Arnold Höllriegel: Metaphysik der Roulette.

             Das feine Klirren gemünzten Goldes ist in meinen Erinnerungsträumen nicht zu trennen vom Bilde Monte Carlos. In den gedämpften Glanz dieser fast feierlichen  und erhabenen Säle eintretend, hörte man sonst, durch das ganz leise Raumen der Menge hindurch, über dem Pianissimo geflüsterter Leidenschaft dieses Klingling der Schwarzen Messe, diesen goldenen Oberton. Er sickerte durch  die marmorne Vorhalle, hinein in den unfaßbar prunkvollen Raum der Oper, vermischte sich mit den Furiosen Verdis oder den Gralsglocken des Parzival; rann, ein goldener Wasserfall, über die Parkwege der unvergleichlichen Palmenterrassen, klingelte noch in den teppichbelegten Korridoren des davoneilenden Luxuszugs.

             Um nichts hat sich der äußere Glanz Monte Carlos vermindert seit jenem unvergeßlichen letzten Rivierawinter vor dem Krieg und der Trübsal, aber diese seine goldene Begleitmusik ist fort, und ein Klappern von Bein und Blech geht durch die Säle. Man spielt nicht mehr mit goldenen Louisdoren, mit Sovereigns, mit den riesigen opulenten Plaques, nur noch mit weißen, roten und blechernen Spielmarken. Man kann, glaubt es, auch so sein Geld verlieren, aber von dem Reiz und Zauber ist etwas dahin. Früher sah man das Gold, das man nicht gewann.

                                                                                 *

             Monte Carlo, in Zeiten da alle Welt an der Börse spielt, hat ohne Zweifel etwas von seinem romantischen Reiz verloren. Früher leget man auf den Trente-et-Quarante-Tisch goldene Napoleons, heute rote Beinknöpfe, die zwanzig Papierfranken bedeuten, und entschieden weniger davon. Wer große Summen einzusetzen hat, weiß sich bessere Spiele. Noch hat das blecherne Zeitalter die luxuriöse Schönheit des Milieus nicht geschädigt; das Bild dieser domgleichen Prunkgebäude, dieser Gärten, dieser schätzereichen Geschäfte ist berauschend, ist überwältigend wie zuvor. Der Kasinoplatz, von den Tischen des Café de Paris aus gesehen, mit seinen wie aus der Wunderlampe gezauberten Wohnpalästen, mit der faszinierenden Buntheit der eleganten Menge, der Schönheit der Frauen, dem Glanz der Toiletten, das alles ist, wie es war: Kingsors Zaubergarten, von gefährlichen Blumen voll, Satans irdisches Paradies – – Innen im Spielsaal sieht man Unterschiede. Irre ich mich, oder fehlen sie wirklich ganz, die jungen und energischen Abenteurer, die desperaten, bösen und charaktervollen Goldgräber des Spielsaals, spielen sie anderswo, in den nüchternen Börsen, fern von der Verlockung des Weibes, in den großen winterlichen Städten ohne Sonne? Um die großen grünen Tische von Monte Carlo sehe ich in diesem beginnenden Jahr 1924 alternde Menschen sitzen, die nicht mehr ganz in diese Zeit passen; gewiß ein paar schöne Kokotten auch, und junge Leute, die vor dem Shimmy-Tanzen aus Spaß ein wenig setzen. Aber, kein Zweifel, nicht die goldenen Träume der Jugend herrschen hier mehr vor, ihre pittoresken Laster, ihre stürmischen Wonnen und tragischen Verzweiflungen. Monte Carlo, so wie ich es heute sehe, scheint mir ein Ort des törichten und des weisen Alters, der großen Brillen, der gelichteten Scheitel. Unglaublich, wie viele dekorative Großmütter um den Roulettetisch sitzen, auf dem es klappert wie von Totengebein!

                                                                                 *

             Vielleicht gebührt ihnen der Ort von Rechts wegen, den Alternden. Weswegen spielt man in Monte Carlo? Um Geld zu gewinnen? Welcher Irrwahn, tausendmal entlarvt! Man spielt aus Religiosität. Die Roulette ist keine finanzielle, sie ist eine metaphysische Angelegenheit. Wohl steht das den Alternden an.

             Wenn ich eine Opfergabe auf diesen schwarzen und roten Altar lege, der der Altar Satans wäre, wäre Satan nicht eine bloße Maske Gottes – will ich etwas anderes, als der frömmste Beter in der heiligsten Kathedrale, Erhörung meines Flehens, vervielfältigten Segen für mein in Andacht  Dargebrachtes? Ich nehme mein Scherflein, mein Ganzopfer, lege es unter den vorgeschriebenen Riten auf Rot oder à cheval zwischen die Nummern neunzehn und zwanzig – weswegen? Weil ich, fromm in meine Seele hineinhorchend, eine innere Stimme zu hören glaubte, die mir sagt: rot! Ich zweifle nicht, und niemand, der in Monte Carlo war, zweifelt daran, daß diese Stimme in jedem Spieler spricht, und daß sie die Wahrheit sagt, nur, daß leider niemand imstande ist, diese Stimme von zehn anderen Stimmen zu unterscheiden, Stimmen der Eitelkeiten, die zugleich zu schreien beginnen. Ein heiliger Büßer, der es gelernt hätte, seinen Nabel anzustarren und sich auf seine Innerlichkeit zu konzentrieren, ein abgeklärter Philosoph, der sich selbst kennte, sie müßten, mir ist das gewiß, in Monte Carlo jede Nummer erraten, bevor sie für immer zersprungen wäre.

             Aber kommen denn solche Leute nach Monte Carlo spielen?

                                                                                 *

             Ich sage das, weil ich die Welt des Scheins längst als eine Roulettescheibe erkannt habe, auf der die Erdkugel rotiert. Was ist das, diese Zukunft, in der entweder Schwarz oder Rot kommen wird? Ist sie nicht schon gegenwärtig in unserer Seele, nur daß wir nicht gut und weise genug sind, es zu wissen?

             Oft und oft weiß ich, welche Nummer kommen wird. Es ist keine Einbildung, kein Schwindel. Leider tritt das Phänomen nur immer dann ein, wenn ich nicht gesetzt habe.

             Ich glaube, im Grunde mögen die Spieler in Monte Carlo gar nicht Franken gewinnen. Sie schämen sich zu sagen, daß sie eigentlich die Stimmen ihres Inneren bestätigt finden möchten. Wie hätte ich sonst hier einmal Viktor Adler gefunden, und gestern John Meynard Keynes?

                                                                                 *

             Die brutalen Geldverdiener sind dar nicht einmal mehr in Monte. Weise Mütter und ernste Väter sehe ich das Orakel befragen. Übrigens auch unernste Väter und törichte Mütter. Seht sie, wenn sie abgekämpft und müde sind, im pururverhangenen Lesesaal die tödlich seriöse Revue des deux Mondes lesen!

             Die Zeit ist nahe, da dieses frivole Monte Carlo an der Philosophie zugrunde geht. Eine Versammlung von Ödipussen, die alle Rätsel der Roulette erraten, wird die Bank des Monsieur Blanc sprengen. Der Herr Professor Einstein, wenn er einmal Zeit für Monte findet, wird die Relativität der rotierenden Scheibe enträtseln und den Fürsten von Monako um seine schöne Rente bringen. Schon hört man in den Sälen nicht das frivole Geld des Trugs rieseln, man hört es klappern, das trockene Gebein.

                                                                                 *

             Nur weil es unter so vielen Philosophen doch auch einige Narren gibt, steigen vorläufig die Aktien der Spielbankgesellschaft noch ein wenig.

In: Der Tag, 10.1.1924, S. 3.

Johannes Urzidil: Freiheit (Wien bei Nacht)

             Viele junge Männer gehen am Abend durch die Straßen der Stadt, mit einer Banknote in der Tasche, nicht so groß, daß man mir ihr übermütig werden könnte, aber ausreichend, um zwischen mannigfachen Genüssen die Wahl zu lassen. Vielleicht genügt sie, ein Abendessen in einem mittleren Restaurant zu bestreiten, oder sie überläßt es dem Einsamen, sich für eine Flasche erträglichen Weines oder ein Theaterbillett zu entscheiden. Man könnte auch darauf verfallen, sich bei einem der vielen Mädchen, die jetzt an den Straßenbahnstationen warten, vorsichtig mit weichem Blick einzuschleichen und nach einer stummen Unterredung der Augen ein paar Ecken weit oder noch weiter mit ihr zu fahren. Einige sind da mit dünn durfenden Batistblusen, durch welche die Transparenzen der Haut leise schimmern, leicht Vorgeneigte mit beweglichem Spielbein und geistesabwesendem Blick, einige mit resoluten Schritten, fest in ihre Form gefügt und ganz bei sich selbst gegenwärtig. Wie schön ist es, so vor der gleichgewichtigen Wage der Entscheidung zu stehen, das eine winzige, fast gewichtslose, aber alles entscheidende Körnchen des Entschlusses zwischen den Fingern zu halten, es in die eine oder die andre Wagschale werfen und sei tief hinabsenken zu können. Vielleicht so tief, daß sie niemals wieder in das schwebende Gleichmaß zurückkehrt und dieses eine, unmerkliche, aber das Leben selbst bedeutende Körnchen für ewig unerreichbar bleibt. 

Der junge Mann bummelt durch die Straßen, an den glänzend erleuchteten Nachauslagen vorbei, er bleibt da und dort stehen und betrachtet die verschiedenen ausgestellten Waren. Er freut sich im stillen, daß die Läden geschlossen sind, daß er alles genießen kann, ohne die Mühe der Entscheidung. Er besitzt ohne die Last des Besitzes und ohne den Mangel, den jeder greifbare Besitz in sich birgt. Er verschwendet das Hundertfache dessen, was er hat, er lebt ohne Gefahr weit über seine Verhältnisse. Er ist wahrhaft reich.

             Schließlich aber, wenn er die Banknote nicht mehr ertragen kann, tut er mit ihr, was jeder mit ihr tun würde, bei dem Geld nicht übernachtet. Die Theater sind schon geschlossen, in den Restaurants ist nichts Rechtes mehr zu haben, die Mädchen sind nach Hause gefahren. Dier junge Mann setzt sich ein wenig in die Straßenbahn, kauft dann irgendwo eine Zeitung, wirft einem Bettler mehr als Brauch ist, in den Hut, ißt an einem Büfett überflüssige Dinge, raucht eine Zigarre und, nachdem er alles in kleinen Hingaben ohne Bedeutung vertrödelt hat, geht er heim, seufzt auf dem Treppenabsatz still vor sich hin, und mit einem Gefühl grenzenlosen Hungers und einer Leere zwischen seinen Fingerspitzen legt er sich, ohne die Lampe erst anzuzünden, in das dunkle Bett. 

In: Neues 8-Uhr-Blatt, 23.10.1924, S. 8.

Rudolf Kalmar: Unter dem Doppelgeier… Von der Börse, den Börsianern und allem was dazugehört. Zeichnungen von Fred Dolbin.

             Es ist ein frommer Brauch, den Hut zu ziehen, wenn man an der Börse vorübergeht, denn es liegt dort manches Liebe begraben: der Winter in Nizza, der Sommer auf Helgoland, das Badezimmer mit dreizehn Finessen und ein Sechszylinder mit Wasserspülung. Man träumte von diesen Dingen solange, bis die Kollegen vom volkswirtschaftlichen Teil anfingen, ihren täglichen Nachruf mit „andauernd flau“ zu überschreiben. Da wurden die Zeiten finster und bitter. Als sich die schmutzige Phantasie der Ökonomisten erst gar mit 1873 zu beschäftigen begann – in historisch-kritischen Betrachtungen und weil ihre Träger nichts besseres zu tun hatten – konnte das Ende nicht mehr fern sein.

             Gott hat es anders gewollt: die Börse steht noch immer.

             In schlichter Einfachheit lädt sie den Wanderer zu architektonischen Betrachtungen und zeigt ihm schamhaft die nackten Männlein am Dachrand. Es heißt, daß auch sie vor zwei Jahren noch eine wallende Toga besessen hätten. Wer weiß es?

                                                                                 *

             Ein Denkmal wiedergeborener Antike am Ringstraßenrand. Vom Boden an liegt eine Schicht lichter und lichter werdenden Schmutzes an dem marmorprotzenden Bau. Tritonen stechen mit goldenen Gabeln gegen die stürmende Pleite. Durch steinerne Wogen steuern Schifflein mit (wahrscheinlich) unsicherem Kurs und ein engmaschiges Drahtnetz, vor die Bogen des Atriums gespannt, hindert die Spatzen, das zu tun, was viele Börsianer schon lange getan haben.

             Just dort zwischen den dickwüstigen Säulen hat vor gut zwei Jahren ein Mann seine Höllenmaschine placiert: Konservenbüchsen mit Zündschnurzipfeln. Sie pflutschten am Abend auf, ohne Schaden zu stiften, fetter Ruß besudelte ein paar Marmorblöcke, Börsenräte kamen zum Lokalaugenschein, das Polizeipräsidium amtierte die halbe Nacht, rasende Reporter schnüffelten tagelang nach dem Attentäter und fanden ihn nicht. Er war entweder ein ganz kleiner, ein ganz ungeschickter Gauner, oder ein großer Witzbold. Noch heute sieht man einem Dachträger die Spuren von seiner Mordmaschine.

             So wenig hat sich an der Börse verändert. Nicht nur das: sogar noch weniger.

             Noch immer sitzen die Kibitze drüben im Café Wögerer, dem Fegefeuer vor dem Börsenhimmel und mimen volkswirtschaftliches Interesse.

             Man betritt die Börse (wie denn nicht) durch ein Hintertürchen und kommt zunächst nach einigem Hin und Her in einen Wartesaal dritter Klasse der österreichischen Bundesbahnen. St. Pölten, beispielsweise, doppelt genommen und frisch ausgekehrt. An graubraunen Wänden stehen biedere Bänke und langweilen sich in stiller Feierlichkeit. Wie die guten alten Ledermöbel im Rauchzimmer daneben, die im Verein mit großen Zeitungsständen das Angesicht: bürgerliches Kaffeehaus kopieren.

             Man ist prosaisch gestimmt und spricht daher von Kunst, von Musik, von Tingl-Tangl. Liest ein Feuilleton über Fritz von Unruh und wärmt alte Tratschgeschichten von irgend einer Frau Generaldirektor auf. Oder man schläft. Je nachdem. Was tuts?

             Keine Zahl schrillt auf aus dem wohlig warmen Zigarrenrauch. Nicht einmal das Erinnern an ein Bezugsrecht oder das Interesse für eine neue Emission. Egal… Man hat geruhsame Dinge im Kopf wie zur Urlaubszeit und kratzt nur manchmal unmerklich hinter dem Ohr ein wenig die Sorgen.

             Während im Saal drinnen dickflüssig und träge die österreichische Volkswirtschaft brodelt.

                                                                                 *

             Die Sensale im Schranken hocken melancholisch über ihren Büchern und kommen sich sehr überflüssig vor. Die Aufträge sind selten geworden. Man erledigt sie mit genießerischem Bedacht und malt zwischen dem ersten und dem zweiten Gähnen kunstvoll geschnörkelte Ziffern ins Register. Hie und da nur steigt – ritsche, ratsche – die Avisotafel mit einer Notiz hoch, ohne daß sich jemand darum kümmert. Hie und da putzt einer zum x-ten Maile seine Brillengläser.

             Und die Kulisse sieht zu. Man lehnt an der Mauer, lümmelt an einem Schreibtischrand, räkelt sich auf einem massiven Stockerl und stellt sich mit einem Bekannten nach dem anderen zu einer kleinen Plauderei.

             Abgerissene Redefetzen treffen das Ohr im Vorübergehen.

             „Hören sie zu: Sagt der alte Blau zur seinem Prokuristen…“

             „…die Schlanke, mit dem schreigelben Wuschelkopf…“

             „…und er bildet sich doch ein, daß das Kind…“

             „Nebbich!“

             Der Verkehrsturm in der Salgo-Kulisse ist mit Papierstreifen abgeblendet.

             Es interessiert sich kein Mensch für das ganze Brimborium.

                                                                                 *

             Endlich nach einer halben Stunde ruft irgendwo ein Kommissionär zum Geschäft. Mit gellender Stimme schreit er:

             „Ich kauf‘ zu viere… Ich kauf‘ zu viere… Ich kauf‘ zu viere…“

             Bei jedem Satz fliegt sein Arm mit scharfem Wurf durch die Luft. Trifft mit der Fingerspitze bald de, bald den. Tödliches Schweigen.

             Er kauft zu viere. Keiner rührt sich.

             Wieder platzt der Kommissionär los und geifert seinen Satz in das Gemurmel, bis ihm die Stirnadern schwellen und die Stimme kiekst. 

             „Ich kauf‘ zu viere… Ich kauf‘ zu viere… Ich kauf‘ zu viere…“

             Eine aufgeregte Hand peitscht die Luft. Die andere krabbelt nervös im Notizbuch.

             Endlich meldet sich einer: „Ich geb‘ um fünef…“

             „Ich kauf‘ um viere…“

             „Ich geb‘ um fünef…“

             „Ich kauf‘ um viere…“

Auge im Auge stehen die beiden Kämpfer // und drücken einander ihr Angebot zu. Die anderen lachen.

             „Ich geb‘ um fünef…“

             „Ich kauf um viere…“

Da zieht der Verkäufer die Schultern hoch und dreht sich gemächlich um. Es ist wieder einmal nichts gewesen.

             Schon spricht er mit einem Freund über Weihnachten am Semmering, da kreischt nach ein paar Minuten neuerlich die Stimme des Kommissärs: „Ich kauf‘ um viere…“

             Der andre schleicht langsam zu der Gruppe und lauert harmlos im Hintergrund.

             Auf einmal fährt er los, schleudert mit beiden Händen seinem Partner die Worte ins Gesicht: „Ich geb‘ um viereinhalb…“

             „Ich kauf um viere…“

             „Ich geb um viereinhalb…“

             „Gemacht… Dreimal…“

             Jeder kritzelt eine Klaue auf seinen Block. Dann verzieht man sich wieder zu den beschaulichen Gruppen.

             Schon im Abendblatt steht dann etwas von „andauernd flau, bloß kleinere Schlüsse getätigt“.

                                                                                 *

             Punkt 1 Uhr läutet eine Mistbauerglocke die Börse aus. Man notiert die Schlußkurse, telephoniert an sein Bureau um Orders und fragt zu Hause an, was es zu Mittag gibt. Sonst ändert sich nichts.

             Man kauft an der Nachbörse so wenig wie zwischen elf und eins.

             Und wenn man den vergessenen Doppeladler, der, aus alten Zeiten überkommen, noch immer einen Nebenraum schmückt, mit halbgeschlossenen Lidern anblinzelt, sieht man, wie sein Hals sich streckt, wie sein Schnabel wächst und die Augen zurücktreten.

             Jede Seite würgt einen gierigen Brocken: So wird ein altes Emblem zum Börsenzeichen: Doppelgeier.

In: Der Tag, 25.12.1925, S. 3-4.

Albert Ehrenstein: Trost für Lyriker

             Im Anfang war der Bücherschrank. Mythologen möchten gern sein erstes Auftauchen im trauten Familienkreis verfolgen, in Kosmogonien wird er gewöhnlich als unverwüstlicher Bestandteil der Mitgift oder Ausstattung geführt. Ich aber halte ihn einfach für mitgeboren, Erbstück oder, noch besser, präexistent und bis an den Rand gefüllt mit ungelesenem Goethe-Schiller. Dieser, durch seine unvermeidliche Biographie nebst Inhaltsangabe, Gram der Gymnasiasten und höheren Töchter, Milchkuh aber den Monographen und Gedenktaglöhnern, ist der Klassiker. Daß seine Werke dem Volk wenig bekannt sind, ist unbekannt. Deutschen Lyrikern, an sich aufhängerischen Gemütes, sei dies durch Daten beglaubigt.

             Ein best seller oder Schmöker, genannt „Westöstlicher Diwan von Goethe, Stuttgart, in der Cottaischen Buchhandlung“, erschien erstmalig 1819. Von dieser im Druck (Walbaum-Antiqua) und gar in der Anordnung der Gedichte vorbildlichen Erstausgabe gab es 90 Jahre lang (bis 1906) Exemplare auf Lager bei Cotta. Die Liebhaber Goethescher Lyriker scheinen sich mit den obenerwähnten hereditären Gesamtausgaben bibliophil befriedigt zu haben. Goethe war eben unvorsichtig oder geizig genug gewesen, dem Volk der Dichter und Denker einen westöstlichen Diwan zu hinterlassen statt persischer Teppiche! Mag man dies Kamelhaar in der Nationalsuppe nicht beachten – wie innig das deutsche Volk den Romancier Goethe liebt, blickt aus der Tatsache, daß von dem 1911 zuerst erschienenen neuen Roman „Wilhelm Meisters theatralische Sendung“ bis heute nur 30.000 Exemplare verkauft wurden, darunter Tausende mehr als wohlfeil auf Bücherwagen.  Keinem Theaterroman oder Kulissenklatsch eines unserer lebenden Absatzkünstler wäre innerhalb 16 Jahre so geringer Erfolg beschieden. Was dem Urmeister recht ist, muß dem Gesellen billig sein; von einem der schönsten deutschen Romane, von Eichendorffs „Dichter und ihre Gesellen“ – seit dem ersten Erscheinen, seit 1833, unbekannt, vergessen, verschollen – existiert bis heute keine billige Einzelausgabe. Der deutsche Leser gehört nicht zu den Spießgesellen des deutschen Dichters. Der Klassiker ist ein unzerreißbarer Reißer, den man Kindern als Spielzeug oder Bildungsstrafe in die Hand gibt. Gelesen werden die gesammelten Werke nur vom Staubsauger. Dichter haben Geburtstage und Todestage. Vorher, dazwischen und nachher werden sie nicht gelesen. Sondern gefeiert.

In: Der Tag, 6.1.1929, S. 18-19.

Max Graf: Sanierung der Seelen

Abgesehen von seinen Wahl- oder Parteireden, oder den politischen Reden, die sich mit aktuellen Fragen beschäftigen, hält der ehrwürdige Seelsorger der österreichischen Republik, Bundeskanzler Dr. Seipel, in letzter Zeit immer häufiger Reden, die sich mit den allgemeinen Fragen des gesellschaftlichen Lebens beschäftigen. Diese Reden zeigen einen ernsten, nachdenklichen Mann von nicht alltäglicher Geistigkeit, dessen Blick nicht an den Vordergrunderscheinungen des Lebens haftet, mit denen Dr. Seipel von früh bis abends reichlich genug beschäftigt ist. Die Gedanken des Bundeskanzlers im schlichten Priesterrock gehen aufs Allgemeine, suchen Gesetze des Lebens, wollen die Richtung der Bewegung feststellen; es spricht der Moralist, der Gesellschaftskritiker, auch der Theolog, ein politischer und religiöser Denker, dem der schärfste politische Gegner die Reinheit der sittlichen Gesinnung nicht anzutasten wagen wird. Es bedeutet viel in Tagen, in welchen so viel gieriger Egoismus, so viel Gewinnsucht, so viel ungeistige Gewalttätigkeit entfesselt sind, in den wichtigsten Staaten Mitteleuropas Männer des Geistes die führenden Staatsmänner sind, mag ihr Denken frei und positivistisch sein, wie das des alten Masaryk und des Realisten Benesch, oder religiös gebunden, wie das Dr. Seipels. In Staatsmännern von solcher Art, denen Politik etwas anderes ist als Geschicklichkeit, sind geistige Kräfte, die sich auch im politischen Leben fördernd und belebend ausdrücken müssen. Noch immer sind Geist, Charakter, sittliche Gesinnung größere Kraftquellen, als die Kunst der politischen Gewalttätigkeit und Intrige, als ökonomische Macht und brutales Streben nach Vorteilen.

Die letzte Rede Dr. Seipels hat sich mit dem Luxus beschäftigt, der in Wien bei Festen sich zur Schau stelle. Es gefalle ihm – so meinte Dr. Seipel in seiner ernsten Rede – nicht, daß viele tausend Mitmenschen schwer um ihre Existenz ringen, und gleichzeitig ein Luxustreiben durch die Stadt gehe. Es gefalle ihm der Geist dieses vergnügungstollen Reichtums nicht, dem nichts am Staate liege und der andere verbittere. „Ich habe nicht den Ehrgeiz, als Staatsmann geschildert zu werden, der nur die Finanzen sanieren geholfen hat, sondern mit kommm[t] vor, daß wir auch die Seelen sanieren wollen meinte Dr. Seipel mit einer jener trefflichen Antithesen, die zur dialektischen Ausrüstung des Kanzelredners gehören, und es ist begreiflich, daß der Richter Dr. Seipel kein höheres, kein edleres Ziel kennt, als die Sanierung der Seelen. Die Sanierung der Finanzen, so wichtig und lebensnotwendig sie für den Staat ist, was kann sie dem Mann der Religion bedeuten, neben der viel wichtigeren der Sanierung der Seelen, die sein eigentlicher Beruf ist, um dessentwillen er den schwarzen Priesterrock angezogen hat, das Kleid der Streiter Christi, das Kleid der Seelenführer und Seelenretter? Ohne die Sanierung der Seelen muß dem Priester Dr. Seipel sein eigenes Werk unvollständig sein, denn der Mensch lebet nach den Worten der Heiligen Schrift nicht vom Brot allein.

Dr. Seipel denkt über die Zustände des modernen Staates und der modernen Gesellschaft kaum anders als der heilige Augustinus über den verderbten Römerstaat gedacht hat. In herrlich aktuellen Worten hat der heilige Augustinus im 2. Buch seines „Gottesstaates“ das Bild eines verkommenen Staates und einer verkommenen Gesellschaft entworfen: „Die Anbeter der heidnischen Götter kümmern sich nicht darum, daß die Republik durch alle Arten von Lastern befleckt ist. Wenn sie nur sich erhält – sagen sie – wenn sie nur blüht, siegreich und triumphierend ist, und vor allem, wenn sie vollkommenen Frieden genießt; was kümmert uns das übrige? Uns kümmert es nicht, daß jeder täglich seine Reichtümer vermehrt, um alle seine verschwenderischen Gelüste zu befriedigen und die wirtschaftlich Schwachen zu unterwerfen. Uns kümmert es nicht, daß die Armen die Schleppträger der Reichen werden, damit sie ihren Lebensunterhalt finden und im Schatten// der Protektion ein ruhig-müßgiggängerisches Leben genießen und daß die Reichen die Armen mißbrauchen, um sie zu Dienern ihres Luxus und ihrer Eitelkeit zu machen… Uns kümmert es nicht, daß man große und stolze Häuser baut, daß man überall und wo man Lust hat praßt, ohne gehindert zu werden, und die Nächte mit Spiel, Trinkgelagen und allen Arten Ausschweifung verbringt; daß man an allen Winkeln tanzt; daß die Theater von dem Geschrei jener widerhallen, die unzüchtigen oder blutigen Schauspielen applaudieren, und jener als Volksfeind betrachtet wird, der jene Vergnügungen mißbilligt; wenn nur weder Krieg noch Pest, noch ein anderes Unglück einen so glücklich sanierten Staat stören.“ Die Sanierung der Seelen war für den heiligen Augustinus die Errichtung des Gottesstaates, das siebente Zeitalter des Menschen, in dem er das göttliche Königreich besitzt, die ewige Glückseligkeit, das Leben nach dem Geist, der vollkommene Christenmensch. Man darf annehmen, daß auch dem Prälaten Dr. Seipel nach der Sanierung des Staates, die sein historisches Verdienst sein wird (wenn sie endgültig abgeschlossen sein wird) die Sanierung der Seelen, die der heilige Augustinus mit den Feuerworten seines afrikanischen Lateins gepredigt hat: die Sanierung durch den Glauben, als wichtigste Aufgabe erscheinen wird. Die Aufnahme der österreichischen Republik in die civitas die wird eine noch schwerere Aufgabe sein, als die Aufnahme Österreichs in den Völkerbund, und ernst und streng mahnt der Mann der Kirche, in dem die österreichische Republik ihren erfolgreichsten und geistig bedeutendsten Staatsmann gefunden hat, sich auf die Sanierung der Seelen vorzubereiten.

Mit sittlichem Ernst mahnt der österreichische Bundeskanzler immer wieder den Reichtum an seine sozialen Pflichten. Er steht mit diesen Mahnungen innerhalb der Traditionen der Kirche, welche in der Zeit, wo der Glaube am glühendsten, die Seelen noch frisch, der Fanatismus der Bekehrung ungeheuer war, im Reichtum Sünde gesehen hat. Kein Anarchist konnte heftigere Brandreden gegen den Reichtum halten, als der heilige Ambrosius. „Was sollen, oh Reiche, eure sinnlosen Begierden?“ – predigt der große Bischof von Mailand – „Glaubt ihr, daß ihr allein auf der Erde wohnt? Weshalb stößt ihr jene zurück, die die Natur als euresgleichen geschaffen hat, und beansprucht für euch allein den Besitz aller Sachen? Die Erde ist geschaffen zum gemeinsamen Gut der Reichen und Armen. Weshalb maßt ihr euch allein, o Reiche, das ausschließliche Recht an ihr an? Die Natur kennt keine Reichen, sie bringt uns alle arm auf die Welt, denn wir werden ohne Kleider geboren und wir sind nicht mit Gold und Silber behangen…Reiche! Ihr raubt alles den Armen, ihr entreißt ihnen alles und läßt ihnen nichts. Die Armen sind hungrig, wenn sie nichts haben. Ihr seid hungrig, wenn ihr euch mit Schätzen vollstopft… Ihr entreißt das Gold aus den Eingeweiden der Erde, aber nur um es von neuem zu verbergen, und wie viel Leben vergräbt ihr in das Gold!“

Niemals hat ein Proudhon den Reichtum mehr verdammt, als der heilige Ambrosius in seinem „Buch vom Naboth“[1]. Freilich: in der späteren Zeit hat die Kirche sich mit den Mächtigen der Erde zu verbünden gewußt und ist zeitweise der sicherste Schutz einer Gesellschaftsordnung gewesen, die dem Reichtum alle Macht und alle Vorrechte gegeben hat. Das Evangelium der Nächstenliebe hat nicht den Weltkrieg zu verhindern gemocht […], als für das große Morden in den Kirchen gebetet wurde. Und wo wird heute das „Liebet eure Feinde“ beachtet, wo doch von jeder Kanzel das Evangelium gepredigt wird. In der ungeheuren Weltumwälzung, die wir miterlebt haben, hat sich die Kirche ebenso schwach gezeigt, wie der Sozialismus, wie jede altruistische Gesinnung, die dem Masseneinbruch gewalttätiger, egoistischer Instinkte nicht widerstehen konnte.

In dieser Barbarei, in diesem allgemeinen Zusammenbruch der Kultur, des europäischen Gewissens, spricht Dr. Seipel das Wort aus von der „Sanierung der Seelen“. Ein schönes, ernstes und geistreiches Wort. Aber mit dem schönsten Predigtworten ist der aus den Fugen geratenen Welt nicht zu helfen. Die sittliche Verwüstung der Gesellschaft, die ja nicht auf Österreich beschränkt, sondern international ist, ist nur ein Zeichen einer fehlerhaften gesellschaftlichen Organisation. Die Gegensätze zwischen Reichtum und Armut sind in allen Ländern Europas, wo inmitten der Kriegsverwüstungen Vermögen zusammengerafft wurden und aus der Zerstörung des Besitzes neuer Reichtum an die Oberfläche kam, viel größer geworden, als sie vor dem Krieg waren, die soziale Bodenunruhe ist gewachsen, und welcher Einsichtiger würde nicht verstehen, daß die Welt in ein Zeitalter sozialer Erschütterungen, Umformungen, Kämpfe eingetreten ist – der Weltkrieg war nur eine blutige Episode dieser Weltkrise –, das noch lange nicht beendet ist. Die Gegensätze in der europäischen Gesellschaft sind viel zu groß, als daß sie mit Worten überbrückt werden könnten, deren Ohnmacht sich im Weltkrieg gezeigt hat. Wenn einmal der Neubau der modernen Gesellschaft vollzogen sein wird, wenn der Gegensatz von Reichtum und Armut durch die gesellschaftliche Ordnung gemildert, die Arbeit alle Mitglieder der Gesellschaft vereinen wird, werden auch die Herzen offen stehen für das Evangelium der Liebe und Menschlichkeit: Die „Sanierung der Seelen“ ist ein schöner Gedanke. Aber ein wohnliches Heim für diese Seelen muß vorerst geschaffen werden, während jetzt die Seelen der Reichen vor Furcht, die Seelen der Armen vor Erbitterung zittern. Denn auch die Verschwendung der Reichen, über die Dr. Seipel klagt, was wäre sie anderes als Furcht, ein Vermögen zu verlieren, dessen Besitz in einer Zeit allgemeiner Verarmung über Nacht entstanden ist, und die Gier, es zu genießen?

In: Der Tag, 20.1.1924, S. 1-2.


[1] De Nabuthe Iezraelita (Über den Israeliten Nabuth; Homilie gegen die Habgier, 389)

Hugo Bettauer: Die verfluchte Stadt.

             Vorwurf für ein grotesk-phantastisches Drama, das Oskar Panizza hätte schreiben können: Gottvater, erzürnt, weil ihm sein Ebenbild so wenig gelungen ist, beschließt, die entartete Menschheit tüchtig zu bestrafen und wendet sich, wie immer in solchen Fällen, an Satan. Der faßt einen echt satanischen Plan. Die Menschheit soll aus den Ebenen und Bergen haufenweise zusammengetrieben werden und so genötigt sein, zu Zehntausenden und Millionen miteinander zu leben, auf daß sie ihre bösen Eigenschaften und Instinkte gegeneinander ausleben müssen und jede ihrer schlechten Taten zur vollen Geltung kommt. Auf diese Art sind die Städte entstanden, von denen aus sich alles Übel über den Erdball ausbreitet, denn Kriege und Pestilenz, Haß und Gemeinheit, Kapitalismus und Bolschewismus, verderbte Liebe und Wahnsinn, Brudermord und Kubismus – dies und alle anderen schrecklichen Dinge haben ihre Geburtsstätte und ihren Nährboden nur in der Stadt, werden dort zu Beulen, die, wenn sie platzen, ihren giftigen Eiter über die Länder spritzen.

             Heute ist die Welt mit solchen Sammelstätten des Verbrechens und Grauens ordentlich bespickt. Da aber die Menschen klug und zäh sind, haben sie aus ihren Großstadtnöten eine Tugend gemacht, Licht, das von selbst brennt, unter- und überirdische Bahnen, Fernsprecher, Automobil und Kanäle zur Beförderung ihres Unrates erfunden und, vergessend, daß alle diese Erfindungen eigentlich Verzweiflungsausbrüche sind, höhnen sie die noch nicht in die Stadt gepreßten, die das, was sie Komfort nennen, entbehren müssen, ja, dafür keine Verwendung haben. So sind die Millionenstädte zu riesigen Maschinerien geworden, in denen der einzelne von dem Tosen der Treibriemen und dem Surren der Räder so betäubt wird, daß er gar nicht zur Besinnung seiner selbst kommt, ja es sogar als herrlich empfindet, daß man auf das fünfte Stockwerk hinauffahren kann, als wenn es eine große Errungenschaft und kein Jammer wäre, überhaupt fünfte Stockwerke zu haben. Bis von Zeit zu Zeit irgend etwas an dieser Maschine in Unordnung gerät und sich dann die ganze Erbärmlichkeit einer auf Rädern, Treibriemen und Batterien aufgebauten Existenz erweist. Wir haben jetzt eine solche Woche hinter uns, in der es sich deutlich gezeigt hat, wie furchtbar das Leben in der Großstadt an sich ist, wenn der künstliche Mechanismus stillsteht. Nur zwei Tage dauerte der Streik der Eisenbahn, der Post, des Telephons und diese zwei Tage genügten, um zu erfahren, daß man in der Millionenstadt verlassener, einsamer, hilfloser lebt, als auf der höchsten Alm. Am schwersten wurde das Telephon entbehrt. Es hab zwar zum erstenmal in der Geschichte des Wiener Telephons keine falschen Verbindungen, aber auch keine richtigen. Das Leben war einfach wie erdrosselt. Ich weiß ganz sicher, daß, wenn ich meinen Verleger anrufe, ich ihn nicht erreichen werde, weil sich die Zentrale nicht melden wird oder die Beamtin ihren schlechten Tag hat und nicht will oder weil sie mir bis zum Zerspringen ihr monotones „Besetzt bitte, leider“ ins Ohr plärren wird. Aber immerhin – die Möglichkeit der Verbindung besteht, sie kann doch gelingen und wenn ich verzweifelt das Höhrrohr abhänge, tröstet mich das Bewußtsein, daß es vielleicht später gehen oder der Verleger mich anrufen wird. So aber lebte man ins Leere hinein, zitterte bei dem Gedanken, wer weiß was zu versäumen, hatte das Gefühl, stumm geworden zu sein und hilflos wie ein kleines Kind.

             Dann kam dieser überaus sympathische Streik der Straßenbahner und die Großstadt verwandelte sich mit einem Ruck in die Hölle, die sie auch sonst ist, ohne daß man es aber immer merkt. Man stelle sich vor: Eine Stadt mit zwei Millionen Menschen und einer Ausdehnung, wie keine zweite Stadt auf dem europäischen Kontinent, ohne irgend ein ernstlich in Betracht kommendes Verkehrsmittel! Es gibt ja ungefähr dreitausend Automobile in Wien und sie sind ohnedies wie verrückt durch die Straße gejagt, aber schließlich sind es doch nur zehntauend Menschen, die von ihnen Gebrauch machen können, und zwar mehrstenteils solche, die eigentlich im Interesse des Gesamtwohls besser zu Hause bleiben würden. Die anderen aber, die arbeiten müssen, die unter dem ehernen Zwang der Jagd nach blauen und braunen Fetzen stehen, die zwar nichts wert sind, aber doch vor dem Hunger schützen, diese anderen Million Menschen stand fassungslos mitten in einer Wüste von Hitze und Staub erfüllt und mußte auf verfluchten Granitwürfeln, deren Kanten die Sohlen zerschneiden, phantastische Entfernungen zurücklegen. Wie ein Strom wogte es durch die Straßen, in der Früh dem Zentrum zu, abends gegen die Peripherie, und alle diese Männer und Frauen, Mädeln und Burschen schienen mit erloschenen Augen, Falten um den Mund, grünlich-gelbe Wangen und Wut im Herzen zu haben. Und wenn ich die Blicke sah, mit denen die schreitende Schar den vorbeirasenden Automobilen folgte, so erschrak ich vor so viel dumpfen Haß, Neid und Verzweiflung, die, auf Millionen verteilt, ungefährlich, einmal gesammelt und konzentriert, furchtbar sein können.

             Die trostlose Abhängigkeit, in der wir Städter leben, mag wohl jedem in diesen Tagen gedämmert haben. Die Abhängigkeit vom guten und bösen Willen der anderen, von einem gerissenen Treibriemen, dem Bruch eines Wasserrohrs. Zehntausend Menschen wollen mehr Lohn, als man ihnen geben will, und zwei Millionen Menschen müssen mit keuchender Lunge sich die Fußsohlen wund laufen! Eine winzige Bleisicherung brennt durch und eine fröhliche Gesellschaft muß aus dem Dunkel des Hauses auf die Straße flüchten, die Übeltat einer organisierten Mörderbande und sechzig Millionen Deutsche stehen unter der Fuchtel des Ausnahmegesetzes, ein Schutz am Peter- und Paulstag und die ganze Welt stand in Flammen. Und der Streik, der Mord, der Schutz wird immer nur in der Stadt geboren.

             Gott hat die Menschen geschaffen und der Teufel die Städte…

In: Der Morgen, 3.7.1922, S. 5.

Hugo Bettauer: Die Neujahrsnacht der Banknoten.

             Um einen grünen Tisch herum sitzen wohlbekannte Gestalten, um sich nach rastloser Wanderung einer kurzen Muße hinzugeben und bei Punsch und Krapfen den Eintritt des neuen Jahres abzuwarten; der Einser, der Zweier, der Zehner und Zwanziger, der Fünfziger und Hunderter, der Tausender und Zehntausender haben genau nach Rang und Wert ihre Plätze eingenommen. Zwei Stühle sind für weitere Gäste reserviert. Der Einser und der Zweier befinden sich in despektierlichem Zustand. Abgerissen, fetzig, schmutzig, klaffende Risse notdürftig mit Heftpflaster verklebt, in sich zusammengesunken sitzen sie da, als wollten sie demnächst verenden.

             Dem Zehner ist die Nachbarschaft ersichtlich unangenehm, er rümpft die Nase, schüttelt sich vor Ekel und brummt wütend:

             „Ihr hättet auch lieber zu Haus bleiben können. Ordentlich kompromittieren tut Ihr die ganze Gesellschaft!“

             „Na, na, spiel‘ dich nicht auf, Zehner,“ ruft der Hunderter höhnisch, „schaust ja selber schon wie ein Pülcher aus! Auf ja und nein wird sich nach dir auch keiner mehr bücken wollen.“

             „Mir alle san halt strapaziert,“ keucht der beleidigte Zweier!

             „Volksfreunde san mir,“ echot der Einser, „Kinderfreunde und Genossen der notleidenden Klassen!“

             Das war zu viel der Anstrengung, der Einser rutscht vom Stuhl hinunter und sein Oberkörper trennt sich vom Unterleib. Der Zweier bückt sich, um dem Genossen zu helfen, dabei kommt auch er zu Fall und der Zehner stoßt sie beide wütend mit dem Fuß beiseite.

             Der Tausender beschwichtigt die Aufgeregten. „Laßt’s die armen Hascher lieger! Sie haben ja eh‘ die längste Zeit schon kein Leben mehr g’habt! Wann i der Hausherr wär, tät ich sei im neuchen Krematorium verbrennen! Kosten eh‘ mehr, als sie wert san!“

             Der Zwanziger will sich noch nicht beruhigen! „Eine Schande ist es, so mit uns umzugehen! Auf ja und nein kann uns allen dasselbe geschehen! In den letzten Wochen habe ich schon genug Schimpf und Schande erleben müssen.“

             Der Tausender reckt sich, wirft funkelnde Blicke aus den braunen Augen und meint:

             „Es herrscht eben keine Achtung und Ehrfurcht mehr in diesem Lande, seit der gute Kaiser Karl…“

             „Nichts von Politik,“ brüllt der demokratisch gesinnte Hunderter dazwischen.

             Der Tausender begehrt auf: „Wer etwa behauptet, daß ich Monarchist bin, ist ein Verleumder! Aber einen Herrn brauchen wir, sage ich! Wissen Sie, was mir neulich beinahe geschehen wäre? Beim Heurigen war es, als nach kräftigem Genuß von neuem Wein und Powidlgolatschen sich so ein reich gewordener Selcher beinahe, weil er nichts anderes zur Stelle hatte, mit mir…“ Die anderen Worte flüsterte der Tausender indigniert den Nachbarn zu, von denen der Hunderter erbleichte, während der Zehntausender in schallendes Gelächter ausbrach.

             „Allerdings, mir könnte das nicht so leicht passieren! Na, ja, schließlich bin ich auch unter den geänderten Verhältnissen ein Wertfaktor, den man respektieren muß!“

             „An Schmarrn bis du,“ kreischt der kranke, schäbige Zehner im Bewußtsein, eh‘ auf dem letzten Loch zu pfeifen. „Du und der Tausender, Ihr seid nichts als Schwindler, besonders seitdem Ihr von hinten wie die Zwillingsbrüder ausschaut.“

             Mit philosophischer Ruhe mengt sich der Fünfziger ein. „Meine Herren, geben wir uns keinen Illusionen hin, Schwindler sind wir alle! Jeder von uns will etwas vorstellen, was er nicht ist, und ob einer sich Tausender nennt oder Zehntausender, in Wirklichkeit ist er ein Dreck!“

             „Da muß ich doch sehr bitten,“ meint scharf der Zehnstausender. „Ich als der Erste und Beste unter Ihnen denke in diesem Punkt wesentlich anders…“

             Die Tür geht auf und der Herr Fünftausender tritt ein. Einen Moment ist alles baff, der Glanz des nagelneuen Gewandes, das der späte Gast trägt, fasziniert, der Hunderter vergißt seine demokratische Gesinnung , der Zehner seinen beleidigten Zustand, beide springen auf, um den Fünftausender an die Spitze der Tafel zu führen. Da schlägt der Zehntausender mit der Faust wütend auf den Tisch.

             „Oha, das wär‘ noch schöner! Da links von mir ist der Platz für den neuen Herrn, denn ich bin noch immer der Rangältere.“ Und spitz wendet er sich an den verwirrt und verlegen ins Licht blinzelnden Fünftausender:

             „Der Herr hat wohl mit Erfolg in Valuta spekuliert? Unsereins kann sich nämlich nicht so ohneweiters ein neues Gewand leisten.“

             Verdrossen, geknickt, zerrissen wacht der Zwanziger aus dem Halbschlummer auf.

             „Tun’s Ihnern nix an, Herr Präses, Sie gehören ja selbst zu den neuen Reichen, die was im Jahr 1914 noch gar net auf der Welt waren!“

             Der Fünftausender setzt sich artig, fühlt die neidischen und bewundernden Blicke und denkt sich: In eine schöne Gesellschaft bin ich geraten! Wer weiß, vielleicht schau‘ ich bald auch so aus, wie der stinkerte Zehner da!

             Jetzt kommt aber breitspurig, mit wuchtigen Schritten, würdevoll der letzte Gast, der Kommerzialrat Fünfzigtausender. Vergebens hat er sich allegorisch einzukleiden versucht, er sieht entschieden „eingewandert“ aus und je vornehmer er sprechen will, desto mehr jüdelt er.

             „Platz da, meine Herren,“ ruft er und setzt sich breitspurig an die Spitze der Tafel. „Hast ä Hitz, was Sie da haben! Nü, Herr Tausender, Sie sehen auch schon etwas mitgenommen aus, von die anderen Herren gar nicht zu reden! Und Sie, Herr Zehntausender, Ihnen ist auch nicht ganz wohl? Also,ich sag‘ Ihnen, jetzt, wo ich da bin, wird ein neuer Zug in die Sache kommen! Reißen wird man sich um mich und was echter Kavalier ist, wird gar nicht ohne mir in die Bar gehen wollen!“

             Und schon schließt sich alles gegen den neuen Eindringling zusammen. Der Zehntausender rückt von ihm ab und vom unteren Ende der Tafel werden stürmische Rufe“ „Schieber! Schieber! Schieber“ laut. Der Zehner kreischt: „Haut’s den Hebräer tor“, der Hunderter brüllt: „Wart nur, bei der nächsten Plünderung!“

             Der Lärm wird so groß, daß im Café „Zentral“ am Literatentisch, wo eben heftig über Stendhal, Daimler, Goethe, Julisüd, Wildgans und Chemosan diskutiert wurde, Unruhe entsteht. Die Türe fliegt auf und der Hausherr, Herr Gürtler, kommt mit der Nachtmütze auf dem Kopf und einem Staberl in der Hand.

             „Ruhe, Bagage, elende! Wan i euch allemiteinander nur schon los wär, ös elendige Gauner, ös! Marsch ins Steueramt mit euch! Aber rasch, sonst hol i mein Freund, den Rosenberg, und lass‘ euch alle zusammen abstempeln!“

In: Der Morgen, 2.1.1922, S. 4.

Raoul Auernheimer: Börsenjugend

Zwei bescheidene Erinnerungen mögen dieser bescheidenen Zeitbetrachtung vorangehen.

Die eine liegt ungefähr fünfzehn Jahre zurück und rankt sich um einen allerdings nicht sehr hoch gewachsenen deutschen Dichter der damaligen Zeit, der zur Aufführung eines seiner Reimlustspiele am Burgtheater nach Wien gekommen war und dem in einer gewählten Gesellschaft zu begegnen ich das Glück hatte. Jener deutsche Dichter war zu jener Zeit kein jungen Mann mehr, er stand vielmehr bereits in den gewissen reiferen Jahren, die man in Nekrologen gern mit einiger Übertreibung als „Vollkraft des Schaffens“ bezeichnet. Sein Schaffen war nicht unbelohnt geblieben, und da nichts umsonst ist, am wenigsten der Gelderwerb, so ist es begreiflich, daß der gefeierte Autor in den Kreisen der damaligen literarischen Jugend mehr für einen Geschäftsmann als für einen im Blauen schwärmenden Poeten galt. Immerhin war ich enttäuscht, als ich sein erstes Wort vernahm, das im Rauchzimmer noch vor dem Nachtmahl fiel. Er stand schweigend abseits, an den Türpfosten gelehnt, und schien, die Augen nach aufwärts gewandt, wie es sich für einen deutschen Dichter gehört, an dem Gespräch keinen Anteil zu nehmen, das mehrere Herren, unter dem Kronleuchter dicht beisammen stehen, über die neue Russenanleihe – ein fernes Wort! – fachkundig führten. Der Dichter gab sich den Anschein, gar nicht zuzuhören, mußte aber doch auf dem Laufenden sein, denn plötzlich trat er unter die Kritiker jener Anleihe und sagte, das ganze Gewicht eines hochangesehenen Namens in die Wagschale werfend: „Und Sie mögen sagen, was Sie wollen, meine Herren: Es ist doch’n Geschäft!“ Die letzten, in unverkennbarem Berliner Tonfall gesprochenen Worte blieben mir in Erinnerung, verschmolzen mit der Persönlichkeit ihres Urhebers, und wann immer ich in der Folge Verse von ihm irgendwo hörte oder las, immer mischte sich in das poetische Reimgeklingel des achtbaren Mannes jener zuerst gehörten Worte fatales Nebengeräusch: “Es ist doch’n Geschäft!“

             Die zweite Erinnerung liegt ungefähr vier Jahre zurück und hat mit Literatur noch viel weniger zu tun. Sie betrifft einen damals halbwüchsigen Gymnasiasten, der, inmitten einer größeren Gesellschaft, in der gleichfalls eifrig finanzielle Fragen erörtert wurden, plötzlich aus sich heraustrat und sein Vertrauen zu einem in Rede stehenden Börsenpapier in einer Weise kundgab, die auf eine längere Erfahrung und gründliche Beschäftigung mit diesem Gegenstande schließen ließ. „Meiner Ansicht nach,“ sagte der Sechszehnjährige mit der ruhigen Bestimmtheit eines Bankdirektors, „haben Reisschäl-Aktien noch immer eine Zukunft. Ich halte das Papier.“

             Die beiden Erinnerungen haben das Gemeinsame, daß sie sich seither verallgemeinert haben. Weder aus Dichtermund noch aus dem Munde unserer aufblühenden Jugend haben Börsenkurse heut noch etwas Überraschendes, am wenigsten aus diesem. Allenfalls wird man es erstaunlich finden, das erste erwachen derartiger Regungen einer finanziellen Pubertät an das verhältnismäßig vorgerückte Alter von sechzehn Jahren gebunden zu sehen. Die heutige Börsenjugend fängt im allgemeinen schon bedeutend früher an; nicht nur, daß ihre frühe geschäftliche Weisheit das Erscheinen der Weisheitszähne nicht abwartet, sie verträgt sich unter Umständen auch recht gut mit dem noch weit kindlicheren Stadium der Milchzähne. Man erzählt mir von einem dreijährigen Zeitkind, dem sein Vater oder Taufpate bei der Geburt ein paar Lire in die Wiege gelegt hat. Der Kurs der Lire hat sich in diesen drei Jahren nicht unerheblich verändert, wie sogar die Erwachsenen bemerkt haben, und so ist es begreiflich, daß der aufgeweckte Sprößling sich bei erwachendem Bewußtsein seines zunehmenden Reichtums bewußt wurde. In jüngster Zeit soll sich dieses Valutakind bereits aus eigenem Antrieb nach dem täglichen Stand der Lire bei Besuchern des Kinderzimmers erkundigt und am Ende auf Grund reiflicher Erwägung, vielleicht mit Rücksicht auf den italienischen Kredit, zum Verkauf seiner kostbaren Lire entschlossen haben. Man kann den kleinen Dreikäsehoch zu dieser hochherzigen Handlungsweise nur beglückwünschen, selbst wenn sie mehr geschäftlichen Erwägungen – etwa einer möglichen Valutaanforderung durch den bösen, bösen Finanzminister? – entsprungen sein sollte. Wenn sie bei den Erwachsenen Nachahmung fände, so wären wir wahrscheinlich fein heraus. Aber die Erwachsenen denken nicht daran. Sie behalten ihre Valuten und spekulieren weiter gegen den Staat, das heißt, auf sein Zugrundegehen. Das gilt ja heut in eingeweihten Kreisen als die sicherste Kapitalanlage. …

             Denn es ist keine Frage, daß das Spiel der Kinder – wenn ich sage Spiel, meine ich natürlich Börsenspiel – in dem Spiel der Erwachsenen seinen, wenn auch nicht gerade moralischen Hintergrund hat. Es ist wie in der „Familie Benoiton“, einem alten Burgtheaterlustspiel, das, wenn man es wieder aufführte, überraschend jung und zeitgemäß wirken dürfte. Dort tritt ein Freier auf, der in eine der Töchter des Börseanerhauses verliebt ist. Er begegnet zunächst ihrem Brüderchen, dem fünfzehnjährigen Fanfan, und er benützt die sich ihm bietende Gelegenheit, um sich über die Sitten der Familie ein wenig zu unterrichten. Wenn dann fünf Minuten später Papa Benoiton nach Hause kommt, weiß der neugierige Freier bereits genug, und wenn Fräulein Benoiton gleich darauf selbst erscheint, so viel, daß er beherzt die Flucht ergreift. Der kleine Fanfan macht Geschäfte, versteht sich, Börsengeschäfte. Er spekuliert in Briefmarken, und zwar à la hausse – „immer à la hausse!“ ruft der Erzeuger dem „auf die Börse“ eilenden Sprößling mahnen nach – und er hat sich in diesem Zusammenhang einen ganz hübschen, räuberischen, kleinen Plan zurechtgelegt, um die „anderen kleinen Börseaner“ hineinzulegen. Der Fischzug, den Fanfan mit einem Konsortium seiner Altersgenossen plant, hat zur Voraussetzung die väterliche Information, daß im Amerikanischen Freiheitskriege – die Zeit der Handlung – die Südstaaten voraussichtlich unterliegen würden. Fanfan macht sich diesen Wink zunutze und kauft heimlich im Verein mit seinem Konsortium alle südamerikanischen Markenzeichen auf, deren es in Bälde keine mehr geben wird und die infolgedessen einer ungeheuren Wertsteigerung entgegengehen. Auf diese einfache Weise hofft Fanfan, reich zu werden, und reich zu sein, ist der einzige Traum dieser jungen Knabenseele, wie seiner heutigen Nachfahren. Er „liebt die reichen Leute“, weil sie, wie er dem Besucher naiv gesteht, „so schöne Wagen, so schöne Wohnungen und Kleider haben“. Sein Ideal ist die väterliche Kasse, eine schwere „eiserne Kasse mit einem Geheimschloß“, und seine größte Kränkung, daß seine Kasse aus Holz ist und nur ein ganz gewöhnliches Schloß hat. … Wenn man an Stelle der unschuldigen Briefmarken in dieser hübschen Szene den Namen irgendeines unserer Spielpapiere setzt und Fanfan um zwei Jahre jünger macht, so hat man ein ziemlich ähnliches Bild unserer heutigen Börsenjugend, ähnlich genug, um darüber zu lachen und vielleicht sogar, um darüber zu weinen. Übrigens ist die erste der beiden dramaturgischen Verbesserungen vielleicht gar nicht einmal unbedingt notwendig. „Man kann mit allem wuchern, auch mit Menschenleben“, sagt Hebbels Herodes. Man kann, wie unsere Philatelisten aus Erfahrung wissen, auch an Briefmarken ein schönes Stück Geld verdienen.

             Im Verlauf der Szene, die uns die Seele des Bürschchens Fanfan entschleiert, entdeckt uns auch der wackere Papa Benoiton die seine, und auch diese Stelle liest sich heute sehr anzüglich. Papa Benoiton seinerseits hat in seiner Jugend keineswegs mit Wertpapierchen gespielt, sondern mit Bleisoldaten und kleinen Kanonen. Aber die schlechten Erfahrungen, die man mit der militärischen Gloire gemacht hat, haben ihm die Grundsätze einer ganz anders gerichteten Erziehung eingegeben. Sie beruht auf einem offen eingestandenen Materialismus. Als Fanfan klein, das heißt, als er noch kleiner war, spielte er mit einer kleinen Wage, einem kleinen Kompaß, einer kleine Geldkasse. Sein Sinnen und Trachten ist auf das Gegenständlich-Nützliche, dem materiellen Genusse Dienliche gerichtet. Diese Einstellung ist am Ende nichts anderes als der natürliche Rückschlag gegenüber der unklaren militärischen Gloire, die Abkehr von den Sünden des Militarismus.

             Ähnlich, wenn auch nicht ganz gleich, liegen die Verhältnisse im heutigen Österreich, und nicht nur in Österreich. Auch wir haben die längste Zeit mit Bleisoldaten gespielt, und es ist am Ende nicht zu verwundern, daß die Kinder wie die Erwachsenen an diesem Spiel gründlich die Lust verloren haben, und, bitter enttäuscht, in die platte Welt der Geschäfte flüchten. Der jetzigen Börsenjugend ging eine Heldenjugend voran, die für unbezahlte und unbezahlbare Ideale glühte und daran verbrannte. Damals in jener heut schon märchenhaft fernen Zeit des kriegerischen Seelenaufschwunges, war das erste Wort, das die von der Mutterbrust abgesetzten kleinen Kinder aussprechen lernten, das Wort „Brotkarte“. Heut ist es das bedeutend ausländischer klingende Wort „Valuta“. Noch früher, vor der Brotkarte, war der erste artikulierte Laut hergebrachter Weise „Papa“. Es war eine noch regelmäßige Welt, die fest gefügt in festen Formen bestand, und es ist begreiflich, daß sie heute vielen als eine ideale Welt erscheint. Allein auch dieses patriarchalische „Papa“-System hat, wie sich gezeigt hat, seine bedenklichen Nachteile. Das patriarchalische System ist das absolutistische und ein schlecht beratener Absolutismus – jeder Absolutismus ist seine Natur nach schlecht beraten, weil er sich nur von Günstlingen, die sich ihm unterwerfen, beraten läßt – hat uns am Ende soweit gebracht. Die Verdienermoral hat jede andere beerbt und die grünste Jugend schwelgt in Börsenkursen, an den sie die Erwachsenen sich begeistern sieht. Die jungen Mädchen haben ihr Bankkonto bei irgendeinem kleinen und manchmal auch jungen Bankier, dessen Adresse die Eltern nicht immer kenn, die Gymnasiasten lesen den Kurszettel unter der Bank, und in die erste Liebeserklärung mischt sich der letzte Tip. Alles gibt, alles nimmt, und alles verdient, wenn auch nur in Kronen – ein Trost, wenn auch nur ein schwacher, für den Moralisten.

             Im übrigen hat es der Moralist in diesem Punkte, wenn er gerecht urteilen will, nicht ganz leicht, schwerer jedenfalls als der alter Macher Sardou, der sich in jenem Stücke über ähnliche Erscheinungen der Aufschwungs- und Gründerzeit einfach lustig machte. Daß die Jugend selbst für diese Ausartung am wenigsten verantwortlich zu mache ist, liegt auf der Hand. Auch hier bestätigt sich die volkstümliche Weisheit von den Jungen, die nur zwitschern, wie die Altern sungen. Die jungen Mädchen, die für ihre laufenden Toilettebedürfnisse ihr Börsenkonto bei dem manchmal nicht ganz ungefährlichen kleinen Bankier sorgen lassen, haben fast immer eine Mutter, die selbst an der Börse spielt, das Valutakind hat meisten einen Valutaonkel, und der Geschäfte machende Gymnasiast, der jederzeit einen guten Börsentip, wenn nicht gar Rohöl oder Gummireifen „an der Hand“ hat, ahmt in neun unter zehn Fällen nur das väterliche Beispiel nach. Aber auch die Väter und Mütter sind nur halb verantwortlich zu machen; die andere größere Hälfte der Verantwortung trifft den Staat, der durch die ständige Geldverschlechterung das Börsenspiel geradezu zu einem Akt der Selbsthilfe und überdies – da man sich auf die Notenpresse verlassen kann – zum ungefährlichsten aller Glücksspiele gemacht hat. Allenfalls kann man den Eltern daraus einen Vorwurf machen, daß sie ihre Hoffnungen und Sorgen etwas zu ungezwungen im Beisein der unmündigen Jugend (wenn es so etwas überhaupt noch gibt) erörtern.  Etwas mehr Zurückhaltung und – Geschmack wäre in dieser Hinsicht den Erwachsenen dringlich zu empfehlen. So wie man sich in Gesellschaft nicht kratzt, sollte man auch nicht fortwährend über Börsenkurse reden, zumindest in jener Gesellschaft, die den Ehrgeiz hat, auch noch etwas anderes zu sein als eine Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaft zur Auswertung des jüngsten Börsentips. In den preußischen Offiziersmessen der Vorkriegszeit entstand die sinnreiche Einrichtung, daß jeder, der nach neun Uhr abends im kameradschaftlichen Beisammensein das Wort „Dienst“ gebrauchte, eine kleine Geldbuße in die Regimentskasse zu entrichte hatte. Eine ähnliche Einführung sollte man auch in Bezug auf Aktien und ähnliche Dinge in unseren Abendgesellschaften treffen – nur dürfte die Buße nicht zu klein sein. Allerdings müßte man nebst dieser Geselligkeitsakte auch noch einige andere Gesetze schaffen: vor allem eines, das die Spekulation in ausländische Valuten, das heißt die Spekulation auf den Zusammenbruch des eigenen Staates, endlich als dasjenige brandmarkt, was sie tatsächlich ist, nämlich ein Verbrechen; (Mit Schreckgesetzen ist leider, wie tausendfache Beispiele der Geschichte zeigen, die Spekulation niemals unterdrückt worden. Anm. d. Red.) und ferner eines, das das wüste Rasen der Notenpressen, diese Affenschande der Besiegten, endlich kategorisch abstellt. Geschähe dies, so würde auch unsere verjobberte Jugend wieder idealistisch werden: sie ist es im Grunde, und man muß ihr nur die Gelegenheit geben, es zu sein.

In: Neue Freie Presse, 9.7.1922, S. 1-3.

Arthur Rutra: DER WEG

Es ist wieder ein Kampf! Ein doppelter Kampf. Die Jungen stehen gegen die Älteren, die Jüngsten gegen die Jungen. Die Triebkräfte dieser Bewegung sind deutlich erkennbar; sie wurzeln in der Hast des Jahrhunderts und haben durch die Jahre des Krieges, der das Tempo des Lebens zu amerikanischen Rekordleistungen hinaufpeitscht, noch eine weitere Steigerung erfahren. Wenn man auch den Krieg mit allen seinen Folgeerscheinungen als ein rein akzidentelles Ereignis betrachtet, so darf die Beeinflussung des Moments wegen der ungeheuren Gefahr, die sie birgt, nicht von der Hand gewiesen werden. Der Instinkt der Gewalttätigkeit ist wachgerufen und seine Macht, die stets die Ausrede der Bequemlichkeit für sich haben wird, ist nicht zu unterschätzen. Dilettanten werde sich ihm mit Freude verschreiben, die Guten und die Besten, die dem Inferioren gegenüber stets schwächer sein werden, preisgegeben oder gezwungen, mit ihm zu paktieren.

Diese Bewegung ist allgemein und mannigfaltig sind die Spielarten der Form, die zur Äußerung kommt. Es gibt Bewegungen, es gibt Fluida, es gibt Hochstapelei tiefster seelischer Überzeugung. Alles drängt, sucht und tastet – wonach? … Nach dem Platz, auf dem wieder eine Kathedrale errichtet werden kann, über dem sich die Gotik einer neuen Zeit erheben könnte? … Vielleicht. Berufen sind die einen, die anderen auserwählt. Und beide glauben. Die drängen und in ihrer Stabilität verharren. Die Jungen und Jüngsten haben längst den Platz, auf dem die Alten und Älteren stehen, aufgegeben und suchen eine neuere Welt – die anderen verteidigen einen Platz, der ihnen gar nicht streitig gemacht wird. Sie sprechen von Dichtkunst; den einen ist sie Kultur, den anderen Ekstase. Kultur baut auf Kultur, Ekstase wirft sich in die Welt und verliert sich an sie. Beide begehen einen Fehler: denen die Dichtkunst Kultur ist und die unbekümmert weiter Seit auf Stein fügen, vergessen, dass kulturelle Werte vernichtet, gefährdet und verschoben wurden; sie bauen weiter und merken nicht, dass Teile morsch geworden sind… Und sie vergessen, dass das Gefüge verwittern kann. Die Ekstase aber nimmt zu vieles auf, sie ist wahllos und verschwendet sich ebenso gerne an die Metaphysik wie an den Journalismus. Sie hat das starke Erlebnis der Gegenwart noch nicht in sich aufgenommen, während die andere es an sich vorübergehen ließ. Ihre Entschuldigung ist, dass sie jung ist – wie das Alter der anderen. Sie nimmt Erscheinungen wichtig, die vorübergehender Natur sind, weil sie alles wichtig nimmt, weil sie ernst ist und von der Fruchtbarkeit des Augenblicks aufs tiefste erschüttert. Und beide sind ehrlich: in ihrer Blindheit und in ihrer Übersichtigkeit.

Was ist aber Dichtkunst? Ekstase ist ein Bekenntnis – Kultur ein Glaubensbekenntnis. Ein Bekenntnis kann ein Pamphlet sein, eine Proklamation, kann auch – Dichtung sein. Dichtkunst ist geläuterte Ekstase, kultivierte, wenn sie den Weg über die Seele nimmt. Immer aber wird Ekstase das Primäre sein.

Gegensätze sind immer gewesen, sie sind auch heute vorhanden, schärfer denn je, wenn auch nicht so offensichtlich und durch Umgangsformen gemildert. Die Alten werfen den Jungen vor, dass sie Schriftsteller sind, Buchstabensetzer, die Jungen sagen wieder von ihnen, dass sie keine Dichter sind, oder doch solche, denen das Kostüm einer verblichenen und überwundenen Zeit am Leibe festgewachsen ist. Können, sollen Gegensätze versöhnt werden, bis der Ausgleich in ewigem Wechsel neue zeugt? Versöhnung ist Kompromiss. Die Gegensätze müssen sich verstärken, bis sie über sich selbst hinausgewachsen und zur Norm geworden sind. Dann werden sie wieder durch neue abgelöst werden.

Wer ist aber alt und wer ist jung? Jung ist nicht mehr der Tag, denn das Morgen ist jünger und das Gestern trägt schon verwitterte Züge. Darum sind die Jungen von heute den Älteren von gestern verbrüdert. Und der Wechsel der Tage ergibt ein Chaos. Dieses aber ist das Versöhnende, denn es gebiert oder es wird gebären, bis es gesättigt, bis es genügend befruchtet ist. Befruchtet von allen, die sagen: „wir“. Bis einer emporwachsen wird, der ausspricht: „Ich!“

Hier liegt das Geheimnis: von allen, die leben, lebt jeder nur, weil er „wir“ gesprochen hat. Nähme man es ihm – das Schemen, das er ist, träte schärfer hervor, Das „wir“ ist seine Stärke – wie das „ich“ seine Schwäche offenbaren würde. Es ist die Berufung auf andere, die Flucht vor der eigenen Unzulänglichkeit. Er lebt nicht, weil er da ist, weil er sein Leben fühlt, sondern weil er fasziniert ist von einer Unwirklichkeit, die er für Leben hält. Er glaubt gesteigerter zu leben und lebt wirklich nur flacher. Er wähnt tätiger zu sein und ist in Wahrheit untätiger. Er bildet sich ein, zu bauen, und er zerstört nur. Nicht einmal das, denn er hat nicht die ewigen Gesetze des Wachstums erforscht. Leben, wirken, schaffen kann nur der, der sich am Wachstum emporrankt, dessen Seele den Gleichklang hat mit dem ewigen Schlag des Lebens. Nur dieser, der hinablauscht in seine Seele, in der sein zweites Gesicht die Wahrheit verkündet, der hinauflauscht in den Weltraum, aus dem ihn Millionen Spiegelungen grüßen, wird „ich“ sagen können. Dieser wird auch tätig sein, denn er wird Opfer bringen können, durch seine eigene Stärke. Dieser wird auch bauen, denn er wird die Steine mit eigenen Händen heranschaffen. Dieser wird sich wegwerfen in der Ekstase und sich wiederfinden in der Sammlung. Und wird schweben im ewigen Mysterium des Seins.

In: Der Anbruch, H. 8/1918, S. 6-7.

Georg Fröschel: Lob des Spiels

An einem Ast im Tiergarten baumelte ein Erhängter. Als man die Leiche abgeschnitten hatte, fand man in den Taschen des Selbstmörders ein leeres Zigarettenetui aus Holz, ein Portefeuille mit einem Barbetrag von 17 Mark, ein reines, jedoch sehr zerschlissenes Taschentuch mit einer siebenzackigen Krone und einige beschriebene Blätter, die wir im folgenden wörtlich wiedergeben:

             „Man tut dem Spiel unrecht. Es ist banal, das obligate Verdammungsurteil nachzuplappern. Von einem höheren Gesichtspunkte aus ist die Ansicht von der moralischen Verwerflichkeit des Spiels unhaltbar. Für den Bürger zum Beispiel ist das Spiel eigentlich die einzige Entschuldigung. Der Bürger lebt sonst dahin, an der Erde und am Geld klebend – schläft, ißt, arbeitet und zeugt Kinder. Er weiß nichts von den Dingen, die er nicht tasten kann, nie glüht er, nie wagt er sich über sich selbst hinaus. Nur wenn er spielt, tut er einen Blick in die andere Welt, in ihre unwürdigste und trübste Ecke vielleicht, aber doch in die Welt des Irrealen und Ungegenständlichen. Nur wenn er spielt, hat er eine Spur von Phantasie. Dann gibt es für ihn Dinge, die er sonst nicht kennt, Träume, Aufregungen, und Kämpfe, von denen sein plattes Leben sonst nichts weiß. Der Künstler, der spielt, tut unrecht, denn ihm ist die andere Welt auch ohne Karten und Würfel geöffnet, ihm winken bessere Göttinnen als Fortuna mit ihrem leeren Lächeln. Der Spießer aber, der spielt, ist doch reicher, als der Spießer, der die Karten verachtet. Er weiß mehr von sich und der Welt und sein enges Leben hat ein schmales Fenster ins Freie.

Auch der Staat als solcher dankt dem Spiel viel.

             Das Spiel gab zum erstenmal die Regel, die über den Menschen steht, zwang sie, ihr Tun und Lassen einem höheren Prinzip unterzuordnen. Das Spiel schlug die erste Bresche in die Dispositionsfreiheit des Menschen und ist vielleicht deshalb die Keimzelle des Staates.

             In den Urzeiten, da der Mensch noch ungesellschaftlich existierte und gleich dem Tier den Zusammenhang zwischen Zeugung und Geburt noch nicht begriffen hatte, lebte er ganz ohne Unterordnung unter fremden Willen, bloß eigenen Trieben und Wünschen folgend. Aber als der Urmensch zum erstenmal von der Jagd ermattet vor niedergehendem Gewitter in einer Höhle Schutz suchte und dort den anderen Menschen traf und sie dann, zu müde, um sich zu erschlagen, ihre Beute gemeinsam am Feuer breiten und der eine spielend den Hüftknochen des Elentieres in die Höhe warf, der mit der rauchgeschwärzten Seite nach oben liegen blieb und dann der andere dasselbe tat, und der Knochen die weiße Seite zeigte, und als dieses Tun allmählich zum bewussten Speil ward, und die fette Keule demjenigen als Preis ausgesetzt wurde, der das nächste Fallen des Knochens richtig voraussagte, da war nicht nur das Spiel, da war auch das Gesetz und mit ihm ein Wesentliches des Staates geschaffen.

             Von einem außerhalb des menschlichen Willens sich ereignenden Geschehnis war menschliches Tun und Lassen abhängig geworden. Zum erstenmal duldete ein Mensch, der verlierende, etwas, wozu ihn nicht faktische Gewalt, sondern freiwillige Unterwerfung unter eine Konvention nötigte.

             Bedeutsam ist es, daß diese sich dem Gesetz des Spieles Unterwerfen seinen stärksten Ausdruck bei den alten Germanen fand, die im Spiel auch die persönliche Freiheit einsetzten und auch diesen Preis, für den sie sonst bis zum letzten Blutstropfen kämpften, willig zahlten. Sie bewiesen schon damit ihre Sendung zur objektiven Staatsbildung und ihren Beruf zum Bürger, der dem über ihm schwebenden Gesetz willenlos untertan ist und über dem der Staat wie ein rocher de bronce, wie eine eherne und unerbittliche Gottheit errichtet werden sollte.

             Der Staat schützt die Rechte des Spiels nicht durch die Gewalt seiner Exekutivorgane, aber das Spiel schützt sich selbst, indem es die Spielerehre schuf. Sie wird nicht hoch gewertet und doch ist sie die einzige Form der Ehre, die im Laufe der Menschheitsgeschichte keine Änderung erfahren hat.

             Alle anderen Ehrbegriffe haben den Kreislauf von ehrlos zu ehrwürdig wiederholt durchlaufen. Die Geschlechtslehre hat sich in der Entwicklung der Jahrtausende ihrem Inhalt nach ebenso geändert wie die Standesehre, wie die Auffassung vom Eigentum und vom Staat. Nur die Spielerehre ist die gleiche geblieben. Einer materialistischen Auffassung der Ethik sollte dies ernstlich zu denken geben. Wenn die Skeptiker alle Argumente für sich haben, die sagen, daß der Mensch das Gute nur tue und das Schlechte nur unterlasse, wenn äußere Gewaltmittel ihn hindern oder abschrecken, seinen Trieben nachzugeben, wenn behauptet wird, daß die Moral im ganzen bloß der Ausdruck der bestehenden Machtverhältnisse sei, so bleibt dem Idealisten schließlich nichts als das verachtete Spiel zum Beweise der menschlichen Güte.

             Im Spiel allein bewies und beweist der Mensch seine Achtung vor dem frei geschlossenen Übereinkommen, vor der Abmachung auf Treu und Glauben, die durch keinen Polizisten geschützt werden muß. Im Spiel allein beugt sich und opfert der Mensch freiwillig einem höheren Prinzip, ehrt den Vertrag und damit sich selbst.

             Ich habe die Gesetze des Spieles bis zum Ende erfüllt.“

Der Polizei gelang es nach einiger Zeit, die Leiche des Selbstmörders zu identifizieren. Es war Tiburce Freiherr von Hollenbach-Verault, der das ungeheure Vermögen, das er von seinem Vater ererbt, völlig im Spiel verloren hatte. Seine Gattin, Marie Yvonne, geborene Gräfin Chaloniakowska, war bereits ein paar Jahre früher in öffentlicher Armenpflege gestorben, sein Sohn Horace hatte Dienste in der Fremdenlegion genommen, seine Tochter Eugenie galt als eine der reizvollen Kokotten in der internationalen Lebewelt.

In: Der Tag, 13.4.1923, S. 4.