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Ann Tizia Leitich: Gasolin-Nomaden. Amerikanische Wandervögel im Automobil (1928)

Ann Tizia Leitich: Gasolin-Nomaden. Amerikanische Wandervögel im Automobil

            Sie waren mir schon neulich aufgefallen, auf dem herrlichen Chrystal Park Highway, der beständig steigenden Automobilstraße, die sich zwischen den Zinken der Rocky Mountains hindurchwindet. Und ich sah sie den nächsten Tag wieder auf dem Sky Line Drive, der das Raffinierteste ist, das Auto, Mac Adam und die Landschaft mitsammen ausgeheckt haben: eine Betonautostraße, die am Grat eines Bergzuges hinbalanciert und das Land links und rechts unter sich läßt wie ein Luftschiff. Immer fand ich sie hinflitzend neben den touristenbeladenen und doch behenden Autobussen.

            Fast sahen sie aus wie wandernde Zirkusleute: Wettergepeitscht die Wagen, staubbedeckt; rückwärts hatten sie, wenn es ging, einen Koffer aufgeschnallt und seitwärts auf dem Trittbrette waren große Segeltuchpakete verstaut. Manchmal sah dies sportmäßig genug aus; oft aber war die Packung nachlässig, Decken guckten heraus, Kochtöpfe, Tischbeine. Im Innern des Wagens – denn immer ist es ein geschlossener Car, weil es unter tausenden in Amerika kaum einen offenen Touringcar gibt – ein Gewirr von Köpfen: die ganze Familie ist auf der Reise. Wände und Fenster sind beklebt mit buntem Zettelwerk: „Willkommen in Zion National Park!“ „Laßt es euch wohlergehen in Mammoth Camp -“und noch andere Aufschriften. Ja, so weit waren sie schon herumgewesen; denn dies sind die „Tin-can“-Touristen (von tin-can = Konserve). Die Sage-Brusher oder, ins Deutsche übersetzt, die Gasolinnomaden, die Wandervögel im Automobil.

            Sie brauchen keine Eisenbahn, keine Hotels, keine Garage; die brauchen nichts als Gasolin; und Straßen. Mit beidem versorgt sie Onkel Sam – so nennt der Volksmund die USA. Denn die Gasolinstationen dringen in die einsamsten Gebirgsgegenden vor, so weit eben die Straße läuft. Und die läuft weit dahin und hoch hinauf. Es ist immer wieder ein Erlebnis für den Europäer, zu sehen, wie viel Hunderte und Tausende von Kilometern herrlicher makadamisierter Straßen es in Amerika gibt, nicht nur in der Umgebung von Industriezentren, sondern bis hinein in die gottvollste Wildnis. Manche folgen, gleich den Eisenbahnen, den alten Indianerwegen, den alten Kampwegen; „trails“ heißen sie im amerikanischen, wie jeder Karl-May-Leser weiß: Der Apache Trail, der Sunset Trail, der Uta Trail. Viele Millionen von Dollars geben die amerikanischen Staaten jährlich für die Straßen aus, denn je mehr ein Staat von sich hält, desto größeren Stolz setzt er in seine Straßen. Und jung wie sie sind, halten sie alle viel von sich.

            Indem sich die Straße dem Automobilisten zur Verfügung stellt, erschließt sie den Augen der Menge die gloriosesten, die mächtigsten Bilder der amerikanischen Landschaft. Es gibt solche, die da sagen werden: Entweihung! Vielleicht würden sie sich aber bedenken, wenn sie wüssten, daß auch sie anders als auf der Automobilstraße diese Schönheiten nie erreichen könnten, weil es zu kostspielig wäre, zu langwierig, zu umständlich, denn weder unsere Geduld, noch unsere Herzen sind die der alten Trapper und Pioniere. Und wer die Natur allein für sich haben will, hat mehr Gelegenheit denn je: ein paar Schritte weg von der Straße und er findet sie unberührt, ursprünglich und einsam.

            Die großartige Einsamkeit der amerikanischen Landschaft hat etwas Düsteres, manchmal sogar Fürchterliches. Drei Tage und drei Nächte westlich von Newyork gibt es nichts als lachende, langweilige weizen- und maisbebaute Ebenen. Aber hinter Denver in Kolorado, bis zum Pazifischen Ozean, entfaltet sich eine Herrlichkeit des Gebirges, eine Mannigfaltigkeit der Formen und Erscheinungen, eine Perlenreihe von großartigen Gegensätzen, wie sie Europa in dieser Vielfalt nicht aufzuweisen hat. Was sollen überhaupt vergleichende Worte: So sehr Vergleiche zwischen der amerikanischen Psyche und der europäischen immer hinken werden, so wenig läßt sich die amerikanische Landschaft mit Ausdrücken werten, die für die europäische gelten. An ihrer fürstlichen Einsamkeit vermögen auch Autos und Menschen nichts zu ändern; unberührt thront sie darüber; sie lädt nicht zum Verweilen.

            Vielleicht kommt daher die Ratlosigkeit – die allerdings ohne jeden philosophischen Beigeschmack ist – die dem Amerikaner im Blut sitzt; vielleicht ist deshalb Ford der reichste Mann der Welt; deshalb das sommerliche Amerika überschwemmt von diesen modernen Nomaden, den Tin-can-Touristen, die sich auf dem Vehikel der vielgeschmähten Mechanisierung eine ungeheure Natur zum zweitenmal erobern und in ihrer Hingegebenheit an die Köstlichkeit der „great open spaces“ sogar auf den vielbewitzelten Grundstein amerikanischer Zivilisation, das Badezimmer, verzichten. Sie interessierten mich, braungebrannt, abenteuerlustig, oft grotesk, wie sie waren. Ich ging hinzu, wenn sie kampierten, photographierte sie, kam ins Gespräch; wurde zu ihren improvisierten Mahlzeiten eingeladen. Denn das ist eine einfache Sache bei ihnen, für sie gehören alle zur Familie, denn alle tummeln sich auf demselben großen, herrlichen Spielplatz.

            Im Paradiestal Auto-Camp standen viele Hunderte – vielleicht waren es auch Tausende – von Cars auf einer Lichtung mitten im Hochwald, im Angesichte des vergletscherten Mount Rainier. Es war gegen Abend und es war kühl nach einem prachtvollen Sonnentag auf über 2000 Meter Höhe. Das Camp machte den Eindruck eines Feldlagers, eines Volksstammes auf der Wanderung. Männer und Frauen in Khaki-Knickerbockers und Blusen; manche der Frauen in einer beispiellosen Dreß-Melange: Knickers und Seidenbluse und darüber einen alten, halblangen Zibetkatzen-Pelzmantel. Das war „Mainstreet“ auf der Tour.

            Zelte wurden aufgeschlagen, Decken, Schlafsäcke aufgerollt, Tische, Stühle, Feldbetten aufgestellt. Manche der Autos blieben frei stehen, über andere wird die Hälfte des Zeltes gezogen, so daß Zelt und Auto ein Appartement für sich bilden. Der Kerosinofen wird instand gesetzt oder ein offenes Feuer entzündet; schon schlängelt sich blauer Rauch in die dünne, scharfe, herrlichstille Luft, zwischen den wettergepeitschten Kiefern empor; das frische Holz knistert und duftet; der Hund, der im Wagen mitkam, umwedelt die Kochkiste; die Kinder necken ein Murmeltier, das, offenbar zahm geworden durch die vielen Besucher des Sommers, ganz nahe ans Feuer herankommt; der Herr des Hauses – Verzeihung, des Automobils – schuppt eine große Seeforelle, die er, in hohen Kautschukstiefeln bis übers Knie im Wasser stehend, heute nachmittag gefangen hat. Fischen ist frei in allen Nationalparks, und dieses ist der Rainier National Park im Staate Washington. Seine Frau steht bei einem Baum mit einem Becken, sie dreht einen Hahn – fürwahr, es kommt Wasser aus dem Baum, denn der Brunnen ist eine der Gaben des Auto-Camps für seine Gäste; die Katze schleicht ihr nach, denn nicht einmal sie hat man zu Hause gelassen.

            Es ist ein junges Paar, das mich auf Forellen mit Rohscheiben und gebackenen Konservenbohnen eingeladen hat. Sie haben weder Kind noch Katze und Hund, aber dafür die smarteste Campausrüstung, alles Kahki, Aluminium und Rohr; wetterfest, leicht, zusammenklappbar; sie haben sogar einen Eiskasten und eine Badewanne. Sie sind keine Snobs, ganz im Gegenteil, es ist ihnen heiliger Ernst mit diesem Leben. Seit vier Monaten haben sie unter keinem Dach geschlafen, und als sie es das letztemal taten, war es in Phönix, Arizona, wo der Mann, der gelernter Mechaniker ist, vierzehn Tage lag arbeitete, um Geld für Gasolin zu haben, zwanzig Cent die Gallone. Denn viel anderes brauchen sie nicht. Ein Jahr lang sind sie schon so auf der Reise, Winters im Süden, Sommers im Norden, Fische und Beeren ihre Hauptnahrung.

            Während sie noch von den Plätzen erzählten, die sie gesehen hatten, und der junge Mann, an einer kurzen Pfeife nagte, in der weder Feuer noch Tabak war, die Flamme anheimelt prasselte und über den zackigen Silhouetten der nachtdunklen Kiefern die Kolossalfigur des Mount Rainier weißverschleiert wie ein Phantom im Mondlicht aufstieg, begann es plötzlich in die Stille hinein zu quiecken, zu quäcken, zu schnarren. Kein Zweifel, das war Jazz. Und schon stand auch die junge Frau in ihren Khaki-Knickers auf und sagte: „Karl, komm, gehen wir tanzen!“

            Tanzen? Sie hatte wahrhaftig recht. Am anderen Ende des Camps stand das „Community House“, eine Halle aus Balken. Hier gab es Schaukelstühle, ein paar Zeitungen, ein Grammophon. Und die Jugend tanzte. Und Damenwahl und Herrenwahl war ganz unkonventionell. Das Community House gehörte allen sowie das Camp, und es war da, damit man einander kennen lerne. Diese jungen, gebräunten, gesunden Leute zu sehen, die sich hier zusammenfanden – es versöhnte einen fast mit dem Kreischen des Jazz im Angesichte der weißen Majestät Mount Rainiers.

In: Neue Freie Presse, 12.1.1928, S. 1-2.