Ernst Fischer: Das Unbehagen in der Kultur (1930)
Sigmund Freud, der große Begründer der Psychoanalyse, versucht mit wachsendem Bemühn, die Methoden und die Erkenntnisse seiner Lehre zur Deutung gesellschaftlicher Erscheinungen heranzuziehn. Waren schon Totem und Tabu und die Massenpsychologie bedeutende Versuche, Entwicklungsgeschichte und Sozialprozesse psychoanalytisch zu enträtseln, so sind seine beiden letzten Schriften Die Zukunft einer Illusion und Das Unbehagen in der Kultur großartige Auseinandersetzungen mit der Religion und mit der Kultur.
In dem ersten der beiden mit diamantener Klarheit und wunderbarer Präzision geschriebenen Bücher wird die Religion als infantile, kindische, illusionistische Weltanschauung entlarvt. Gedankenbeladener aber und perspektivenreicher als dieses mutige Bekenntnis eines freien Geistes ist die Untersuchung über das Wesen und die Problematik der menschlichen Kultur, die tiefe Analyse des „Unbehagens“, das untrennbar, unlösbar mit ihr verknüpft ist. Wir finden in dieser Schrift soziologische Gedankengänge, die höchster Bedeutung, eindringlichster Durchdiskutierung wert sind. Man wird sehen, daß dieser gewaltige Denker in seiner dialektischen Psychologie eine Ergänzung zu unserer dialektischen Geschichtsbetrachtung bringt, deren geistige Wirkung noch gar nicht abzuschätzen ist.
Das Buch beginnt als Kommentar zu der Religionskritik, die Freud in der Zukunft einer Illusion entwickelt hat. Ein Freund schreibt ihm, er habe die Religion nicht richtig verstanden, sie sei mehr als ein kindisches System, sie sei ein „ozeanisches“ Gefühl; Freud erwidert, er müsse bekennen, daß ihm dieses ozeanische Gefühl völlig fremd sei, trotzdem wolle er versuchen, ihm wissenschaftlich gerecht zu werden. Dieses ozeanische Gefühl sei zweifellos älter als das Ichgefühl und das Ichbewußtsein, es sei das Lebensgefühl des Säuglings, des kleinen Kindes, das noch nicht gelernt hat, sich von der Welt zu isolieren, das noch mit allen Dingen unmittelbar und hemmungslos verbunden ist wie mit der Mutterbrust. „Unser heutiges Ichgefühl ist also nur ein eingeschrumpfter Rest eines weitumfassenden, ja eines allumfassenden Gefühls, welches einer innigeren Verbundenheit des Ichs mit der Umwelt entspricht.“ Das „ozeanische“ Gefühl des religiösen Menschen ist Erinnerung an das lebenstrunkene Glück des noch nicht zum Ichbewußtsein erwachten,// noch nicht zur Persönlichkeit verknoteten Menschen, ist ein Zurücktauchen in den Urzustand, in den Infantilismus. Das Lebensgefühl des Kindes, die Bindung an einen mächtigen Vater, der straft und lohnt, ist der entscheidende Inhalt aller Religionen.
Zwei Elemente aber wirken mit: die Frage nach dem „Zweck“ des Lebens und das „Schuldgefühl“ aller Menschen, das „schlechte Gewissen“, das Gewissen überhaupt.
Mit der intellektuellen Rechtschaffenheit des strengen Forschers lehnt Freud es ab, über den „Zweck“ zu philosophieren, all den tiefsinnigen Kauderwelsch über den „Sinn des Lebens“ wiederzukäuen. Metaphysik ist ihm zuwider; er überläßt sie den intellektuellen Falschmünzern aller Art und schlägt sich lieber mit den Dämonen der Tiefe als mit den spinnwebdünnen Engelsgestalten fragwürdiger Überwelten herum. Er schiebt also alle Behauptungen über den „Sinn des Lebens“, die von den Menschen vorgeschoben werden, sacht und behutsam wieder zurück und beschäftigt sich nur mit dem, was alle Menschen wirklich erstreben, was stets die Zweckrichtung ihres Denkens und Tuns bestimmt; das aber, was wir suchen, in mannigfaltigen Formen und auf vielfach verschlungenen Wegen, ist das Glück. Und das ist zweierlei: Lustgewinnung und Leidvermeidung. Positiv: die Erhöhung, die Steigerung des Lebensgefühls in Lust; negativ: die Sicherung des Lebens gegen Leid, gegen Schmerz.
Die Tendenz der Kultur ist Leidvermeidung, Beseitigung, wenigstens Verminderung der Gefahren, Schmerzen und Leiden, die dem Menschen von der Natur, von den Mitmenschen und von den eigenen Trieben drohen. „Das Wort Kultur bedeutet die ganze Summe von Leistungen und Einrichtungen, in denen sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz der Menschen gegen die Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander“, definiert Freud in erfreulichem Gegensatz zu den Mystikern und romantischen Schwindlern, die uns einreden wollen, „Kultur“ sei ein geheimnisvolles, überirdisches Wesen und unterscheide sich ganz und gar von der „Zivilisation“. Vielleicht müßte man ergänzend noch sagen, daß die Kultur nicht nur die Beziehungen des Menschen zu seinen Mitmenschen, sondern auch die Beziehungen des Menschen zu sich selber, zu seinem eigenen Ich, zu regeln versucht; aber davon wird noch die Rede sein.
Die Grundelemente der Kultur sind nach Freud: Naturbeherrschung, Reinlichkeit, Ordnung, Schönheit, Geistigkeit und Gerechtigkeit. Die meisten dieser Kulturelemente müssen teuer bezahlt werden: mit einer ungeheuren Einschränkung der Triebfreiheit, mit einem Verzicht auf hemmungslose Lustgewinnung, mit einer Unterwerfung des Menschen unter mannigfaltigen Zwang; denn der Mensch ist durchaus nicht reinlich, ordentlich, geistig und gerecht. Die Kultur produziert also nicht nur Dämme gegen das Leid, nicht nur Sicherungen und Annehmlichkeiten, sondern auch Unlustgefühle; denn jede Drosselung eines Triebes bringt Unlust. Es entsteht daher zweierlei: ein Mißtrauen des Menschen gegen die Leistungen und Einrichtungen der Kultur, die dumpfe Frage, ob all der Komfort nicht zu teuer bezahlt, ob all der Fortschritt nicht ein Betrug sei, und eine leidenschaftliche Sehnsucht nach der Freiheit und Anarchie des Urzustandes, der phantastisch verklärt und überwertet wird. Das Märchen von einem verlorenen Paradies, einer „ozeanischen“ Freiheit und Seligkeit bemächtigt sich vieler Menschen; das „Unbehagen in der Kultur“ wird zur Kulturfeindschaft, zur Rebellion gegen die Kultur. Diese Rebellion ist entweder eine kindische Verneinung aller Kultur oder eine Verneinung dieser unvollkommenen, widerspruchsvollen Kultur, in der wir leben (reaktionäres Rebellentum der Maschinenstürmer aller Art oder revolutionäres Rebellentum des Sozialismus). Schließlich bleibt für den einzelnen, der sich um sein Triebleben geprellt, allzu vieler Lustmöglichkeiten beraubt sieht, noch die Flucht in Rausch und Neurose, der Auflehnungsversuch der Psychose.
In diesem Zusammenhang prägt Freud ein Wort von erschreckender Intensität. Er weist darauf hin (schon Nietzsche hat darauf hingewiesen), daß wir den Göttern der alten Religionen immer ähnlicher werden; sie waren „geschwind wie der Wind“, flogen über Länder und Meere, lebten hoch im // Gebirge, das kein Mensch erstieg— unsere Technik hat diese ältesten Menschheitsträume zum Teil verwirklicht, „die Götter waren Kulturideale“, wie Freud das formuliert. Aber es wird uns vor unserer Gottähnlichkeit bange, wir sind abhängig von Apparaten und Maschinen, es fehlt uns die schwebende Heiterkeit des Olymps. Der Mensch der Technik ist ein „Prothesengott“. Es gibt nur wenige Worte, die mit solch unheimlicher Sicherheit unser Schicksal demaskieren.
Dieser Prothesengott, der die Natur seinem Willen zu unterwerfen versucht, muß auch die eigene Natur den kulturellen Leistungen und Einrichtungen unterwerfen. Er muß auf anarchische, die Ordnung, die Reinlichkeit, die Gerechtigkeit gefährdende Triebe verzichten, er muß andere, mit Urgewalt das Leben vorwärtstreibende Triebe sublimieren. Wie er den Wasserfall zwingt, in tausend Gassen und Stuben elektrisch leuchtende Augen aufzuschlagen, so muß er seine Sexualität zwingen, in Arbeit und Politik, in Kunst und Wissenschaft sich schöpferisch zu wandeln. Die Einschränkung des Sexuallebens ist eine der wichtigsten Kulturforderungen. Die „vollsinnliche Liebe“, die sich naturhaft-tierisch im Sexualakt befriedigt, wird zurückgedrängt, die „zielgehemmte Liebe“, der Eros, der Ideale produziert und gesellschaftliche Leistungen vollbringt, gewinnt an Macht und Einfluß. „Das Sexualleben des Kulturmenschen ist schwer geschädigt; es macht mitunter den Eindruck einer in Rückbildung begriffenen Funktion, wie unser Gebiß und unser Kopfhaar als Organe zu sein scheinen.“ Eine der bedeutendsten Möglichkeiten der Lustgewinnung, vielleicht die bedeutendste, die Sexualität, wird also mehr und mehr der Kultur, der Sicherung des Menschen, zum Opfer gebracht; man könnte — und auch da findet man bei Freud Grundlegendes — von einer teilweisen „Kastration“ der Menschheit durch die Kultur sprechen. Kein Wunder, daß ein wachsendes Unbehagen in der Kultur entsteht!
Aber wichtiger noch als die Einschränkung der Sexualität ist die Einschränkung
des „Aggressionstriebes“, wie Freud die asozialen und antisozialen Instinkte des Menschen nennt. Der Mensch ist der Feind des Menschen — die Kultur aber fordert: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Diese „Idealforderung“ ist übertrieben und unerfüllbar; mit großer Skepsis lehnt Freud sie ab, nicht nur, weil der „Nächste“ keineswegs liebenswert ist, sondern auch, weil eine so allgemeine und allumfassende Liebe den Eros verdünnt und entwest. Aber der Forscher konstatiert: Wie mächtig, wie unüberwindlich muß der Aggressionstrieb sein, wenn die Kultur ihm solche extreme Gebote entgegenschleudert, wie leidenschaftlich das Verlangen, ihn zu befriedigen, wenn als Sicherung gegen ihn das Unmögliche gefordert wird! Der Mensch darf den „Nächsten“ nicht schlagen, nicht quälen, nicht töten— nein, er soll ihn lieben, er soll ihn wenigstens unangetastet lassen. „Der Kulturmensch hat für ein Stück Glücksmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht.“ Die Entladung des Aggressionstriebes ist Lustgewinnung, der Mensch ist nicht gut — aber die Sicherheit gebietet, daß man ihm diese Lustgewinnung verwehrt.
Die Gewalt des Aggressionstriebes erkennend — und wahrlich: nur ein oberflächlicher Optimist kann leugnen, daß in jedem Menschen ein wildes Tier nach Entfesselung lechzt! —, ist Freud gezwungen, nicht nur einen Urtrieb, die Sexualität, den Eros, anzunehmen, sondern ihm einen zweiten entgegenzusetzen, den Zerstörungstrieb, den Destruktionstrieb, den Todestrieb. So verführerisch das klingt— Freud selber scheint bei der Einführung des Todestriebes in sein System ein leises Unbehagen zu fühlen. Er findet, wie er selber sagt, für den Nachweis des Todestriebes nicht das große wissenschaftliche Material wie für andere Elemente seiner Lehre, und er sieht sich außerdem genötigt, eine Theorie, die ihm besonders lieb war, die Libido-Theorie, wesentlich einzuschränken. Er hat lange Zeit hartnäckig behauptet, daß die Libido (das sexualbetonte Verlangen), das Urwesen jedes Triebes, das Urphänomen des Lebens sei. Nur langsam hat er, in unterirdischen Auseinandersetzungen, mit Alfred Adler und C. G. Jung, die Libido-Theorieabgeschwächt: Adler lehrt, die Libido, der Sexualtrieb, sei nur eine Form des // Geltungstriebes, des Willens zur Macht; Jung behauptet, die Sexualität sei die einzige Urkraft, aber ein Stück dieser Urkraft sei von der Kultur aufgesogen, umgewandelt, „desexualisiert“ worden und stehe nun der Sexualität als etwas Fremdes gegenüber. Nach tiefem Zögern hat Freud sich veranlaßt gesehen, der Sexualität einen anderen Trieb, den Todestrieb, entgegenzusetzen, und die Libido-Theorie folgendermaßen zu formulieren: „Ein jeder Trieb ist Libido belegt, aber nicht alles an ihm ist Libido.“ Eros und der Todestrieb sind die großen Gegenspieler.
Außenstehenden war die Libido-Theorie nie so wichtig wie den orthodoxen Psychoanalytikern; trotzdem scheint die neue Formel nicht unbedenklich. So sehr der düstere Dualismus Freuds, die Lehre, daß ewiger Zwiespalt, ewige Gegensätzlichkeit das Wesen des Lebens ist, unserem Dasein und seinen Problemen gerechter wird als jeder „Monismus“, jede Erklärung menschlichen Fühlens, Denkens und Tuns aus einer einfachen Wurzel — so regt sich doch die Frage, ob diese Gegensätzlichkeit, das Widerspiel „Eros — Todestrieb“ unser Leben beherrscht. Daß der Zerstörungstrieb, der Todestrieb nicht etwas Krankhaftes, „Unnatürliches“ ist, sondern ein urgewaltiges Element, könnte hundertfältig nachgewiesen werden: aber ist es methodisch richtig, diesen Destruktionstrieb vom Eros zu trennen, ihn dem Eros entgegenzusetzen? Ist er nicht vielmehr mit dem Eros identisch, ein Teil von seiner Kraft, enthalten im Wesen aller Lust? In vielen alten Mythologien ist der Gott der Lust auch der Gott der Zerstörung, sind Zeugung und Vernichtung nur zwei Funktionen einer dämonischen Macht. Und daß sie sich selber vernichten will, ist charakteristisch für jede Lust. Sollte die Dialektik des Lebens, der tragische Zwiespalt unseres Daseins, nicht in einer anderen Antithese, in einer anderen Gegensätzlichkeit zu suchen sein?
Ehe wir versuchen, diese Frage zu beantworten (mag sein, daß die Antwort falsch sein wird!), müssen wir uns mit der entscheidenden sozialpsychologischen Entdeckung Freuds beschäftigen.
Untrennbar verknüpft mit aller Kultur ist das Schuldgefühl, das schlechte Gewissen, das Gewissen überhaupt. Was aber bedeutet das?
Die Kirchengläubigen machen sich die Antwort leicht: „Das Gewissen ist die Stimme Gottes in den Menschen — und damit Schluß!“ Wir hingegen haben uns daran gewöhnt, zu sagen: „Das Gewissen ist die Stimme der menschlichen Gesellschaft im Individuum.“ Aber so richtig das ist, immer bleibt doch die Frage bestehen: Und wie gelingt es der menschlichen Gesellschaft, in jedem einzelnen zur Instanz des Gewissens zu werden? Wie verwandelt sich die Autorität in eine „innere Stimme“? Wie Angst vor der Strafe in Schuldgefühl? Durch welchen Mechanismus wird es bewirkt, daß objektive gesellschaftliche Notwendigkeiten (Sitte, Sittlichkeit, Moral) zu subjektiv empfundenen ethischen Verpflichtungen werden? Daß wir uns vor Strafe fürchten, ist durchaus plausibel— aber daß wir uns selber für Gedanken und Wünsche, deren Realisierung von der Gesellschaft bestraft würde, mit schlechtem Gewissen strafen, wie wollen wir das erklären?
Freuds Genialität hat eine Erklärung gefunden.
Der Meister der Psychoanalyse sagt: Das Gewissen ist nichts anderes als der Aggressionstrieb, der Zerstörungstrieb, dem es verwehrt wird, nach außen zu wirken, der sich daher nach innen entlädt. Dem „Ich“ wird ein sadistisches „Über-Ich“ zugesellt, das mit der Kultur, mit all den Hemmungen und Zurückdrängungen des Destruktionstriebes wächst. Denn der Destruktionstrieb ist unsterblich: läßt die Gesellschaft ihn nicht frei, so rächt er sich am Individuum.
Und wie entsteht dieses „Über-Ich“, dieser grausame Peiniger, dem sich das „Ich“ unterwirft?
Zuerst, so lehrt Freud, entsteht das „Ich“. Daß das „Ich“, das Persönlichkeitsbewußtsein, nicht mit uns geboren wird, daß es sich erst allmählich kristallisiert, wissen wir alle erfahrungsgemäß. Der Säugling ist aufgelöst in dem „ozeanischen“ Gefühl, von dem schon die Rede war; er fühlt sich eins mit dem Mutterleib, mit allem, was ihn umgibt. Langsam wird er gezwungen, // zu unterscheiden: war die Geburt die erste Trennung, das erste Zerreißen allumfassender Zusammenhänge, so ist die Verweigerung der Mutterbrust, die Entdeckung des eigenen Körpers eine weitere Trennung. Und nun wird ununterbrochen das Leben des Kindes eingeschränkt; die erste „Erziehung“, das Aufrichten mannigfaltiger Hemmungen beginnt. Andererseits aber reißt das Kind Stücke der Welt, aus der es sich löst, gierig in sich hinein; was wir „Nachahmung“ nennen, ist nichts anderes als der Prozeß der Aneignung, ja, der Identifizierung mit den Menschen rings um das Kind, in erster Linie also mit den Eltern. Das Kind stopft immer mehr Umwelt in sich hinein, erfüllt sich mit Wort und Bewegung, mit reichem Lebensmaterial; es unterscheidet die Dinge, die Menschen, es scheidet, unterscheidet sich selbst von der Umwelt— aber noch immer ist es kein „Ich“. Jeder weiß, daß das Kind längst schon eine „Persönlichkeit“ ist, aber noch immer von sich und den anderen Menschen in der dritten -Person spricht, daß es längst schon einen trotzig-betonten Eigenwillen hat, aber ohne das dazugehörige „Ich“. Nicht: „Ich mag nicht!“, sondern: „Der Poldi mag nicht!“ ist die Kundgebung dieses seines Willens.
Das „Ich“ entsteht nun (allerdings schon in frühem Stadium, lange vor der Bewußtwerdung) aus der Liebe des Kindes zu seinem eigenen Körper, zu seinem eigenen Selbst. Diese frühe Sexualität, diese „Autoerotik“, wird schöpferisch und erfindet, zur eigenen Lust, das eigene „Ich“, das Subjekt-Objekt der Liebe, bündelt alles der Umwelt entrissene Material zusammen, eignet es im „Ich“ sich selber zu, sich selber an.
Und das „Über-Ich“? Das Kind empfängt alles von den Eltern (oder von den stellvertretenden Erwachsenen), es „identifiziert“ sich mit ihnen, es liebt in ihnen sein eigen Ich. Aber auch alles Unangenehme kommt von den Eltern, alle Einschränkung der Freiheit, alle Hemmungen der Triebe, alle Unlust des Verzichtenmüssens; so haßt das Kind in den Eltern auch das ordnende, das strafende, das „kulturele“ Prinzip, die Gewalt der Autorität und die Macht des Gesetzes. Untrennbar verschlungen sind beide Elemente: Liebe und Haß, Eros und Aggressionstrieb. Das Kind will seinen Eltern gleichen, den großen, allwissenden und allmächtigen Göttern, es spielt „Vater und Mutter“, es identifiziert sich mit den Allesüberragenden. Gleichzeitig will sich das Kind an den Eltern rächen, will es das Verhältnis umkehren, will es sie schlagen und „erziehen“, wie es selber geschlagen und „erzogen“ ird — aber wie kann es das in seiner Schwäche und Ohnmacht? Es wendet, so sagt Freud, den Aggressionstrieb gegen sich selber, gegen Vater und Mutter, die es in sein eigenes Ich aufgenommen, mit denen es sich identifiziert hat. Der Mechanismus der „nach innen verschobenen Aggression“ produziert das Gewissen, das „Über-Ich“.
Entwicklungsgeschichtlich stellt sich das in einem wissenschaftlichen Mythos dar, für den exakte Beweise fehlen, der aber recht überzeugend klingt: Die Söhne der „Urhorde“ erschlagen“ den Urvater, den fürchterlichen Tyrannen. Da er tot ist, erlischt der befriedigte Haß und das Gefühl erwacht: Wir haben einen Menschen getötet, den wir liebten. So entsteht das Schuldbewußtsein, die Reue — vor dem Schuldgefühl und dem Gewissen. Dann aber wird das „Über-Ich“ aufgerichtet: die Angst, ermordet zu werden, wie der Vater ermordet wurde, produziert gesellschaftliche Sicherungen dagegen, der gehemmte Zerstörungstrieb wendet sich nach innen, gegen das „Ich“, das sich mit dem toten Vater identifiziert. Mit einem Mord hat die Kultur begonnen; sie setzt dem Vernichtungstrieb „Leistungen und Einrichtungen“ entgegen, aber der Dämon ist unüberwindlich. Er zerfleischt nicht mehr den Vater, den Bruder, den Mitmenschen (wenigstens ist das Nicht die Regel), er zerfleischt, nach innen wütend, den Vater, den Bruder, den Mitmenschen in der Seele des Individuums. „Das Gewissen entsteht durch Unterdrückung einer Aggression und verstärkt sich durch jede neue Unterdrückung.“ So wächst mit der Kultur das Gewissen, das Schuldgefühl, das „Über-Ich“ — und mit ihm das Unbehagen in der Kultur.
Damit werden auch zwei scheinbare Widersprüche erklärt: daß das Gewissen desto feiner, desto unerbittlicher funktioniert, je weniger der Mensch „sündigt“, und daß Unglück das Schuldgefühl steigert. Der Mensch, dessen Aggressionstrieb weniger gehemmt ist, entlädt ihn weniger nach innen als der Mensch, der nichts „Böses“ tut und daher alles in seinem „Über-Ich“ aufspeichert. Oder: das Kind, das weniger geschlagen wird, findet weniger äußere Anlässe, gegen die Eltern loszugehen als das verprügelte, verwahrloste Kind — daher wächst sein Gewissen, sein Schuldgefühl. Das Unglück jedoch wird instinktiv als Strafe gewertet: wer aber straft, an wem soll der Mensch sich rächen? Er findet im eigenen Ich den strafenden Vater und züchtigt ihn mit Schuldgefühl und schlechtem Gewissen.
Ist dieser Mechanismus zu kompliziert? Nun: alles, was die Menschen als „selbstverständlich“ abtun, ist in Wahrheit verteufelt kompliziert. Trotzdem glaube ich, daß manches anders, wenn man will, „einfacher“, zu deuten wäre als Freud es deutet. Er hat uns den Weg gezeigt und die Mittel gegeben — versuchen wir, mit seinen Elementen unsere Auffassung, das Gewissen sei die Stimme der menschlichen Gesellschaft im Individuum, zu stützen.
Wir haben geschildert, wie das „Ich“ entsteht: aus einer Fülle von Elementen, die das Kind sich aneignet, die es, alle Erwachsenen „nachahmend“, in sich aufnehmend, in sich aufstapelnd, zu einem Bündel zusammenfaßt, der Umwelt entreißt und im Ichbewußtsein ordnet; dazu kommen alle die Einschränkungen, alle die Hemmungen und Zwänge, die das uferlose Lebensgefühl dämmen und in Maß und Regel zurückdrängen. Wesentlich daran ist, daß sich das „Ich“ aus lauter gesellschaftlichen Elementen zusammensetzt; denn alles, was die Eltern, die ersten Erzieher, sagen und tun, ihr Gang und ihre Sprache, ihre Meinungen und ihre Gewohnheiten, sind ja allgemeinstes Gesellschaftsgut. Nicht sie haben die Worte erfunden, die das Kind von ihnen lernt, die Gesellschaft hat sie produziert, sie sind das eigentliche Medium des Sozialen, der menschlichen Beziehungen, nicht sie haben ihre Meinungen und ihre Gewohnheiten erdacht, sie teilen sie mit Millionen, sie sind, als Erzieher und als Vorbilder, einfach die Repräsentanten des Menschengeschlechtes, der menschlichen Gesellschaft, Menschheitsgöttern gleich über das Kind geneigt. Das ganze Material des „Ich“, alle Erfahrungen, alle Erkenntnisse, alle Einschränkungen, sind also nur ein Stück Gesellschaft; trotzdem ist das „Ich“, in sich selber verliebt, Isolierung von der Gesellschaft, Loslösung, Losreißung von der ganzen Umwelt, lustvolle Verkrampfung in das eigene Wesen. Daher ist der Zwiespalt von allem Anfang an da: aus gesellschaftlichen Elementen bestehend, ist das „Ich“ gleichzeitig das, was sich in schroffsten Gegensatz zu allem „Nicht-Ich“ stellt — und diese dialektische Spannung, diese Vereinigung tiefster Widersprüche ist sein wahres Wesen. So entsteht gleichzeitig mit dem „Ich“ das „Über-Ich“, die Gesellschaft im Individuum, die Summe aller Erfahrungen, Erkenntnisse, Einschränkungen, denen das „Ich“ seine Existenz verdankt.
Das Ich hat nur eine Tendenz, kennt nur einen Trieb— den leidenschaftlichen Willen, sich immer radikaler zu isolieren, sich selber in höchster Freiheit und Macht, in höchster Erotik und Schöpferkraft zu genießen, sich immer mehr Umwelt anzueignen, in Liebe und in Zerstörung, in Selbstvergottung und Weltvernichtung. Die Gesellschaft hat nur eine Tendenz: sich gegen Gefahr und Zerstörung, gegen den hemmungslosen Lust- und Vernichtungstrieb zu schützen, zu konservieren, zu erhalten, zu mäßigen. Zwei Urtriebe prallen gegeneinander, in der Geschichte und in der Seele jedes Menschen: der Erhaltungstrieb (Arterhaltungstrieb, Selbsterhaltungstrieb, „Wille zum Leben“) und der Steigerungstrieb (Lusttrieb, „Wille zur Macht“, die Terminologie ist nicht so wichtig). Der dionysische Lust- und Todestrieb, der das „Ich“ erzeugt hat, und der apollinische Erhaltungstrieb, der die Gesellschaft produziert und das Leben zu sichern bemüht ist, sind aber so ineinandergekettet, ineinandergewoben, daß einer ohne den anderen nicht bestehen kann, obwohl einer der Todfeind des anderen ist. Sie sind das „Ich“ und das „Über-Ich“, verknotet in einer Seele, diese Seele ununterbrochen // gestaltend, sie sind die Persönlichkeit und die Gesellschaft, der Eros und die Vernunft. Ja, ihre Verschlingung ist so intensiv, daß einer sich oft die Maske des anderen leiht, daß einer sich oft des anderen bedient, um seine Pläne durchzusetzen: Der Erhaltungstrieb bedient sich bei der Fortpflanzung des Lusttriebs, der Lusttrieb bedient sich des Erhaltungstriebes, wenn er den Menschen vorgaukelt, irgendein Abenteuer, ein Nordpolflug oder die Jagd nach einer Frau seien eigentlich sehr nützlich und vielleicht sogar ein Dienst an der Menschheit. Darin, in diesem tragischen Dualismus, in diesen ewigen Versuchen des Ich, alle Hemmungen zu zerstören und allen Schranken zu entfliehen (was ihm im Tode, sich selbst vernichtend, gelingt), und in den ewigen Versuchen der Gesellschaft, jede Regung des Ich zu unterdrücken, mag das innerste Wesen des Lebens, mag alles Dasein begründet sein.
Aber Freud selbst deutet auf den letzten Seiten des Buches diese Dialektik an, wenn er sagt: „In der individuellen Entwicklung fällt, wie gesagt, der Hauptakzent meist auf die egoistische oder Glücksstrebung, die andere, „kulturell“ zu nennende, begnügt sich in der Regel mit der Rolle einer Einschränkung. Anders beim Kulturprozeß; hier ist das Ziel die Herstellung einer Einheit aus den menschlichen Individuen bei weitem die Hauptsache, das Ziel der Beglückung besteht zwar noch, aber es wird in den Hintergrund gedrängt; fast scheint es, die Schöpfung einer großen menschlichen Gemeinschaft würde am besten gelingen, wenn man sich um das Glück der einzelnen nicht zu kümmern brauchte.“ Mit bewunderungswürdiger Präzision wird da die Zwiespältigkeit des Gesellschaftsprozesses formuliert; aber wie fügt sich das in das System, das Freud vorher entwickelt hat? Die Lösung ist kühn und genial: Die gesellschaftliche Tendenz der innigen Aneinanderkettung immer größerer Menschengruppen ist Libido-bedingt, der durch die Kultur in der Einzelpersönlichkeit unterdrückte Sexualtrieb findet einen sozialen Ausweg, er bindet den Menschen an den „Nächsten“ und an den Fernsten, er produziert im Laufe der Kulturgeschichte die „Menschheit“. Also nicht die Not, der Hunger, der Selbsterhaltungstrieb, sondern der Sexualtrieb ist das Wesentliche; er wird vergesellschaftet und wirkt vergesellschaftend.
Wie aber, wenn man auch darin das Widerspiel des Erhaltungstriebes und des Lusttriebes erblickt? Es scheint ja doch, als sei in erster Linie der Erhaltungstrieb gesellschaftsbildend, als wachse aus der Not die gesellschaftliche Notwendigkeit; die Tendenz der Gesellschaft ist Einschränkung des „Egoismus“, der Persönlichkeit, des Lusttriebes. Gleichzeitig aber sieht der Einzelmensch den Sinn der Gesellschaft in der Entfaltung seiner Persönlichkeit, weniger in der Sicherung aller als in der Bürgschaft für eigene Lust. So verschränken sich hier wie überall Erhaltungstrieb und Lusttrieb. Man untersuche nur irgendein soziales Gebilde, etwa eine Partei; man wird erkennen, daß jede Partei wesentlich eine Interessengemeinschaft, nicht eine Lustgemeinschaft ist; aber sie kann nicht ohne den Lusttrieb, ohne den Lebenssteigerungstrieb bestehen, sie muß Fahnen und Feste, Lieder und Symbole produzieren, Ideale und andere Elemente der Lust, sie muß ihre Mitglieder auch gefühlsmäßig aneinanderbinden, sie muß schließlich das Glücksstreben des einzelnen berücksichtigen, um die Zwecke der Gesamtheit erfüllen zu können. Daraus können, ja müssen immer wieder Konflikte zwischen dem Lustwillen der Persönlichkeit und der Notwendigkeit der Gemeinschaft entstehen.
Ein anderes Beispiel: Der Einzelmensch will den sexuellen Lusttrieb hemmungslos befriedigen, die Gesellschaft muß ihn einschränken, zu Kulturleistungen sublimieren. Der Erhaltungstrieb bemächtigt sich in der Sexualität des Lusttriebes; die Arterhaltung interessiert das Individuum weniger als die Lustbefriedigung, in der Sexualität aber werden beide zusammengefaßt. Der Erhaltungstrieb jedoch, der gesellschaftliche Sicherungen baut, drängt auch die Sexualität immer weiter zurück, die Kultur zerstört die Sexualität. So entsteht folgende Situation: Immer mehr Sexualität wird an den kulturellen Erhaltungstrieb abgegeben; die Sexualität wird „schwer geschädigt“, weniger Kinder werden gezeugt; andererseits versucht der Lusttrieb, je vollkommener die Kultur wird, desto entschiedener sich aus den Fesseln des Erhaltungs- // triebes, der blinden Sexualität, zu befreien und eine Erotik zu produzieren, die Glück ohne Folgen, unfruchtbarer Genuß ist. Dieses Widerspiel gefährdet aufs höchste den Bestand der Kulturvölker. Das heißt: Mit der Vergesellschaftung wächst der Individualismus, mit den Sicherungen, die der Erhaltungstrieb aufbaut, das Freiheitsverlangen, der Glücksanspruch des Individuums — und die Vollkommenheit der Kultur wäre gleichzeitig ihre Selbstaufhebung, da jeder Kulturmensch sich ihrer nur bedient, um sein Ich auszugenießen.
So finden wir überall diese Dialektik, diesen Widerspruch zweier entgegengesetzter Triebe, der gedanklich nicht zu lösen und dessen ununterbrochene Lösung das Leben ist. Nicht Lusttrieb und Destruktionstrieb, sondern Lusttrieb und Erhaltungstrieb, nicht Eros und der Todesdämon, sondern Eros und Ananke (die Not, die Notwendigkeit) wirken ewig gegeneinander, binden sich ewig zur Synthese unseres Daseins…
„Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, die Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. In diesem Bezug verdient vielleicht gerade die gegenwärtige Zeit ein besonderes Interesse. Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Und nun ist zu erwarten, daß die andere der beiden »himmlischen Mächte«, der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten.“
Mit diesen Worten voll reifer Weisheit endet das Buch. Uns obliegt es, die Methoden und Erkenntnisse des einzigartigen Mannes unserem Weltbild einzufügen und die Wege, die er durch den Urwald der Menschenseele gebahnt hat, weiterzugehen— bis zu einer marxistischen Sozialpsychologie, die heute noch nicht existiert.
In: Der Kampf, H. 6/7/1930, S. 282-287.