Viktor Silberer: Semmering-Rekord

Wenn man nur die Zahl der Besucher und das von ihnen verausgabte Geld in Betracht zieht, so hat der Semmering heuer eine Wintersaison, die alles bei weitem übertrifft, was dort jemals vorher an Massenbesuch und Aufwand zu verzeichnen war. Das Stammpublikum der Vorkriegszeit aber ist vom weiteren Besuche des ihm einst so lieb gewesenen, herrlichen Ortes ganz ausgeschlossen. Was nur an Großschiebern und sonstigen neuen Reichen in Wien in den teuersten Nachtlokalen in tollster Verschwendung praßt, bevölkert derzeit den Semmering, und treibt es dort womöglich noch ärger als in der Stadt. Dabei sind zwei Merkmale dieser Gesellschaft von heute zu verzeichnen. Erstens, daß es unter ihr fast gar keine alte Leute gibt und zweitens die bis zur Verrücktheit entwickelte Tanzwut. Woher alle die Burschen das viele Geld haben, die hier, allerdings nur soweit es sich um die leichte Hand im Geldausgeben handelt, als Grandseigneurs auftreten oder die indischen Nabobs spielen, bildet ein großes Rätsel. Aber gewiß ist, daß das viele Geld da ist und in leichtsinnigster Weise vergeudet wird.

Zur Charakteristik eine kleine Episode: Ein soeben angekommenes Paar betritt die Halle des Hotels und wird vom „Chef de reception“ empfangen. Beide in kostbarste Pelze gehüllt. „Zimmer“, sagt kurz der Jüngling. – „Haben bitte eines bestellt?“ fragte der Chef. – „Nein,“ war die Antwort. – „Ja bitte, da kann ich dann nicht dienen; denn was noch nicht besetzt ist, ist alles längst fest bestellt!“ – „Machen S’keine G’schichten, sperr’n S‘ uns ein schönes Zimmer auf, da haben Sie zehntausend Kronen!“

Das Tanzen hat den Charakter einer Seuche angenommen. Es wird, nicht etwa zu einer bestimmten Stunde, im ausgeräumten Speisesaal oder in der Halle täglich abends getanzt, sondern es gibt dafür weder mehr eine Orts- noch eine Zeitbestimmung. Man tanzt vielmehr jederzeit und überall; schon gleich nach dem Frühstück, noch vor dem Essen, nach dem Essen, bei der Jause, vor und nach dem Abendmahl, bis das letzte Licht erlischt, in allen möglichen Räumen, Gänge nicht ausgenommen! Dabei wird neben aller anderen Verschwendung auch ein enormer Luxus mit frischen Blumen getrieben. Die kleinste Nelke kostet 40 K, eine Chrysanthemeblüte 50 bis 100 K, eine Orchidee aber wird mit zweihundert bis fünfhundert Kronen das Stück bezahlt und diese Blumen schmücken nicht nur die Frisuren der Damen und stecken in den Knopflöchern der Smokings der Herren, sondern es wird dann, im Höhepunkt des Vergnügens und der Freude am schönen Leben in der neuen Zeit, gegenseitig damit geworfen.

Im sterbenden Wien aber gehen zur gleichen Zeit Hunderttausende, darunter auch viele ehedem bemittelte, ja selbst sehr wohlhabende Leute, wegen Mangels einer ausreichenden Ernährung in aller Stille der völligen Entkräftung und damit einem langsamen Hungertode entgegen. Leben doch auch Tausende von Familien, die früher sehr gut situiert waren, ja zu den Reichen zählten, schon seit längerem nur mehr vom Verkaufen besseren Hausrats.

In: Prager Tagblatt, 20.1.1921, S. 2.

Emo Descovich: Die Technik als Kulturproblem

Kürzlich wurde an dieser Stelle eine Reihe von Schriften besprochen, die über die Beziehungen der Technik zu den anderen Wissenschaften, zum Staat und zu einem großen, augenblicklich in einer welthistorischen Krise befindlichen Volke handeln. („Wege der Technik“, Neue Freie Presse, Nr. 23432). Jede einzelne dieser bemerkenswerten Veröffentlichungen befaßt sich mit einem anderen Thema. Sie alle aber beleuchten wie mit dem Lichtkegel eines Scheinwerfers die Tatsache, daß die Menschheit es noch nicht  verstanden hat, die moderne Technik in den Bau ihrer Gesamtkultur organisch einzufügen, so daß mir „Die Technik als Kulturproblem“ als geeigneter Sammeltitel erschien, weil er das all diesen Broschüren Gemeinsame am besten charakterisiert. Diese Aufschrift prangt nun auf dem Umschlagblatt des tiefdurchdachten Buches von Dr. Josef Popp, das in einem anderen Verlag (Georg D. W. Callwey, München) und zeitlich vor den erwähnten Schriften erschienen ist. Hier wird das Problemhafte der Stellung der Technik in unserer Kultur, dessen der Leser dort erst allmählich inne wird, in den Brennpunkt der Abhandlung gestellt und von den verschiedensten Seiten beleuchtet. Als Lehrer geisteswissenschaftlicher Fächer an der Technischen Hochschule in München, der er seit zwanzig Jahren als ordentlicher Professor angehört, ist der Verfasser nicht selbst Techniker, doch so innig mit der Technik verbunden, daß er einen vorzüglichen Überblick über ihr Wesen besitzt. Er nimmt ihr gegenüber gewissermaßen eine Doppelstellung ein, die ihn befähigt, das Problem von einer hohen Warte aus zu betrachten. Er vermag sich in die Gedankengänge sowohl des Technikers wie des Nichttechnikers einzuleben und infolgedessen eine für beide gleichermaßen verständliche Sprache zu sprechen. Und das ist notwendig. Denn Techniker und Nichttechniker stehen einander in vieler Beziehung völlig verständnislos gegenüber. Das ist wohl auch eine der wichtigsten Ursachen, weshalb die Technik eben noch ein Kulturproblem ist. Der Nichttechniker ist leicht geneigt, technisch Unmögliches für selbstverständlich, technisch Selbstverständliches für unmöglich zu halten. Ihm fehlt das Maß für den Umfang der technischen Wissenschaft, und er ist sich erst recht in unklaren über die verschiedenen Zusammenhänge zwischen Technik und den sonstigen Erscheinungen des Lebens. In diesem letzten Punkte ähnelt er aber dem Techniker selbst. Dieser geht meist so ganz in seinem Sonderfach auf, daß ihm nicht Zeit bleibt oder er sich wenigstens nicht die Muße nimmt, über jene Zusammenhänge ernstlich nachzudenken. So ist für beide die Technik ein Etwas, dessen Platz in der Gesamtkultur nicht feststeht. Soll aber jener Zustand nicht eintreten, der in der Versklavung der Menschheit durch die Technik bestehen würde, müssen alle Menschen zur Technik eine andere Stellung einnehmen als bisher. Die einen müssen wenigstens ihr Wesen kennenzulernen trachten, die anderen sich nicht ausschließlich mit ihr befassen, sondern Fühlung nehmen mit den Gedankengängen der Nichttechniker. Hier dem studierenden Techniker und Nichttechniker, aber auch dem Lehrer und jedem Gebildeten ein Führer zu sein, ist der Zweck des Buches, den es in hohem Maße zu erfüllen scheint. Mit unerbittlicher Klarheit wird das Für und Wider verschiedener mit der Technik im Zusammenhang stehender Erscheinungen erörtert. Die Art, in der es geschieht, hält den Leser in ununterbrochener Spannung wie ein guter Roman. Geradezu dramatisch wirken einzelne Stellen und es ist ja auch ein dramatischer Stoff, der hier behandelt wird. Betrifft er doch das größte Kulturproblem der Gegenwart und nahen Zukunft, dessen baldige Lösung im höchsten Interesse der Gesamtmenschheit gelegen ist.

In: Neue Freie Presse, 1.2.1930, S. 10

F. L.[orenz]: Dichter und Revolution. Ein Gespräch über entfesseltes Theater

Kürzlich sprach ich mit einem Dichter, der nach langjähriger Abwesenheit wieder nach Wien zurückgekehrt war und nun erschüttert vor der Ruine des Justizpalastes stand. Das Gespräch drehte sich um die Stellung des Dichters zur Revolution.

            „Was verstehen Sie unter Revolution?“ fragte der Dichter. „Wir, die wir schöpferisch arbeiten, die wir in anderem Sinn Nutznießer des Zeitgeistes sind als die Politiker, verstehen darunter schon jede Verzerrung des Straßenbildes. Das erscheint Ihnen sonderbar, überspannt? Sie meinen, daß Revolution für den Dichter erst dort beginne, wo eine Weltordnung im Wochenbett liegt? Wo aus dem Elend, der Angst Tausender von Menschen eine neue Idee entsteht? Sie irren, wir Dichter sind der Straße verhaftet, der Straße in ihrem unpolitischen Sinn, der Straße als der Summe des Unvermuteten, des Zufälligen, des Anregenden. Wir brauchen keine Haupt- und Staatsaktionen, im Gegenteil, wir scheuen sie. Was wir brauchen, sind die kleinen Winke, die uns die Straße gibt, eine schöne Frau, ein typisches Männerprofil, einen ungewöhnlichen Lichtreflex, den geheimnisvollen Chor aus Menschenstimmen, Tierlauten und Maschinengeräuschen, den krassen Wechsel der Stimmungen, der das Wesen der Städte bildet: hier Kaffeehaushalbdunkel, dort grelle Bogenlampe…“

            „Aber die Revolution?“ fragte ich.

            „Man möchte nicht glauben,“erwiderte mein Begleiter, „wie oberflächlich wir Dichter sind, wenn es Anregungen gibt. Darum scheint uns die Weltrevolution einem kleinen Straßenkrawall gleichwertig. Ueberlegen Sie doch: es handelt sich nur darum, was man sieht, was man miterlebt. Wenn wir uns einer Straße verschrieben haben, mit der wir leben, dann ist diese Straße die Welt und ihre Entfesselung die Weltrevolution. Ich habe auf meiner Reise durch die Länder viele Empörungen der Straße mitgemacht. Es waren oft nur kleine Zusammenstöße, die kaum die Lokalzeitungen beschäftigten. Mich aber erregten, schmerzten sie, als drohe die ganze Welt unterzugehen. Denn ich konzentrierte meine Liebe in diese Straßen, wie ein anderer eine Stadt, ein dritter etwa sein Vaterland liebt. Das müssen Sie festhalten, daß wir oberflächlich sind, wenn wir Stimmungen suchen. Der Kontakt mit der Welt, dem Zeitgeist findet sich später, unbewußt. Ich habe die Beobachtung gemacht, daß in dem Augenblick, da die Oberfläche der Zeit, der Straße revoltiert, mit einem Schlag die Quellen der Kunst versiegen, als sögen sie ihre Kraft aus eben dieser Oberfläche. Grotesker Zustand für einen Dichter, von dem Zufall eines Lohnkonflikts abhängig zu sein! Der Grund dafür: wir brauchen friedliche Entwicklung der Dinge und verabscheuen die billige Dramatik der entfesselten Straße.“

            „Dennoch gibt es Dichter, die gerade von der Revolution befruchtet werde?! Ich meine nicht die sozialen Dichter an sich, sondern die vor allem, die Revolution als wildbewegtes Drama fesselt.“

            „So wäre also mein Bekenntnis das „ecce homo“ des Bourgeois. So wären wir mit unseren Nerven, die kein Blut spüren können, ohne zu zucken, die dafür aber stark sind, wenn es gilt, unblutige Geheimnisse zu erleben, so wären wir mit unserem Sinne für Beschaulichkeit, für innere Sensation um Jahrzehnte zu spät geboren? Ich glaube es nicht. Bedenken Sie, daß alles Wilde, Unorganische den Spiegel der Zeit beschlägt, vor dem wir sitzen. Wir haben als Menschen nicht die Kraft zu so gewaltiger Objektivität, daß wir vor einer revolutionär aufflammenden Stadt daran denken könnten, daß hunderttausend andere Städte zur gleichen Stunde im tiefsten Frieden leben. Wir sehen nur das Nächstliegende und müssen es sehen, da wir mit tausend Fühlern nur aus unserer engsten Umgebung die Stimmung holen, die wir brauchen. Der Dichter ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, Untersuchungshäftling seiner nächsten Umgebung. Und zwar ein Häftling, dem nicht einmal Selbstbeköstigung gestattet ist.“

            „Und ich dachte, daß gerade der Dichter in Zeiten der Konzeption zu größter Objektivität fähig sei. Wie vermöchte er sonst aus dem Zufälligen, das ihn umgibt, Allgemeingültiges zu holen? Und außerdem: ist die Revolution in diesem Jahrhundert wirklich bloß ein Zufall? Ist Rußland, sind die überall aufzuckenden Flammen revolutionären Geistes nicht der Beweis dafür, daß unsere Zeit im Zeichen der Umwälzungen, der Umwertung der Begriffe steht? Gibt es noch einen anderen Zeitgeist als den, den wir spüren, oder garantiert der Dichter, der seiner Zeit bekanntlich immer um ein Stück voraus ist, daß die Revolution keine Angelegenheit eines Jahrhunderts ist, sondern bloß Phase, Uebergang zu neuer Ordnung der Dinge auf überlieferter Ebene? Garantiert der Dichter mit den schwachen Nerven dafür, daß es niemals das geben wird, von dem Utopisten heute faseln, Kunst der Masse, revolutionäre Dichtung, Aesthetik des ganzen Volkes?“

            „Sie fragen mich etwas unerhört Wichtiges. Sie fragen mich nach dem Sinne unserer Zeit, wie man sich etwa bei einer Wahrsagerin nach der Zukunft erkundigen mag. Was soll ich Ihnen erwidern? Meine schwachen Nerven, die versagen, wenn die Straße revoltiert, wollen Sie als Argument nicht gelten lassen. Ist das, was wir erleben, eine Götterdämmerung der alten Kunstform, der unmittelbaren Kunst von Mensch zu Mensch, die aus inneren und nicht aus äußeren Stürmen entstand? Wird der Mensch als Persönlichkeit, von dem die Kunst bisher lebte, entwertet werden zugunsten der Masse als Inhalt des Kunstwerkes? Und mit dem Menschen auch sein Dichter? Ich glaube es nicht. Denn ich glaube nicht daran, daß der Mensch sein Herz, das große Geheimnis, um das sich alles dreht, einmal nicht mehr in seiner eigenen Brust wird schlagen hören, sondern in der Masse. Sie müssen an eine große Wahrheit denken. Jeder Mensch geht einmal nach Hause! Zu Hause, wo er sein eigenes Schicksal wieder vorfindet, wird er nicht mehr Gefahr laufen, sein eigenes Freud und Leid mit dem seiner Mitmenschen zu verwechseln. Revolution ist immer und überall ein Rausch. Ihm folgt die Ernüchterung, wenn man nach Hause kommt und statt der Barrikaden wieder sein Bett sieht. Es ist, wie wenn ein Theaterpublikum plötzlich die Bühne stürmen will, um selbst Komödie zu spielen, dann aber einsieht, daß dazu doch etwas mehr gehört als bloße Begeisterung. Zwar, die Politik, die aus Diplomatenintrigen längst eine Monstertheatervorstellung für das Volk geworden ist, erzieht die Menschen dazu, lieber Akteure zu sein, als Zuschauer. Und da haben sie das tiefste Wesen der Krise der Theater: Der Mensch in seiner Eitelkeit ist lieber der letzte Statist auf der Bühne der Zeit Als der erste Zuschauer im Parkett eines Theaters. Aber das ist nicht weiter schlimm. Wenn die Menschen nach Hause kommen, unterscheiden sie wieder genau zwischen politischer Theatervorstellung und Kunst. Denn sie hören ihr Herz wieder schlagen und fühlen, daß das Geheimnis des wirklichen Dramas – Furcht und Mitleid, sagt Aristoteles – nicht dem gelegentlichen Schauspieler sich enthüllt, sondern dem Zuschauer. Und darum glaube ich als Dichter zwar an geistige Revolutionen, nicht aber an die metaphysische Bedeutung von Straßenkämpfen, die die Oberfläche des Spiegels trüben, durch den wir in die Tiefen des Menschen schauen.

In: Neues Wiener Journal, Nr. 12140, 11. September 1927, S. 19-20.

Ann Tizia Leitich: Ein Wort für Amerika. Noch einmal „Monotonisierung der Welt“

Siehe dazu auch Monotonisierungsdebatte.

Stand da vor Wochen ein so interessantes Feuilleton in diesem Blatt, voll der Wehmut, die sich über schwindende Schönheit neigt, und doch auch voll Kraft im Selbstbehaupten, im Pathos der Schlusssätze. Der es schrieb, ein Dichter-Schriftsteller von internationalem Ruf, dessen künstlerisches und menschliches Wesen bis in die letzte Fiber durchtränkt ist von dem Duft, der Sensibilität der Kultur, deren unaufhaltsames Schwinden er beklagt; einer Kultur, die zwar unbewußt und liebenswürdig hochmütig, aber in ihrem universellen Umfassen aller ‚Himmel des Geistes’ dem Gefühlsleben ein Blumenparterre schuf, darin die Seelen im Anschauen von Schönheit ewige Fragen in edler Muße besprechen konnten. Vorausgesetzt freilich, daß sie in dieser Muße geboren waren, denn sonst hatten sie in der Regel draußen vor den Toren zu bleiben. Denn diese schöne und versinkende Kultur, unsere europäische Kultur des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts, die der Krieg mit Auszehrung schlug, sie war eine individual-aristokratische, respektive bürgerliche Kultur, wie bis jetzt noch jede, die altgriechische ausgenommen. Sie gehörte jenen, die durch Geburt, Klasse, Stand sie in die Wiege gelegt bekamen. Sie ist uns allen teuer, die wir in ihr aufgewachsen. Wir alle bluten aus Wunden, die uns ihr Abreißen geschlagen hat, und unser taumelndes Leid wird  beredt in der Sprache eines Dichters wie jenes, der den Aufsatz schrieb, auf den ich hier weise: ‚Monotonisierung der Welt.’

Aber nicht um Vergangenem nachzuahmen greife ich zur Feder; ich bin in Amerika und da gibt es nur Gegenwart und Zukunft, keine Vergangenheit. Ich schreibe heute, weil in ‚Monotonisierung der Welt’ ein Satz ist, der heißt: „Woher kommt diese Welle, die uns alles Farbige, alles Eigenförmige aus dem Leben wegzuschwemmen droht? Jeder, der drüben gewesen ist, weiß es: von Amerika.“ Ich greife diesen Satz heraus und nehme ihn unter die Lupe.

Woher nehme ich die Courage? Kaum eine Handvoll Jahre ist es her, da saß ich im Kaffeehaus an der grünen Salzach, wo die ganz ansehnliche Künstlergemeinde Salzburgs ihr Quartier-Latin-Zusammenkünfte in jenen Nachkriegsjahren zu haben pflegte, im Angesichte von Fluß, Brücke, Stadt und des alten Wolfdietrich ragendem Schloß. Ist’s Café-Akademie? Zuviel ist über den Namen gerauscht, wie plastisch zwar auch die Szene der Seele erhalten geblieben. Und da saß am selben Tisch Stefan Zweig. Nicht, daß er mich bemerkt hätte: ich war jung und unreif, aber dankbar für die Stunde, die den Dichter an meine Seite gebracht, der mir die schlanke, sensitive Hand reichte, der aus der Welt von Kunst und Büchern seines altersgrauen Schlößchens nur selten herunterkam, um zu präsidieren, mit der Grazie eines Herzogs in der Nonchalance von Kniehosen und Sporthemd. Aber nicht ganz so selten wie der unsichtbare Geist über dieser literarischen Gemeinde, der schweigsam und exklusiv wie ein grollender König, täglich, in Silberbart und karierten Bridges, in ein gewisses Gasthaus in der Vorstadt pilgerte, wo es die besten Knödel gab. Ich meine natürlich Hermann Bahr. Oder der Schmied duftiger Verslein und sinniger Geschichtlein, voll der Herb-Süße Alt-// Österreichs, Franz Karl Ginzkey, der sich gerade ein Nest zurechtzimmerte, so weit draußen, versteckt hinter Wiesen und Hecken, daß man seine liebe Not hatte, es zu finden. Reinhardts Barockschloß träumte damals noch abbröckelnd, mit glaslosen Fenstern, über einen schilfgesäumten Teich, der jedem gehörte, der ihn haben wollte.

Was für silberne Tage, was für ein silberner Platz: Salzburg. So recht geschaffen dazu, dort eine Burg aufzurichten gegen die in der Phalanx der Großstädte auftürmende Verplattung von Zeit, Mensch, Gedanke. Und daraus stracks nach Amerika – es könnte ebenso gut heißen, von einem Planeten durch unendlichen Raum zu einem anderen Planeten. In das Amerika nämlich, in das ich gelangte. Mitten hinein ins schlagende Herz der neuen Welt warf es mich, nach Chicago. Und da war keine lieblich erwärmte Hotelsuite für mich bereit, keine Freundeshand, die mich führte und wies, kein Wegzeiger auf meiner Straße, aber da war auch kein Land von Hotel zu Hotel durchrasender Salonwagen, keine schwatzenden Komitees, die im ehrlichsten Bemühen nichts anderes tun als eine Welt in einem Fingerhut präsentieren. Ich kam nicht aus Hunger nach Brot oder Gold: denn eine leidlich gute Krippe hatt’ ich im alten Land in den Wind geschlagen und vom Gold war ich klug genug zu wissen, daß es auch hier nicht auf der Straße liege. Ich kam aus dem Zusammenbruch einer Epoche: aus dem Zusammenbruch eines Lebens, um die Möglichkeit neuen Lebens zu suchen. So stand ich Amerika gegenüber mit blanker Seele, aus der die Vergangenheit weggebrannt war, fragend: Was bist du, wo bist du, wer bist du; was bringst du mir, was der Welt? Ich, die Mücke, zum Riesen Amerika. Und der Riese sagte: Go ahead and find out! Geh und schau zu, was du findest. Ich stand mit dem Bündel Fetzen, das der Krieg einem österreichischen Intellektuellen hinterlassen hatte, in den Straßen Chicagos ätzend heiß im Sommer. Go and find out… Und ich ging und trachtete zu finden. Vorerst etwas zu essen und ein Dach überm Kopf. Leicht oder nicht leicht, ich wollte doch so ungeheurer mehr. Schritt um Schritt rang ich es dem Riesen ab. Ich kämpfte mit ihm, ich arbeitete für ihn, ich schrie gegen ihn, ich schmeichelte mich an ihn heran, trachtete seine schwachen Seiten herauszufinden und fand seine starken, dort wo sie kaum geahnt. Ich besah ihn mir von unten und oben, von innen und außen. Ich aß apple-pie und steak mit Wäscherinnen und Tippfräulein und Austern und Lobster mit Klubdamen und Millionären. Lachende Töchter des Westens schlug ich auf der Universität in englischer Grammatik, und ließ mich von ihnen in basket-ball schlagen. Viele Türen ging ich ein und aus und sah den Menschen bei der Arbeit auf die Finger, belauschte die Muße: Eine bunte Menge, hochmütig-exklusiv und gemütlich-anbiedernd, arm und reich, edel und unedel, ich sah, wie die Tage, die Wochen, die Jahre, wie die Städte und die Weiler sie gleich Treibholz an das Ufer unseres Bewusstseins schwemmen, das bereit steht mit der Laterne der Frage: Wer seid ihr, was bringt ihr? Und ich bin in den Farmerhäusern des großen Mittelwestens gewesen, wo Schweine auf der einen und Mais auf der anderen Seite der Menschen Hirn und Herz begrenzen, weil ihnen die Natur nichts anderes gewährt, und ich habe mich gewundert, wie sie es zusammenbringen, dazwischen auf Gott nicht zu vergessen, was immer nun Gott auch sein mag. Der Mittelwesten hat Amerika eine Anzahl seiner besten Dichter und Schriftsteller des letzten Jahrzehnts gegeben. Die man in Europa erst noch kennen zu lernen hat als die Pfadbrecher einer neuen literarischen Epoche – Morgenrot über dunklen, schlafenden Wäldern.  Freilich glaube ich nicht, daß einer unter ihnen sich mit Marcel Proust hätte verständigen können oder Proust mit ihnen; dazu sind beide zu sehr Vertreter der Extreme, die nicht einmal auf derselben Linie liegen. Ich möchte nicht begraben sein im Mittelwesten, kein Europäer könnte dort leben, der vor dem Krieg erwachsen und gebildet war. Aus dem einfachen Grund, weil es zu verschieden ist. Ich floh nach Newyork, um Europa näher zu sein, um Europa zu riechen im Angesichte der Dampfer, die es erste vor ein paar Tagen gesehen; aber ich habe im Mittelwesten unendlich viel gelernt. Amerika ist mehr als die an monumentale Keckheit, an Frivolität des Geistes grenzende Ausgestaltetheit der Wolkenkratzer; ist mehr als Newyorks weißglühender Markt der Eitelkeiten und des Sensationshungers, Broadway, mehr als Wallstreets Dollarjagd; mehr als seine 16 Millionen Automobile und die unheimliche Kompetenz des Druckknopfes (just press the button), der uns mit allem versieht, von einer Tasse Kaffee bis zum Konzert des berühmten, ein paar hundert Meilen weit entfernten Virtuosen. Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten des Reichwerdens, wie es in den europäischen Märchen vorkommt, ist mehr oder weniger eine Sache der Vergangenheit; aber Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten n der Evolution des Menschengeschlechtes mag wohl eine Tatsache werden.

Europa weiß ja selbst heute seinen Weg nicht. Es taumelt in der Dunkelheit. Zurück zum Alten, über die Trümmer hinüber klimmen kann es nicht und vorwärtsweiß es nicht recht wie. Europa ist zu befangen, zu verstrickt in tausend Strömungen und Unterströmungen, in Hemmungen und Wünschen.  Der Europäer als Einzelmensch ist einem werter und unleugbar interessanter als der Amerikaner, aber das Land als solches? Langweilig, platt, oberflächlich? Nein. Je länger man hier ist, desto überzeugter wird man davon, daß man noch immer mehr zu erkennen hat. Wenn ich sage ‚Land’, so meine ich es: Land. Die amerikanischen Städte sind mit wenigen Ausnahmen von einer trostlosen Hässlichkeit, einzig und allein für den Zweck gebaut, Geld zu machen; aber der Amerikaner besiegt diese Hässlichkeit, indem er ihr so viel als möglich ausweicht, und es hilft ihm dabei ein großes Glück: Platz zu haben. Alle amerikanischen Städte wachsen weit ausladend ins Grüne. Aber die Kraft, der Sinn Amerikas liegt nicht in den Städten, der liegt im Boden. Monotonie? Langeweile? Ja, fürchterlich, in beiden, Land und Stadt. Aber der Amerikaner kann nichts dafür; er empfängt diese Monotonie nicht freiwillig wie der Europäer, der sie eintauscht für bessere Güter. Ihn hat sie überrascht, überströmt, daß er momentan wehrlos, obwohl nicht tatlos ist gegen sie. Nach der sauren, alle Zeit und Energie in Anspruch nehmenden Arbeit der Erschließung eines riesigen Kontinents verwandte er den Ueberschwang// der also durch Uebung gestählten, durch Erfolg erfrischten Kräfte auf den weiteren Ausbau seines Lebens, für das er sich in wenigen Jahrzehnten eine Form geschaffen hat, die alles je Dagewesene an Brillantheit übertrifft. In Treibhausschnelle ist sie der ehemaligen Lehrmeisterin Europa über den Kopf gewachsen. […] Europa hat Jahrhunderte gebraucht, um seine Kultur zu bilden, die, zwar befruchtet von asiatischen, dennoch seine eigene ist. Nun, Amerika ist dabei, seine eigene Kultur zu bilden. Was es bisher gehabt hat, war importiert, adaptiert, oder trug deutlich den Stempel europäischer Schulung. Nun beginnt es sich zu emanzipieren. Sein politisches Distanzhalten ist vielleicht ein Symptom davon. Nicht daß es Europa von sich fern hielte, Europa und Amerika sind näher denn je, geographisch. Es horcht, was Europa zu sagen hat. Dieses Horchen darf man aber nicht für Absorbieren nehmen, denn es geht absolut seinen eigenen Weg. Wer kann heute genau wissen, wohin der führt? Aber jeder, der hier ist und dem Land den Puls fühlt, wird es erleben: die unverwischbare Empfindung, daß hier etwas im Werden ist, daß sich eine Seele regt, die langsam große Augen aufschlägt.

Renan definiert eine Nation: „Große Dinge in Gemeinschaft gemacht zu haben und wünschen, große Dinge in Gemeinschaft zu machen.“1 Aus naheliegenden Gründen trieb und treibt der Materialismus hier – wie überall – seine giftigen Blüten. Aber legt man das Ohr auf die Erde, so hört man den Hufschlag von Besserem. Hat man in Europa je daran gedacht, in Gemeinschaft national Wertvolles zu leisten? Ja, der Einzelne, der Große, er dachte und denkt die großen, die schönen Gedanken. Der Impetus, den die Großen gaben, war immer die Hefe für Neues und Besseres. Aber einmal über die Schwelle ihres Hauses trat man in Tyrannei, Stupidität, Haß und Schmutz. Hat je ein Volk zusammengearbeitet, um sein Land groß zu machen? Nein, es wurde höchstens dazu gepeitscht, es mächtig zu machen. Nur ein Beispiel. In Europa gibt es heute genug sehr reiche Leute, wahrscheinlich mehr als vor dem Krieg. Ist es einem eingefallen, ein großzügiges Kulturwerk zu schaffen, deren Nutznießer die Allgemeinheit ist, eine Bibliothek, eine Universität usw. oder Bestehendem genügend aufzuhelfen? Ich habe nichts davon gehört. […]

Amerika ist noch mitten drin im Fundamentlegen. Nun noch einmal zu unserem Mann zurück, zu unserem Durchschnittsmann – abends konzertieren für ihn Pablo Casals, Jeritza, die Philharmonie in seinem Hause, Staatssekretär Hughes spricht für ihn. Der reichste Mann der Welt kann wahrscheinlich Pablo Casals, Jeritza für einen Abend engagieren, kaum aber Staatssekretär Hughes2. Aber hier ist er in einem Fünf-Zimmer-Haus! Also: Fabriksware, Maschine, Kino, Radio, Horreurs für den kultivierten Europäer, gewiß. Warum aber eine Gefahr? Kein Künstler braucht zu fürchten, daß sein Saal leer wird durchs Radio, denn wer Schaljanin am Radio hört, wäre wahrscheinlich kaum ins Konzert gekommen. Andrerseits aber wird durch das Hören am Radio der Wunsch erweckt, den Künstler in Person zu hören. Wenn man hundert-, zweihundertmal am Victriola (ein ausgezeichnetes Grammophon) „O du mein Abendstern“ gespielt hat, prägt sich einem schließlich etwas von der Schönheit ein, und man wünscht die ganze Oper zu hören3. Vielleicht ist das Victriola zum großen Teil  schuld daran, daß die Operngesellschaften in Amerika aus der Erde wachsen. Riesige Entfernungen sind in Amerika, die durch die Vehikel der Kultur, wie wir sie einst in den schönen Zeiten vor dem Radio gehabt haben, nie erreicht werden könnten. Viele Millionen Menschen wohnen dort. Ihnen allen wird plötzlich eine neue Welt erschlossen. Machen wir uns doch einmal klar, daß die Zeit, da Cheops (von dem wir glauben, daß er seit Tausenden Jahren tot ist, der aber noch immer atmet) Ungeheures schuf mit Hilfe von Hunderttausenden von namenlosen Sklaven, die in der Wüstensonne wie Fliegen starben, daß diese Zeit endgültig vorüber ist. Wir stehen an der Schwelle einer ganz neuen. Wir sind inmitten einer ungeheuren sozialen Evolution. Europa experimentiert sich in diese Zeit hinein und es experimentiert, wie das russische Beispiel zeigt, nicht gut. Aber das russische Bei//spiel hat auch gezeigt, wie faul, wie unterminiert unsere Zeit gewesen. Es gefiel uns, gewiß, und wenn wir von Elend und Jammer und Hässlichkeit hörten, hielten wir die Hände abwehrend vor und sagten: Ja, ja, das existiert, aber wir wollen nichts davon wissen. Aber es nützte uns nichts; wir bekamen Jahre voll Elend, Jammer und Hässlichkeit voll zubemessen und wir sind dem russischen Gemetzel nur um ein Haar entronnen. Der Gestank aus übertünchten Gräbern wird früher oder später ruchbar.

Ich sehe für einen der bedeutendsten, ja vielleicht für den bedeutendsten Amerikaner der Epoche jenen an, der in allen seinen Betrieben dem geringsten Laufjungen einen solchen Wochenlohn zahlt, daß er durch ihn mehr haben kann als bloß trockenes Brot. Dies nicht aus Idealismus, auch nicht nur als Propagandakunststück, aber aus einer mehr schlauen als weisen, ungemein sicheren Vorausfühlung, mit der er Gestalt findet für Dinge, die da kommen sollen. Dieser Mann ist Ford. Ich habe gezögert, den Namen hinzuschreiben, denn Ford hat in Europa schlechtesten Ruf als der Protagonist des Taylorsystems, der äußersten, verblödenden Spezialisierung der Arbeit, Man kann eben nie ein Glied aus einem komplizierten Mechanismus, wie es ein Industriesystem ist, herausgreifen und einzeln betrachten; da muß man falsche Schlüsse machen. Gut und schlecht – das Kapitel Ford ist ein Kapitel amerikanischer Kulturgeschichte. Was aber nun den Laufjungen betrifft – es muß auch Laufjungen geben, warum sollen sie Ausgeworfene sein, weil sie Laufjungen sind? Es wäre entsetzlich, wenn die Welt nur aus Universitätsprofessoren bestände. Ich bin weder eine Bolschewistin noch eine Sozialistin, lediglich Amerikanerin – in diesem Sinn – und als solche sage ich: Jeder, wo immer er geboren ist, soll die Möglichkeit haben, sein Leben auszugestalten; die Möglichkeit, die Zeit, zu lachen. Das wollen wir vor allem wieder können: lachen. Dann werden wir weiter sehen. […]

Ja, wird man mir sagen, in Amerika ist das leicht, den Leuten geht es eben einfach allen materiell besser. Aber das ist es keineswegs, was den Unterschied so fundamental macht. Er liegt tiefer, dort, wohin die gleißende Politur des Geldes nicht mehr reicht. Diese Lemuren: Jazz, Fabriksware, Maschinen, Talmikunst – sie sind Quartiermacher, sie sind nicht Amerika. Es ja uns, die wir Heldenverehrer sind und die Persönlichkeit über alles schätzen, gleichgültig sein, ob Millionen Menschen wissender und lachender werden. Menschen, für die wir uns von vornherein, weil sie in Bildung unter uns stehen, nicht interessieren. Aber es ist für das Wesen der Dinge, für die Formung der Zeiten nichts weniger als gleichgültig. Ich ging einst in der Sonntagsmenge von Coney Island, dem größten Volksvergnügungsplatz der Welt, mit einem sehr gereisten sehr verwöhnten und Amerika – wie alle – sehr skeptisch gegenüberstehenden Wiener, der sagte zu mir: „Diese Mädchen sind alle nett gekleidet, sie sehen alle gut und hübsch aus. Wie machen sie es? Nun, darauf könnte man mancherlei Antwort geben, aber unter anderem auch das: Ein nettes, einfaches Kleid kann man billiger in Newyork kaufen als irgendwo anders, obwohl Newyork zu den teuersten Städten der Welt gehört, vorausgesetzt, daß man die Durchschnittsstatur hat. Dank der Fabrik. Wenn mein Geschmack darüber erhaben ist, so kaufe ich es einfach nicht. Daß die Fabriksware Geschmack verdirbt, ist durchaus unrichtig. Das Gegenteil ist der Fall, denn bei Leuten, die sich mit Fabriksware Genüge sein lassen, ist kein Geschmack zu verderben, höchstens einer zu entwickeln. Und dabei muß man immer von unten anfangen, nicht von oben. Es hat wenig Sinn, wehmütig derTage zu denken, da man in der Beschaulichkeit eines geruhsamen Lebenstaktes kunstvolles Hausgerät und Gewänder ersann und sie bedächtig und fürsorglich für langes Dienen in die Welt setzte. Jedes Jahrhundert hat seinen Inhalt und seine Aufgaben, und wo hinaus und hinauf die phänomenale Basis, auf die unsre gestellt ist, sich auswachsen wird, das können wir heute wohl gar nicht ahnen. Aber man fühlt es hier am Herzen Amerikas mit größter Gewissheit als hinter Europas Zaunburgen, daß auf den Kämmen dieses mit barbarischen Kräften geschwellten Stromes der ‚Monotonisierung der Welt’ neue und große Werte herangetragen werden mögen, daß sie herangetragen werden. 

In: Neue Freie Presse, 25.3.1925, S. 1-4.


  1. Ernest Renan (1823-1892), französischer Schriftsteller, Historiker, Orientalist und Religionswissenschaftler. Leitich bezieht sich auf seine berühmte, 1882 an der Sorbonne gehaltene Rede Was ist eine Nation (Qu’est-ce qu’un nation?) Siehe: http://fr.wikisource.org/wiki/Qu%E2%80%99est-ce_qu%E2%80%99une_nation_%3F (Zugriff vom 6.7.2014)
  2. Pablo Casals (1876 in El Vedrelli, Spanien – 1973 Puerto Rico), bedeutender Cellist, Komponist und Dirigent, der sich auch politisch, kulturell und sozial exponiert und engagiert hat, insbesondere gegen den Nationalsozialismus durch Einladungsablehnungen sowie im Verlauf des Spanischen Bürgerkriegs ab 1936 für die Republik und gegen Franco, was seinen Gang ins Exil zur Folge hatte. Weiters setzte er sich konsequent für die katalanische Sprache und Kultur ein.

    Maria Jeritza (1887, Brünn – 1982 New Yersey), weltbekannte Sopranistin und Theaterdiva, in vielen Opern von Richard Strauss und Max Reinhardt engagiert, 1921-1932 Ensemblemitglied der New Yorker Metropolitan Opera.

  3. Bezieht sich auf die Arie O du mein holder Abendstern in Richard Wagners Oper Tannhäuser (UA 1845, erste Aufführung in New York 1859)

Leo Lania: Emigranten

Der Berliner Rundfunk sendet am 31. Mai [1929] Leo Lanias Schauspiel „Emigranten“ als Uraufführung. Wir veröffentlichen nachstehend aus dem Werk, welches die politischen Kämpfe ungarischer Emigranten in Paris schildert, eine Szene.

Aus: Der Deutsche Rundfunk. Die Neue Woche 21 (1929)

Berthe (eine Visitenkarte bringend): Der Herr ist draußen. (Ohne Antwort abzuwarten, ab.)

Ilona (lesend): Graf – Kelemen – (wischt sich wie erwachend über die Stirne, blickt dann fragend, hilflos Remer an.)

Remer (kalt, sicher):  Sie empfangen ihn natürlich. Ich warte nebenan bei Ihrem Mann (Ab.)

Berthe (von draußen schreiend): Die nächste Türe!

Kelemen (eintretend): Ach, ich störe? Du packst gerade.

Ilona: Bemühst du dich persönlich, um die Durchführung deines Ausweisungsbefehles zu kontrollieren?

Kelemen (sehr entschieden): Adieu! (Wendet sich zur Türe, dort innehaltend.) Ich bin heute nicht in der Stimmung, mit dir zu streiten. Und ich habe keine Zeit dazu.

Ilona (verwirrt, unwillkürlich einlenkend): Bitte – (einen Stuhl anbietend) worum handelt es sich?

Kelemen (kurz): Um dich.

Ilona: was – ?

Kelemen: Ich bedaure die harte Maßregel der Ausweisung.

Ilona (ironisch): So? Du bedauerst sie?

Kelemen: Ich bedauere sie natürlich nicht. Sie ist verdient.

Ilona: Und kommt euch politisch sehr gelegen.

Kelemen: Es freut mich, daß ihr die Größe der Niederlage, die eure Bewegung erleidet, offen eingesteht.

Ilona: Bist du etwa deshalb gekommen, weil du hofftest Zeuge unserer Verzweiflung zu sein, uns jammern und wehklagen zu hören?

Kelemen: Ich weiß, daß dir die Ausweisung erspart geblieben ist.

Ilona: Ah – das weißt du?

Kelemen: Irre ich?

Ilona: Nein.

Kelemen: Du wirst also nicht mit deinen – mit Graf Vertes reisen?

Ilona (zögernd): Das — — und wenn ich doch mit ihm reise?

Kelemen (lächelnd): Aus Trotz, nicht wahr (Ernst). Nun, ich nehme nicht an, daß du deine Entscheidungen nicht nach Vernunftgründen triffst, sondern aus der reinen Sucht, mir etwas Böses anzutun.

Ilona: Und du bist überzeugt, daß mir die Vernunft gebieten muß, mich von meinem Mann zu trennen?

Kelemen (gelangweilt): Du willst also doch reisen?

Ilona (finster): Ich bleibe vorläufig hier.

Kelemen: Und deshalb bin ich gekommen.

Ilona (Schweigt.)

Kelemen: Ich begrüße deinen Entschluß. Diese Feststellung wird dich hoffentlich nicht veranlassen, ihn sofort zu ändern.

Ilona: O nein!

Kelemen: Was zwischen uns steht, kann nicht über Nacht vergessen werden. Wir haben beide gefehlt. Aber die Trennung von Graf Vertes —

Ilona (scharf): Die vorübergehende Trennung von meinem Mann. Eine Trennung auf einige Wochen.

Kelemen: Das werden die Verhältnisse ergeben. Diese Trennung räumt ein großes Hindernis unserer Verständigung aus dem Wege.

Ilona: Zwischen uns gibt es keine Verständigung. Nie – nie! Die Reise meines Mannes hat damit nichts zu tun.

Kelemen: Doch – doch! Sehr viel zu tun.

Ilona: Wieso?

Kelemen: Ich bin überzeugt, daß diese Trennung auf deine politische und menschliche Stellung nicht ohne Einfluß bleiben kann.

Ilona: Hahaha, du machst dich lächerlich!

Kelemen (leise): Ich bin bescheiden geworden, Ilona. Schon das Bewußtsein, dich endlich von ihm getrennt zu wissen, genügt mir – (lächelnd) muß mir genügen. Ich will sogar Opfer dafür bringen.

Ilona: Was für Opfer?

Kelemen: Politische. Ich würde erwirken, daß die Ausweisung gegen einen Teil der Emigranten – die offenkundig Verführten – es kämen etwa zehn Familien in Betracht, zurückgenommen wird.

Ilona (entgeistert): Das – das ist – (schreiend) Erpressung!

Kelemen (begütigend): Da du ohnehin entschlossen warst! Es ist ein Geschenk, daß ich dir machen will. Da kannst du höchstens von Bestechung reden.

Ilona: Ich nehme kein Geschenk von dir an! Ich lasse mich nicht bestechen!

Kelemen: Auc nicht, wo deine Genossen daraus Nutzen ziehen würden? Das Geschenk käme anderen zugute – darfst du es da zurückweisen?

Ilona (in steigernder Erregung): Ich – das ist  — (verzweifelt) ich weiß nicht –

Kelemen: Ich verlange von dir kein Opfer, zugunsten dieses Emigrantengesindels schon gar nicht –

Ilona: Kein Wort –!

Kelemen (sich ereifernd): Eine Bande von Spitzeln, die sich gegenseitig verkaufen und an den Galgen liefern — !

Ilona: Und du brüstest dich damit?!

Kelemen: Ich habe nur gekauft, was jene verkauften.

Ilona: Schuft!

Kelemen (aufspringend, blaß vor Wut): Hüte dich— !

Ilona: Drohe nur, drohe! So bist du mir schon lieber! Du kalter, du harter Greis – du Unmensch!

Kelemen (seine letzte Beherrschung verlierend): Menschlichkeit ist ja eure stehende Redensart! Man merkt nur nichts von ihr! Attentate, Mord, Verrat – einer gegen den anderen – eine bewundernswerte Kameradschaft, eine erhebende Solidarität!

Ilona (stürzt zur Türe links, gellend): Ernö! Ernö!

Kelemen: (verblüfft)

Vertes: (Gefolgt von Remer)

Ilona (auf Vertes zu, hängt sich an ihn): Hilf mir – hilf mir!

Kelemen: (Wendet sich an der Tür jäh um, seine Verblüffung nicht meisternd.)

Ilona: Ja, zu früh triumphiert. Jagt uns nur durch Europa – hetzt uns eure Spitzel auf die Fersen – arbeitet mit Bestechung und Erpressung – wir ergeben uns nicht! (Vor Kelemen tretend) Jeder für jeden! Das Los der hundert Vertriebenen werden wir teilen – er (auf Vertes zeigend) und ich! Es gibt keine Ausnahme! Hörst du, es gibt keine einzige Ausnahme! Hinaus!

Kelemen (schwankt, greift sich ans Herz, einen Augenblick scheint es als stürze er, weg): Ilona! (Dann rafft er sich auf) Wie sehr musst du mich hassen —— (wankt gebrochen hinaus).

In: Der Deutsche Rundfunk 7. Jg. H. 21 (1929), S. 654.

N.N.: Dolfi spielt auf…

Jazz-Symphonie am Sonntag vormittag

Dolfi Dauber, der Kammervirtuose, das Entzücken aller, denen sein Tanzorchester in die Beine fährt, ist ein Sonntagsphilharmoniker. Am Sonntag strebt er nach den höheren Zwecken, mit denen der Mensch wächst. Er verwandelt sich in einen Furtwängler und stellt sein berühmtes Jazz-Ensemble auf Ernst ein; nur zum Schein natürlich, denn ganz ernst, wie die echten Philharmoniker, darf er nicht kommen, ohne das Vertrauen, das alle Tänzerinnen und Tänzer in ihn setzen, ins Wanken zu bringen. Mit anderen Worten: er gibt Symphonie-Matineen im großen eleganten Tanzraum des Café Sacher, wo sich jetzt alle vornehmen  Leute, die nichts Besseres zu tun haben, als nicht zu tun zu haben, pünktlich einfinden, um teils Symphonie in Jazzgestalt einzunehmen, teil Charleston zu tanzen.

Dolfi Dauber hat zu diesem Zweck, seinem Orchester gegenüber, nichts als seine Geige, die ihren süßen Ton unter allen Umständen durchsetzt, selbst wenn die drei Saxophone, drei Trompeten, zwei Klaviere und je eine Posaune, ein Saxophon und ein Banjo mit dem Schlagwerk gemeinsame Sachen machen, um Dolfis Kantilene zu töten. Niemand kann sie umbringen, denn sie vertritt neben den Funktionären des Rhythmus die unsterbliche Idee der Melodie.

Ich hörte ein Programm, das aus lauter Leckerbissen zusammengesetzt war. „Josefine“ (Egon Neumann) und „Margarete“ (Maurice Roget) werden „für eine Nacht“ (Walter Kollo) gesucht, Richard Fall warnt Sie im Einverständnis mit Fritz Grünbaum („nimm dir nur ja keine Frau vom Mississippi“) und verweist Sie lieber auf die „Hochzeit im Ghetto“, die Dolfi Dauber und Beda miteinander arrangiert haben. Solches und ähnliches fand im ersten Teil des Programms statt. Im zweiten Teil, nach der Pause, fragt die Schöne, „was hast du für Gefühle, Moritz“ (Richard Fall); José Padilla empfahl „nur ein Rendezvous“, und Franz Lehár schlug das „alte Lied“ (Henry Loewe) von der „ersten Liebe“ an.

Bei einzelnen dieser Nummern steht ein Sternchen: „Auf vielseitigen Wunsch.“ Es wird aber fast alles wiederholt, denn Dolfi Dauber kann machen, was er will: man wünscht sich immer noch eins! Ich habe aber auch alte Opern von ihm gehört. Vom Tanzen versteh ich nichts, denn es genügt mir, wenn alle Tanzenden behaupten, daß niemand ihnen besser in die Füsse greift als dieser Herr Kammervirtuose. Neu aber ist für mich, daß die alten vertrauten Opern hier in einer ganz neuen Klangfarbe aufleuchten. Keine von diesen unsterblichen Opernmelodien (aus „Carmen“, „Margarethe“, *Bohème“ usw.) hat jemals ahnen können, daß es dereinst Susaphone und Banjos geben würde, und von Rechts wegen hätte man vielleicht den seligen Bizet oder Gounod fragen müssen, ob es erlaubt ist, ihre schönsten Melodien mit den Jazzgewässern zu taufen. Sie würden allerdings, wenn sie noch lebten, und Dolfi Dauber hören könnten, sicherlich nicht „nein“ sagen, denn diese Klangmischung ist etwas ganz Merkwürdiges; sie klingt fremd und doch vertraut, und die Jazzpolyphonie kann ihnen nichts anhaben. Manchmal ist es, als säße man im großen Opernhaus und hörte „Aida“, „Carmen“ und „Margarethe“; jeden Augenblick könnte Amonasro auftreten oder Carmen von Don José getötet werden.

Die Jazzsymphonie ist eine neue Sachlichkeit, aber, ganz wie die alten Sachlichkeiten, doch nichts anderes, als eine große Illusion auf romantischer Grundlage, ein Fest für das Ohr und eine Labe fürs Herz. Unsere moderne Musik ist auf alles Melodiöse, Sentimentale und Romantische schlecht zu sprechen, um so treuer halten sich die Musiker vom alten Schlage an die unveränderlichen Grundsätze der Tonkunst. Sie hüten den Schatz der Melodie indem sie dem neuen Gott mit Schlagwerk huldigen.

Darum ist Dolfi Dauber nicht nur ein ausgezeichneter Musiker und brillanter Geiger, sondern auch ein sehr wichtiger Mann. Er hat eine Mission in dieser Zeit der Auflösung aller Musiken…

In: Die Bühne (1927), H. 163, S. 72.

Béla Balázs: Die amerikanische Atmosphäre

Die Atmosphäre ist wohl die Seele jeder Kunst. Sie ist Luft und Duft, die, wie eine Ausdünstung der Formen, alle Gebilde umgibt und ein eigenes Medium einer eigenen Welt schafft. Diese Atmosphäre ist wie der nebelhafte Urstoff, der sich in den einzelnen Gestalten verdichtet. Sie ist die gemeinsame Substanz der verschiedenen Gebilde. Sie ist die letzte Realität, die letzte Realität jeder Kunst. Wenn diese Atmosphäre einmal da ist, kann die Unzulänglichkeit der einzelnen Gebilde nicht mehr Wesentliches verderben. Die Frage nach dem »Woher?« dieser speziellen Atmosphäre ist immer die Frage nach der tiefsten Quelle jeder Kunst.

Nun, es gibt zum Beispiel, amerikanische Filme, deren Fabelinhalt nichtssagend und einfältig, in denen das Spiel (das mit seiner Gebärden= und Mienenlyrik vieles ersetzen könnte) auch unbedeutend ist und die unser Interesse dennoch von Anfang bis zu Ende wach halten. Das kommt von ihrer lebendigen Atmosphäre. Sie haben jenes dichte, duftige Fluidum des Lebens, das nur die allergrößten Dichter manchmal mit Worten fühlen lassen können. Und dann sagen wir: »man spürt ordentlich den Geruch der Zimmer, wenn Fluaubert [recte: Flaubert] eine Wohnung beschreibt,« oder »es wässert einem der Mund, wenn Gogols Bauern essen.« Siehe, diese sinnfällige, riechbare und schmeckbare Atmosphäre schafft jeder gute amerikanische Regisseur.

Die ganze Geschichte ist vielleicht einfältig, vielleicht auch kitschig=verlogen. Aber die einzelnen Momente sind so warmen Lebens voll, »daß man ordentlich den Duft spürt.« Warum Held etwas tut, das hat oft keinen Sinn, aber wie er es tut, das hat Naturwärme. Das Schicksal der Helden ist leer, aber seine Minuten sind reich gestaltet.

In Wien spielte man unlängst einen sehr unbedeutenden Film von einer unglücklichen Liebe eines Krüppels. Da führt aber einmal dieser lahme Bräutigam seine Braut auf den Jahrmarkt aus. Eine Flut und Brandung von Bildern der Kraft, die den körperlich unzulänglichen Krüppel verschüttet und erdrückt. Es ist ein dünnes Hageln kleiner Momente des materiellen Lebens, daß den schwachen Mann zuletzt töten muß. Es wird eine Atmosphäre geschaffen, in der er erstickt.

Oder das Mädchen geht nachher zu dem Bräutigam um ihm zu sagen, sie wolle ihn nicht heiraten. Doch die Wohnung ist schon zur Hochzeit geschmückt. Die Kränze und Sträuße, die Geschenke und die hundert kleinen materiellen Zeichen einer Zärtlichkeit werden nun einzeln gezeigt. Es entsteht dadurch ein dicker Dunst von Güte um das Mädchen, in dem sie den Weg verliert. Wie sie die vielen kleinen Tatsachen des Jahrmarktes zu einem Fluidum des Lebens verdichtet haben, das der Schwache und Lahme nicht durchwaten konnte, so fühlt man in diesem Hochzeitszimmer das Gewicht der Dinge und Tatsachen dagegen die Seele nicht aufkommen kann.

Das ist jene starke Atmosphäre, die im Film durch die große Rolle und Bedeutung der sichtbaren Dinge entsteht. Diese Bedeutung haben Dinge in der Poesie, welche mehr auf einen abstrakten Sinn eingestellt ist, nicht. Darum kann auch keine Poesie diese spezifische Atmosphäre, dieses »Wesen« der Materie (ein gutes, altes Verbum) schaffen.

Das hat aber noch einen anderen Grund. In der Welt des sprechenden Menschen sind die stummen Dinge viel lebloser und unbedeutender als der Mensch. Sie bekommen nur ein Leben zweiten und dritten Grades, und das auch nur in den seltensten Momenten besonders hellsichtiger Empfindlichkeit der Menschen, die sie betrachten. Auf dem Theater ist ein Valeurunterschied zwischen dem sprechenden Menschen und den stummen Dingen. Sie leben in verschiedenen Dimensionen. Im Film verschwindet dieser Valeurunterschied. Weil sie nicht weniger sprechen als die Menschen, darum sagen sie soviel. Das ist der Rätsel jener besonderen Filmatmosphäre, die jenseits jeder literarischen Möglichkeit liegt.

Es gibt einen Typus amerikanischer Filme, deren einziger Inhalt diese Atmosphäre ist. Keine komponierte Fabel, keine aufgebaute Handlung stört das kontur= und richtungslose Fluten des rein Stofflichen. So sind z. B. die amerikanischen »Mutterfilme«, die in letzter Zeit jede bessere Kunstarbeit in Tränen ersticken.

Wir wollen auf die sozialpsychologischen Gründe dieser neuen Filmmode nicht besonders eingehen. Wie es Zeiten gab, da man Menschen, die sich gegen das irdische Unrecht empörten, auf die himmlische Gerechtigkeit und das himmlische Glück verwies, so lenkt man jetzt die Aufmerksamkeit jener, die mit der Gesellschaftsordnung unzufrieden sind auf das intime Glück der Familie.

 Was das Künstlerische dieser Filme betrifft, so ist es ein ungestaltetes Stimmungsrohmaterial. So ein Mutterfilm, wie dieser, der in Wien eben gespielt wird, ist überhaupt kein Kunstfilm, was uns alle nicht daran hindern wird dicke Tränen zu weinen. Es ist ein Konoreport [recte: Kinoreport] des Familienlebens, ein Lehrfilm, ein Uraniafilm von der Mutterliebe. Er hat keine aufgebaute Fabel, keinen komponierten Text, keine geistvollen spannenden Verwicklungen, keine großen Spielszenen, überhaupt gar nichts, was die Kunst hineingebracht hätte.

Wie ein Uraniafilm uns etwa die verschiedenen Etappen der Zigarettenfabrikation zeigt, so zeigt uns dieser Film die Gemütszustände einer Mutter, die von ihren aufwachsenden Kindern allmählich verlassen wird. Weil man aber selbst eine Mutter hat, oder hatte, so denkt man ihrer mit feuchten Augen.

Es ist eine fertig vorgefundene Naturwirkung, die in diesem Fall benützt wird um die künstlerische Wirkung zu ersetzen. Freilich liegt es in der Eigenart und im Wesen des Films, daß er die Natur als Materie gebraucht. Aber sie hat dieses Material zu verarbeiten, einzubauen in das geistige Gebäude des Kunstwerkes. Natur allein tut es nicht. Edelsteine sind wertvoll, und schön. Zum Kunstwerk werden sie doch nur in der Hand des Goldschmieds.

Mary Carr ist eine große Schauspielerin. Ihr Talent entfaltet sich aber in diesem Film sozusagen gegenstandslos. (Ach wie oft, wie oft geschieht das auf Filmen, wo bedeutende Schauspieler unbedeutende Rollen spielen müssen.) Wie wenn ein Sänger darauf los singt, ohne eine Melodie zu haben. Wir ergötzen uns an dem Material einer herrlichen Stimme, wir sind entzückt von der Naturerscheinung, ihres Talents und sehnen uns danach an den festen Formen eines Kunstwerkes sich emporranken zu sehen.

In: Beiblatt der „Muskete“, Film=Beilage, Jänner 1924, S 1f.

Fred Heller: Die Straße der Räusche. Ein Wiener Bild

            Ein sagenhafter Weinkenner soll einmal behauptet haben, der richtige Weintrinker müsse die Sorte nicht nur im Glase und auf der Zunge erkennen, sondern auch an dem Rausch, den sie ihren Verehrern beigebracht hat. Leider ist uns kein Handlexikon der Räusche übermittelt, die interessante Systematik der Schwipse, Spitze und Affen muß jeder Interessent durch eigene Forschungen aufzustellen suchen, mit viel Fleiß und werktätigen Proben, und obzwar es an sehr eifrigen Kandidaten dieser Wissenschaft nie gefehlt hat, gelangt doch keiner zu den reinen Höhen ihrer Theorien, weil der beste Wein gerade an Hänge wächst und die Beine bergan stets schwerer wurden, je leichter es dem Forscher im Kopfe werden wollte. Der Wein läßt sich am wenigsten von seinen ergebensten Jüngern der Wahrheit ablauschen, die in ihm bekanntlich liegt. Mangels der unerläßlichen Weihe, die man nun einmal empfangen haben muß, um überhaupt in die Mysterien der Kräfte und Gewalten des heutigen Bacchuskultus tiefer einzudringen, scheinen aber die Nüchternen wieder selbst durch schärfste Beobachtungen auf die feineren Differenzierungen zwischen Rausch und Rausch niemals daraufzukommen, sonst könnte ich doch wenigstens schon einen Grinzinger oder einen Sieveringer Rausch von einem Nußdorfer unterscheiden.

            Diese drei Gattungen treffen sich nämlich allabendlich auf dem Gürtel zwischen Heiligenstädterstraße und Nußdorferstraße, aus nächster Nähe beobachtet vom Auge Gottes, das dreieckige Strahlen aussendend, von den Schildern des bekannten Etablissements halb neidvoll, halb langmütig und allbarmherzig nach der Kreuzung hinübrsieht. Neidvoll, weil sich die Heurigen- und Biergäste aus Grinzing, Sievering und Nußdorf bereits so schwer beladen dem „Auge Gottes“ nahen, daß sie sich selbst von einem strahlenden Augenblinzeln nicht mehr von der Straßenbahnlinie weglocken lassen, die die gesammelte Bettschwere auf kürzestem Wege ins Bett bringen soll.

            Um 9 Uhr abends beginnt da lebhafte Leben und Treiben auf der sonst so nüchternen Straße, die beinahe noch zur inneren Stadt und doch schon auch zu der minder gemäßigten Zone des Gürtels gehört, obwohl seit Menschengedenken an dieser Stelle noch niemand totgestochen oder nur auch ausgeraubt worden wäre. Es ist die sicherste Gürtelgegend, trotzdem oder weil sich hier so viele Räusche kreuzen, die sich, eben aus der Beengtheit der Straßenbahnwagen befreit, zum erstenmal und heftig Luft machen, ehe sie wiederum in einem Straßenbahnwagen verstaut werden sollen. Sobald sich, pünktlich zur Stunde des (seligen) Zapfenstreiches, die ersten schwankenden Gestalten nahen, nimmt an der Ecke der „Würstelmann“ Aufstellung, das heißt, er fährt auf wie eine Batterie. Der Würstelmann und die ersten Räusche vom Tage lassen einander nie im Stich, kein Rendezvous wurde je so pünktlich eingehalten. Bei ihm und im Straßenbahnwartehäuschen sammeln sich die Vorhuten aus Grinzing und Sievering, um dann in der Elektrischen auf die Nußdorfer zu stoßen, harmlose, heitere Geplänkel um ein paar Sitzplätze, von dem Gefühl enger Zusammengehörigkeit Wiener Landsleute mit Liebenswürdigkeit und Witz geschlagen. Die Leutchen, die schon so verhältnismäßig früh am Tag ihren Rausch abhaben, das sind die soliden Liebhaber eines guten Tropfens, treu, ehrlich und fleißig im täglichen Dienst ihrer Labung, die seit jeher so ganz zu ihrer Lebenseinteilung gehört, daß ein völliges Nüchternsein zu dieser Abendstunde geradezu eine Konfusion in ihrem Leben hervorrufen würde, daß sie sich vorkämen, als hätten sie einen Tag ein unerhörte Ausschweifung begangen, die ihr Wohlbefinden schwer stören müßte. Man sieht sie gern mit einem Lächeln an, hört sie erheitert räsonieren und ist ihnen gut wie Kindern, für deren Gesundheit es ein gutes Zeichen ist, wenn sie mäßig schlimm sind. Die Räusche zwischen 9 und 10 Uhr abends sind mäßige, bodenständige, echte Wiener Räusche. „Schweigl“ nennt man sie, glaube ich, und das klingt ebenso gemütlich wie die Weltanschauungsvorträge der ersten Heimkehrer aus Grinzing und Nußdorf, die den Optimismus predigen und selber Pessimisten nur dann sind, wenn das Bier schal, der Wein gewässert und der Heurige sauer ist.

            Ich mag sie sehr gut leiden, sie sind mir sympathisch, die „Ang’stochenen“ zwischen neun und zehn, die das Maul, aber auch das Herz auf dem rechten Fleck haben. Was sich von Torschluß ab in der Straße der Räusche aus überfüllten Straßenbahnwagen herauskollert, hinausstößt und was hier abgeladen wird, das ist ein gar nicht so heiteres Nachtbild Wiens, so übermütig-lustig es sich auch gibt. Es sind die „feineren Leute“, auch „bessere“ genannt, Herren und Damen, Jünglinge und Mädchen, die abends nach Geschäftschluß und nach der Kenntnisnahme der Börsenkurse in die Heurigenschenken hinausgefahren sind, nicht um Wein zu trinken, sondern um sich mit Wein zu betrinken. Sie „mußten wieder einmal in Grinzing sein“, weil das jetzt so Sitte, mit seinem Mädel „auf einem Heurigen zu gehen“ oder draußen sein Mädel zu suchen und irgendeines zu finden. Aber auch junge Ehepaare, ältere und jüngere junge Ehepaare, machen gern so einen Ausreißer, hinaus zu zweien, herein oft zu dreien oder gar zu vieren, je nach der Höhe der „Gemütlichkeit“, die sich beim Wein entwickelt hat. Der Grad der Gemütlichkeit ist jedem Unbeteiligten auf der Straße bald klar, wenn nicht, wird sie ihm noch rasch vor dem Einsteigen klar gemacht. Eine Fülle von „humoristischen“ Einfällen tobt sich da an der Kreuzung der Räusche aus, die breite Straße bietet für die „weitausladenden“ Schritte wie für jederlei Ulk Raum und man tut gut daran, in weitem Bogen auszuweichen, wenn man „keinen Spaß versteht“. Diese Lärmmacher um des Lärmes wegen, das sind dieselben, deren Krawall schon so oft den Döblinger Spitälern Anlaß zu öffentlicher Klage gegeben hat, diese von ihrem Rausch berauschten, die sich in der Freude, einmal „ganz verfluchte Kerle“ zu sein, an Flegelhaftigkeiten nicht genug tun können – das sind die unsympathischen, ja widerlichen Betrunkenen, ihr Rausch ist bloß für Geld gekauft und ohne Genuß am Wein erworben, ihre Betrunkenheit ist sozusagen absichtlich und vorsätzlich erzeugtes Mittel zum Zweck. Grinzing und Sievering liefern das Hauptkontingent dieser Räusche, von Nußdorf kommen auch spät abends noch die biederden, rechtmäßigen, ehrlichen Räusche. Doch wenn die beiden aufeinanderstoßen! Aus dieser Kreuzung entwickeln sich keine gutlaunigen Geplänkel, das sind schon kleine Skandale, was sich in den überfüllten Straßenbahnwagen an wörtlichen, nicht selten auch tätlichen Beleidigungen abspielt, und man muß wirklich an den Schutzengel glauben, der angeblich jedem Betrunkenen beigegeben ist, anders hätte es schon zu den folgenschwersten Exzessen kommen müssen.

            Allabendlich und allnächtlich rollt dieser Film in der Straße der Räusche ab, hier ist reichliche Gelegenheit, neuere Zeit und neuere Sitte zu studieren, die von 10 Uhr ab überhaupt [neu]ere Großstadtsitte ist. Da aber die „Heurigen“ eine Wiener Spezialität sind, werden die oft auch von Fremden beobachteten Bilder dieser Straße gern in das Wiener Album eingezeichnet, das die Ausländer dann nach Hause mitnehmen. Sie machen ebensowenig Unterschied zwischen Grinzinger, Sieveringer und Nußdorfer Räuschen wie zwischen einem Original Wiener Rausch und der arg verfälschten Nachahmung des Kost-er-was-er-kost-Rausches, dem die Weinsorte gleichgültig ist, wenn sie nur möglichst rasch in „Stimmung“ bringt.

In: Neues Wiener Journal, 7.8.1921, S. 9.

Fred Heller: Zwischen vorgestern und übermorgen

Der Zukunft kann man einstweilen noch nichts Gutes nachsagen.

Warum die Ein- und Zweikronennoten keinen Stempel erhalten? Armutszeugnisse sind stempelfrei.

Den Hungernden hilft’s wenig, wenn etliche des trockenen Tones satt werden.

Ein neuer Chamisso müßte dichten: Der B ü r g e r ist kein Spielzeug. Und er brauchte nicht erst ein Riesenfräulein bemühen.

Wieder höhere Anforderungen an das Publikum: die Theatersperre ist aufgehoben.

Das Alte vor der Welt schlecht machen, genügt nicht; man muß das Neue besser machen.

Es ist allerdings schwer, der Welt den Kopf zurecht zu setzten, während sie auf ihm steht.

Es hat alles seine Grenzen, Deutschösterreich aber hat noch ein paar mehr.

»Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« scheint noch nicht in alle Kultursprachen übersetzt worden zu sein.

Die Katz‘ für alles gewesen ist männlichen Geschlechts.

Mancher Held der Zeit gemahnt an einen Tragödiendichter: sich würde er gewiß nicht töten, wenn ihm das Malheur seines Helden passierte.

Die neue Ausrede: Ah was, v o r  uns die Sintflut!…

In: Die Muskete, 6.3.1919, S. 10.

Franz Blei: Das Geheimnis der Liebe

Erotisierung der Mode

Jemand hat bei der heutigen Frauenmode an eine, was die Verkleinerung der erotischen Oberfläche betrifft, ganz ähnliche Mode erinnert, die Sansculotte und das Directoire, die unmittelbar auf eine Mode folgten, die sich in der Vergrößerung der erotischen Oberfläche nicht genug tun konnte. Und er brachte diese verringerte Reizwirkung des weiblichen Körpers, von dem viele Partien als erotisch nicht mehr wirksam freigegeben werden, da und dort mit den Kriegen in Zusammenhang. Der Mann verliere im Kriege, also in bloßer Männergesellschaft, die Geduld, sich bei Kleiderbarrieren aufzuhalten, ebenso sehr wie die Sensibilität, die das Vorher verlange. Er werde stürmischer, brutaler, sexueller. Und die Frau folge dem Wink solcher andern männlichen Einstellung, gebe alle Außenposten wie Fuß, Fußknöchel, Wade, Arme, Nacken, Busen durch Unbedeckung als nicht mehr erotisch wirkend preis. Auch das Haar, das sie sich kurz schneide wie in der Directoirezeit. Es bleibt als das Bedeckte, weil allein noch Anziehende, nur mehr das Geschlecht und seine nächste vordere und hintere Umgebung übrig.

Vielleicht ist das so. Vielleicht ist die Krinoline, also ein Maximum an erotischer Oberfläche der Frau, friedlichen Zeiten eigentümlich, die Zeit haben, sich einer Erotisierung hinzugeben, wie es das Ancien régime tat und das zweite Kaiserreich. Gewiß ist der heutige Mann von zwanzig bis dreißig weit weniger mit der Frau und seiner erotischen Beziehung zu ihr beschäftigt, als er es zu irgendeiner Zeit war. Und umgekehrt, was aber nicht Rückschlag bedeuten muß. Es könnte die Frau aus Ermüdung an dieser etwas steril gewordenen Rolle ganz von sich aus das alte Kostüm abgeworfen haben, nicht weil sie Sport treibt oder einen Beruf ausübt oder aus sonst so praktischen pragmatischen Anlässen, sondern weil sie es einfach müde ist, oder weil sich nicht lohnt, oder aus Mangel an Phantasie, oder weil sie den raschen Wechsel des Genusses einer Dauer vorzieht, die einige Anstrengungen verlangt. Oder weil dieser merkwürdige Männerfall eines vierjährigen Krieges die Akten dieser ganzen Angelegenheit so in Unordnung gebracht hat, daß man besser die Geschichte so adamitisch von vorne anfängt, als es die Polizei erlaubt. Denn daß heute die Frau, setzte es die Mode gegen die Polizei durch, auch splitternackt gehen könnte, daran ist nicht zu zweifeln.

Wenn die Pfarrer aller Konfessionen genau wüßten, wofür sie da sind und was in ihren Theologien steht, müßten sie diese Enterotisierung des weiblichen Körpers, wie sie kürzester Rock und kurzes Haar ausdrücken, mit allen Sympathien begleiten. Wie es jeder saubere Mann und jede saubere Frau tut. Daß die Pfarrer das Gegenteil tun, verrät nur eine etwas trübe Sinnlichkeit, die immer in einer schwülen Wolke wandelt. Oder eine so große berufsmäßige Fremdheit, daß schon das bestrumpfte Knie einer Frau genügt, ihnen das Blut in den Kopf zu treiben. Aber schließlich sind nicht die meisten Menschen Pfarrer und leben in einem natürlicheren Ablauf ihres funktionellen und emotionalen Lebens. Schon die durchaus fehlende Kompetenz sollte jene, die aus Gelöbnis nie eine Frau berührt haben, noch berühren werden, davon abhalten, hier ein Urteil zu haben, außer ein ästhetisches. Aber man könnte auch sagen, es liege den Kirchen sehr viel an diesen erotischen Reizmitteln und sei nur ihr Wort falsch, wenn sie einem jungen Mädchen predigen, es sei sittlich, sich das Haar zu Zöpfen wachsen zu lassen. Und sei, was sie in Wahrheit meinen, dieses, daß die Frau keines ihrer Reizmittel aufgeben dürfe, um den Mann zum Geschlechtsakt zu bringen, mit Kinderfolge natürlich. Aber es dürfte eine vergebliche Predigt sein wie immer. Nach Vorstellungen, und seien sie auch von Händeringen begleitet und der Bedrohung mit Höllenstrafen, hat sich das Leben noch nie gerichtet. Weil es dann rational wäre, also nicht wäre.

Die Phantasie der Umarmung

Es ist in der sich verhüllenden und oft auch noch verhüllten Materie jener Affekte, welche man insgesamt die Liebe nennt, nicht zum Nachteil dieser Affekte, wenn sie in eine mentale Kohärenz mit den andern Äußerungen des Lebens gestellt werden oder mindestens der Versuch dazu immer wieder gemacht wird und von jedem. So verschieden sich auch ein jeder das Erlebnis der Liebe nach der Art seines geistigen Habitus integrieren wird, bleibt die Bedeutung dieses Erlebnisses, an dem immer zwei beteiligt sind, auch dann bestehen, wenn der Betroffene nachher nur dieses davon hat, daß er sagt: „Das ist alles?“

Wer mit diesem Sprung sich auf die Klippe seiner Geistigkeit rettet, der hat, ganz unsentimental geboren, keinerlei Anstrengungen gemacht, jenen lyrisch-pathetischen Mythus der Liebe zu schaffen, der rechtfertigt, daß sich das Fleisch in Nehmen und Geben ohne jede Scham gebärdet oder doch ohne jene soziale Scham, welche die falsche ist. Denn die echte Scham ist eine ganz geistige Qualität und unbesiegbar.

Die Schöpfung dieses rechtfertigenden Mythus der Liebe ist immer jedes Betroffenen eigenstes Werk. Die eigene Liebesangelegenheit wird man immer so logisch finden wie idiotisch die andere, die man mit kühlem Auge ansieht. Die Menschen wissen das und vermeiden es, sich vor aller Augen zu lieben. Auch alle Institutionen, die sich in Staat und Gesellschaft gegeben haben, sind wenig freundlich dem menschlichen Vergnügen gegenüber, außer in dem einen Falle, wo die Gesellschaft die Liebe anerkennt und mit den heute etwas komischen Formalien als Zeichen dieser Approbation begleitet. Welche Approbation die Liebespaare dennoch immer wieder suchen, weil sie, wie es scheint, erfreut und erschüttert sind, das ihnen nun die ganze große Gesellschaft alles erlaubt und sie dazu anfeuert, wo sie sonst verbietet. Aber selbst hier wird für den dritten das „junge Ehepaar“ immer etwas komische Vorstellungen auslösen. Und auch das Paar selber kommt sich etwas geniert und lächerlich vor, mitten auf dem ausgeräumten Platze zu stehen, den in weitem Kreise die Zuschauer umgürten. Aber ist ehrend zugleich.

Es gibt keine menschliche Umarmung, die ohne Phantasie zustande käme. Es ist durchaus nicht ausgeschlossen, daß die Ehelichkeit des Pares solche Phantasie-Bestandteile enthält und daß daraus ihre Dauer als Institut kommt, trotzdem die mißglückten Ehen oder was man die unglücklichen nennt, an Zahl die andern übertreffen dürften. Unter den vielen Gründen mißglückter Ehen ist nur ein einziger in Hinsicht auf die wesentlichen Konsituentien bemerkenswert: wenn sie aus sinnlichem Appetit, aber mit schwachen Sinnen geschlossen sind. Denn schwache Sinne werden diese nötige Phantasmagorie des Geistes nicht erzeugen, ohne welche der Mythus der Liebe nicht zustande kommt. Solche Liebesleute hätten richtiger getan, ganz auf ihre Sinne zu verzichten und aus nichts als praktisch-sozialen Gründen zu heiraten. Was sie da in ihrem dunklen Schlafzimmer treiben, ist so erbärmlich, wie das Kind, das sich solchem Schoß entwindet und auch bei geraden Gliedern eine Mißgeburt ist. Pastorsfrauen, die von der Vorstellung, daß ihre Sinne brennen sollen, schockiert sind, seien erinnert, daß sie sich doch mit dem Gebären und Aufziehen ihrer Kinder eine leidenschaftliche Arbeit machen – warum nicht mit dem Erzeugen?

Die kurzen Werke des Fleisches über das Geistige zu setzen – man hält das für antikisch und damit für das rechte und schöne Leben. Natürlich hat man in keiner Antike und in keinem Heidentum je so gelebt oder solches Leben als das rechte und schöne auch nur gedacht. Das sind so Rokoko-Vorstellungen. Wie in der Revolution der Brutus für das Sinnbild einer republikanischer Würde stand. Es gibt keinen Liebhaber, den nach getanem fleischlichen Werke die Küsse seiner Geliebten auch nur um eine Stunde länger zurückhalten könnten als er mag. Frauen, die sich das anders einreden lassen, werden um ein hysterisches Schmachten und Augenverdrehen jene Luzidität verlieren, die auch der Akt der Liebe bewahren muß, um effektiv zu werden. Diese trüben Spasmen der Bacchantin widersprechen der Eurhythmie eines schönen Leibes, und dem vollendeten Musikwerk des Aktes hat nicht das Geseufze und Gekratze der Instrumente zu folgen, – Noten, im Spiel vergessen und jetzt nachgeholt.

In: Die Bühne (1928), H. 206, S. 23f.