebaut, sie leuchten im Scheinwerferlicht auf, wenn ihr Stichwort fällt und sie verschwinden vom Dunkel eingeschluckt, wenn gesagt ist, was gesagt werden sollte. Das erinnert an die Keisler-Bühne, die Meynert und Bernauer vor etlichen Jahren gefunden haben, ja, es ist die Meister-Bühne, das Kind des Films.
Dieser Moment, dieses fünffache „Hoppla, wir leben!“ darf als die äußere Gebärde des Stückes gelten.
Das Schauspiel Tollers hat sehr viele äußere Gebärden. Auch sonst. Ausfahrende, schreiende Gesten, tobende Plakatmanieren, wildes Übergreifen von der Bühne in den Zuhörersaal, Formen, die dem Genre der Revuesiehe: Ausstattungs-Revue bzw. Politisches Kabarett entnommen sind, die Toller jedoch ohne Girls, ohne die Verlockung nackten Mädchenfleisches in ehrlicher Leidenschaft verwendet. „Extraausgabe!“ brüllen ein paar Bursche[n] plötzlich von der Galerie und schleudern Zeitungsblätter ins Parkett. Aus dem Zwischenvorhang treten Einzelfiguren an die Rampe und halten Reden ins Publikum. Der Tod springt hinter einem Abreißkalenderblatt hervor, spricht Verse ironischen Inhalts. Der Schieber erscheint, um sein Programm abzuschnurren, der Arbeitslose bringt seine Anklage vor, der Amerikaner sein Diktat, der Engländer schießt, nach einem sanften Speach den Browning ab. Drei Wahlredner donnern ihre Schlagworte her, jeder für sich zuerst, dann alle drei im Wirrwarr zusammen. Sie sind im Dunkeln, während die zum Saal gerichteten Scheinwerfer das Auge blenden.
Alle diese Augenblicke geben kein Stück, sondern Stückwerk. In Berlin hat der junge Regisseur Piscator auch gar nicht getan, als ob er ein dramatisches Werk inszenierte. Er hat eine Weltanschauung aufs Theater bringen wollen. Seine Weltanschauung und die von Ernst Toller. Durch die Szenen und Szenchen ließ er einen Film rollen. Bilder der Revolution, Bilder des Krieges, Bilder des weißen Terrors, Bilder des entfesselten Militarismus, Bilder des lebendigen und des toten Lenin, Bilder des elektrischen Hinrichtungsstuhles. Ein großartiger; ein hinreißender Film, an den Potemkin erinnernd, dem pazifistischen Film Amerikas Die große Parade vielfach verwandt. Wirkung brachte die Inszenierung Piscators, Wirkung bis zur Siedehitze, bis zur Explosionsgefahr. Aber diese Inszenierung ließ kaum den Umriß von Tollers Werk erkennen.
Toller will das Schicksal revolutionärer Arbeiter zeigen. Von 1919 an, als die Revolution in Deutschland niedergeworfen wurde, bis zum heutigen Tag. Er beginnt in der Kerkerzelle. Sechs standrechtlich verurteilte Arbeiter erwarten den Tod. Und werden begnadigt. Der eine von ihnen, Wilhelm Kilmann, macht Karriere und sitzt nun im Ministerfauteuil. Den andern hat die erlittene Todesangst ins Irrenhaus geschleudert, aus dein er jetzt erst, 1927, entlassen wird. Den Zeitraum, der dazwischen liegt, veranschaulicht der Abreißkalender, die Jahreszahl, die darüber leuchtet und die, wie die Ziffer einer Springuhr wechselt, endlich die allegorische Figur, die jeweilig davor steht, um ihre Rede zu halten.
Transparente Inschriften, allegorische Figuren… sind das nicht gute, alte, längst bekannte längst schon ausrangierte Requisiten? Streift man die aktuelle Maske, die blutigrote Wildheit non diesen Behelfen, dann erkennt man die Mittel, deren sich die Zauberstücke bedienen, die am Sonntagnachmittag für Kinder aufgeführt werden, erkennt das ziemlich rostig gewordene Rüstzeug aus der Biedermeierwerkstatt Ferdinand Raimunds. So kehren die modernsten, die // neuesten Dichter, halb bewußt oder unbewußt, zur ältesten Bühnenmechanik, zur Primitivität drahtgezogener Puppen und zur handfesten Deutlichkeit der Allegorie zurück. Natürlich tragen die heutigen Figuren nicht mehr Namen wie „der Geist Azur“ oder „die Fee Christiane“; doch wird der Dämon immer noch der Dämon genannt, der Sensenmann erscheint unter dem beredsamen Pseudonym „der Nutznießer“, aber die anderen heißen ganz einfach „der Schieber“, „der Amerikaner“, „der Arbeitslose“. Sie sind keine Einzelwesen, stellen nicht sich selber vor. Sie versinnbildlichen Menschheitsgruppen, den Charakter ganzer Klassen, Schicksal von Massen. Sie sind, nach einem Wort von vorgestern, Ballungen nach einer hundertjährigen Bezeichnung Sinnbilder. Aus der Empörerseele dieser Gegenwart geboren, glühend von allem Aufruhr und aller Sehnsucht des Heute, beweisen sie das ewige Prinzip des Rückläufigen und Wiederkehrenden in der künstlerischen Entwicklung.
Karl Thomas, der Revolutionär, kann sich in der Welt nicht mehr zurechtfinden. Das geliebte Mädchen, das mit ihm zugleich verurteilt war, das mit ihm in den Tod gehen wollte, ist wohl der gemeinsamen Sache, aber nicht dem Geliebten treu geblieben. Sie verrichtet ihr Werk der Agitation zäh, pflichtbewußt, trocken, und fest von ihrer Gleichberechtigung mit dem Manne überzeugt. Sie weist dem Geliebten die Tür, nachdem sie einmal mit ihm geschlafen hat. Diese eine Nacht bindet sie nicht. An keinen der Männer, mit denen sie ebenso beisammen war, hat sie sich gebunden in ihrem Gefühl. Sie will frei sein. Die anderen Kameraden Karls sind freilich immer noch klassenbewußte Genossen, aber sie ducken sich, sie zaudern, sie wollen ihr Leben nicht zum zweitenmal riskieren. Und Kilmann ist Minister, Kilmann hat sich der Korruption // hat sich dem Geldsack, hat sich dem Snobbismus ergeben. Diesen Kilmann will Karl umbringen, doch ein Fememörder, der rascher schießt, kommt ihm zuvor. Karl Thomas aber wird als der Tat verdächtig, eingelocht und endigt wieder im Irrenhause.
Diese Handlung ist ganz einfach; sie ist ganz rein in ihrer Menschlichkeit, ganz echt nach ihrer Gesinnung. Persönliches Erleben pulsiert stürmisch darin, leidenschaftliches Fühlen, das mit seiner ehrlichen Glut ergreift. Ernst Toller kann nicht anders, Gott helfe ihm. Von einer ungerechten, rachsüchtigen Justiz jahrelang im Gefängnis gehalten, grausam behandelt, mußte er für eine Tat edelster Unbesonnenheit oder, wie man will, unbesonnenen Edelmuts härter büßen als mancher wirkliche Verbrecher. Gustav Landauer, der hohe, edle Geist, hat seine aufrechte Unschuld noch viel härter mit einem jammervollen Tod bezahlt. Toller vermag dieses Erleben nicht zu überwinden, seine Seele lehnt sich immer noch auf gegen die Grausamkeit, die er, die seine Genossen erdulden mußten gegen das höhnische Unrecht, gegen die gleichgültig träge Umwelt, die solche Schande mit ansah. Er vermag, aus der Haft in die Freiheit von heute versetzt, mit dieser Freiheit und diesem Heute nicht zurechtzukommen, so wenig, wie sein Karl Thomas sich in dieser Gegenwart zurechtfindet. Tollers Schauspiel Hoppla, wir leben! ist die Auseinandersetzung, die er dichterisch mit seinem Zustand und mit den jetzigen Zuständen gepflogen hat. Er mußte diese Auseinandersetzung schreiben.
Ob er die Minister zum Beispiel, die früher einmal Anno achtzehn und neunzehn, Revolutionsführer waren, ob er die Genossen von einst, die inzwischen Oberpräsidenten, Reichspräsidenten und Kabinettschefs geworden sind, wirklich so sieht wie seinen Kielmann? So witzblattmäßig versnobt, so parvenühaft schuftig, so kleinkindisch korrupt? Mit dem Karl Thomas formte er einen lebenswahren, ergreifenden Menschen, in der Eva Berg eine echte, moderne Frauengestalt. Lebendige Episodenfiguren sprangen ihm mit dem Provinzbürger Pickel, mit dem Irrenarzt Lüdin aus der Hand. Doch die Phantasie des so hitzig erregten Ernst Toller scheint lahm zu sein und ihr Flug trägt ihn weder sehr weit noch sehr hoch. Vielleicht deshalb, weil das Geschehen, das Toller so ganz in Flammen setzt, alles Phantastische weit übersteigt. Vielleicht auch deshalb, weil seiner Dichterphantasie durch Parteidenken, durch parteipolitische Einstellung die Schwingen gebunden sind. Sein Stück ist aufreizend, aber es ist nicht dramatisch. Schillers Kabale und Liebe wirkt heute noch, nach fast hundertfünfzig Jahren, mit elementarer dramatischer Gewalt und wirkt natürlich aufreizend zugleich. Sogar die Tosca von Sardou hat jetzt noch dramatische Kraft, hat dazu jetzt noch die Fähigkeit, aufzureizen. Tollers Werk ist aktuell wie ein Leitartikel, ist voll Harangue wie eine demagogische Versammlungsrede, brüllt und gestikuliert wie ein schmissiges Plakat, aber die Muskelstärke des Dramatischen fehlt. Dieses Stück kann so aufreizen, daß es möglicherweise im Theater Lärm gibt, Beifallsstürme Pfeifen und Geschrei. Laßt dieses Stück jedoch fünf, zehn oder zwanzig Jahre alt werden und probiert, ob ihr es dann noch anschauen wollt, ob es dann auch nur mehr aufregend wirkt. Ernst Toller gehört in dieser Zeit der seltsamen und interessanten Individualitäten, zu den wenigen Dichtern, die man mehr liebt als seine Werke. Er ist immer noch eine Verheißung, hat sich immer noch nicht erfüllt. Man muß jedes seiner Stücke aufführen, wird jedes gern auf dem Theater sehen. Denn jedes ist das Dokument eines wertvollen Menschen. Und aus jedem Stück von Ernst Toller redet die heiße Sehnsucht nach einer besseren Welt, der begeisterte Glaube an die Zukunft, redet in einer Sprache, die Begeisterung weckt, ob sie gleich nicht vollendet und nicht meisterhaft klingt.
Die Ausführung am Raimund-Theater, das jetzt unter Ferdinand Exls künstlerischer Leitung steht, gab Toller mit der Regie von Dr. Rudolf Beer weniger und mehr, als er von Piscator bekam. Der gewaltige Film, der gleichsam die Gedanken der handelnden Personen enthüllte, mußte hier wegbleiben Es ist Piscators geistiges Eigentum. Dafür beherrschte der Wiener Regisseur den Dichter nicht, sondern suchte, ihm einfach zu dienen. Er zerriß das Stück nicht in kleine Stückchen, sondern bemühte sich, so viel Einheit zu ringen als eben vorhanden war. Dem Wilhelm Kilmann lieh Ednard Köck eine glaubhafte, sein[e] charakterisierte Menschlichkeit und Ferdinand Exl machte mit diskreten aber eindringlichen Zügen aus dem Kleinbürgers Pickel eine von echtem Simplizissimushumor umschimmerte Gestalt. Maria Gutmann spielt die Eva Berg mit starker geistiger Kraft, ohne einen Moment lang scharf zu werden, ganz in sympathischer Weiblichkeit verharrend. Der Karl Thomas des Herrn Loibner ist schauspielerisch freilich schwächer, als der Berliner Karl Thomas des Herrn Granach; aber er ist schlichter, echter, stiller und hat mehr an Intensität des Unbeholfenen. Vortrefflich Herr Novotny als Irrenarzt, das ist eine Figur aus der Fülle, lebenswahr wie ein meisterhaftes Porträt. Die allegorischen Figuren wurden in wirksamen Masken wirksam gesprochen. Am besten von Forest, Onno und Skoda, die jugendlichen Darsteller der beiden Kinder, Joses Schmid, besonders aber die kleine Emma Bulla, haben den Frühlingsreiz hochbegabter Anfänger. Es muß überhaupt hervorgehoben werden, wie viel ausgezeichnete Sprecher Dr. Beer auf die BühneGegründet 1924 durch den umstrittenen Zeitungsunternehmer Emmerich Bekessy, erschien die Zs. ab 6.11.1924 als Wochenzei... stellt, wie viele junge, begabte Talente und um wie Vieles diese Wiener Ausführung der Berliner an schauspielerischer Qualität überlegen ist.
Das Publikum wurde rasch warm, wurde im Verlauf des Abends immer heißer und blieb bis zum Schluß einmütig in seinem stürmischen Beifall. Er galt ebenso den Darstellern wie dem Dichter.