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Karl Maria Grimme: Die Kunst in unserer Zeit

Karl Maria Grimme: Die Kunst in unserer Zeit (1930)

                           Zur derzeitigen Ausstellung im Wiener Künstlerhaus

             Wir können uns die Tatsache, nicht verhehlen, daß die bildende Kunst heute im Bewußtsein der Allgemeinheit nur von geringer Bedeutung ist. Fragen der Kunst berühren innerlich nur einen sehr kleinen Kreis von Menschen, sie belangen nur die Künstler selbst und ein paar ästhetisch Orientierte. Darüber hinaus aber erfassen Malerei und Plastik nicht einmal jene, die wirklich an der Gestaltung des Heute mitarbeiten und somit der Welt etwas bedeuten, geschweige denn, daß sie die breiten Schichten des Volkes in ihren Bann ziehen würden.

Betrachten wir dagegen die Baukunst, so bietet sich ein völlig verändertes Bild. Die Baukunst ist heute ebenso revolutionär, wie es Malerei und Plastik sind, und dennoch hat sie sich durchgesetzt. Von konservativem Festhalten am Überkommenen ist gar keine Rede, wo immer bei uns gebaut wird, ob von Gemeinden oder Privaten, geschieht es im modernen Geist, es fällt niemandem mehr ein, alte Stile zu kopieren. Darüber hinaus aber setzen sich die Prinzipien zeitgemäßen Formgestaltens auch auf allen anderen Gebieten durch. Es kann nur noch ganz wenige Jahre dauern und fast niemand wird sich mehr Stilmöbel anschaffen; schon heute ist dieser Zustand nahezu erreicht. Und betrachten wir die Einrichtungen öffentlicher Lokale, betrachten wir selbst nur die oft verblüffend kühnen. Umbauten von Geschäftsläden, so finden wir, daß man sie sich oftmals gar nicht besser wünschen kann. Die Auftraggeber dieser Architekten sind aber Menschen, die selbst nicht die mindesten künstlerischen Bedürfnisse besitzen, geschweige denn, daß sie bestrebt wären, für ihre Person bewußt mitzuhelfen, den modernen Stil durchzusetzen. Es ist auf diesen Gebieten heute einfach eine Selbstverständlichkeit, nicht mehr vergangenen Zeiten nachzuäffen. Die Arbeiten des modernen Architekten sind also tief im Heute verwurzelt, sein Schaffen ist für die Allgemeinheit tatsächlich eine Notwendigkeit.

Ähnlich steht es um die Erzeugnisse der Technik. Vom Auto, vom Flugzeug kann man heute schon behaupten, daß ihnen hohe ästhetische Reize eignen. Verfolgt man aber auch den Entwicklungsgang anderer technischer Gegenstände, es braucht selbst nur ein Hängelager oder ein Motorzünder zu sein, es ist erst gar nicht nötig, auf die Turbinen oder Lokomotiven zu verweisen, so erkennen wir, daß auch sie nicht nur reine Zweckgegenstände sind, sondern daß ihre Zweckform so gebildet ist, daß sie ästhetischer Wirkungen fähig wird. Dabei verdanken sie aber diese Formen nicht so sehr der Absicht des Entwerfers, stilreinigend zu wirken, sondern vor allem der Erfahrung, daß die ästhetisch ansprechende, formklar gebaute Maschine bei gleicher Leistungsfähigkeit leichter verkauft wird als eine unschöne Maschine. Praktische Erwägungen führen zu einer wertvollen Formgestaltung, das aber zeigt, daß hier ästhetisch hochgrädiges Schaffen ein wirkliches Erfordernis der Zeit darstellt.

Wir sehen also, künstlerische Werte sind für die Allgemeinheit in der Baukunst und in den technischen Erzeugnissen eine Notwendigkeit, auf diesen Gebieten sind sie lebenskräftig, während sie den meisten Menschen in der Malerei und in der Plastik nichts bedeuten. Es drängte sich daher vielen die Vermutung auf – auch so mancher Maler wird durch die bestehenden Verhältnisse in diese Gedankenrichtungen gezwängt – die Vermutung, daß Malerei und Plastik absterbende Künste seien, die für den geistigen Haushalt der Menschen langsam jede Bedeutung verlieren. Diesen Schluß gerade in der heutigen Zeit zu ziehen, hat nun tatsächlich eine gewisse Berechtigung. Wir dürfen ja nicht vergessen, daß wir möglicherweise am einer Weltenwende stehen, wie sie es in der Weltgeschichte noch nicht gegeben hat. Was diese Wende bewirkt, ist die Technik. Sie hat in den letzten Jahrzehnten das Leben jedes einzelnen, sie hat das Gesicht unserer Erde von Grund auf verwandelt, mehr verwandelt, als es je in früheren Zeiten Kriegen, Entdeckungen oder Erfindungen gelang. Eine Umwälzung von solch außerordentlicher Gewalt muß aber genau so auch alle unsere Beziehungen zu den geistigen Gütern umstürzen. Noch wissen wir nicht, was abfällt, was bleibt. Noch wissen wir nicht, wie diese neue Zeit aussehen wird, die vielleicht die Menschheitsgeschichte in eine zweite Phase drängt. Man könnte nun auf Grund der vorhandenen Anzeichen zu dem Schluß kommen, daß sich schöpferisches künstlerisches Gestalten in Zukunft auf anderen Gebieten ausspreche, daß es sich von der Malerei und Plastik abwende, um seine Betätigung vor allem in Zweckgegenständen, in Bauwerken und technischen Erzeugnissen zu finden. Ist schon heute die Technik, wie wir gesehen haben, nicht mehr lediglich eine Zivilisationserscheinung, so würde die Zukunft nahezu ausschließlich im Zeichen einer technischen Kultur liegen. So zwingend nun auch diese Vermutungen derzeit auf Grund der vorliegenden Anzeichen erscheinen mögen, so ist dies aber doch – so weit es Malerei und Plastik betrifft – kaum anzunehmen.

Dies darzulegen kann allerdings nicht Aufgabe dieser Zeilen sein, mancher wird auch sagen, daß hier bindende Schlußfolgerungen heute noch keine Berechtigung haben. Wie dem auch sei, wesentlich ist, daß wir überhaupt einmal diese Dinge in Betracht ziehen, daß wir wenigstens beginnen, uns mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Wir können nicht weiter den Kopf in den Sand stecken. Wir können nicht im Kunstleben ein Als-ob an Stelle von Tatsachen setzen, wir können nicht so tun, als nähme die bildende Kunst noch immer jene bevorzugte Stellung ein, die ihr einst zukam. Sonst spielt die Kunst die Rolle jenes vertriebenen Königs, der sich noch im Exil täglich mit Krone und Zepter auf einen Thronsessel setzt. Dazu ist uns aber die bildende Kunst wahrhaft zu gut. Und mit dem Jammern darüber, daß diese bösen Menschen eben so gar nicht einsehen wollen, welche Glücksgüter ihnen an der bildenden Kunst verloren gehen, ist natürlich gar nichts gemacht. Wir müssen der neuen Zeit die Tore öffnen, und je früher wir dann erkennen, was da kommen will, desto besser ist es.

Nun, der entscheidende Anfang zu dieser Auseinandersetzung geht diesmal von Wien aus. Hofrat Dr. Hans Tietze hat zusammen mit der Gesellschaft zur Förderung moderner Kunst eben jetzt im Wiener Künstlerhaus eine Ausstellung veranstaltet, der es gar nicht darauf ankommt, wieder und wieder einmal Bilder zu zeigen, trotzdem wir hier eine Auswahl der bedeutendsten europäischen Werke der letzten Jahrzehnte versammelt finden. Tietze ist es an Hand dieses Materials viel mehr darum zu tun, Kunst einmal ganz unkünstlerisch auf den Besucher wirken zu lassen, indem er aufzeigt, daß die Kunst vor allem auch allgemein-geistige Inhalte habe. Man soll also in dieser Ausstellung nicht so sehr bewerten, ob ein Bild gut oder schlecht sei, ob das vom Künstler Erstrebte wirklich erreicht wurde, man braucht also von Kunst gar nichts zu verstehen, sondern man soll vor allem den Künstler als Träger außerkünstlerischer Ideen und Strebungen auf sich wirken lassen. Die Bilder werden somit nach Gruppen geordnet, die ihren wesentlichen Inhalt kennzeichnen. Die eine Abteilung zeigt den Künstler als Gestalter übersinnlicher Erlebnisse, die nächste seine Einstellung zur Umwelt, eine dritte weist auf die sozialen Tendenzen einzelner Maler und Graphiker. Neben Gruppen, die in außerordentlich anschaulicher Weise die zeitgeschichtliche Entwicklung der Kunst in den letzten Jahrzehnten dartun, interessiert dann vor allem jene Abteilung, die das Formbilden unserer Zeit auf allen anderen Gebieten, im Fabriks- und Maschinenbau, in der Inneneinrichtung und im Kunstgewerbe, in den technischen Erzeugnissen und selbst in der Mode darlegt. Hier spricht sich ja die Gegenwart am deutlichsten aus.

Wie von Scheinwerfern beleuchtet, zeigt also diese Ausstellung, daß die heutige Kunst tatsächlich Inhalte besitzt, die den Menschen von heute auch dann belangen, wenn er nichts von Kunst an sich versteht. Das ist das unerhört Mutige, das Bahnbrechende. Kunst verbleibt damit nicht mehr auf ihrer fernen Insel der Träume, die aus innerster Nötigung aufzusuchen fast niemand mehr das Verlangen trägt, sondern sie greift ein in das lebendige Leben der Gegenwart. Sie verlangt nicht, daß man ihr nur auf den Zehenspitzen nahe, sie will nicht von Weihrauchfässern umräuchert, sie will nicht anbetend verehrt werden, sondern sie verlangt nur, daß man ihre Stimme höre. Sie zeigt, daß sie jedem etwas zu sagen hat.

Mit dieser Ausstellung Tietzes wird also die Kunst dem Interessenkreis der Allgemeinheit wieder näher gerückt. Die Auseinandersetzung kann beginnen.

In: Die Moderne Welt, H. 15 (1930), S. 14-15.