Arthur Ernst Rutra: Oesterreichs abendländische Sendung (1936)

             Der Begriff vom „Abendland“ wurde unserem geläufigen Wortschatz erst durch das Werk eines Philosophen eingebürgert, der dessen Untergang in einer fast gewalttätigen Vision heraufbeschworen hat. Es war das Verhängnis dieses Mannes, ja, es wirkt wie ein Satirspiel fast, daß er, der gewiß den Untergang des Abendlandes nicht wollte, im geistigen Raum mit der Wegbereiter einer Bewegung wurde, die dann, als sie als Umwälzung hereinbrach, vielfach dieses Abendland und seine Kultur zu bedrohen sich anschickte und wohl gefährdete. Der Mann, der Philosoph, hat dies erkannt und einmal, wenn auch mit schmerzlicher Zurückhaltung, mahnend und warnend seine Stimme erhoben. Zu einer neuerlichen und – wer ihn kannte, der wußte es – zu einer dem gewonnenen Abstand gemäßeren schärferen Absage hat der Mann, soviel bisher bekannt wurde, sich nicht mehr aufgerafft. In diesem Jahr, das nunmehr zu Ende geht, schied er überraschend schnell aus dem Leben, – ein gebrochener Mann nach Zeugnissen, die man aus seinem sehr spärlichen Bekanntenkreis vernahm, den der immerdar Stolze einer Ansprache würdigte. Über seinem jähen und heute, nach kaum paar Monaten, fast schon der Vergessenheit //überantworteten Ende schweben die düsteren Schatten einer verzweiflungsvollen Erkenntnis.

             In dem Werk dieses Mannes, das bezeichnenderweise in seiner ersten, nicht durchgedrungenen Auflage in Wien erschienen ist, erhob sich zum ersten Male bewußt die gespenstische Vision eines in seinem Bestande bedrohten Abendland. Es ist aber zweifellos sein Verdienst, daß gerade damit die erste Mahnung an das europäische Gewissen aufstand, daß eine Verpflichtung zur Besinnung und Einkehr geweckt wurde. Im Rahmen dieser Verpflichtung , einer Verpflichtung zur Abwehr der Gefahren, einer Verpflichtung, von der sich kein Staatswesen ausschließen dürfte, das zur zur europäischen Gemeinschaft zählen will, ist Oesterreich eine besondere Aufgabe bestimmt. […]

             Diese Erkenntnis hat längst sich schon durchgesetzt, und die Geschichte von Jahrhunderten und Jahrtausenden hat es immer aufs neue bestätigt, daß in dem Becken des größten europäischen Stromes, dort wo die alte Reichshaupt- und Residenzstadt Wien liegt, das Einfallstor für den Osten und das Ausfallstor in den Osten aufgerichtet ist. Wer Wien hat, hat den Schlüssel zur Macht über Europa, einer Macht, die um des Schicksals Europas willen, keinem anderen, und schon gar keinem anderen Mächtigen zufallen darf. Denn die gleiche Macht, die in den Händen desjenigen, der ihr rechtmäßiger Verwalter und Bewahrer ist, zum Segen und zum Wohle Europas sich auswirkt, verwandelt sich in den Händen eines anderen, der nur ein unrechtmäßiger Eroberer und Usurpator wäre, zum Unheil und Verhängnis für Europa und die gesamte abendländische Welt.

[…]

Österreichs abendländische Sendung ist nicht zu verstehen und wird von dem nicht begriffen werden, der nicht daran festhält, daß es ein katholisches Land ist. Der tiefe geistige, kulturelle, aber auch rein menschliche Wert dieser Sendung wurzelt in dieser Welt. Die Bedeutung dieser Sendung aber für die Gegenwart und für die Zukunft wird erst aus der Kenntnis der Geschichte geläufig, die immer wieder auf die einzigartige Stellung Österreichs im Verlauf der Weltgeschichte hinweist. Bis in die jüngste Vergangenheit noch, da Österreich, selbst in eine schwere Krise am ende des Weltkrieges gestürzt, immer noch eigene Kraft genug hat, um den Bolschewismus abzuwehren, den Ungarn und Bayern eine Zeitlang erlegen waren, der in vielen Teilen des Deutschen Reiches schwerste Kämpfe heraufbeschworen hat. Auch das war ein Teil der abendländischen Sendung, die das schwer heimgesuchte Land zu erfüllen vermocht hat.

Drei große Baumeister formten das neue Österreich und führten es aus dem Erbe eines altehrwürdigen Reiches seiner neuen Bestimmung zu. Seiner neuen Bestimmung? – ist sie wirklich neu? Sie hat sich in Wahrheit niemals gewandelt. Es galt nur die Anfechtungen und Versuchungen abzuwehren, die plötzlich aus einem national „aufgespalteten“ Europa – um ein heute beliebtes Wort zu gebrauchen – an die alten Grenzen heranbrandeten. Es war freilich nicht leicht für ein Volk, sich inmitten schlimmster materieller Bedrängnisse, in die es durch einen sinnlosen Friedensschluß geraten war, auf seine alten Bestimmungen zu besinnen. Seipel vollbrachte dies große europäische Werk, er räumte den Schutt fort, der sich über dem Grundstein angesammelt hatte und legte die Grundfesten an, die den neuen Bau tragen sollten. Als er vorzeitig abberufen wurde, stand der neue Mann schon da, der das Werk fortsetzen sollte. Er war nicht groß, der Mann, der von den Bauern herkam; 1.47 maß er nur, eine Höhe, die unter das Militärmaß fiel, und er hatte es dennoch erzwungen, daß er als Soldat für sein // Vaterland kämpfen konnte. Nun war er berufen, den schwersten Kampf seines Lebens zu fechten. Er hat ihn durchgefochten, bis zum bittersten Ende, das er als Märtyrer für sein Österreich erlitt. Mit diesem Ende aber, das den Mördern für ewige Zeiten das Kainszeichen auf die Stirn eingebrannt hatte, wuchs der kleine Körper des Mannes Dollfuß ins Riesengroße. Er wuchs so weit, daß er heute die Erde Österreichs bis an seine Grenzen deckt. Wer diese Grenzen anzutasten wagt, rührt mit frevler Hand an diesen teuren Toten und fordert eine furchtbare Vergeltung heraus. Auf diesem mit Märtyrerblut geweihten Boden setzt der dritte Baumeister Schuschnigg das Werk des Aufbaues, aber auch der Befriedung fort. Es ist nicht leicht und wird nicht leichter dadurch, daß jenes Europa, um dessetwillen Österreich besteht und bestehen muß, nicht immer die Unerläßlichkeit dieses Bestandes gebührend wertet. So mögen Anlage und Pläne dieses dennoch unbeirrbar schaffenden Baumeisters nicht immer gleich verständlich und übersichtlich sein. Doch fordert er Vertrauen und hat ein Recht es zu fordern.

Denn über allen, vielleicht zeitlich, vielleicht politisch bedingten Schattierungen, steht unverrückbar, untilgbar die abendländische Sendung Österreichs. Gewiß ist Österreich ein deutscher Staat, aber dieser Staat hat eine eigene deutsche Staatsnation, die die österreichische ist. Nationen sind nicht nur etwas Gewachsenes, sie entstehen auch, wenn ein Wille da ist, der sie schaffen will, mag der Träger dieses Willens ein einzelner, mag er ein ganzes Volk sein. Wilhelm von Oranien schuf die holländische Nation, Washington die amerikanische, in der Schweiz war es das ganze Volk. Wenn heute, sie einst, wieder von einer deutschen Mission Österreichs im Südostraum die Rede ist, so ist diese Mission eine abendländische, so kann sie keine andere sein. Sie ist das Bekenntnis zu einem europäischen, universalistischen und christlichen Deutschtum; zu einem Deutschtum, das niemals um seiner selbst willen antinational gegen andere Nationen war, sondern bestenfalls eben national in gleicher Gemeinschaft mit allen, und übernational zugleich. Gerade diese unschätzbare Bedeutung Österreichs für die gesamte Kulturwelt schöpft ihre sich ewig erneuernde Kraft aus dem katholischen Charakter des Landes. Aus diesem Quell wird das Versöhnende und Befreiende gespeist, das im Wesen der österreichischen Missionsarbeit liegt, aus diesem Quell aber auch die Beharrlichkeit und die in jahrhundertealten Kämpfen bewährte, unbesiegbare Widerstandskraft, wenn es dieses für eine Welt überantwortete Amt zu verteidigen gilt.

Es wäre ein Unrecht, nicht des Hauses zu gedenken, das in tiefer Gläubigkeit und in weiser Erkenntnis dem Lande den Vorzug dieser Gaben erhalten will. Es ist das Herrschergeschlecht, das sich selbst mit Stolz das Haus Oesterreich nennt. Sein Deutschtum ist von einer Weltweite, die der abendländischen Sendung des Landes Österreich entspricht, ja die sie grundgelegt und bewahrt hat; Herrscher, die durch Jahrhunderte auch deutsche Kaiser gewesen sind. Es mag der Vorsehung vorbehalten sein zu bestimmen, wann dieses Haus Österreich wieder mit seinem Lande Österreich vereint sein wird. Doch ist dies Eine gewiß: daß von diesem Tage an die abendländische Sendung Österreichs […] ihren tieferen Sinn und ihren durch nichts beirrbaren Bürgen erhalten wird.

In: Der Christliche Ständestaat, 13.12.1936, S. 1190-1192.

Julius Kugy: Die Berge. (1924)

Die Berge sollen nicht unsere Feinde sein. Ich liebte es nie, las ich irgendwo, daß man ihnen den „Fehdehandschuh“ hinwirft, daß man auszieht, sie zu „bekriegen“, daß man sie Feinde heißt, denen man seine eigene Kraft gegenüberstellt. Der Alpinismus ist kein Kampf und kein Kriegszustand. Kampf kann nur gelegentlich eine Episode, ein Bild sein. Die Grundlage des Alpinismus muß immer reine Liebe zur Natur und zu den Bergen sein, ein tiefsinniges Sichversenken in ihr Leben, ihr Wesen, in ihre Seele. Sind jene Redensarten auch nur bildlich gemeint, so klingt doch Unbescheidenheit und Anmaßung heraus. Es hört sich oft an wie das Schelten und Prahlen von Zwergen. Die beste Tugend des Bergsteigers ist die Bescheidenheit. Die Berge sind ja groß und so langmütig. Sie dulden so vieles. Gar mancher Sieg, der menschliche Energie und Geschicklichkeit ins hellste Licht zu rücken scheint, ist trotz allem ihrem Wohlwollen zu danken. Sie haben still zugesehen und wollten es nicht verwehren. Es ruhten ihre fürchterlichen Waffen. Holen sie aber einmal zum Schlag aus, so treffen sie unfehlbar und vernichtend. Welcher Wissende wird sich im Ernst stärker dünken, als sie sind? Kein kleines „Ich“ kann ihr Herr sein. Man liest so oft: „Meine Berge“ oder beispielsweise: „Meine Julischen Alpen“. Wäre es nicht richtiger, würde man den Gedanken anders fassen und sagen: „Ich gehöre ihnen“ und nicht: „Sie gehören mir“? Es scheint mir, daß kaum ein Ort weniger glücklich gewählt sein könnte, um dort die Herrennatur im Menschen hervor­zukehren, wie das Hochgebirge.

Nur der Liebe öffnen die Berge ihren ganzen Reichtum und die Tiefen ihrer Seele. Sie wollen den ganzen Mann, volle Hingabe, beherzten Mut und wahrhafte Begeisterung. Dann geben sie aber auch Liebe um Liebe, und wen sie lieben, den heben sie hoch zu sich empor und machen ihn groß und reich. Wohl ihm, diesem Liebling der Berge! Sie bauen ihm die schönsten goldenen Brücken, und selbst da, wo sie in schreckhafter Größe und unerreichbar emporgebaut scheinen, lassen sie ihm oft ein kleines, wenn auch schwankes und schwindeliges Leiterlein stehen, daran er zu ihrem Hochsitz emporklimmen kann. Wohl nicht immer, auf daß man nicht übermütig werde und auch unter­liegen lerne. Da empfangen sie ihm dann mit feierlichem Gepränge, sie schmücken ihn großmütig mit ihren Ehrenzeichen, sie reden zu ihm in der eindruck[s]vollen Sprache, die niemand vergißt, der sie je gehört und ver­standen hat. Sie haben ihm ein schönes Plätzchen im warmen Sonnenschein bereitgestellt und heißen ihn freundlich sitzen, führen ihm mit ihrem Getier in Wäldern, Felsen, und Lüften, mit Farben, Schatten und Lichtern, mit tanzenden Nebeln und majestätisch einherziehenden Wolken ihre Zauberspiele; vor, die keine menschliche Phantasie fesselnder, kurzweiliger und prunkhafter ersinnen könnte, und breiten aus ihrem unerschöpflichen Schatzkästlein Kostbarkeiten in blitzenden Reihen zu seinen Füßen hin, die nur göttliche Kraft und Kunst zu schaffen vermögen. So stehen sie dann, ist man mit einem „Komm‘ bald wieder“ gnädig ent­lassen, unvergeßlich in unseren dankbaren und beglückten Herzen und können unser ganzes Leben erfüllen.

Sie haben klare Augen und beobachten scharf. Und erkennen sie, daß nicht Herzensbedürfnis, sondern Mode, Sport, Eitelkeit (oder zufällige Laune herangeführt haben, so blicken sie mürrisch mit verblaßten Farben, halten ihre Schätze mißtrauisch verborgen, und verschließen sich stolz, kalt und stumm. Diesem Fremdling haben sie nichts zu sagen, und er geht arm von ihnen, wie er gekom­men ist. Oft kehrt er nicht wieder zu ihnen zurück. Wie viele „Bergsteiger“, die scheinbar glänzend begannen, habe ich so binnen kurzem verschwinden gesehen.

Treten wir in ihre Hallen ein, so seien wir bescheidene Gäste im Hause von Übermächtigen. Mein ganzes Leben hindurch habe ich mich an sie gelehnt wie an einen stärkeren Freund. Sie waren so gütig zu mir. Oft haben sie mich leise geführt, manchmal getröstet und aus schwerer Erdenpein wieder aufgerichtet. Das nenne ich ein Bergsteigerleben. So habe ich mich nach euch gesehnt, so bin ich vertrauensvoll zu euch gekommen, und so will ich, wenn es sein wird müssen, von euch scheiden, o, ihr schönen, ewigen Berge!

In: Ostdeutsche Rundschau, 19.9.1924, S. 10.[1]


[1] [redakt. Anm.] Wir bringen hier eine kurze Leseprobe aus dem im Hochalpenverlag im Druck befindlichen prächtigen Buche Dr. Julius Kugys „Aus dem Leben eines Bergsteigers“. Der Text erschien in der Beilag Wandern und Bergsteigen, verantwortet von Karl Sandtner.

Otto Koenig: Das proletarische Leben (1920)

             Als Alfons Petzold zu Anfang dieses Jahres Franzl, die Geschichte einer Kindheit im Nestroy-Verlag erscheinen ließ, mochte in manchem Leser das Gefühl aufkommen, daß dieses drastisch-tragisch, psychoanalytisch packende Buch der Geschicke und Geschichte „eines armen Vorstadtwaserls“ zu den Bruchstücken einer großen Komposition zähle, wie das bei epischen Werken lyrischer Autoren zu allermeist zutrifft, wie das bei Alfons Petzold im Roman Erde und in den Novellen Von meiner Straße in erhöhtem Maße zutraf. Hat man aber Petzolds im Sommer dieses Jahres bei Ullstein erschienenen Roman (!) „Das rauhe Leben“ gelesen, dann weiß man, daß in äußeren Lebensschicksalen und in seelischer Veranlagung zwischen dem heißen, derben, prächtig veranlagten, aber verwahrlosten Franzl und dem scheuen, gar wohl erzogenen Alfons keine Beziehung besteht, daß Der Franzl nur den „Memoiren eines Auges“ angehörte, Das rauhe Leben aber denen des Herzens entsprungen ist. – Daß der ganze Franzl und sein zwischen Alkoholdünsten und Liebensbrünsten verelendeten Eltern und Älterer veramseligtes Dasein und unheimlich beschleunigtes Ende ehrlich geschaut, aus des Unterbewußtseins geheimnisvollem Wissen hervorgeholt wurde und eben deshalb trotz deutlicher Tendenz poetisch verdichtet erscheint, soll damit dem kleinen Werkchen, das sich so verblüffend autobiographisch gibt, nicht abgesprochen sondern ausdrücklich zugesprochen werden. Aber der Franzl verhält sich zum rauhen Leben wie innere Wahrheit zu äußerlicher Wirklichkeit und nicht der Franzl, aber Das rauhe Leben wird vom Verfasser, sei es aus literarischem Raffinement, sei es aus Bescheidenheit, ein Roman genannt. Ist aber, so sehr auch Petzold die jedem autobiographischen Werk unentbehrlichen Brücken, Einbauten und Umbauten mit Fontane, an dessen autobiographische Schriften sein Buch erinnert, wichtiger zu nehmen scheint als Rousseau, Goethe, Seume, Grillparzer, nicht mehr und nicht weniger als eine echte, rechte Selbstbiographie: die Schilderung des proletarischen Lebens, wie es Alfons Petzold erlebt hat. Im Drange der Wirklichkeitsschilderung, im natürlichen Eifer, seinen persönlichen Neigungen, Rücksichten und Abneigungen möglichst unverfälschten Ausdruck zu verleihen, hat Petzold in seiner mehr als fünfhundert Seiten starken Erzählung versäumt, zu ballen, zu kombinieren, zu bauen – wodurch ja doch erst die Kunstform des Romans entsteht – und sich wie viele Größere vor ihm mit der einfach linearen Anordnung der zeitlichen Aneinanderreihung , mit der einfachen Verknüpfung durch die Einheit seiner Person begnügt. Außer dem Umfang und den Kapitelüberschriften ist im Rauhen Leben nichts zu finden, was auf die konstruktive Eigenart der Romanform hindeutete. Das rauhe Leben ist kein Grüner Heinrich!

Aber gerade dieser Mangel verleiht dem neuen Buch seinen eigenen Wert. Nicht als ob die Geschichte des proletarischen Lebens gerade Alfons Petzold – dieses reichte bekanntlich bis Alland, worauf ein anderes begann – von vornherein die Anteilnahme der Allgemeinheit fordern dürfte. Noch kann das literargeschichtliche Interesse an Petzold nicht groß genug sein, um eine Selbstbiographie zu rechtfertigen, noch hat Petzold als Neununddreißigjähriger nicht die nötige Distanz zu seinem eigenen jugendlichen Ich, um jener Selbstanalyse fähig zu sein, die ein literarisches Selbstporträt erst ermöglicht. Endlich, des darf man gewiß sein, würde der Sozialist in Petzold die Wichtigkeit der Entwicklung und des Schicksals seiner Einzelindividualität so hoch unmöglich schätzen, um daraus Literatur zu machen, wenn er nicht mehr und Wichtigeres zu bieten hätte als seinen persönlichen Werdegang. Und tatsächlich, ein feines Empfinden hat diesen Titel geformt, heißt sein autobiographisches Buch Das rauhe Leben, nicht „Ein rauhes Leben“. Tatsächlich ist das rauhe Leben des Proletariers, das zu frühester Erschöpfung, Krankheit und elender Verendung hinreißende, erbarmungslose Leben des proletarischen Hilfsarbeiters, aller Proletarier in seinem typischen, zwangsläufigen Verlauf geschildert und die Person des Verfassers kommt nur in Betracht als die juridische Person des Anklägers, zum Sprecher wohl geeignet, da ja Petzolds „Auge und Ohr stets auf die Entdeckung der verborgensten Zeichen des Elends aus war“. Der Autor, der Erzähler, der Erleber, der frühzeitig gute Werke macht, vom Coupletfabrikanten zum lyrischen Dichter aufsteigt und nur weil er dieses wurde, durch Extrafürsorge aus den Krallen des Todes gerettet wird, nachdem die für Proletarier vorgesehene Kräfteausnützung und Scheinspitalpflege ihn bis hart an die dunkle Grenze getrieben hat, ist zufälliges Beiwerk und nebensächlich. Das heißt nur dann, wenn man nicht gerade dies wunderbare Ausnahmsschicksal, das einen einzelnen um einer Tätigkeit willen, die ihn im sozialen Sinne noch nicht zum wertvolleren Menschen macht, aus automatisch zerreibenden Räderwerk errettet, als die Probe auf das Exempel von der jämmerlichen Gesellschaftsordnung gelten lassen will.

             Die Geschichte des nach verunglückten Lehrbubendebüts als Hausknecht, Fensterputzer, Austräger, Zughund herumgestoßenen Hilfsarbeiters aus der industriellen Reservearmee der Großstadt, deren frühe Invalide mit sorgsamer Kaltherzigkeit „ohne Aufsehen“ durchs Spital- und Friedhofstor ins Schachtgrab spediert werden, war und ist durch ihre ewige Wiederholung geeignet, in einem weit größeren Kreise von Proletariern Mitgefühl und Interesse zu erwecken als die nach Berufszweigen oder Heimatszugehörigkeit in ihrer unmittelbarsten Wirkung beschränkten Memoiren von Bromme, Fischer, Holek, Köhler, Rehvein oder was wir sonst an Arbeiterlebensbildern haben. So ist Das rauhe Leben von Petzold schlechthin „Das proletarische Leben“, mit der ausdrucksamen Bildersprache des Lyrikers geziert, durch die Überempfindlichkeit des Kränklichen in seiner gemütlichen Wirkung gesteigert, ein Buch, wohl wert, in unseren Arbeiterbibliotheken Heimat und fruchtbare Verwendung zu finden. Nur stutze der junge oder alte Proletarier, der es mit tiefer Anteilnahme lesen wird, nicht, wenn er gegen Ende darauf kommt, daß sich der proletarische Verfasser des „Empörerwahns“ bezichtigt. Petzold kann nach seinen Erfahrungen gar nicht meinen, daß Empörung Wahnsinn sei oder daß es Wahn war, daß er sich empört fühlte. Er meint nun – wie könnt‘ es anders sein, wenn er nicht frivol sein Buch und sein Leben um Ernst und Weihe bringen will – daß sich seine Empörung über ein normales Maß hinaus gesteigert hat. Aber diese Mißverständlichkeit, deren Erklärung unvermeidlich ist, wenn man den Autor nicht boshafterweise in schiefem Lichte schauen will, ist ein Anzeichen jenes großen Gebrechens, das nun Petzolds neues Buch leider von literarischen Büchern im ästhetischen Sinn unterscheidet: Ärger noch als im Franzl ist das Deutsch im „Rauhen Leben“! so schlampig, so schludrig, so salopp, so von gedankenlos schlecht gewählten Worten, papiernen Fügungen und umgangssprachlichen Unarten durchsetzt, daß man den durch seines Lebens Schicksal und seiner Lyrik Geschick gleich sympathischen Autor wohl mahnen muß, er möge im treuen Gedenken der schönen, sicheren Zielstrebigkeit seines autodidaktischen Bildungsganges die Mühe nicht scheuen, die es gar vielen guten Lyrikern macht, gute Prosa zu schreiben.

In: Arbeiter-Zeitung, 8.12.1920, S. 2.

Robert Musil: Als Papa Tennis lernte. (1931)

Als Papa Tennis lernte, reichte das Kleid Mamas bis zu den Fußknöcheln. Es bestand aus einem Glockenrock, einem Gürtel und einer Bluse, die einen hohen, engen Umlegekragen hatte als Zeichen einer Gesinnung, die bereits anfing, sich von den Fesseln zu befreien, die dem Weibe auferlegt sind. Denn auch Papa trug an seinem Tennishemd einen solchen Kragen, der ihn am Atmen hinderte. An den Füßen schleppten beide nicht selten hohe braune Lederschuhe mit zolldicken Gummisohlen, und ob Mama außerdem noch ein Korsett zu tragen hätte, das bis an die Achselhöhlen reichte, oder sich mit einem kürzeren begnügen dürfte, war damals eine umstrittene Frage. Damals war Tennis noch ein Abenteuer, von dem sich die verzärtelte heutige Generation keine Vorstellung mehr machen kann. O, rührende Frühzeit, als man noch nicht wußte, daß auf kontinentalen Tennisplätzen kein Gras gedeiht! Man behandelte es vergeblich mit der Sorgfalt eines Friseurs, der an einem an Haarausfall leidenden Kunden alle seine Mittel versucht. Aber man konnte auf solchen Grasplätzen bei Turnieren unerwartete Erfolge erzielen, wenn der Ball zufällig auf einen Maulwurfshügel fiel oder der Gegner über ein Grasbüschel.

Leider hat man diese romantischen Tenniswiesen bald aufgegeben und den modernen Hartplatz geschaffen, wodurch ein ernster Zug in den Sport kam. Die Figuren verschwanden, die man anfangs hatte sehen können, wie sie, scharf visierend, mit turnerischer Geschicklichkeit das Racket einem Flugball entgegenstießen, und es bildeten sich überraschend schnell die Schläge aus, die heute noch gebraucht werden, mit ganz wenigen Ausnahmen, die erst später dazugekommen sind. […] Der Zeitgeist schafft sich eben seine Werkzeuge. Was nach uns gekommen ist, war ebensowohl ein großes Wachsen des Durchschnittskönnens wie der Spitzenleistungen, aber wir sind es gewesen, welche die Gnade dieses Jahrhunderts empfangen haben, und daraus leite ich auch die Berechtigung ab, einiges von solchen Angelegenheiten zu erzählen.

Um noch einen Augenblick beim Tennis zu bleiben: man konnte noch vor zehn oder weniger Jahren in diesem Sport gewisse Spuren der ursprünglichen Moral beobachten. Wenn man von einer andren Sportstätte auf einen Tennisgrund kam, so war das, sofern man einen empfänglichen Blick für Kleidung hatte, nicht anders, als ob man von einem hellen, offenen Platz in einen hochstämmigen Wald träte. Hier reichten die Röcke noch bis zur halben Wade und die Taille bis zu den Handgelenken, als sich der Dreß anderswo längst schon auf die Größe eines Bogens Briefpapier, wenn nicht gar einer Eintrittskarte zusammengezogen hatte; ja, was die Herren angeht, so stecken sie bekanntlich heute noch in weißen Futteralen, und nur die Damen verlieren von den Armen und Beinen aus zusehends ihre Kleidung. Dieser konservative Grundzug des Tennis hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß es lange Zeit ein Sport der „Gesellschaft“ gewesen ist, die es zum Vergnügen spielte und die Nacktheit nicht für einen neuen Geist hielt, sondern für ein Geheimnis des Garderobeschranks, das man nur selten tragen darf, weil es immer das gleiche bleibt. In ähnlicher Weise ist ja auch ein anderer Sport der Gesellschaft konservativ geblieben, das Fechten, diese schwarzseidene Kavalierskunst, deren Anblick, wenn sie öffentlich auftritt, mehr vom achtzehnten Jahrhundert an sich hat als von den Formen der Gegenwart, und an sportlicher Geltung denn auch weit zurücksteht. Das Fechten war ein ritterlicher Sport und also eigentlich überhaupt keiner, oder ist nur noch in halb lebendiger, der trotz seiner hohen körperlichen Vollendung zusehen muß, wie ihn die Seele seiner Seele mit Boxern und Jiu-Jitsu-Kämpfern verlassen hat.

Seit Papa Tennis lernte, hat sich also immerhin einiges geändert, aber es betrifft mehr die Bewertung der Leibesübungen als diese selbst. Wohl gab es noch nicht die Verbindungen von Motortechnik mit menschlicher Kaltblütigkeit, aber von den eigentlichen „Körper-Sporten“ standen die Wesenszüge schon fest, mit wenigen Ausnahmen wie Golf und Hockey, die man noch nicht kannte, und abgesehen von der technischen Durchbildung, die aber ziemlich stetig erfolgte; denn von „revolutionierenden“ Stiländerungen fielen die der Reit-, Lauf- und Sprungtechnik schon in jene Zeit und sogar die Crawlmethode des Schwimmens, die erst später importiert worden ist, unterschied sich in der Arm- und Atemtechnik weniger von dem damals geübten Schnellschwimmen als dieses vom gemächlichen Mißbrauch des Wassers zur Großvaterzeit.

Was den Sport zum Sport gemacht hat, ist also nicht so sehr der Körper als der Geist. Ehe ich aber von diesem berühmten Geist beginne, muß ich eine Geschichte erzählen, die weitab davon anfängt, jedoch bald dahinführt. Man weiß, daß Wien die zweitgrößte deutsche Stadt ist; aber da ein großer Teil der Einwohnerschaft Wiens in Berlin wohnt, wo er sich als Schriftsteller, Ingenieur, Schauspieler und Kellner große Verdienste um die norddeutsche Sonderart erwirbt, bleibt zu Hause nicht immer genug übrig, was man außerhalb natürlich nicht so genau weiß. Aber so ist man auf einen Einfall gekommen, der sowohl für die Geschichte der Kultur wie für die des Sports sehr bezeichnend ist: Man baut nicht nur seit einem Jahr an einem großen olympischen Stadion, sondern opfert diesem auch die letzten Reste des Praters. Was das heißt, muß erklärt werden. Der Prater gehört zu den sieben Weltwundern, die ein im Ausland lebender Wiener aufzuzählen beginnt, wenn er Heimweh hat; sie heißen: Wiener Hochquellenwasser, Mehlspeisen, Backhendeln, die blaue Donau, der Heurige, die Wiener Musik und der Prater. […] Denn das war, eng an ja in die Großstadt geschlossen, ein stundenweiter Naturpark mit herrlichen alten Wiesen, Büschen und Bäumen; eine Landschaft, in der man sich als Mensch nur Gast fühlte: eine Überraschung, denn diese Natur war gut um hundert Jahre älter, als es die Natur ist, in deren Gesicht wir sonst blicken; kurz, es war eine jener Stellen, die man heute, überall, wo man sie noch besitzt, für unberührbar erklärt, aus irgendeinem Empfinden heraus, daß es doch noch etwas anderes als Kugelstoßen oder Autofahren bedeute, wenn sich der Mensch langsam, ja sogar oftmals stehenbleibend oder sich setzend, in einer Umgebung bewegt, die ihm Empfindungen und Gedanken eingibt, für die sich nicht leicht ein Ausdruck finden läßt. In der Zeit der Allonge-Perücken scheint man das gewußt zu haben, denn obwohl der Prater damals ein kaiserlicher Jagdpark war, worin man zur Hatz ritt, gibt es allerhand Zeugnisse dafür, daß dies nicht ganz ohne Empfinden für die Natur vor sich ging; in der langen Besitzerzeit Franz Josephs, wo sich unsere heutige Art zu leben und auszusehen herausbildete, hatte man wenigstens Scheu vor Änderungen und gab nur die Ränder frei, selbst der aristokratische Jockeiklub und der Trabrennverein mußten sich damit begnügen: erst seit wir uns selbst übergeben sind, und das ist eben das Bedeutsame daran, ist der Prater fast restlos zugrunde gegangen, was natürlich nicht hindern wird, daß wir weiter von ihm reden und nicht bemerkten werden, daß er nicht mehr da ist. An seine Stelle sind Sportplätze verschiedenster Art getreten, die von Zäunen und Eintrittsschranken umgeben sind, und es ist das gerade so, wie es sein mußte, denn man hätte dafür weit geeignetere Gegenden finden können, aber keine so vornehmen, keine solchen Siegesplätze über die Natur, nichts, wo sich der lächerliche Anspruch der Leibesübungen, eine Erneuerung des Menschen zu sein, so naiv, so protzig, so instinktsicher ausdrücken könnte wie in diesem Zusammenhang.

Gegen die Tatsache, daß wir heute eine Körper-„ Kultur“ besitzen, ist also nichts zu machen. Aber wessen Geisteskind ist sie eigentlich? An dieser Stelle muß ich zugeben, daß ich selbst sehr viel Sport getrieben habe. Schon ich bin in meiner Jugend, wenn ich vom Kolleg kam, täglich auf den Tennisplatz gefahren, um mich einem scharfen Trainingsspiel zu unterziehen, oder ich wurde eine halbe Stunde lang von meinem Maestro di scherma hart hergenommen und abends dann noch einmal eine Viertelstunde, und schließlich kamen noch die Assauts mit den Klubgrößen, unter denen sich vielgenannte Fechter befanden. Ich habe an Fecht- und Tennisturnieren teilgenommen, konnte auf den Händen stehen, Salto zu Wasser und zu Lande machen und bin etliche Male auf Schwimm-, Ruder- und Segelunternehmungen beinahe ertrunken; ich glaube, genügende Beweise dafür zu besitzen, daß der Geist des Jahrhunderts rechtzeitig in mich gefahren ist. Aber wenn ich mich frage, was mir damit eigentlich geschah, so muß ich mir die Antwort sorgfältig überlegen: In der Hauptsache war es wohl wirklich eine blinde Kraft, die mich trieb, irgendein Nichtwiderstehenkönnen, sobald man die Sache kennengelernt hatte; aber sichtlich war sie auch vermischt mit jener lebensunkundigen Eitelkeit der Jugend, die an ihrem gesunden Körper nicht nur Freude, sondern ein Wundergefühl empfindet, weil in diesem Zaubersack noch alle Erfolge der Welt stecken, ohne daß eine Enttäuschung davorgekommen wäre. Auch die Suggestion, die im Erlernen jeder Sache liegt, wenn man sich ihm erst einmal hingegeben hat, darf nicht vergessen werden; hat man etwa hundert Stunden und Anstrengungen zum Opfer gebracht, so opfert man ihm auch die hundertunderste und beginnt damit eine neue Reihe: man wird in dieser Art beim Training von seinem Körper gleichsam an der Nase weiter geführt.

Neben diesen Illusionen gibt es in der Sportübung aber auch eine Fülle wirklicher kleiner geistiger Anregungen, die sie vor der Gefahr bewahren, bloß eine seelische Erkrankung zu werden. Ich will das kurz fassen, da es ohnehin oft genug hervor gekehrt wird: da sind Mut, Ausdauer, Ruhe, Sicherheit, die man auf dem Sportplatz zwar nicht für alle Fälle des Lebens, aber immerhin so erwirbt wie ein Seiltänzer das Gleichgewicht auf einem Seil, das in der Höhe von einem Meter gespannt ist. Man lernt, die Aufmerksamkeit zu sammeln und zu verteilen wie ein Mann, der mehrere Spinnstühle beaufsichtig. Man wird angelernt, die Vorgänge im eigenen Körper zu beobachten, die Reaktionszeiten, die Innervationen, das Wachstum und die Störungen in der Koordination der Bewegungen, man erlernt die Beobachtung und Auswertung von Nebenvorgängen, die rasche intellektuelle Kombination; alles das ähnlich, wenn auch nicht in dem Maße wie ein Jongleur. Man erwirbt Bekanntschaft mit den Fehlleistungen, welche der wahrnehmbaren Müdigkeit voranschleichen; man lernt das eigentümliche Schweben zwischen zu viel und zu wenig Fleiß kennen, die beiden schädlich sind, den gewöhnlich ungünstigen Einfluß der Affekte auf die Leistung und andererseits die beinahe mirakulöse Natur des besonders guten Gelingens, wo der Erfolg sozusagen schon vor der Anstrengung da ist. Und obwohl man alles das auch bei anderen Gelegenheiten, etwa beim Kartoffelgraben, kennenlernen kann, so faßt es der Sport doch in einer überaus zugänglichen und reizvollen Weise zusammen, wozu noch die Anregungen kommen, die das Kampfspiel gewährt, das Überlisten, die Schwankungen zwischen den Gegnern, die Einschüchterung und die Siegesgewißheit, und so vieles andere, was man etwas geschwollen als Taktik und Strategie des Sports bezeichnet.

Wie weitläufig wäre allein schon (obwohl sie gegeben werden kann) die Erklärung des Wunders, daß man auf die Entfernung des Anlaufs vorausbestimmen kann, mit welchem Fuß man abspringen wird! Das Wesen des Ich leuchtet in den Erlebnissen des Sports aus dem Dunkel des Körpers empor, und auch sonst leuchtet dabei allerhand Dunkles, aber dazu möchte ich nun auch gerne wissen, wie viele Sportleute sich überhaupt herbeilassen würden, nach solchen Dingen zu fragen oder auf solche Fragen zu hören?! […]

Auf solche Ideen wäre ich bei meinen naiven körperlichen Anstrengungen seinerzeit gewiß niemals verfallen. Ich war fast ganz und gar ungeistig, nur um am nächsten Tag geistig frisch zu sein. Es kam mir beim Ringen wenig Seelisches in den Sinn, und wenn ich mich wie ein Tier betrug, so war mir eben gerade das erwünscht. Ich bin heute noch der Meinung, daß Geistesabwesenheit außerordentlich gesund ist, wenn man Geist besitzt, unter anderen Voraussetzungen jedoch auf die Dauer recht gefährlich! Aber wozu noch länger vom Geist des Sportmanns reden, besteht doch das ganze Geheimnis darin, daß der Geist des Sports nicht aus der Ausübung, sondern aus dem Zusehen entstanden ist! Jahrelang haben sich in England Männer vor einem kleinen Kreis von Liebhabern mit der nackten Faust Knochen gebrochen, aber das war solange kein Sport, bis der Boxhandschuh erfunden worden ist, der es gestattete, dieses Schauspiel bis auf fünfzehn Runden zu verlängern und dadurch marktfähig zu gestalten. […] Zweiundzwanzig Männer kämpfen mit der Mäßigung von Berufsmenschen um einen Fußball, und einige Tausende, von denen die meisten einen solchen Ball niemals berührt haben, geraten in die Leidenschaft, die sich die Ausübenden ersparen. So entsteht der Geist des Sports. Er entsteht aus einer umfangreichen Sportjournalistik, aus Sportbehörden, Sportschulen, Sporthochschulen, Sportgelehrsamkeit, aus der Tatsache, daß es Sportminister gibt, daß Sportleute geadelt werden, daß sie die Ehrenlegion bekommen, daß sie immerzu in den Zeitungen genannt werden, und aus der Grundtatsache, daß alle am Sport Beteiligten, mit Ausnahme von ganz wenigen, für ihre Person keinen Sport ausüben, ja ihn möglicherweise sogar verabscheuen. Sofern man nicht an der Sache verdient, gibt man ihr eben nach. Man fühlt ein Vakuum, in das sich der Sport stürzt. Man weiß eigentlich nicht recht, was sich da stürzt, aber alle reden davon, und so wird es wohl etwas sein: so ist immer das zur Macht gekommen, was man ein hohes Gut nennt.

Wie ungerecht nur, daß man in diese Kultur noch nicht die Jongleure, überhaupt die Varieté- und Zirkuskünstler einbezogen hat, und vor allem: welches moralische Problem des kommenden Sportzeitalters liegt in der Vermählung von Erwerbssinn und körperlicher Geschicklichkeit bei den Taschendieben!

In: Der Querschnitt, Nr. 11 (1931), S. 247-252 (Auszüge)

N.N.: Das Stadion. (1931)

             Gestern wurde das große Stadion der Gemeinde Wien feierlich eröffnet. Der

Bundespräsident Miklas, Bürgermeister Seitz und Stadtrat Tandler haben in dem Riesengebäude des Massensports über die hohe Bedeutung der Körperkultur ge­sprochen, Arbeitersportler haben vor fünfundzwanzigtausend Zuschauern gezeigt, was sie können.

Der einzigartige Aufstieg des Sports, der noch vor gar nicht langer Zeit offiziell kaum zur Kenntnis genommen wurde, der als Eindringling in das Gehege der Bürgerwelt galt, wird an solcher Feier, undenkbar in der Vorkriegswelt, auch den Abseitsstehenden offenbar; daß der Sport ein gewaltiger Kulturfaktor ist, daß er einen neuen Menschentypus formt, wird heute kaum noch geleugnet. Aber so sehr auch die Bürgerwelt geneigt ist, das zuzugeben, so wenig ist sie in Österreich geneigt, allzuviel für die Sportbewegung zu tun; meistens ist es bei schönen Worten und unverbindlichen Redens­ arten geblieben. Erst die sozialdemokratisch verwaltete Gemeinde Wien hat in der Förderung des Sports eine soziale Aufgabe und Verpflichtung erkannt und diese Erkenntnis produktiv gemacht; das Stadion ist ein großartiges Monument dieser Erkenntnis. Dienst an der Jugend des Volkes, an der Generation der Zukunft, das ist das große Prinzip. Säuglingsfürsorge, Kindergärten, Kinderbäder, Ferienkolonien, Sportplätze, Badeanlagen, menschenwürdige Wohnungen – all das ist Verwirklichung dieses Grundprinzips, dem nun auch das Stadion dient. Der Kampf um die Volksgesundheit – ein Kampf, der nicht nur gegen hundert objektive Schwierigkeiten, sondern auch gegen das Unverständnis, gegen die dumpfe Gehässigkeit der bürgerlichen Parteien geführt werden mußte und weiterhin geführt werden, muß – das ist der Kampf, den die Wiener Sozialdemokratie um das Stadion zu führen hatte, wie um jeden Wohnbau, um jede neue Für­sorgeaktion. Die Jugend, die da in der kapitalistischen Welt heranwächst, ihren Maschinen, ihrer Ausbeutung, ihren Todes­giften preisgegeben, muß verzweifelt und mit allen Mitteln um ihre Gesundheit ringen – sie braucht den Sport, um nicht zugrunde zu gehen, sie hat mit dem Sport einen Schimmer von Freiheit und Schönheit, in diese nicht sehr freie und nicht sehr schöne Welt gebracht. Sie darin zu unterstützen, gegen alle Spießer und alle Dunkelmänner, halten wir Sozialisten für eine hohe Notwendigkeit; bis an die Grenzen des Mög­lichen ist die Gemeinde Wien dieser Notwendigkeit gerecht geworden.

Zum zehnjährigen Bestand der Republik hat die Gemeinde Wien den Beschluß gefaßt, der Jugend der Republik ein Geschenk zu machen und zugleich der Republik ein Denkmal zu stiften, das nicht Er­innerung in Marmor, sondern Wirkung in die Zukunft ist. Dieses Geschenk an die Jugend, dieses Denkmal der Republik ist das Stadion; hier soll sich die Freude am Körper, von den Muckern verpönt und von den Hütern des Ewig-Gestrigen mit Beunruhi­gung wahrgenommen, ungestüm entfalten, hier sollen die Kraft und Bewegtheit, die freie Haltung und die formgebändigte Energie der jungen Generationen; die Leistung des einzelnen und der Sieg der Gemeinschaft den Menschen ein Wohlgefallen sein. Die Republik braucht keine Traditionen, keine Kostüme der Vergangenheit, sie braucht ein junges Geschlecht, geformt nach dem Bilde der Freiheit, zu lachen, zu weinen, zu genießen und zu freuen sich und nicht zu achten der Götzen von gestern. Im Sport soll dieses Geschlecht sich stärken und stählen für seine größte Aufgabe: völlige Befreiung des Körpers und des Geistes, der Arbeit und des Lebens aus allen Fesseln der Vergangenheit.

Daß der Sport nicht zum Selbstzweck erstarre, sondern Element einer allgemeinen, einer durchaus neuen Kultur sei, dafür bürgt die Arbeiterbewegung, die aus der Sport­bewegung neue Formen gewinnt und der Sportbewegung neuen Inhalt verleiht. Der Arbeitersport, der in das Stadion seinen Einzug gehalten hat, das wahre Kind dieser Zeit; die aufsteigende Arbeiterklasse und der aufsteigende Sport haben sich vereinigt, um eine neue Kultur des Körpers und des Geistes zu zeugen Daß der Arbeiter, der einst ausgeschlossen war von allen Festen und allen kulturellen Gütern der Bürger­welt, heute Sport betreibt wie der Bürger­liche, bedeutet an sich schon viel, trotzdem ist es nicht das Entscheidende; entscheidend ist vielmehr, daß der Arbeiter heute anders Sport betreibt als der Bürgerliche, daß er in ihm die Harmonie sucht, die der kapitalistische Betrieb zerstört, die Gemeinschaft- die der bürgerliche Sport durch Einzelrekorde sprengt, die Befreiung von den Konventionen der alten Unkultur. Daß die Gemeinde Wien das Stadion nicht nur sportlichen, sondern auch künstlerischen Veranstaltungen widmen will, entspringt völlig der Tendenz, die der Arbeitersport verfolgt; der proletarische Kampfeswille und der sozialistische Kulturwille sind die Adlerflügel, die den Arbeiter­sport über den bürgerlichen Sportbetrieb hinaustragen.

All das wird bald im Stadion weithin sichtbar werden; wenige Tage nur trennen uns von der ArbeiteroIympiade, von dem internationalen Massenfest in Wien. Aus allen Ländern kommen junge Sportler, junge Sozialisten nach Wien, um hier mit der Kraft ihrer gestählten Körper für den Sport, mit der Leidenschaft ihrer Gesinnung und der Schwungkraft ihrer Solidarität für den Sozialismus zu demonstrieren. Diese Stadt wird ein wundervolles Schauspiel er­leben: über den drückenden Alltag und die lähmende Sorge hinaus wird uns die sozia­listische Jugend den Schimmer einer schöneren Zukunft zeigen, die Ahnung einer helleren Welt verleihen. Und diesem Schau­spiel sozialistischen Kulturwillens wird der

Kongreß der Internationale folgen, sozialistischer Kampfeswille wird die Waffen prüfen und die Richtung weisen. Bekenntnis zu einer neuen Kul­tur, die den Körper heiligen und den Geist nicht zum hochmütigen Tyrannen, sondern zum treuen Diener der Gemeinschaft machen soll, Lebensform der jungen Generation und Fahnenweihe der Zukunft – das wird die

Arbeiterolympiade sein. Bekenntnis zum Klassenkampf des Proletariats gegen den Kapitalismus, Abschätzung aller Möglichkeiten und Wahl der richtigen Methoden, Vorbereitung einer Welt, in der solche Olympiaden nicht Flammensignale in der Finsternis, sondern taghelle Siegesfeste sind – das wird der Kongreß der Internationale sein.

Die jungen Sportgenossen werden in Wien das Stadion finden, den idealen Schauplatz für ihre Veranstaltungen. Die Internationale aber wird in Wien eine Stätte finden, wie kaum in einer Stadt: eine Partei, die das ganze, das einige Proletariat verkörpert, wird ungezählte Arbeiter­ herzen, in denen der Sozialismus nicht ein kaltes Denkmal, sondern lodernde Flamme ist.

In: Arbeiter-Zeitung, 12.7.1931, S. 3.

Innozenz [  ]: Des Bischof grüner Tisch. (1928)

Der interessante Fall ergibt sich, daß ein streitbarer Kirchenfürst, der durch seine Hirtenbriefe und theoretischen Überzeugungen in der letzten Zeit mit den Meinungen und Taten seiner eigenen Glaubensgenossen in argen Widerspruch geraten ist, in die Öffentlichkeit flüchtet und einer Wiener Lokalkorrespondenz eine moraltheologische Abhandlung übergibt, um vielleicht doch noch über den Weg der Presse das Ohr des großen Publikums zu finden, das auf dem Wege normalseelsorgerischer Tätigkeit anscheinend nicht mehr gefunden wird. Wir reden vom Linzer Bischof Johannes Gföllner, der für die nächste Woche das seltene Synedrion einer Diözesansynode in seine Stadt zusammen­gerufen hat, um wieder einmal engeren Kon­takt mit den anderen Seelsorgern seiner Diö­zese zu gewinnen, von jenem Bischof, über dessen Versetzung in ein römisches Ausgedingamt seit einiger Zeit so viel gemunkelt wird, der nun aber in einer Art Hilferuf an die Öffentlichkeit den Schwanengesang vorbereitet.

Das Thema der bischöflichen Ausführungen ist nicht gang neu. Es ist unter den großen Fragen, die heute an die katholische Kirche herantreten, auf die sie aber in ihrer Hilflosigkeit keine rechte Antwort mehr weiß: Krieg, soziale Frage, Körperkultur, nicht die unbedeutendste. Körperkultur ist nun einmal die Signatur unserer Zeit und noch stärker vielleicht der kommenden. Wir haben uns fast zweitausend Jahre verhäßlicht, geschwächt, verschmutzt und sind trotz intensivsten Seelenkults nicht um einen Deut moralisch weitergekommen. Nun will sich wenigstens der Körper aus Scholastik, Dogmatik und Intellektualisierung retten — und das ist der Sinn der neuerwachten Wanderlust, des Sportes, der Gymnastik, der Rhythmik, der Badekultur, des Weekends. So groß, so unwiderstehlich, so hinreißend ist die Bewegung, daß sich selbst die engsten Glaubensfreunde der Bischöfe ihr nicht mehr ent­ziehen können. Katholische Mädchen wandern mit katholischen Knaben, katholische Turnerin­nen üben und zeigen sich im Schauturnen neben katholischen Jünglingen, katholische Touristen klettern auf die Berge mit katholi­schen Touristinnen und müssen nicht selten gemeinsam auf dem Heulager nächtigen, katho­lische Bürgermeister errichten ausgezeichnete Strandbäder. Es ist ein Prozeß, der selbst in unserem kleinen Österreich schon Millionen er­faßt hat. Und katholische Mädchen machen voll Begeisterung die hygienische Mode der kurzen Haare und Kleider mit. Mit einem Wort: die Hirtenbriefe predigen ins Leere, die Bischöfe bleiben Rufer in der Wüste.

Es ist das tragische Schicksal der katholischen Kirche, die in einem tieferen Sinne ihre historische Mission noch nicht beendet haben müßte, daß sie gegenüber den Ereignissen, den Wissenschaften und den Forderungen des Tages stets um ein Beträchtliches zurück­ bleibt und erst allzuspät einlenkt. So war es vor Jahrhunderten mit der Entthronung der geträumten Sonderstellung der Erde im Weltmittelpunkt, im 19. Jahrhundert mit dem Entwicklungsgedanken, so ist es heute mit den praktischen Forderungen, die sich aus Pazifismus, sozialer Not und körperlicher Renaissance ergeben. Man weiß, die Kirche wird eines Tages nachhinken und die Forde­rungen der Zeit erfüllen. Man weiß aber auch, es wird zu spät sein.

Innerhalb der retardierenden Elemente der Kirche gibt es nun Persönlichkeiten, die stärker erkennen, wo in diesem oder jenem Punkte unsere Zeit der Schuh drückt, und andere, die gänzlich den Kontakt mit ihr ver­loren haben. So behaupten nun die Franzosen beispielsweise, daß ihr Pariser Erz­bischof Dubois ein durchaus zeitgemäßer Mann sei. Die Pazifisten und Kriegsgegner behaupten Ähnliches von unserem Professor

Ude. Sogar von katholischen Priestern hört man hie und da, die für die sozialen Notwendigkeiten unserer Generation volles Ver­ständnis aufbringen. Zu den anderen Persönlichkeiten aber, die blind durch ihre Epoche gehen und nur mehr wenig lernen können, gehört der Linzer Bischof, dem sogar die geist­lichen Musikkonzerte in den Kirchen ein Greuel sind. Hätte er sehende Augen und ein weises Herz, er hätte längst sehen können, wie // die Körperkultur unserer Tage – von weni­gen Ausnahmen und Übertreibungen abgesehen – und der Sport in unsere reineren Leiber neue, reinere Seele einziehen läßt, wie die Ferien vom Stadt-, Geschäfts- und Profitleben auch Ferien vom Herz- und seelenlosen Wirtschafts-Materialismus unse­rer Epoche bedeuten, wie neue psychische Qualitäten — Hilfsbereitschaft, Hochherzig­keit, Aufopferung, Ritterlichkeit, Heldentum – im gemeinsamen Kampfe mit Raum und Zeit und Widrigkeiten der Natur erwachsen. Hätte er sehende Augen…! Aber welcher dieser streitbaren Männer war je in den Felsen und Schutzhütten, in den Strömen und Strandbädern, bei Turn- oder Tanzfesten? Sie urteilen nur nach dem Hörensagen und sind daher zur Blindheit verdammt. Darf man sich wundern, daß dann die eigenen Schafe den Hirten nicht mehr vertrauen! Was soll ein katholischer Turner – der  täglich von sportlichen Wettkämpfen liest und sonntags mit Kind und Kegel selbst auf den Sportplatz als Zuschauer zieht – denken, wenn er hört, sein Bischof verlange, daß er Weib und Tochter zu Hause lasse? Daß das öffentliche Schauturnen „möglichst“ einge­schränkt, daß die gymnastischen Feste „tun­lichst“ nicht von beiden Geschlechtern gemein­sam veranstaltet werden? Im ganzen Leben spielt sich heute alles in gemeinsamer Arbeit von Mann und Frau, die mehr und mehr Kameraden werden, ab und gerade beim Turnen sollen die Geschlechter einander fliehen? Und was sollen übrigens in solch „seelenwichtigen Belangen“, wie sie Bischof Gföllner aufzählt, ein „tunlichst“ und „möglichst“ bedeuten? Wenn die Seele wirklich in Gefahr ist, da sollte es doch nur ein „Ent­weder – Oder“ geben! Und warum auf ein­mal – nur dem Badner oder Gmundner Bürgermeister und ihrer Gemeindekasse zu­liebe – die Konzession des gemeinsamen Badens von Männern und Frauen (bloß die Ankleideräume sollen getrennt werden!), nach­dem man jahrelang das Familienbad perhorresziert und anathematisiert hatte! Glaubt man denn wirklich, die Gläubigen vergessen so schnell? Glaubt man wirklich, die Vernunft sei uns allen schon so durchgegangen, daß nur etwas für Schwimmer, Badende und Strandflaneure bischöflich gutheißen lassen, aber für Gymnastiker und Rhythmiker mit dem Bann belegen?

Die katholische und die übrige Welt wird die Auslassungen Dr. Johannes Gföllners mit mehr als gemischten Gefühlen hinnehmen. Selbst wo sie Richtiges und Treffendes in ihnen entdecken wird— und bei gutem Willen wird man auch manches Vernünftige dort finden— wird sie beklagen müssen, daß es sich selbst entwertet und im Wust, zeitfremder Pseudodogmatik und Moraltheologie untergeht. Sie wird erkennen, daß die Ein­sichten am grünen Tisch des bischöflichen Palais entstanden sind und nicht im lebendi­gen Leben. Der grüne Tisch des Bischofs aber und die Sehnsucht der Welt nach Gesundheit, Kraft, Schönheit, Tatenlust und Natur­verbundenheit, das sind Dinge, die nicht mehr zur Deckung zu bringen sind. Und daher muß die Welt – auch die katholische – an den Produkten des zeitfressenden, grünen Tisches lächelnd vorübergehen.                                                                             Innozenz.

In: Der Tag, 17.8.1928, S. 1-2.

N.N.: Sollen wir auf allen Vieren kriechen? Dr. Max Graf Thun-Hohenstein und seine Körperkultur. (1930)

N.N.: Sollen wir auf allen Vieren kriechen? Dr. Max Graf Thun-Hohenstein und seine Körperkultur.

Es lohnt sich, Dr. Max Graf Thun-Hohenstein, dessen neuartige Körperkultur revolutionierend zu wirken anfängt, einen Besuch abzustatten. Zu den bisher mehr oder minder lebhaft besprochenen Sensationen seiner Schule gehört, daß dort die Menschen auf allen Vieren kriechen. Kopfschüttelnd sah ich unlängst diesem Treiben zu, als einer von den Be­geisterten, die eben ihre mühsam erlernte Kunst erprobt hatten, mir mit spöttischem Humor sagte: „Haben Sie schon einmal gesehen, daß ein Pferd Gelenksübungen macht? Ich meine so: Zwanzigmal niederhocken und wieder aufstehen, Beine seitwärts stoßen, je zehnmal Kopfkreisen links und rechts, nicken mit dem edlen Haupte und so fort. Ich habe noch kein so dummes Roß gesehen. Und auch den Leuten, die Pferde trainieren, fällt es nicht ein, das stolze Roß durch solche Übungen mit der nötigen Geschmeidigkeit und Muskulatur zu versehen. Also, was tun diese Leute? Sie lassen dem Pferd seine natürlichen Bewegungen und bestreben sich nur, diese zu veredeln oder noch besser: die Gangart rein herauszuarbeiten.“                                                                                                                           

Graf Thun hatte in seinen Holzpantoffeln und seinem wallenden violetten Sportmantel, der ihm fast das Aussehen eines Priesters der Naturlehre gibt, lächelnd zugehört. Was sollte aber ich mit solcher Weisheit anfangen? Graf Thun erläutert: „Die natürliche Bewegung ist das beste Training für Mensch und Tier. Gymnastische Uebungen macht man zeitweise, aber man bewegt sich den ganzen Tag. Kann man sich richtig bewegen so wird man auch jeden Sport ganz leicht erlernen und die mühselige Dressur des Sportlers wird, was die Grundbegriffe der Körperkultur anbelangt, zu neunzig Prozent erspart.“ Der Mann mit dem Humor kann sich nicht enthalten, diese Belehrung des Grafen Thun fortzusetzen: „Ein Mann, der zehn Minuten täglich trainiert, ganz so, wie es im Büchel steht, und während der übrigen Zeit des Tages seinem Körper alle Bewegungsfreiheit läßt, scheint nur einem Frommen ähnlich, der jeden Sonntag zwar eine halbe Stunde in die Kirche geht, während der übrigen Woche aber nur zum Schaden seiner Mitmenschen auf der Welt ist.“ „Ja, aber wie lernt man sich richtig bewegen?“

Graf Thun behauptet, die aufrechte Bewegung des Menschen sei nicht wesentlich verschieden von der horizontalen des Tieres, sie ist „nur“ transponiert. Er hat die Bewegungen der Tiere jahrelang studiert und nimmt sie als Vorbild für die Übungen, die er den Menschen vorschreibt. Warum aber soll der Mensch Übungen auf allen Vieren machen und warum nimmt Graf Thun gerade das Pferd als ideales Vorbild? — Nun, es gibt eben auch unter den Tieren eine Stufenleiter der Ent­wicklung und das Pferd dünkt ihm hinsichtlich der Bewegung als das entwickeltste und edelste. Es ist auch einer Veredlung seiner Bewegungen durch den Menschen fähig. Wieder mengt sich der Sarkastiker ein: „Wenn Sie sich beispielsweise einen Igel zum Vorbild nehmen, so zweifle ich stark, ob es Ihnen gelingen // wird, seine Gangart zu veredeln. Aber im übrigen steht Ihnen das frei, Sie können sich auch eine mährische Mastente zum Modell Ihrer Bewegungen erwählen.“                                      

Noch immer aber bleibt für den Besucher die Frage ungeklärt: Warum um Himmels willen dieser Reigen von Menschen, die auf allen Vieren kriechen?                                            

Da setzt sich wieder die Philosophie des Grafen ein: Der Mensch soll deshalb Vierfußbewegungen üben, weil er so zur Grundlage seiner transponierten Zweifußbewegung zurückkehrt und sich selbst auf diese Art ungeahnte Quellen des Körpergefühls, der Balance und der Kraft eröffnet. Tut er dies oft, so kehrt er gewissermaßen zu seinen Uranfängen zurück und — so setzt der Mann mit der Ironie unaufgefordert fort — entwickelt eine Kraft wie der selige Antäus. Und kaum daß er diese Pointe von sich gegeben hat, schöpft er schon neue Kraft, indem er auch die Hände zu Gehwerkzeugen macht und wild davon stürmt. Er sieht weder einem Menschen, noch einem Pferd ähnlich, eher einem anderen Tier, über das der selige Darwin beredten Auf­schluß gegeben hat.

Die Groteske dieser Art Körperkultur aber schwindet von Minute zu Minute, wenn man in den Übungssälen des Grafen Thun länger verweilt. Seine Erklärungen sind stets ungemein plausibel. Besonders interessant sind seine Parallelen zur Musik. Die Übungen des Grafen beruhen auf dem „Schritt“, dem „Trapp“ und dem „Galopp“, diesen vier Formen legt er musikalische Taktarten zugrunde. Den Walzer führt er auf den Galoppsprung zurück, dem seiner Ansicht nach der Dreivierteltakt innewohnt. Erinnert man sich recht, so trifft diese Anschauung des Grafen zu. Denn einst wurde der Walzer auf sechs Schritte getanzt und der Anblick der Menschen, die sich in seinem Takt bewegten, glich einer Herde junger Pferde. Und das Schnauben — mengte sich der inzwischen zurückgekehrte Sarkastiker ein —, besorgten die Mütter, die gerührt längs der Wände saßen.

Graf Thun ist aber nicht nur ein Reformator der Körper­bewegung, er ist auch Philosoph und Psychologe. Zu seinen Tieren zählt auch immer eine Reihe von Affen, die maßlos auf­ einander eifersüchtig sind. Wird der eine liebkost, wird der andere böse. Kürzlich befreite sich einer der größeren Affen aus seinem Käfig, stürzte sich auf ein kleines Kapuzineräffchen und erwürgte es auf der Stelle. Und dies nur deshalb, weil der Graf knapp vorher das Äffchen gestreichelt hatte. „Was sollte ich tun?“ erzählt der Graf. „Sollte ich den Mörder strafen? Hätte er gewußt, warum ihm Strafe widerfährt? Ich versuchte es, ihm seine Missetat zu Bewußtsein zu bringen, indem ich ihn ignorierte. Und siehe da, der Affe fing an trübsinnig zu werden, er aß nichts mehr und wäre fast eingegangen, wenn ich mich nicht noch im rechten Moment seiner erbarmt hätte. Und ich Unmensch hätte im ersten Augenblick fast ebenso an ihm gehandelt, wie er an seinem Stammesbruder.“

Man sieht, Körperkultur und Ethik vertragen sich recht gut, wenn man sie nur richtig zu begreifen vermag.

In: Neues Wiener Journal, 15.8.1930, S. 9-10.

N.N.: Der derzeitige Stand der internationalen Kulturbundbewegung. Mitteilungen des Prinzen Karl Rohan. (1925)

Der Generalsekretär der Fédération Internationale des Unions Intellectuelles, Prinz Karl Anton Rohan, hat kürzlich in einer Pressekonferenz nähere Mitteilungen über die bisherige Tätigkeit sowie über das Aktionsprogramm des Kulturbundes gemacht, wie es schon vom kommenden Herbst angefangen in extensiver Weise zur Durchführung gelangen soll. Man erfuhr von den Fortschritten, die die Bewegung fast allen Ländern Europas bereits gemacht hat. Im Italienischen Kulturbund zum Beispiel sitzen Fascisten und Antifascisten friedlich nebeneinander, was in Anbetracht der hochgespannten Gegensätze gerade in diesem Lande höchst bemerkenswert ist. Internationalen Ausdruck fand die Bewegung zum erstenmal in der gründenden Versammlung der Fédération Internationale des Unions Intellectuelles im vergangenen November in Paris, an der bereits zehn Nationen teilnahmen. Ein genau detailliertes Aktionsprogramm legte sowohl die Ziele als auch die Arbeitsmethoden der nationalen Kulturbundorganisationen fest. Im wesentlichen handelt es sich dabei um die Organisierung des internationalen geistigen Austausches, von  Durchreiseerleichterungen, Empfängen Veranstaltung von Vorträgen usw. Auf dem großen

Bankett, das unter dem Vorsitz des jetzigen Ministerpräsidenten Painlevé den Schluß dieses Kongresses bildete, und bei welchem sämtliche Redner in ihrer Sprache begannen, sich selbst übersetzten und Französisch endeten, ereignete es sich zum erstenmal, daß vor einem offiziellen und überparteilichen Frankreich eine deutsche Rede gehört werden konnte. Ja, mehr als das: Als Painlevé dem Vertreter Deutschlands, Kurt Wolfs, das Wort erteilte, brach eine förmliche Applaussalve los. Die menschlich warme Atmosphäre, die dadurch entstand, kennzeichnete auch die darauffolgende Soiree, auf der Deutsche und Franzosen sowie

Angehörige aller möglichen anderen Nationen sich in einer Weise zu einander fanden, als hätte es nie einen Krieg gegeben. Der nächste Internationale Kongreß findet am 2., 3. und 4. November d. J. in Mailand statt.

Dieser raschen internationalen Entwicklung entsprechend war es notwendig auch den Wiener Kulturbund auf eine breitete Grundlage zu stellen. Vor wenigen Tagen erfolgte

die konstituierende Sitzung des erweiterten Gründerausschusses. In der aus diesem Anlasse ausgegebenen Kundgebung heißt es: „Bisher sind in sechs europäischen Hauptstädten Vereinigungen geschaffen worden, die das erschütterte Fundament der gemeinsamen  Voraussetzungen geistigen Lebens wieder aufdecken. In ihrer Zusammenarbeit knüpfen sie an die dauernden geistigen Zusammenhänge Europas an, um sie wieder lebendig zu machen

und weiter zu führen. Der „Kulturbund“ und seine Schwesterorganisationen verfolgen dieses Ziel auf dem allein sicheren Boden der freien Berührung einzelner Persönlichkeiten. Er glaubt, seinen Absichten dadurch am besten zu dienen, — daß er sich bewußt jenseits aller politischen Ziele stellt; er ist sich des zuletzt identischen Wesens und Gehaltes Europas sicher, daß er gerade in der Bejahung und Entfaltung der national selbständigen Ideale den Weg zur Erreichung seines Endzweckes sieht. Nach den Jahren des ersten Aufbaues steht der Kulturbund in Österreich bereits vor den ersten praktischen Erfüllungen seines Gedankens Ein internationaler geistiger Verkehr von hoher und lebendiger Intensität ist organisatorisch vorbereitet Er verlangt nun auch in Wien, wo die Bewegung wurzelt, die Teilnahme und Mitarbeit aller jener, die über allen Gegensätzen nicht eine höhere geistige Gemeinschaft und ihre fruchtbaren Anregungen verlieren wollen.

Auskünfte erteilt das Sekretariat des Kulturbundes, Wien, 6. Bezirk, Linke Wienzeile 4.

In: Neue Freie Presse, 22.6.1925, S. 6.

Gina Kaus: Die Kameradschaftsehe. (1928)

             Die Kameradschaftsehe, meint Bertrand Russel, ist die einzige Lösung für die sexuelle Not unserer Jugend. Die Jahre zwischen sexueller Reife und materieller Unabhängigkeit sind erfüllt von dem sinnlosen Kampf, den die gesellschaftliche Heuchelei gegen das natürliche geschlechtliche Bedürfnis führt; dieses Bedürfnis, durch die Schwierigkeiten, die seiner Befriedigung entgegenstehen, gewaltig gesteigert, führt, vom geraden Wege abgedrängt, zu Ausschweifung und häßlicher, verlogener Promiskuität.

             Der gerade Weg aber, meint Russel, ist die Kameradschaftsehe. Sie soll sich dadurch von der landesüblichen unterscheiden, daß sie nicht für die Ewigkeit gedacht und deshalb im gegenseitigen Ein-//verständnis ohne weiteres lösbar ist, daß sie nicht zum Kinderkriegen da ist, und daß der Mann keinerlei Alimentationspflicht gegenüber der Frau hat.

             Praktisch läßt sich gegen diesen Vorschlag nicht das mindeste einwenden, um so weniger, als er praktisch bereits vielfach durchgeführt wurde, denn es gibt heute in allen Ländern eine Menge sehr junger Menschen, kinderlos, auf Termin und auf „geteilte Rechnung“. Es ist dazu gar kein legislatorischer Akt notwendig, bei gutem Willen von beiden Seiten kann die Kameradschaftsehe bequem durch die Maschen der bestehenden Ehegesetze schlüpfen.

Vor 20 oder 30 Jahren, in Wedekinds Tagen, schien die Erkenntnis, daß die Heuchelei schuld ist an der sexuellen Not der Jugend, unerschütterlich. Sie ist längst erschüttert, und die Beschmuser des Krantz-Prozesses immer wieder eine „Frühlingserwachen“ in der Steglitzer Tragödie sehen wollen, so sahen sie dies aus Blindheit. Denn hier waren Wedekinds kühnste Forderungen erfüllt, die Halbwüchsigen waren nicht nur sexuell aufgeklärt, sie waren auch sich selbst überlassen, betätigten sich wie sie wollten, und wenn sie trotzdem in tiefste Verwirrung gerieten, so zeigt dies, daß die Pubertätsnot auch durch einen passenden Beischläfer und günstige Lösung der Lokalfrage nicht gebrochen wird. Vor allem – diese Pubertätsnot wird nicht so einfach erlebt. Dem kühlen Beobachter auch der eigenen Jugend mag scheinen, daß aller Pein und Angst ein psychologisches Bedürfnis zu Grunde lag, dessen Befriedigung, wie sich später ergab, einfach und ungefährlich war. Er hat dann aber vergessen, daß dieses Bedürfnis, als es seine Adoleszenz verwirrte, nicht zielbewußt auftrat, wie das Bedürfnis nach Speise und Trank, sondern untrennbar verwoben mit den tiefsten und empfindlichsten Persönlichkeitsproblemen. Das ist nun freilich nicht in der Natur, sondern an der „Kultur“ gelegen, aber nicht bloß an jener, die einen Gänsefüßchentritt verdient, weil sie eigentlich Heuchelei heißt, sondern an all dem, was im Verlauf der Jahrtausende aus dem Männchen, das nach einem Weibchen verlangt, einen Mann gemacht hat, der im Weg zum Weib den entscheidenden Weg zum Du sieht, und mit Recht fürchtet, ihn zu verfehlen. Die übertriebene Bedeutung des Geschlechtlichen für den Halbwüchsigen liegt weit weniger am Mangel an Gelegenheit es auszuleben, als an der Angst vor dieser Gelegenheit. Nicht weil er kein Mädchen seiner Kreise findet, sondern weil er vor diesen Mädchen Angst hat, geht der Knabe zur Prostituierten. Es ist die Schülerangst vor einer Prüfung in einem Gegenstand, auf den man sich nicht vorbereiten kann. Es handelt sich um Liebe. „Bin ich ein Mensch, den man lieben kann? Werde ich, wenn ich meine Gefühle an einen anderen Menschen hänge, nicht grausam gekränkt, enttäuscht, verlassen werden? Und was wird die Liebe aus mir machen?“ Das sind //die Fragen, die, gleichzeitig mit dem Geschlechtstrieb auftretend, diesen gefährlich und beängstigend erscheinen lassen; und man müßte nicht nur jeden verschleiernden Puritanismus, man müßte neun Zehntel aller Kunst, Lied und Drama und Malerei von den jungen Menschen fernhalten, um sie daran zu hindern, dem ersten Zusammenstoß mit dem andern Geschlecht mit übertriebener Erwartung und mit Angst entgegenzusehen. Von dieser ängstlichen Erwartung ist ein weites Wegstück bis zum kameradschaftlichen Eheausflug. Eben jenes Wegstück, das so gefährlich ist und an allerlei Abgründen vorbeiführt. –

             Bleibt das Problem der Ehe. Für jeden nicht religiösen Menschen  kann ein würdiger Sinn der Ehe ausschließlich in der gemeinsamen Verantwortung für die kommende Generation bestehen. Von männlichen Mitgift- und weiblichen Alimentationswünschen abgesehen, kann nur der Gedanke an das Wohl erwünschter Kinder einen Sinn in das tolle Unternehmen bringen: Gefühle, von denen wir wissen, daß sie endlich und unwillkürlich sind, über ihr Ende hinaus unter die Zucht unserer Willkür stellen zu wollen. Junge Menschen haben aber nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, solange sie innerlich und äußerlich nicht imstande sind, sie zu tragen, die Verantwortung für die kommende Generation abzulehnen; wenn sie trotzdem nicht auf die Liebe verzichten wollen, so müssen sie irgendeinen Ausgleich mit der herrschenden Moral treffen, da es nun einmal nicht jedermanns Sache ist, auf die zu pfeifen.

             Also Kameradschaftsehe? Eine Interimslegitimation für die Jahre des Prüfens vor dem ewigen Binden, die Jahre des ungenügenden Einkommens und der möblierten Zimmer? Meinetwegen! Aber wissen, daß es eine Konzession an die alte Tante Heuchelei ist, ein Nachgeben vor dem Hotelportier oder der Zimmervermieterin und anderen obrigkeitlichen Instanzen. Und aufgepaßt, daß die alte Tante nicht den Ehrgeiz am provisorisch gedeckten Tisch einnimmt, denn die Legitimität hat’s in sich. „Diese Ehen sollen im gegenseitigen Einvernehmen leicht lösbar sein, ohne Gerichtsverfahren…“ Aber Herr Russel, bei gegenseitigem Einvernehmen ist jede Ehe leicht lösbar (sogar in Österreich, dem schwärzesten Winkel des Erdballs), das Gerichtsverfahren besteht, betreibt man es gemeinsam, in ein paar langweiligen, aber durchaus harmlosen Wegen zu vollkommen desinteressierten Beamten, und alle Scheußlichkeit liegt nur darin, daß eine Scheidung meist erfolgt, wenn das gegenseitige Einverständnis schon getrübt ist. Wenn auch eine solche Kameradschaftsscheidung durch keine Kinder- und Alimentationsprobleme kompliziert wäre, es bliebe dennoch die Hauptschwierigkeit, die Freigabe des einen durch den andern, nämlich es Nicht-mehr-Liebenden durch den Noch-Liebenden; denn die Liebe beginnt zwar meist bei beiden zugleich, und wenn bei dem einen etwas später, so ist // das kein Unglück; aber sie endet leider fast immer bei dem einen etwas früher, und das ist das Unglück.

             In diesem Augenblick wird der Liebesenttäuschte, was immer er vordem war, zum Legitimisten, er pocht auf seinen Schein, und das gegenseitige Einvernehmen kommt erst notdürftig zustande, bis in allerlei grausamen Verfahren der letzte Rest Kameradschaft totgetrampelt ist. Es ist ganz unverständlich, warum Herr Russel, wenn er schon die Legislatur bemüht, für seine Kameradschaftsehen, die nichts Drittes schützen sollen, weder ein Kind noch eine sittliche Idee, nicht verlangt, was die Menschenwürde unter allen Umständen gebietet: daß sie gelöst sind, sobald auch nur ein Teil die Lösung wünscht.

             Wäre dieser letzte Punkt durchzusetzen, so ließe sich, wie gesagt, nichts dagegen einwenden, daß zwei junge Menschen, um ungestört Weekend-Ausflüge mit erotischen Perspektiven machen zu können, die in Betracht kommenden Instanzen geziemend verständigen, und dafür von ihnen in Ruhe gelassen werden.

In: Das Tage-Buch, H. 10/1928, S. 401-404.

Jacques Hannak: Kunst und Sport. (1927)

Zunächst einmal müssen Wir zwei falsche Beziehungen aus unserer Betrachtung ausschalten. Nach den im Sport heutzutage überhandnehmenden professionellen Darbietungen könnte man nämlich geneigt sein, in den berufsmäßigen Ausübern des Sports selbst etwas wie eine Künstlertruppe zu sehen. Und umgekehrt ist es ja auch schon vorgekommen, daß man den Heldentenor vor aller Öffentlichkeit als Goalkeeper, den Räuber Moor als Mittelstürmer und die heilige Johanna als Tennisgirl bewundern konnte. Dies beides trifft nicht den Kernpunkt der Frage, im Gegenteil, verwischt nur die wirklichen Zusammenhänge zwischen Kunst und Sport.

Ob man den Artisten — und das ist heute der erstklassige Professionalsportler — einen Künstler nennen soll, ist Frage der Definition‚ und Wir mischen uns in diese Wortabgrenzung gar nicht ein. Die interessiert uns auch nicht, weil wir gerade umgekehrt prüfen wollen, worin sich Sport von aller übrigen Kunstausübung unterscheidet, warum er wert ist, als eine Erweiterung des Lebensgenusses aufgefaßt zu werden, die nicht schon im Bereich der Kunst liegt, ihr immanent, sondern jenseits ihrer Grenzen gesucht werden muß. Und ebenso werden wir uns nicht aufhalten bei der Betrachtung von Theaterkünstlern, Schauspielern, Sängern, die aus oft sehr durchsichtigen Gründen ihrem Publikum anstatt von den Weltbedeutenden Brettern einmal Vom grünen Rasen des Sportplatzes her kommen wollen.

Wenn wir also wirklich ernste Beziehungen zwischen Kunst und Sport herstellen wollen, dürfen und können wir uns gar nicht daran halten, daß auch der Piccaver Fußball spielt und daß auch der Uridil schon auf der Bühne aufgetreten ist, sondern müssen in die Tiefe gehen, müssen die Wirkungen untersuchen, die Kunst und Sport auf die Massen ausüben. Da ist zunächst eine charakteristische Unterscheidung zu machen: die Kunst fordert den Zuschauer, den Betrachter, der Sport fordert den Ausübenden. Das heißt: Nicht jeder kann Theater spielen, nicht jeder kann malen, nicht jeder kann künstlerisch tanzen, aber jeder kann Sport betreiben, jedermann steht es offen, zu schwimmen, zu rudern, zu ringen, Fußball zu spielen, zu wandern, Ski zu fahren. Das Wesen der Kunst ist der Künstler, das Wesen des Sports ist der Dilettant. Gewiß gibt es auch Dilettantentheater,  Dilettantenmusikkonzerte‚ Dilettantenzeichner und -maler, aber ihr Vergnügen wird auf private Zirkel beschränkt bleiben, wird eine unter Umständen geistig sehr hoch stehende, aber doch private Betätigung sein. Und anderseits gab und gibt es gewiß auch  weltberühmte, ganz in die Öffentlichkeit gerückte Sportler, Wie: Nurmi, Suzanne Lenglen, Vierkötter, Lindbergh‚ berühmte Fußballmannschaften‚ wie: Newcastle United, Prager Sparta oder Uruguay. Aber gerade weil diese Auserwählten‚ Auserlesenen vor aller Welt‚ vor einem Parkett von Kunstgenüßlingen spielen und agieren‚ hat man instinktiv den Sport gegen diese Berühmtesten des Sports — abzugrenzen begonnen. Die tiefe Abneigung, die im Volke gegen den Sportprofessionalismus besteht, die übrigens unverdiente Geringschätzung, die die breiten Massen denselben Professionals, an deren Sportartistik sie sich begeistern, innerlich entgegenbringen‚ sie ist der sicherste Beweis dafür‚ daß man in den „großen“ Sportveranstaltungen wohl eine Schau, wohl ein erstklassiges Theater erblickt, aber nicht das wirkliche Wesen des Sports. Auf einem Krautacker‚ wo ein paar bloßfüßige Buben sich um einen Fetzenball balgen, auf einer Wiese, wo Ausflügler fröhliche Übungen im Springen und Laufen austragen, in einem Schwimmbassin, wo durcheinander alt und jung, Männlein und Weiblein, Patzer und Könner im //

In: Der Kampf, H. 7 (Okt.) 1927, S. 2-3.