Max Adler: Die Aufgaben der marxistischen Arbeiterbildung

Aus einem Vortrag, gehalten auf der Landestagung der Arbeiterbildungsausschüsse Sachsens in Dresden am 12. und 13. Mai 1926. Der Vortrag erschien vor kurzem als Broschüre im Verlag des sächsischen Landesausschusses für sozialistische Bildungsarbeit. – In Österreich ist die kleine Schrift durch die Wiener Volksbuchhandlung, Wien VI, Gumpendorferstraße18, zu beziehen. [Anm. d. Red.]

Arbeiterbildung muß gesellschaftliches Wissen sein

            Die Arbeiterbildung hat seit jeher ein Hauptinteresse der sozialistischen Arbeiterbildung ausgemacht, ja man kann sagen, daß die Entwicklung des Sozialismus als proletarische Massenbewegung zusammenfällt mit dem Streben des Proletariats, sich aus eigener Kraft zur geistigen Selbständigkeit und Höherbildung zu entfalten. Und daher gehören ja auch die Arbeiterbildungsvereine überall zu den ältesten Organsationen des sozialistischen Proletariats.

            Hiebei tritt aber gleich von allem Anfang an ein bemerkenswerter Umstand hervor, welcher den Bestrebungen der Arbeiterbildung ihren besonderen Charakter gibt und sie sofort scharf von der bloß bürgerlichen Aufklärung und Volksbildung unterscheidet. Es handelt sich nämlich bei den Bildungsbestrebungen des Proletariats überall nicht bloß um die Ergänzung der nur allzu kärglichen Schulbildung, also nicht bloß um die Ausbildung oder Fortbildung in den allgemeinen Schulfächern, sondern gerade um das, was in dem traditionellen Schulunterricht nicht bloß der Volks-, sondern auch der höheren Schulen gar nicht gelehrt wird. Der gesamte traditionelle und offizielle Unterricht kennt bisher die Wissenschaft lediglich als Naturwissenschaft. Und so ist die wissenschaftliche Bildung, die er vermittelt, auch im wesentlichen eine bloß naturwissenschaftliche. Nur die Gesetze des Naturgeschehens kommen als wissenschaftliche Lehren in Betracht; daß es aber auch Naturgesetze des gesellschaftlichen Lebens und des geschichtlichen Werdens und Vergehens gibt, davon ist in dem bürgerlichen Schulunterricht keine Rede. Gerade aber die Sozialwissenschaft interessiert den Arbeiter am meisten. Denn wenn auch die Gesetze, nach welchen die Körper zu Boden fallen, natürlich auch für den Proletarier interessant und wichtig sind, weil sich auf deren Kenntnis erst das Verständnis der Natur und der menschlichen Technik aufbaut, so knüpft doch noch ein viel tieferes Interesse, nämlich das Interesse seines Lebensschicksals, an die Erkenntnis jener Gesetze, welche die Gestaltung der Gesellschaft und ihre notwendige Entwicklung in die Zukunft bestimmen. Die Arbeiterbildung ist daher von allem Anfang an mehr als bloße naturwissenschaftliche oder geographisch-geschichtliche oder ästhetisch-literarische Bildung gewesen. Sie ist vor allem auf die Erkenntnis der gesellschaftlichen Welt, in der das Proletariat lebt, gerichtet gewesen und hat in erster Linie nach sozialwissenschaftlicher Vertiefung gestrebt. Und sie konnte das, weil die großen Begründer des modernen Sozialismus, Marx und Engels, zugleich auch die großen Schöpfer der modernen Sozialwissenschaft geworden sind. Denn der eigentliche Sinn und das eigentliche Ziel der wissenschaftlichen Arbeiten von Marx und Engels ist die Erforschung der Gesetze des gesellschaftlichen Lebens und seiner Entwicklung. Dies führte in spezieller Anwendung auf die heutige Form der Gesellschaft, das heißt auf die kapitalistische Gesellschaft, zur sozialwissenschaftlichen Darlegung des Wesens der kapitalistischen Wirtschaft und ihrer notwendigen Entwicklung zur sozialistischen Gesellschaft.

So ist die Arbeiterbildung im Sinne der sozialwissenschaftlichen Aufklärung und Schulung zu einer Hauptgrundlage des modernen Sozialismus geworden, und mit vollem Rechte haben Marx und Engels diesen daher den wissenschaftlichen Sozialismus genannt. Damit ist zum Ausdruck gebracht, daß einer der Hauptfaktoren der revolutionären Einstellung des Proletariats  gegen die bürgerlich-kapitalistische und nicht bloß die gefühlsmäßige Auflehnung gegen die ökonomische Ausbeutung und politische Unterdrückung ist, sondern ebenso auch die wissenschaftliche Erkenntnis der notwendigen Mängel und Widersprüche der bürgerlischen Gesellschaft sowie der Mittel ihrer Überwindung. Und daher kommt es, daß die Bildungsorganisationen des Proletariats nicht geringere Mittel seines revolutionären Klassenkampfes sind als die politischen, gewerkschaftlichen und genossenschaftlichen Organisationen. Ja man darf sagen, daß in der gegenwärtigen Lage des Sozialismus die Bedeutung der Bildungsorganisationen immer mehr anwächst und gar nicht hoch genug veranschlagt werden kann.

Deshalb ergibt sich als dringendste Forderung des Tages die marxistische Bildung der Arbeiterklasse zu vertiefen und zu verbreiten. Das ist also die erste große Aufgabe der marxistischen Arbeiterbildung, den Proletarier  in den wissenschaftlichen Geist des Sozialismus einzuführen, hiedurch das proletarische Denken über die eigentlichen Interessen und Ziele der Proletariats  aufzuklären und das proletarische Fühlen zu stärken und damit das revolutionäre Klassenbewußtsein in der Arbeiterschaft allgemein zu machen.

Klassenkampf ist Kulturentwicklung

Es wird eine der großen Aufgaben der marxistischen Arbeiterbildung sein, den weitverbreiteten Vorwurf von Kulturlosigkeit, ja Kulturwidrigkeit des Klassenkampfes als das zu erweisen, was er wirklich ist, ein durchaus bürgerliches Vorurteil und Unverständnis. Freilich, wenn man sich unter Klassenkampf nichts anderes vorstellen mag als bloßes Toben und Wüten gewalttätiger Durchsetzung von Klasseninteressen, bei dem nur der Zufall der brutalen Übermacht entscheidet, dann ist es kein Wunder, daß bei einer solchen Anschauung der Klassenkampf als etwas durchaus Kulturfeindliches erscheinen muß. Aber diese Anschauung ist vom Standpunkt des Marxismus aus einfach lächerlich. Sie haftet bloß an der oberflächlichen Außenseite des Klassenkampfes, die allerdings noch zumeist den Mantel der Gewalt getragen hat.

Aber trotz dieser Unvermeidlichkeit von Gewalt im Klassenkampf bleibt der Klassenkampf selbst doch in seinem Wesen etwas durchaus Geistiges. Es handelt sich in erster Linie bei ihm um einen Bewußtseinsumwälzung bei den Menschen der aufsteigenden Klasse, es handelt sich darum, daß sie zum Träger einer neuen Gesellschaftsordnung, eines neuen gesellschaftlich-moralischen Prinzips werden, wo wie dies bereits ein anderer großer Lehrer des Proletariats, Ferdinand Lassalle, als das eigentliche Wesen der Revolution geschildert hat. Denn Revolution und revolutionärer Klassenkampf bedeuten nicht, wie Lassalle gespottet hat, die Spießbürgervorstellung von Barrikaden, Guillotine und an die Laterne geknüpften Gegnern, sondern diese Worte bedeuten den Einzug eines neuen Prinzips in die Köpfe und Herzen der Menschen , durch welches die alten  Vorstellungen und Zustände von Grund aus verändert werden. So betrachtet und so verstanden – er kann aber gar nicht anders richtig verstanden werden – , verliert also der Klassenkampf ganz und gar seinen brutalen und ungeistigen, ja kulturwidrigen Anschein. Er wird vielmehr jetzt ein Stück ringender Kulturentwicklung selbst und dabei zu einer Gewähr eines sicheren Fortschritts in der Geschichte.

Der proletarische Klassenkampf muß revolutionär sein

Diese Auffassung vom Klassenkampf in den Gemütern des Proletariats lebendig zu machen, wird eine Hauptaufgabe der marxistischen Arbeiterbildung sein. Sie muß die Erkenntnis verbreiten, daß der Klassenkampf ein revolutionärer sein muß, sie muß das Klassenbewußtsein des Proletariats zu einem revolutionären  Bewußtsein ausgestalten. Denn auch das ist wichtig: Nicht schon jeder Klassenkampf des Proletariats, nicht schon jede energische Vertretung seiner Klasseninteressen ist revolutionärer Klassenkampf. Revolutionär wird er erst, wenn eben jenes neue Gefühl des Denkens und Fühlens, von dem Lassalle sprach, also ein neuer Geist des Kampf des Proletariats beherrscht, welcher mit allen den Einrichtungen und Vorstellungen des alten kapitalistischen Welt von Grund aus brechen will.

Der Proletarier, der von solchem revolutionären Geiste durchdrungen ist, der ist selbst bereits innerlich von der alten Gesellschaft losgelöst, in der er äußerlich noch leben muß, er ist ein neuer Mensch geworden, der die alte Gesellschaft haßt und nicht ruhen kann, bis sie vernichtet ist. So bedeutet der Klassenkampf im marxistischen Sinn erst dann etwas Revolutionäres, wenn nicht bloß für die Besserung der Klassenlage des Proletariats gekämpft wird, sondern für die Beseitigung derselben. Und die Freiheitsbewegung des Proletariats beginnt nicht schon dort, wo bloß um politische und gewerkschaftliche Freiheiten gekämpft wird, sondern erst, wo darüber hinaus die Befreiung von dem Joche der Klassengesellschaft und der Aufbau einer neuen sozialistischen Welt erstrebt wird. Den Sinn für diese neue Gesellschaft in den Proletariermassen zu verbreiten, die geistigen und moralischen Energien  in ihnen zu wecken und zu fördern, welche notwendig sind, um das Alte zu überwinden und das Neue aufzubauen, das macht das innerste Wesen des revolutionären Klassenkampfes aus. Er ist, wie wir jetzt zusammenfassend sagen können, der stete Erneuerer der menschlichen Gesellschaft, weil er immer wieder die neuen Menschen schafft, welche die Gesellschaft erneuern wollen und müssen.

Die marxistische Arbeiterbildung schafft neue Menschen

Wenn wir alle die großen Aufgaben der marxistischen Arbeiterbildung in einen Gedanken zusammenfassen wollen, so ergibt sich dafür kein besserer und hinreißenderer Ausdruck als der, den der junge Marx für sein eigenes revolutionäres Gedankenwerk gefunden hat: „Reform des Bewußtseins.“ Schon am Anfang seiner gewaltigen Geistesarbeit schrieb er es nieder, daß das, was uns bitter not tue, eine Reform unseres Bewußtseins sei, das heißt, die Arbeiterklasse müsse sich ein neues Bewußtsein verschaffen, zu welchem sie durch die Erkenntnis von der Gesellschaft und den Gesetzen ihrer Entwicklung gelangen werde. Diese Erkenntnis wird, davon war Marx fest überzeugt, in den Arbeiterköpfen kein totes Wissen bleiben, sondern sich notwendig in zielbewußte, befreiende Tat umsetzen müssen. Eine solche Erkenntnis zu verbreiten und eine solche Tat mögliche zu machen, die kein zufriedenes Ausruhen gestattet auf dem Schatz erworbenen Wissens, sondern unablässig hinaustreibt, die gesellschaftlichen Konsequenzen  dieses Wissens zu ziehen und mit Entschlossenheit zu verwirklichen. Diese Konsequenzen führen zum Sozialismus. Und so wird das Licht des Marxismus nicht nur in unseren Köpfen die Helligkeit verbreiten, die jede Wissenschaft erzeugt, es wird auch in unseren Herzen das Feuer der Begeisterung erwecken und die Kraft entzünden, die immer unwiderstehlicher die alte Gesellschaft hinwegfegen und die neue heraufsteigen lassen wird.

In: Bildungsarbeit, Nr. 1 (Jänner) 1927, S. 1-3.

An das Proletariat Ungarns!

Genossen und Genossinnen!

Zur Sitzung des Reichsvollzugsausschusses der Arbeiterräte Deutschösterreichs versammelt, erreicht uns euer Aufruf: An alle!

Ihr habt die Staatsgewalt in eure Hand genommen, dem Imperialismus der Entente  die Unerschrockenheit und Kampfbegeisterung des geeinigten ungarischen Proletariats  entgegengestellt. Mit euch sind wir der Meinung, daß heute, nach dem Zusammenbruch des deutschen und österreichisch-ungarischen Imperialismus, der Hauptfeind der imperialistische Sieger ist [fett = gesperrt gedr. im Orig]. Die Konferenz der Sieger in Paris soll, wenn sie ganze Völker vergewaltigen und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen beugen will, auf den entschlossenen Widerstand der Arbeiter stoßen.

Ihr an uns den Ruf gerichtet, eurem Beispiel zu folgen. Wir täten es vom Herzen gern, aber zur Stunde können wir das leider nicht. In unserem Lande sind keine Lebensmittel mehr. Selbst unsere karge Brotversorgung beruht nur auf den Lebensmittelzügen, die die Entente uns schickt. Wenn wir heute eurem Rate folgen würden, dann würde uns der Entente-Kapitalismus mit grausamer Unerbittlichkeit die letzte Zufuhr abschneiden, uns der Hungerkatastrophe preisgeben. Wir sind überzeugt davon, daß die russische Räterepublik nichts unversucht lassen würde, uns zu helfen. Aber ehe sie uns helfen könnte, wären wir verhungert. Wir sind daher in einer noch wesentlich schwierigeren Lage als ihr. Unsere Abhängigkeit von der Entente ist eine vollständige.

Wohl aber ist es unsere heilige Pflicht, für alle Fälle gerüstet zu sein. Darum hat die Reichskonferenz unserer Arbeiterräte von drei Wochen den Ausbau der Räteorganisation beschlossen. Wir haben an das arbeitende Volk den Appell gerichtet, überall Arbeiterräte einzusetzen, die Gründung von Bauernräten zu fördern sowie Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte mit den bestehenden bewährten Organisationen zusammenzufassen, um alles vorzubereiten, was die Stunde gebietet.

Neuerdings ergeht der Ruf an die Arbeiter aller Orte, die Räteorganisation schleunigst auszubauen. Wir haben auch bereits gefordert, daß der in den Beschlüssen der Reichskonferenz vorgesehene Zentralrat in den nächsten Tagen zusammentrete.

All unsere Wünsche sind bei euch. Mit heißem Herzen verfolgen wir die Ereignisse und hoffen, daß die Sache des Sozialismus siegen wird. Kampbereit stehen auch wir, gewillt zu erfüllen, was die geschichtliche Notwendigkeit fordern wird.

Es lebe die internationale Arbeitersolidarität!

Es lebe der Sozialismus!

Für den Reichsvollzugsausschuß der Arbeiterräte

                                Deutschösterreichs:

Josef Benisch,                                                Friedrich Adler,

Schriftführer                                                  Vorsitzender

In: Arbeiter-Zeitung, 23.3.1919, S. 1.

Richard Wagner: Theaterkritik und Bildungsarbeit

Wenn man die Theaterkritiken unserer Arbeiterblätter liest, könnte man mitunter leicht in Zweifel geraten, ob man eine proletarische oder eine bürgerliche Zeitung in der Hand hat. So völlig gleichartig sind oft Inhalt und Ton der Besprechung. Erst ein Blick in die Aufsätze „über dem Strich“ bringt wieder Klärung. Ist hier nicht ein innerer Bruch in der Geistigkeit der Arbeiterpresse? „Über dem Strich“ klar betonter geistiger Klassenkampf – „unter dem Strich“ im Feuilleton, in den Kunst- und Wissenschaftsrubriken „neutrale“, klassenentrückte Abhandlungen? Gibt es nur in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft den unentwegten Klassenkampf, nicht aber in Kunst, Wissenschaft und all dem sonstigen „Kulturellen“? Ist nicht alles in dieser kapitalistischen Welt klassenhaft und daher zum Kampf herausfordernd? Man könnte zunächst die allgemein formale Frage aufwerfen, welche innere Berechtigung für das Proletariat die bürgerlich-journalistische Einteilung der Welt in eine Über dem Strich und eine unter dem Strich habe. Ob sich darin nicht nur die bourgeoise Vorstellung von der Zweiteiligkeit der Welt, von der profitjagenden Hetze des Alltags und der schlemmerhaften Behaglichkeit des abendlichen Genusses spiegle? Unter dem Strich des Tages zieht man den Geschäftsrock aus und kleidet sich in den schöngeistigen Smoking des Feuilletons.

Und man könnte weiter fragen, warum den die bourgeoise Übung, gerade das Theater als den unentbehrlichsten Gegenstand der kulturellen Besprechungen zu betrachten, auch für Arbeiterblät[t]er maßgebend sein müsse, ob hier auch jedes Theaterstück mit allen seinen Schauspielern, Regisseuren, Theatermalern usw. gut oder schlecht, auf jeden Fall aber besprochen werden müsse, gleichgültig, ob es an sich bedeutend oder töricht und im besonderen für die Arbeiterschaft wichtig oder belanglos ist; und weiter, ob nicht die regelmäßige, eingehende Berichterstattung über Arbeitervorträge und neue sozialistische Schriften von weit größer Wichtigkeit wäre; und schließlich, ob das Theater – sehen wir die Gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Tatsachen des Tages wie sie sind – eine größere Rolle im Leben der Massen, also des Proletariats, spielt als das Kino, und ob daher die sehr eingehende, regelmäßige Besprechung der Kinostücke, natürlich vom Standpunkt proletarischer Erziehungsarbeit aus, nicht ebenso wichtig wäre, damit den Massen die Augen nicht nur für den einmal wöchentlichen oder monatlichen Theaterbesuch, sondern auch für die Gefahr der tagtäglichen geistigen und materiellen Kinoverelendung geöffnet werden.

Aber selbst angenommen – obwohl das Gegenteil zweifellos ist – daß die Theaterbesprechungen den Raum in den Arbeiterblättern einnehmen müssen, den sie heute haben, und zugegeben, daß die Besprechungen bestimmter, vornehmer, bürgerlicher Theater, wie etwa des Wiener Bürgtheaters, unbedingt den Umfang eines ganzen, ausgewachsenen Feuilletons haben müssen, sei das neue Stück für die Arbeiter noch so gleichgültig – die Theaterkritik ist Bildungsarbeit und darum muß die Frage einmal zur Diskussion gestellt werden, ob die Theaterbesprechungen in den Arbeiterblättern die selbe Aufgabe haben wie in den bürgerlichen Zeitungen, ob sie daher gleichartig oder nur ähnlich oder nicht etwas ganz anders sein müssen.

Heute ist die Theaterkritik der Arbeiterblätter vielfach „neutrale“ Einführung der Arbeiter in das bürgerliche Theater. Aber erfühlt sie damit ihre Aufgabe? Oder trägt sie damit – trotz bester Absichten und sicher ungewollt – nicht noch zur Verbürgerlichung des Proletariats bei? Die proletarische Zeitung ist eines der wichtigsten und wirksamsten Kampf – und zugleich Bildungsmittel der Arbeiterschaft. Ihre Aufgabe ist geistiger Klassenkampf nach außen und sozialistisch-proletarische Bildungsarbeit nach innen, ist ringen gegen die Kräfteeinwirkung der feindlichen Klassen und ringen um die Kräfteentfaltung der Klassenangehörigen. Da die gesamte bürgerlich-

kapitalistische Kultur in all ihren Teilen und Ausstrahlungen Klassenkultur ist, muß die proletarische Presse in all ihren Rubriken ständig in oppositioneller Kampfstellung gegen sie stehen – dort, wo die bürgerliche Kultur Werte schafft, diese unter Anerkennung der Leistung auf ihren Klassencharakter untersuchen und ihn hinter allen Verhüllungen durch Kunst und Wissenschaft und Unterhaltung aufzeigen. Die proletarische Theaterkritik darf nicht nur ästhetische Untersuchung, sie muß zugleich soziologische Studie sein und dies in ganz gründlicher Weise, weil der ästhetische Gehalt jedes Kunstwerkes in den Gesellschaftsverhältnissen unlösbar verwurzelt ist, die zumindest zum großen Teil die Geistigkeit eines Künstlers, eines Kunstwerkes und der Kunstempfangenden bestimmen.

Daß besonders die leichtere Theaterware des kapitalistischen Kunstmarktes, die nur auf greifbaren Profit ausgeht und diesen daher mit allen Mitteln bedenkenlos sucht, oft auch versteckt oder ziemlich offen konterrevolutionäre und proletarierfeindliche Absichten verfolgt, weiß jeder von uns. Hier müßte die proletarische Kritik, die kapitalistische Kunst- und Unterhaltungsindustrie in jedem einzelnen Fall in ihrer wahren Bedeutung vollkommen beleuchten als geistige Schädigung des kämpfenden Proletariats, das dafür noch Millionen seiner sauer erworbenen Lohnkronen jährlich bezahlen muß. Es dürften der landläufige, blödsinnige Schwank und die mit gelungener Absicht völlig entgeisterte Operette nicht nur von oben her ästhetisch abgetan, sondern sie müßten in ihren soziologischen Wurzeln und Auswirkungen immer und immer wieder bloßgelegt werden. Und es dürften alle die kleinbürgerlichen, großbürgerlichen, ja vielfach noch mittelalterlich-feudalen Ideologismen nicht ästhetisch verklärt, sondern durch allen ästhetischen Schein hindurch als geist-und blutsaugende Gespenster entlarvt werden.

Dann, meine ich, wird die proletarische Theaterkritik erst ihre Aufgabe als proletarisches Bildungsmittel ganz erfüllen, die Kluft zwischen der Welt über und unter dem Strich wird verschüttet und – es wird noch Raum werden, dem Arbeiter außerdem Weg zum bürgerlichen Theater noch den Weg zum sozialistischen Buch und den selbstmörderischen Abweg zum Ausbeutungskino mit Erfolg zu zeugen.

Proletarische Theaterkritik muß sozialistische Bildungsarbeit sein. Sozialistische Bildungsarbeit aber ist immer auch Klassenkampf.

In: Bildungsarbeit, Nr. 7-8, 1923, S. 62.

E. K. Stein: Ansprache an sozialistische Künstler

(Gehalten am 28. d. M. in der gründenden Versammlung der Fachgruppe der Künstler, Schriftsteller der „Soz. Vereinigung geistiger Arbeiter“.)

            So wie der Zusammenschluß der „Geistigen Arbeiter“ zu einer besonderen Organisation innerhalb der Sozialdemokratie keine Scheidung, aus Überhebung etwa, vom Handarbeiter darstellen sollte; vielmehr diese Sonderorganisation eben als wirksamstes Mittel gewählt wurde, um der Sozialdemokratie aus der Gesamtheit der „geistigen Arbeiter“ möglichst großen Zuwachs zu sichern; so führte auch die Künstler nicht Dünkel und Überhebung zur gesonderten Organisierung innerhalb der „geistigen Arbeiter“. Auch wir sehen in solchem engeren Zusammenschluß zunächst nur das geeignetste Werkzeug, auch den Teil der Künstlerschaft, der heute noch dem Sozialismus fernsteht, in unser Lager zu ziehen.

            Als Arbeiter bekennen wir uns alle: das Band, das uns alle eint, ist das Lob der Arbeit; wie es uns scheidet von den Anderen, die den Segen der Arbeit nur in seiner fluchwürdigen Verwandlung, dem goldgemünzten Schweiß und Blut der Arbeiter preisen mögen.

            In zwei große Lager scheint sich so die Menschheit zu scheiden: Die Arbeiter und die Arbeitsscheuen. Da ich zu Künstlern spreche, die so gerne – mit mehr oder weniger Wohlwollen – von ihren „Gönnern“ als das „arbeitsscheue Gesindel“ hingestellt werden, muß ich kaum ausführlicher dartun, daß gerade der Künstler, der – im Geiste – immer Rege, bis zur Besessenheit Rege ist; er wahrhaftig kann die Arbeit nicht scheuen, nicht fliehen, da sie mit ihm verwachsen ist. So ist sein Platz im Lager der Arbeiter, der Regen.

            Diesem feindlich, tut sich drüben das andre Lager, das der Trägen, auf; wollen sie doch von der Regsamkeit der Anderen leben; müssen sie doch darum sich die Herrschaft über die Regen erzwingen und sichern; feindlich darum.

            Wie aber konnte es kommen, daß Trägheit über Regsamkeit die Herrschaft gewann? Die überlegene Masse, wir Alle kennen sie: das Kapital. Denn nicht Arbeit und Schaffen verleiht Herrschaft oder auch nur Freiheit; nicht dem Arbeitenden und Schaffenden selbst dienen diese: immer nur dem Kapital; der Burg der Trägheit; Bürger heißen sie darum, denen unsere Regsamkeit die Sicherheit ihrer Trägheit verbürgt.

            Der Bürger wurde vom Künstler zu allen Zeiten verhöhnt und verulkt; dennoch blieb dieser der geistige Sklave, bestenfalls der Hofnarr des Bourgeois. Und als die Armee der Millionen Arbeitssklaven sich endlich zum Widerstande auflehnte, da blieb der Künstler abseits stehen: seine Abhängigkeit vom Kapital war so endgiltig geworden, daß er allein unter all den Sklaven zitterte, seine Nahrung, sein Lebensunterhalt könne mit dem Untergang der Bourgeoisie und des Kapitals, von deren Brosamen er bisher gelebt, verschwinden.

            Wie aber konnte es dahin kommen, daß der Künstler so allen Zusammenhang mit dem Volke verloren hatte, aus dem allein seine Kunst, sein Schaffen die geistige Nahrung ziehen durften, daß er daran verzweifelte, bei ihm die leibliche Nahrung zu finden?

            Die Kunst hatte immer mehr die Fratze ihrer Brotgeber aufgedrückt erhalten; sie war volksfremd ins Innerste geworden. Der Geist, den Elend und Verfolgung nicht in Banden schlagen konnten, er war der Lockung des Goldes, der Trägheit erlegen. Der Geist, des Blut und Atem Freiheit ist, er hatte sie verkauft; das himmlische Recht der Erstgeburt des Geistes, es war ihm feil, wenn der Kapitalismus ihm den Fraßtrog rüstete.

            Der Kapitalismus hatte den Geist gekauft: oft, um sich damit zu schmücken; dosiert auch, um die Trägheit seiner Verdauung anzuregen; immer aber, um die Regsamkeit in die Fesseln der „gut bürgerlichen Ordnung“ zu schlagen: wehe, wenn sie losgelassen! das war der Bürgerschreck!

            So kam die Weltkatastrophe: der Weltkrieg. Der verratende und gefesselte Geist versagte; die Künstler aller Völker, die berufenen Priester der Menschheit, auch sie segneten wie die Pfaffen die mörderischen Waffen; fast ausnahmslos. Der Stolz dieser Stadt wird es bleiben, daß unter den ganz Wenigen, die dem Geiste treu geblieben waren, der Name eines Wieners, Karl Kraus, steht.

            Aus dem fürchterlichsten Debakel der Menschheit soll die neue Zeit erstehen, der neue Geist sich gebären. Fünfzig Monate bestialischen Mordens sollen vom Frieden abgelöst werden. Was ist Friede? Kann es jener Zustand sein, dem „unser“ Krieg entwuchs, entwachsen mußte? Ist darum Friede auf Erden, weil an die Stelle der 42er Mörser jetzt wieder – im sozialen Kampf, nennts die bourgeoise Phraseologie – die „friedlichen“ Waffen, die Milliarden-Trusts treten? Weil die kriegerische „Hungerblockade“ nun abgelöst wird durch Hungerlöhne?

            Wie die Arbeit das Element des Regsamen ist, so ist der Krieg, der ja immer auf Unterjochung abzielt, der soziale wie militärische, das Element des Arbeitsscheuen. Wir wollen schaffen und arbeiten in Frieden und Freiheit. Deshalb scharen wir uns um die Zeichen des Sozialismus, die Frieden und Freiheit verheißen.

            „Der Geist marschiert!“ tönt uns da höhnend ein Schlagwort entgegen; der Künstler, der Geist könne sich nicht organisieren; das widerstreite seinem innersten Wesen.

            Nun: es scheint mir immerhin einer weitreichenden Abrüstung nahe zu kommen, wenn der „Geist“, der widerspruchslos, wenn nicht antreibend, sich in Reih und Glied der Kriegshorden fügte, oder ärger noch, vom sicheren Pfühl sie zum Marschieren aneiferte: wenn er zunächst einmal, um den Schießprügel in Trümmer zu hauen, eine Vereinigung der Kräfte sucht; wenn er – jetzt ohne Schießprügel – „marschiert“, um sich und seinem Volke den Frieden zu sichern und seiner Arbeit Früchte.

            Wir wollen nichts von Kriegskunst wissen, nichts auch von jener Kunst, die auf den Blutäckern des sozialen Krieges blüht. Wir wollen den Völkerfrieden, aber auch den sozialen, den Menschheitsfrieden; in diesem Tale des Friedens allein kann die wahre Kunst gedeihen; dort erst kann der Geist schaffen und walten; dort wartet des Geistes seine wahre Bestimmung: in friedlichem Wettstreit die Individualität zu pflegen, Führer und Priester seinem Volke zu sein!

In: Die Wage. Eine Wiener Wochenschrift, Nr. 5, 31.1.1919, S. 97-99.