Hermann Bahr: Amerika, du hast es besser! 

Hermann Bahr: Amerika, du hast es besser! (1921)

Gern wird der Goethespruch zitiert: 

Amerika, du hast es besser
Als unser Kontinent, das alte, 
Hast keine verfallene Schlösser
Und keine Basalte.
Dich stört nicht im Innern
Zu lebendiger Zeit
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit. 
Benutzt die Gegenwart mit Glück!
Und wenn nun eure Kinder dichten,
Bewahre sie ein gut Geschick
Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten.

Aber klingts nicht eigentlich höchst seltsam und befremdend in Goethes Mund gerade, des allem Vulkanischen abgesinnten, nur ‚ruhiger Bildung‘ vertrauenden, im Grunde stets bedächtig konservativen Mannes, der nicht aufhört, allem ‚Sansculottischen‘ ingrimmig zu widerstreben und der Überhebung spottet, die so gern, ‚ganz original‘ und ‚Autochtone‘ wäre, nicht ahnend, daß jeder, wer es auch sei, doch immer, wie er sich auch wehren mag, selber auch schon ‚Überlieferung‘ ist? Der alte Herr, sonst so feierlich, sich den Forderungen „lebendiger Zeit“ leidenschaftlich unwirsch verschließend, selber „unnützes Erinnern“ mit zur Vergangenheit abgewendeter Andacht ehrfürchtig hegend, wie kommt er auf einmal zu so jugendlich dreist auf die Gegenwart dringender Vermessenheit, wenn er sie freilich gleich selber, wie vor den eigenen Worten, bevor sie noch ganz ausgesprochen, erschreckend, schon halb wieder zurücknimmt, indem er sie, sich zu den „Kindern“ wendend, bloß auf das „Dichten“ einzuschränken scheint?

Er kam dazu durch Nachsinnen über „wunderbare Verhältnis des inneren produktiven Sinns zu dem praktisch äußeren Tun“: der Dichter, der sich, nach unmittelbarem Ausdruck seiner Erinnerung ringend, dabei fortwährend durch „unnützes Erinnern“ an Überlieferung gestört fühlt, indem ihm Überlieferung Fremdes in sein Eigenes mischt, der Dichter ist es, der in dieser Qual aufschreit, und mit den „Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten“, vor denen er die Kinder beim Dichten durch ein gut Geschick bewahrt wissen möchte, meint er, was wir höflicher die „literarische Tradition“ zu nennen gewohnt sind. 

Zwar als Einfall, als erster Gedanke, taucht der Neid auf, Amerika, das es so viel besser hat als das abendliche Geschlecht von Erben, schon acht Jahre vor dem Gedicht auf. Im Nachlasse Goethes ist ein Foliobogen gefunden worden, überschrieben „Aufblühender Vulkanismus“, datiert vom September 1819, da hat er notiert: „Eines verjährten Neptunisten Schlußbekenntnis.  Abschied von der Geologie….Nordamerikaner glücklich, keine Basalte zu haben, keine Ahnen und keinen klassischen Boden“; er hätte das eigentlich auch nennen können: Eines verjährten Klassizisten Schlußbekenntnis! Aber zunächst blieb das noch jahrelang ein bloßes Aperçu, zum Gedicht ward’s ihm erst 1827, da fälltes im Briefwechsel mit Zelter auf einmal gereift vom Baume seiner künstlerischen Erkenntnis. Dieser Briefwechsel ist ja überhaupt ein einziges langes Zwiegespräch von der Kunst, in das nur immer wieder Tageswünsche, Tagessorgen wunderlich hineinrufen. Um jene Zeit ist eben Georg Zelter der letzte Sohn des tapferen Musikanten, gestorben, und den Vater bohrt der Schmerz noch tiefer ins Studium der griechischen Tragiker, er liest hintereinander die beiden Ödipus des Äschylos Sieben vor Theben und Antigone, die Schutzflehenden und den Agamemnon, liest dazu noch auch den Aristoteles wieder und, vielleicht selber im Stillen verwundert über die nie versagende tröstende Kraft der Alten, ruft er dann aus: In Summa (wenn ich dich und mich selber verstehe), aller Zweck der Kunst ist die Kunst selber, so auch das Kunstwerk.“ Und als Kommentar zu diesem so bedenklich artistisch klingenden Satz gibt ihm nun Goethe die Antwort: „Ich sagte neulich: Il faut croire à la simplicité, zu deutsch: Man muß an die Einfalt, an das Einfache, an das urständig Produktive glauben, wenn man den rechten Weg gewinnen will. Dieses ist aber nicht jedem gegeben: Wir werden in einem künstlichen Zustande geboren und es ist durchaus leichter, diesen immer mehr zu bekünsteln, als zu dem Einfachen zurückzukehren.“ Das faßt Zelter hinwieder sogleich in der vollen Bedeutung auf und erläutert, was Goethe allgemein aussprach, nun an einem besonderen Fall, an // seinem geliebten Johann Sebastian Bach, dessen „Originalität“, so bewundernswert in ihrer unerforschlichen Fülle, dennoch habe „dem Einflusse der Franzosen, namentlich des Couperin, nicht entgehen können“. Das Thema des „unnützen Erinnerns“ ist damit angeschlagen […]

Hat es denn nun aber Amerika wirklich besser?

Was Goethe damals an Amerika besang, davon hat es damals selbst noch lange keinen Gebrauch gemacht: denn Walt Whitman war ja damals erst ein Bub von acht Jahren und bis zu seinen Leaves of grass, die 1855 erschienen, hat Amerika ganz einfach unserem Kontinent, dem alten, nur immer schön brav nachgedichtet und seine Kinder blieben keineswegs durch ein gut Geschick bewahrt vor Ritter-, Räuber und Gespenstergeschichten, denn bis zu en Leaves of grass war alle Dichtung Amerikas nichts als aufgewärmtes Englisch, von ergreifender Schönheit zuweilen, doch ohne jeden Hauch des „urständig Produktiven“, im Grunde durchaus nur aufgeschwappte Diktion Englands und überhaupt bloß englischer Schaum ohne jeden eigenen Gehalt, ohne Spur eines amerikanischen Grundelements. Dieses fuhr erst aus jenem gewaltigen

One’s Self I sing – a single separate Person
Yet utter the word Democratic, the word En masse,

mit dem die Leaves of grass anheben, aus jenem zu den Sternen aufjauchzenden Ausbruch: 

Of Life immens in passion, pulse and power, 
Cheerful – for freest action form’d, under the laws divine,
The Modern Man I sing

mit einem solchen Donnerschlag in die Welt, daß man meinen möchte, Goethe selbst in seinem merlinisch leuchtenden Grab müsse noch freudig erschreckter erstaunend aufgehorcht haben, denn einen Urlaut des urständig Produktiven von solcher Urgewalt hatte ja das Abendland seit den Zeiten des Volksepos nicht mehr vernommen. Welchen Gebrauch aber hat Amerika selber von Walt Whiteman gemacht? 

Zunächst eigentlich gar keinen. Emerson, der freilich dieses „Ungetüm, ein Ungetüm von nie gesehener Art,mit schrecklichen Augen und Büffelkraft, aber unleugbar ameri-// kanisch“ sogleich in seiner ungeheuren Schönheit erkannte, wurde daheim kaum gehört, und nur unter dem Druck der wachsenden Bewunderung in England entschloß sich Amerika, seinem ersten Dichter schließlich wenigstens ein grandioses Leichenbegängnis zu bereiten. Dann aber blieb es lange drüben wieder still, während in England, Frankreich und Deutschland Macht und Ruhm der »Grashalme« mit jedem Jahre mehr verlauteten. In England warben so mächtige Fürsprecher wie Rosetti, Swinburne und Buchanan für ihn, den Deutschen ward er 1868 durch einen schallenden Ruf Freiligraths in der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ bekannt, die erste deutsche Übersetzung der Grashalme erschien freilich erst 1889 bei dem guten alten Schabelitz in  Zürich, der Hebamme jeder literarischen Verwegenheit um jene Zeit, und ebenso seit den achtziger Jahren wirkt Whitman auch auf Frankreich, ein Franzose ists, Léon Bazalgette, dem wir das tiefste Buch über Whitman verdanken: der erste Teil, Walt Whitman, L’homme et soin Œuvre, ist schon 1908, der zweite, ,Le Poème Evangile de Walt Whitman, eben jetzt erschienen, beide im Verlag des Mercure de France.  War aber in Amerika selbst keine Wirkung Walts vernehmlich? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß, als ich vor bald zwanzig Jahren in einer rheinischen Stadt über Whitman sprach, nach meinem Vortrag eine junge Amerikanerin von rauschender Schönheit und heute noch in meiner Erinnerung fortleuchtenden Augen auf mich los stürzte, stürmisch begeistert, mir enthusiastisch dankend, dann aber auf einmal zutraulich treuherzig fragend, ob es denn. eigentlich diesen Dichter auch ,,wirklich« gegeben, ob er nicht bloß von mir erfunden, denn sie habe daheim den Namen noch nie gehört, und es könnte ja sein, daß ich mir nur einen Spaß gemacht und ein lustiger »Swindler«, oh, ein sehr angenehmer!, wäre.

Von Whitman vernahm die Welt zum erstenmal den Urlaut Amerikas (denn Edgar Poe war von einer Höhe der Einsamkeit, in der jede Spur der eigenen Zeit wie des eigenen Stammes verlischt, sozusagen das absolute Nichtsalsgenie, fast unheimlich in seiner völligen Isoliertheit von allen zeitlichen wie persönlichen Zügen), von Whitman empfing Amerika sich selbst, mit den Leaves of grass ward die Dichtung Amerikas geboren, es konnte jetzt eine Kunst ohne jeden „Schaum“, von allen Einwirkungen fremder „Diktion“ frei, nirgends  „bekünstelt“, in unschuldiger Selbstherrlichkeit erwachsen. Ist sie’s? Aus unserer Ferne läßt sich jedenfalls keine gewahren. Die sichtlichen Dichter der Völker sind allerdings ja nicht immer die wahrhaftigen; diese kommen oft erst lange nach ihrer Zeit zum Vorschein, sie sind ihr zu weit voraus: wieviel wissen denn heute, ob in fünfzig Jahren Brezina der größte Dichter unserer Zeit sein wird? Unter den sichtlichen Dichtern Amerikas von heute, die Claire Goll uns jetzt in ihrer Anthologie jüngster amerikanischer Lyrik Die neue Welt (S. Fischer Verlag, Berlin, 1921) bringt, fand ich keinen, der bewiese, daß es Amerika wirklich besser hat. Man spürt freilich die Wirkung Whitmans sehr, aber so sehr, daß nun auch aus ihr wieder nur ein „Schaum“, eine bald jedermann geläufige „Diktion“ wird, und wenn sie sich mit Whitman „bekünsteln“, ist das Natur?, wenn man ihnen den Zwang, den sein gewaltiges Vorbild ausübt, anmerkt, ist das Freiheit? Und man wird sehr nachdenklich, wenn man bemerkt, daß die schönsten Stücke dieser Sammlung Volkslieder von Indianern sind: sie schlagen an Unmittelbarkeit der Eingebung und an Gewalt des Ausdrucks alle Künste der „gebildeten“ Dichter, und wo von diesen einer einmal einen bezwingenden Ton hat, stellt sich heraus, daß es im Grunde der Ton Whitmans oder von Indianern ist. „Die heiligen Lieder,“ erzählt Claire Goll von den Indianern „darf nur der singen, dem sie von Geistern mitgeteilt wurden.“ Ja das wär’s eben offenbar! Aber in Ländern mit Literaturen, scheint’s, teilen die Geister nichts mehr mit, die Geister verstummen und darin hat es jetzt auch Amerika nicht mehr besser!

In: Neue Freie Presse, 4.12.1921, S. 1-3.