N.N.: Die Rote Garde im Redaktionsgebäude der Neuen Freien Presse
N.N.: Die Rote Garde im Redaktionsgebäude der Neuen Freien Presse. (1918)
Wien, 12. November.
Heute Dienstag gegen 4 Uhr nachmittags sind Angehörige der Roten GardeDie R. G. war eine in Anlehnung an die bewaffneten bolschewistischen Arbeiterverbände der russischen Oktoberrevolution ... und vom Infanterieregiment Hoch- und Deutschmeister Nr. 4 im Redaktionsgebäude der „Neuen Freien Presse“ erschienen. Sie erklärten dem anwesenden Sekretär des Blattes, daß die „Neue Freie Presse“ unter der politischen Kontrolle der kommunistischen Partei erscheinen solle. Der Sekretär des Blattes fragte den Offizier, auf Grund welcher Berechtigung diese Verfügung getroffen wurde und ob er sich durch die Legitimation eines Vorgesetzten beglaubigen könnte. Der Offizier antwortete, daß er keine Legitimation habe und den Vorgesetzten heute noch nicht nennen könne. Der Sekretär verwahrte sich entschieden gegen die Maßregel, für die weder ein Rechtsgrund noch eine Beglaubigung des in Österreich regierenden Staatsrates, von dem die Sicherheit der Person und des Eigentums verbürgt worden ist, vorliege. Der Offizier antwortete, daß es sich allerdings um eine Maßregel der Gewalt handle.
Die Räumlichkeiten und die Treppen des Hauses wurden besetzt, ein Maschinengewehr wurde vor dem Haustor auf der Straße aufgestellt und eines im Hof postiert. Die Fichtegasse, wo sich das Redaktionsgebäude befindet, war gegen den Kolowratring und gegen den Beethovenpark von den Soldaten abgesperrt und nur Angehörige des Blattes durften passieren. Mit den Truppen waren auch Vertreter der kommunistischen Partei aus dem Zivilstande erschienen. Von Seiten des Staatsrates wurde eingegriffen und nach einigen Stunden war der Zwischenfall beendigt. Die Rote Garde hatte gleich nach dem Eintritt in das Haus verlangt, daß eine Extraausgabe über die Vorfälle beim Parlament veranstaltet werde, was unter entschiedener Verwahrung der Redaktion geschah. In einer zweiten Extraausgabe wurde mitgeteilt, daß die Partei durch ihre Anwesenheit in der „Neuen Freien Presse“ eine kommunistische Kundgebung habe veranstalten wollen, daß der ganze Vorgang nur demonstrative Zwecke gehabt habe und daß sich nach deren Erfüllung die Offiziere und die Truppen zurückziehen wollen.
Wir möchten an dieses Eindringen in unser Haus die Bemerkung knüpfen, daß die Achtung vor der Preßfreiheit die oberste Pflicht jeder Partei sei. Eine Demokratie, welche das Recht auf Urteil bedrücken und Meinungen verfolgen und sich der Kritik entziehen will, ist eine Verfälschung der wahren und echten Volksherrschaft. Auch während der Anwesenheit der Roten Garde in unserem Hause hatten wir die Überzeugung, daß in Deutschland nie die Zeit kommen werde, in der die Freiheit solcher Gewaltsamkeit ausgeliefert sein werde. Die vorliegende Nummer erscheint ohne jede fremde Kontrolle als freie Meinungsäußerung der Redaktion.