Die Friedensnote der deutschösterreichischen Nationalversammlung an Wilson
Die Friedensnote der deutschösterreichischen Nationalversammlung an Wilson. (1918)
Wien, 29. Oktober
Der Vollzugsausschuß der provisorischen Nationalversammlung Deutschösterreichs hat beschlossen, folgende an den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika zu richtenden Note der morgenDer Morgen war ein von Carl Colbert und Maximilian Schreier 1910 gegründetes liberales Montagsblatt. Zunächst in Erg... Mittwoch stattfindenden Vollversammlung zur Beschlußfassung vorzulegen:
Herr Präsident! Wir beehrten uns, Ihnen mitzuteilen, daß die deutsche Nation in Österreich beschlossen hat, einen selbständigen deutschösterreichischen Staat zu bilden. Am 21. Oktober 1918 haben sich in Wien die aus dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht gewählten Abgeordneten aller deutschen Wahlbezirke in Österreich versammelt und haben beschlossen: 1. einen selbständigen deutschösterreichischen Staat zu bilden; 2. sich als provisorische Nationalversammlung dieses neuen Staates zu konstituieren und die Aufgabe zu übernehmen, diesen Staat so lange zu vertreten, bis eine auf Grund des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes neu zu wählende konstituierende Nationalversammlung zusammentreten kann; 3. einen Vollzugsausschuß zu wählen, der bis zur Bildung der Regierung des deutschösterreichischen Staates diesen Staat nach außen zu vertreten und die Übernahme der Verwaltung im Innern vorzubereiten und zu reorganisieren hat.
Die Deutschen sind in Österreich ein Volk von 9.7 Millionen Menschen; bisher waren sie Bürger des österreichischen Staates, jetzt, da die anderen Nationen darangehen, ihre selbständigen Staaten zu bilden, konstituiert sich auch die deutsche Nation in Österreich als ein selbständiger Nationalstaat. Der neue Staat beansprucht die Gebietshoheit über alle jene Gebiete des bisherigen Österreich, in denen die Deutschen die Mehrheit der Bevölkerung bilden. Er erkennt den anderen Nationen der Monarchie das uneingeschränkte Recht zu, ihre Stellung innerhalb der Gesellschaft der Nationen in voller Freiheit zu bestimmen und fordert dasselbe Recht auch für die deutsche Nation. Er nimmt das Recht auf völkerrechtliche Persönlichkeit für sich in Anspruch. Er verlangt, daß seine Vertreter als die Vertreter eines selbständigen Staates zu den Friedensverhandlungen zugelassen werden und mit den Vertretern der anderen Nationen über die Bedingungen des Friedens verhandeln. Er behält seiner Regierung das Recht vor, den Frieden zu schließen.
Der Vollzugsausschuß verpflichtet sich zur Annahme der folgenden Grundsätze:
1. Der Vollzugssausschuß nimmt vorbehaltlos die Grundsätze an, die Sie, Herr Präsident,
in der Botschaft vom 8. Januar 1918 und in den Reden vom 12. Februar und vom 4. Juli 1918 festgesetzt haben.
2. Der Vollzugsausschuß betrachtet, der Note des Herrn Staatssekretärs der Vereinigten
Staaten an die österreichisch-ungarische Monarchie vom 18. Oktober 1918 entsprechend, die czecho-slowakische und die südslawische Nation als vollkommen unabhängige Staaten und ist bereit, die Beziehungen des deutschösterreichischen Staates durch freie Vereinbarungen mit diesen Staaten zu regeln. Der Vollzugsausschuß schlägt vor, alle Streitfragen zwischen dem deutschnationalen Staate einerseits und dem czechischen und dem südslawischen Staate anderseits, soweit sie durch freie Vereinbarungen nicht bereinigt werden können der Entscheidung eines Schiedsgerichtes zu unterwerfen, das nach den Bestimmungen der Haager Konferenzen zusammengesetzt werden soll.
3. Der Vollzugsausschuß bittet Sie, Herr Präsident, Ihre Aufmerksamkeit der Frage der
deutschen Gebiete der Sudetenländer zuzuwenden. In Böhmen gibt es neben 60 Bezirken, in denen die Czechen die Mehrheit der Bevölkerung darstellen 36 Bezirke, in denen die Mehrheit der Bevölkerung deutscher Nationalität ist und die deutsche Sprache spricht. Diese Bezirke stellen ein Gebiet von 16.311 Quadratkilometer dar. Nach der Volkszählung vom Jahre 1900 betrug die Bevölkerung dieses Gebiets 2.186.637 Personen. Von ihnen bedienen sich im täglichen Verkehr 2.001.962 Personen der deutschen und nur 148.051 Personen der czechischen Sprache. Es besteht also innerhalb Böhmens ein zusammenhängendes Gebiet, dessen überwiegende Bevölkerungsmehrheit deutsch ist. Ebenso bildet der westliche Teil von Österreich-Schlesien und der an ihn grenzende nördliche Teil von Mähren ein zusammenhängendes deutsches Siedlungsgebiet und auch die südlichen, an das deutsche Niederösterreich angrenzenden Gebiete Mährens sind deutsch.
Insgesamt wohnen in Böhmen, Mähren und Schlesien nach der letzten Volkszählung 3.512.682 Deutsche. Es ist selbstverständlich, daß der neue deutschösterreichische Staat auch die deutschen Gebiete Böhmens, Mährens und Schlesiens beansprucht. Wir sind überzeugt, Herr Präsident, daß Sie nach sorgfältiger Prüfung dieser Fragen, den von Ihnen verkündeten Grundsätzen entsprechend, es ablehnen werden, 31/2 Millionen Deutsche gegen ihren Willen dem czechischen Staate zu unterwerfen und sie zu einem Verzweiflungskampfe gegen die ihnen drohende Fremdherrschaft zu zwingen. Das Zeitalter der Demokratie in Mitteleuropa kann nicht damit beginnen, daß ein Volk von 31/2 Millionen Menschen einem Volke von 6.3 Millionen Menschen unterworfen wird.
Der dauernde Friede in Europa kann nicht dadurch begründet werden, daß in dem neuen czecho-slowakischen Staate eine deutsche Irredenta geschaffen wird, deren ständige Hilferufe nach Berlin und Wien dringen und den Frieden Europas gefährden würden. Und eine solche Vergewaltigung der Deutschen widerspräche auch dem von Ihnen, Herr Präsident, im Punkte 2 Ihrer Rede vom 12. Februar d.J. aufgestellten Grundsatze, „daß Völker und Provinzen nicht von einer Staatsoberhoheit in eine andere herumgeschoben werden, als ob es sich lediglich um Gegenstände oder Steine in einem Spiele handelte“, und ebenso dem 3. Und 4. Der dort aufgestellten Grundsätze, wonach „jede Lösung einer Gebietsfrage im Interesse und zugunsten der betroffenen Bevölkerungen“ und derart erfolgen müsse, „daß alle klar umschriebenen nationalen Ansprüche die weitestgehende Befriedigung finden sollen, ohne neue Elemente oder die Verewigung alter Elemente von Zwist und Gegnerschaft, die den Frieden Europas und somit der ganzen Welt wahrscheinlich bald wieder stören würden, aufzunehmen“.
Wir fordern daher, daß die deutschen Gebiete Böhmens, Mährens und Schlesiens als ein Bestandteil des deutschösterreichischen Staates anerkannt werden und ihre künftige staatliche Zugehörigkeit in Gemeinsamkeit mit ihm frei bestimmen sollen. Wir sind. bereit, mit der berufenen Vertretung der czechischen Nation über die Abgrenzung unserer Gebiete zu verhandeln. Sollte es sich aber als unmöglich erweisen, die Grenzen einvernehmlich festzusetzen, so schlagen wir vor, daß die Bevölkerung der umstrittenen Gebiete berufen werden soll, selbst durch allgemeine Volksabstimmungen zu entscheiden, zu welchem Staat sie gehören wollen. Wir sind einverstanden damit, daß diese Volksabstimmung unter der Kontrolle der Gesellschaft der Nationen von Beamten neutraler Mächte durchgeführt werde und daß alle näheren Bedingungen dieser Volksabstimmung vom Friedenskongreß oder von einem Schiedsgerichte in solcher Weise festgesetzt werden, daß jede Vergewaltigung der Abstimmenden und jede künstliche Beeinflussung des Abstimmungsergebnisses unbedingt vermieden werden. Die Regelung des Schutzes der in fremden Siedlungsgebieten immerhin noch übrigbleibenden nationalen Minoritäten wird im Wege der gegenseitigen Vereinbarung erfolgen können.
In analoger Weise wären diese Grundsätze auch auf die deutschen Siedlungsgebiete im Süden und auf die Regelung der staatlichen Grenzen gegenüber Italien und dem südslawischen Staat anzuwenden.
Sie, Herr Präsident, haben erklärt, daß Sie gegen die Regierungen der Mittelmächte, aber nicht gegen das deutsche Volk Krieg führen. Sie haben erklärt, daß Sie gleiche Gerechtigkeit für alle Nationen, auch für das deutsche Volk verwirklichen wollen. Wir appellieren daher an Sie, Ihre Autorität für das Selbstbestimmungsrecht unserer Nation einzusetzen. Da wir uns mithin ganz auf den Boden der Grundsätze stellen, die Sie, Herr Präsident, verkündet haben, wäre jede Verlängerung des Krieges zweckloser Mord an vielen Menschen.
Wir bitten Sie daher, Herr Präsident, Ihrer Autorität dafür einzusetzen, daß sofortige allgemeine Waffenruhe auf allen Fronten eintrete und uns die Möglichkeit geboten werde, auf einem allgemeinen Friedenskongreß in direkte Verhandlungen mit allen Nationen einzutreten, aus denen ein Friede hervorgehen soll der jeder Nation ihre volle Freiheit gibt und alle Nationen zu einem dauernden Friedensbund vereinigt.
Genehmigen Sie, Herr Präsident, den Ausdruck unserer vorzüglichsten Hochachtung.
Der Vollzugsausschuß der deutschösterreichischen Nationalversammlung.
Dinghofer Fink Seitz