Else Feldmann: Die Stätte des Grauens. (1920)

             Mitten unter Gärten ein riesiger Palast, weiß und blank mit prachtvollen Steinfliesen, alles voll Sonne, Sauberkeit, wohin man blickt, die Hälfte der Wände ist getäfelt, alles andere mit Ölfarbe gestrichen, weiße Lackmöbel in den großen Sälen; hier ist allen „Anforderungen der Neuzeit“ Rechnung getragen, ein Schaustück moderner Einrichtung, wie überhaupt modernen Wesens, ein „Triumph der Hygiene des XX. Jahrhunderts“ mit seiner weißen Helle: das ist Lainz, die Stätte des Grauens; denn wenn man näher hinsieht – und das Nahehinsehen auf die Dinge erscheint mir erste Menschenpflicht, erster Weg der Erkenntnis zum Unterschied von der „Wegschau-Theorie“, die von ganzen Ländern und Staaten geübt wird – mit welch traurigem Erfolg, wissen wir – wenn man näher hinsieht, bemerkt man, daß dieses weiße Glänzen wie ein Symbol auf diesem Riesenhause mit seinen 5800 Einwohnern liegt – es ist ein einziges weißes Totenlaken.

Versorgungshaus – Siechenhaus, welche Grausamkeit schon in den Namen! Wenn keine andere Qual an den Seelen dieser Unglücklichen zehrte, sie hätten allein damit genug: es ständig zu fühlen und zu wissen, daß sie sich im Siechenhause befinden.

Die Ideen großer Menschen von Plato bis Popper-Lynkeus beschäftigen sich mit den Fragen: Wie verringert man die Leiden der Menschen? Wie stellt man es an, die Menschen glücklicher zu machen?

In Lainz wird nach der umgekehrten Methode vorgegangen.

Es gehörte das Genie der Brüder Goncourt dazu, zu schildern, wie an wehrlosen, alten Menschen Grausamkeiten begangen werden. Ich kann auf dem kleinen Raum einer Tageszeitung heute nicht mehr als einige Stichproben geben von dem, was ich gesehen und erlebt habe.

Da ist zunächst der Belag. 4000 Menschen haben Platz. Seit den letzten Jahren ist ein steter Überbelag von 1800, im ganzen sind es also 5800 Menschen, daher sind in jedem Zimmer, in jedem Saal die Erdlager. Die alten, kranken Menschen liegen auf einer Matratze am Fußboden — eine Sterbende sah ich dort liegen, sie hatte die Hände gefaltet und sah mich mit verglasten Augen an; sie war ein Menschenskelett mit weißem Haar: eine Verhungerte. Es sterben täglich (an Normaltagen) zehn bis fünfzehn Personen; dafür werden täglich fünfzehn bis zwanzig neue eingebracht, manchmal auch dreißig bis vierzig. Seit die Not in Wien so groß ist, werden die alten Leute, die vor dem Krieg ruhig in den Familien ihr Leben zu Ende leben konnten, in Lainz abgegeben. — Es ist begreiflich: ein Mensch mehr kann heute in einem armen Haushalt ein Verhängnis ein — wie erst ein Mensch, der alt, krank und pflegebedürftig ist, teure Arzneien braucht. Man entledigt sich der alten Leute, man gibt sie nach Lainz, um wieder seine zwei Hände frei zu bekommen. Daher die Überzahl und Erdlager.

In zweiter Reihe steht die Ernährung. An dem Tage, an dem ich draußen war, gab es zu Mittag Wassersuppe, Haferreis mit Bohnen; an einem andern Tag war Gerstel mit Bohnen; die Schwerkranken bekommen Milchreis, aber von Milch ist nicht die Spur; ich habe es gekostet, es schmeckt so ekelhaft und abscheulich, daß einem davon schlecht wird. Die Bohnen waren hart, der Haferreis stach wie Nadeln, das ganze war pappig, ohne Fett und roch angebrannt. Um 11 Uhr rollten die Fahrküchen durch die Säle, um 12 Uhr kamen sie die Teller holen, ein Rieseneimer holte die übriggebliebenen Speisen; aus einem Saale mit vierzig Kranken kam ein voller Eimer heraus; die Kranken hatten fast alles stehen gelassen — mancher Teller war nicht berührt und so wanderte das Essen sofort zu den Schweinen in den Stall, die dick und fett werden. Begreiflich — ein alter, schwacher Magen kann harte Bohnen und stacheligen Hafer nicht vertragen; auf diese Weise bleiben die alten und siechen Leute selbst ohne dieses Minimum Nahrung. Sie gehen an Entkräftung zugrunde. Man soll es nicht glauben, wie zähe so ein altes Leben sein kann; so ein Sterben dauert oft Wochen, ja Monate. Wenn nie an Sterbehilfe gedacht werden kann, hier könnte wirklich daran gedacht werden, und es wäre nur eine Tat der Menschlichkeit. In Lainz, in diesem Riesenpalast, drängt sich einem der Gedanke der Sterbehilfe auf, wie nirgends sonst.

Ich muß mich damit begnügen, das Körperliche erzählt zu haben — und dann muß man, wie gesagt, auch ein Goncourt sein…

***

Die ergreifende Schilderung unserer Mitarbeiterin, deren Zuverlässigkeit wir erprobt haben, läßt leider keinen Zweifel daran aufkommen, daß auch das sozialistisch-republikanische Regierungssystem unfähig ist, den Ärmsten der Armen einen lebenswürdigen Unterhalt zu gewähren. Mit Erstaunen wird man schließlich fragen, wo bleiben die nach Hunderten von Millionen Kronen bewerteten Liebesgaben der fremden Missionen, wenn die gebrechlichen, schwer leidenden Greise des Siechenhauses Hungers sterben müssen?

In: Neues Wiener Journal, 11.4.1920, S. 6.

Ernst Fischer: Das Unbehagen in der Kultur (1930)

Sigmund Freud, der große Begründer der Psychoanalyse, versucht mit wachsendem Bemühn, die Methoden und die Erkenntnisse seiner Lehre zur Deutung gesellschaftlicher Erscheinungen heranzuziehn. Waren schon Totem und Tabu und die Massenpsychologie bedeutende Versuche, Entwicklungsgeschichte und Sozialprozesse psychoanalytisch zu enträtseln, so sind seine beiden letzten Schriften Die Zukunft einer Illusion und Das Unbehagen in der Kultur großartige Auseinandersetzungen mit der Religion und mit der Kultur.

In dem ersten der beiden mit diamantener Klarheit und wunderbarer Präzision geschriebenen Bücher wird die Religion als infantile, kindische, illusionistische Weltanschauung entlarvt. Gedankenbeladener aber und perspektivenreicher als dieses mutige Bekenntnis eines freien Geistes ist die Untersuchung über das Wesen und die Problematik der menschlichen Kultur, die tiefe Analyse des „Unbehagens“, das untrennbar, unlösbar mit ihr verknüpft ist. Wir finden in dieser Schrift soziologische Gedankengänge, die höchster Bedeutung, eindringlichster Durchdiskutierung wert sind. Man wird sehen, daß dieser gewaltige Denker in seiner dialektischen Psychologie eine Ergänzung zu unserer dialektischen Geschichtsbetrachtung bringt, deren geistige Wirkung noch gar nicht abzuschätzen ist.

Das Buch beginnt als Kommentar zu der Religionskritik, die Freud in der Zukunft einer Illusion entwickelt hat. Ein Freund schreibt ihm, er habe die Religion nicht richtig verstanden, sie sei mehr als ein kindisches System, sie sei ein „ozeanischesGefühl; Freud erwidert, er müsse bekennen, daß ihm dieses ozeanische Gefühl völlig fremd sei, trotzdem wolle er versuchen, ihm wissenschaftlich gerecht zu werden. Dieses ozeanische Gefühl sei zweifellos älter als das Ichgefühl und das Ichbewußtsein, es sei das Lebensgefühl des Säuglings, des kleinen Kindes, das noch nicht gelernt hat, sich von der Welt zu isolieren, das noch mit allen Dingen unmittelbar und hemmungslos verbunden ist wie mit der Mutterbrust. „Unser heutiges Ichgefühl ist also nur ein eingeschrumpfter Rest eines weitumfassenden, ja eines allumfassenden Gefühls, welches einer innigeren Verbundenheit des Ichs mit der Umwelt entspricht.“ Das „ozeanische“ Gefühl des religiösen Menschen ist Erinnerung an das lebenstrunkene Glück des noch nicht zum Ichbewußtsein erwachten,// noch nicht zur Persönlichkeit verknoteten Menschen, ist ein Zurücktauchen in den Urzustand, in den Infantilismus. Das Lebensgefühl des Kindes, die Bindung an einen mächtigen Vater, der straft und lohnt, ist der entscheidende Inhalt aller Religionen.

Zwei Elemente aber wirken mit: die Frage nach dem „Zweck“ des Lebens und das „Schuldgefühl“ aller Menschen, das „schlechte Gewissen“, das Gewissen überhaupt.

Mit der intellektuellen Rechtschaffenheit des strengen Forschers lehnt Freud es ab, über den „Zweck“ zu philosophieren, all den tiefsinnigen Kauderwelsch über den „Sinn des Lebens“ wiederzukäuen. Metaphysik ist ihm zuwider; er überläßt sie den intellektuellen Falschmünzern aller Art und schlägt sich lieber mit den Dämonen der Tiefe als mit den spinnwebdünnen Engelsgestalten fragwürdiger Überwelten herum. Er schiebt also alle Behauptungen über den „Sinn des Lebens“, die von den Menschen vorgeschoben werden, sacht und behutsam wieder zurück und beschäftigt sich nur mit dem, was alle Menschen wirklich erstreben, was stets die Zweckrichtung ihres Denkens und Tuns bestimmt; das aber, was wir suchen, in mannigfaltigen Formen und auf vielfach verschlungenen Wegen, ist das Glück. Und das ist zweierlei: Lustgewinnung und Leidvermeidung. Positiv: die Erhöhung, die Steigerung des Lebensgefühls in Lust; negativ: die Sicherung des Lebens gegen Leid, gegen Schmerz.

Die Tendenz der Kultur ist Leidvermeidung, Beseitigung, wenigstens Verminderung der Gefahren, Schmerzen und Leiden, die dem Menschen von der Natur, von den Mitmenschen und von den eigenen Trieben drohen. „Das Wort Kultur bedeutet die ganze Summe von Leistungen und Einrichtungen, in denen sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz der Menschen gegen die Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander“, definiert Freud in erfreulichem Gegensatz zu den Mystikern und romantischen Schwindlern, die uns einreden wollen, „Kultur“ sei ein geheimnisvolles, überirdisches Wesen und unterscheide sich ganz und gar von der „Zivilisation“. Vielleicht müßte man ergänzend noch sagen, daß die Kultur nicht nur die Beziehungen des Menschen zu seinen Mitmenschen, sondern auch die Beziehungen des Menschen zu sich selber, zu seinem eigenen Ich, zu regeln versucht; aber davon wird noch die Rede sein.

Die Grundelemente der Kultur sind nach Freud: Naturbeherrschung, Reinlichkeit, Ordnung, Schönheit, Geistigkeit und Gerechtigkeit. Die meisten dieser Kulturelemente müssen teuer bezahlt werden: mit einer ungeheuren Einschränkung der Triebfreiheit, mit einem Verzicht auf hemmungslose Lustgewinnung, mit einer Unterwerfung des Menschen unter mannigfaltigen Zwang; denn der Mensch ist durchaus nicht reinlich, ordentlich, geistig und gerecht. Die Kultur produziert also nicht nur Dämme gegen das Leid, nicht nur Sicherungen und Annehmlichkeiten, sondern auch Unlustgefühle; denn jede Drosselung eines Triebes bringt Unlust. Es entsteht daher zweierlei: ein Mißtrauen des Menschen gegen die Leistungen und Einrichtungen der Kultur, die dumpfe Frage, ob all der Komfort nicht zu teuer bezahlt, ob all der Fortschritt nicht ein Betrug sei, und eine leidenschaftliche Sehnsucht nach der Freiheit und Anarchie des Urzustandes, der phantastisch verklärt und überwertet wird. Das Märchen von einem verlorenen Paradies, einer „ozeanischen“ Freiheit und Seligkeit bemächtigt sich vieler Menschen; das „Unbehagen in der Kultur“ wird zur Kulturfeindschaft, zur Rebellion gegen die Kultur. Diese Rebellion ist entweder eine kindische Verneinung aller Kultur oder eine Verneinung dieser unvollkommenen, widerspruchsvollen Kultur, in der wir leben (reaktionäres Rebellentum der Maschinenstürmer aller Art oder revolutionäres Rebellentum des Sozialismus). Schließlich bleibt für den einzelnen, der sich um sein Triebleben geprellt, allzu vieler Lustmöglichkeiten beraubt sieht, noch die Flucht in Rausch und Neurose, der Auflehnungsversuch der Psychose.

In diesem Zusammenhang prägt Freud ein Wort von erschreckender Intensität. Er weist darauf hin (schon Nietzsche hat darauf hingewiesen), daß wir den Göttern der alten Religionen immer ähnlicher werden; sie waren „geschwind wie der Wind“, flogen über Länder und Meere, lebten hoch im // Gebirge, das kein Mensch erstieg— unsere Technik hat diese ältesten Menschheitsträume zum Teil verwirklicht, „die Götter waren Kulturideale“, wie Freud das formuliert. Aber es wird uns vor unserer Gottähnlichkeit bange, wir sind abhängig von Apparaten und Maschinen, es fehlt uns die schwebende Heiterkeit des Olymps. Der Mensch der Technik ist ein „Prothesengott“. Es gibt nur wenige Worte, die mit solch unheimlicher Sicherheit unser Schicksal demaskieren.

Dieser Prothesengott, der die Natur seinem Willen zu unterwerfen versucht, muß auch die eigene Natur den kulturellen Leistungen und Einrichtungen unterwerfen. Er muß auf anarchische, die Ordnung, die Reinlichkeit, die Gerechtigkeit gefährdende Triebe verzichten, er muß andere, mit Urgewalt das Leben vorwärtstreibende Triebe sublimieren. Wie er den Wasserfall zwingt, in tausend Gassen und Stuben elektrisch leuchtende Augen aufzuschlagen, so muß er seine Sexualität zwingen, in Arbeit und Politik, in Kunst und Wissenschaft sich schöpferisch zu wandeln. Die Einschränkung des Sexuallebens ist eine der wichtigsten Kulturforderungen. Die „vollsinnliche Liebe“, die sich naturhaft-tierisch im Sexualakt befriedigt, wird zurückgedrängt, die „zielgehemmte Liebe“, der Eros, der Ideale produziert und gesellschaftliche Leistungen vollbringt, gewinnt an Macht und Einfluß. „Das Sexualleben des Kulturmenschen ist schwer geschädigt; es macht mitunter den Eindruck einer in Rückbildung begriffenen Funktion, wie unser Gebiß und unser Kopfhaar als Organe zu sein scheinen.“ Eine der bedeutendsten Möglichkeiten der Lustgewinnung, vielleicht die bedeutendste, die Sexualität, wird also mehr und mehr der Kultur, der Sicherung des Menschen, zum Opfer gebracht; man könnte — und auch da findet man bei Freud Grundlegendes — von einer teilweisen „Kastration“ der Menschheit durch die Kultur  sprechen. Kein Wunder, daß ein wachsendes Unbehagen in der Kultur entsteht!

Aber wichtiger noch als die Einschränkung der Sexualität ist die Einschränkung

des „Aggressionstriebes“, wie Freud die asozialen und antisozialen Instinkte des Menschen nennt. Der Mensch ist der Feind des Menschen — die Kultur aber fordert: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Diese „Idealforderung“ ist übertrieben und unerfüllbar; mit großer Skepsis lehnt Freud sie ab, nicht nur, weil der „Nächste“ keineswegs liebenswert ist, sondern auch, weil eine so allgemeine und allumfassende Liebe den Eros verdünnt und entwest. Aber der Forscher konstatiert: Wie mächtig, wie unüberwindlich muß der Aggressionstrieb sein, wenn die Kultur ihm solche extreme Gebote entgegenschleudert, wie leidenschaftlich das Verlangen, ihn zu befriedigen, wenn als Sicherung gegen ihn das Unmögliche gefordert wird! Der Mensch darf den „Nächsten“ nicht schlagen, nicht quälen, nicht töten— nein, er soll ihn lieben, er soll ihn wenigstens unangetastet lassen. „Der Kulturmensch hat für ein Stück Glücksmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht.“ Die Entladung des Aggressionstriebes ist Lustgewinnung, der Mensch ist nicht gut — aber die Sicherheit gebietet, daß man ihm diese Lustgewinnung verwehrt.

Die Gewalt des Aggressionstriebes erkennend — und wahrlich: nur ein oberflächlicher Optimist kann leugnen, daß in jedem Menschen ein wildes Tier nach Entfesselung lechzt! —, ist Freud gezwungen, nicht nur einen Urtrieb, die Sexualität, den Eros, anzunehmen, sondern ihm einen zweiten entgegenzusetzen, den Zerstörungstrieb, den Destruktionstrieb, den Todestrieb. So verführerisch das klingt— Freud selber scheint bei der Einführung des Todestriebes in sein System ein leises Unbehagen zu fühlen. Er findet, wie er selber sagt, für den Nachweis des Todestriebes nicht das große wissenschaftliche Material wie für andere Elemente seiner Lehre, und er sieht sich außerdem genötigt, eine Theorie, die ihm besonders lieb war, die Libido-Theorie, wesentlich einzuschränken. Er hat lange Zeit hartnäckig behauptet, daß die Libido (das sexualbetonte Verlangen), das Urwesen jedes Triebes, das Urphänomen des Lebens sei. Nur langsam hat er, in unterirdischen Auseinandersetzungen, mit Alfred Adler und C. G. Jung, die Libido-Theorieabgeschwächt: Adler lehrt, die Libido, der Sexualtrieb, sei nur eine Form des // Geltungstriebes, des Willens zur Macht; Jung behauptet, die Sexualität sei die einzige Urkraft, aber ein Stück dieser Urkraft sei von der Kultur aufgesogen, umgewandelt, „desexualisiert“ worden und stehe nun der Sexualität als etwas Fremdes gegenüber. Nach tiefem Zögern hat Freud sich veranlaßt gesehen, der Sexualität einen anderen Trieb, den Todestrieb, entgegenzusetzen, und die Libido-Theorie folgendermaßen zu formulieren: „Ein jeder Trieb ist Libido belegt, aber nicht alles an ihm ist Libido.“ Eros und der Todestrieb sind die großen Gegenspieler.

Außenstehenden war die Libido-Theorie nie so wichtig wie den orthodoxen Psychoanalytikern; trotzdem scheint die neue Formel nicht unbedenklich. So sehr der düstere Dualismus Freuds, die Lehre, daß ewiger Zwiespalt, ewige Gegensätzlichkeit das Wesen des Lebens ist, unserem Dasein und seinen Problemen gerechter wird als jeder „Monismus“, jede Erklärung menschlichen Fühlens, Denkens und Tuns aus einer einfachen Wurzel — so regt sich doch die Frage, ob diese Gegensätzlichkeit, das Widerspiel „Eros — Todestrieb“ unser Leben beherrscht. Daß der Zerstörungstrieb, der Todestrieb nicht etwas Krankhaftes, „Unnatürliches“ ist, sondern ein urgewaltiges Element, könnte hundertfältig nachgewiesen werden: aber ist es methodisch richtig, diesen Destruktionstrieb vom Eros zu trennen, ihn dem Eros entgegenzusetzen? Ist er nicht vielmehr mit dem Eros identisch, ein Teil von seiner Kraft, enthalten im Wesen aller Lust? In vielen alten Mythologien ist der Gott der Lust auch der Gott der Zerstörung, sind Zeugung und Vernichtung nur zwei Funktionen einer dämonischen Macht. Und daß sie sich selber vernichten will, ist charakteristisch für jede Lust. Sollte die Dialektik des Lebens, der tragische Zwiespalt unseres Daseins, nicht in einer anderen Antithese, in einer anderen Gegensätzlichkeit zu suchen sein?

Ehe wir versuchen, diese Frage zu beantworten (mag sein, daß die Antwort falsch sein wird!), müssen wir uns mit der entscheidenden sozialpsychologischen Entdeckung Freuds beschäftigen.

Untrennbar verknüpft mit aller Kultur ist das Schuldgefühl, das schlechte Gewissen, das Gewissen überhaupt. Was aber bedeutet das?

Die Kirchengläubigen machen sich die Antwort leicht: „Das Gewissen ist die Stimme Gottes in den Menschen — und damit Schluß!“ Wir hingegen haben uns daran gewöhnt, zu sagen: „Das Gewissen ist die Stimme der menschlichen Gesellschaft im Individuum.“ Aber so richtig das ist, immer bleibt doch die Frage bestehen: Und wie gelingt es der menschlichen Gesellschaft, in jedem einzelnen zur Instanz des Gewissens zu werden? Wie verwandelt sich die Autorität in eine „innere Stimme“? Wie Angst vor der Strafe in Schuldgefühl? Durch welchen Mechanismus wird es bewirkt, daß objektive gesellschaftliche Notwendigkeiten (Sitte, Sittlichkeit, Moral) zu subjektiv empfundenen ethischen Verpflichtungen werden? Daß wir uns vor Strafe fürchten, ist durchaus plausibel— aber daß wir uns selber für Gedanken und Wünsche, deren Realisierung von der Gesellschaft bestraft würde, mit schlechtem Gewissen strafen, wie wollen wir das erklären?

Freuds Genialität hat eine Erklärung gefunden.

Der Meister der Psychoanalyse sagt: Das Gewissen ist nichts anderes als der Aggressionstrieb, der Zerstörungstrieb, dem es verwehrt wird, nach außen zu wirken, der sich daher nach innen entlädt. Dem „Ich“ wird ein sadistisches „Über-Ich“ zugesellt, das mit der Kultur, mit all den Hemmungen und Zurückdrängungen des Destruktionstriebes wächst. Denn der Destruktionstrieb ist unsterblich: läßt die Gesellschaft ihn nicht frei, so rächt er sich am Individuum.

Und wie entsteht dieses „Über-Ich“, dieser grausame Peiniger, dem sich das „Ich“ unterwirft?

Zuerst, so lehrt Freud, entsteht das „Ich“. Daß das „Ich“, das Persönlichkeitsbewußtsein, nicht mit uns geboren wird, daß es sich erst allmählich kristallisiert, wissen wir alle erfahrungsgemäß. Der Säugling ist aufgelöst in dem „ozeanischen“ Gefühl, von dem schon die Rede war; er fühlt sich eins mit dem Mutterleib, mit allem, was ihn umgibt. Langsam wird er gezwungen, // zu unterscheiden: war die Geburt die erste Trennung, das erste Zerreißen allumfassender Zusammenhänge, so ist die Verweigerung der Mutterbrust, die Entdeckung des eigenen Körpers eine weitere Trennung. Und nun wird ununterbrochen das Leben des Kindes eingeschränkt; die erste „Erziehung“, das Aufrichten mannigfaltiger Hemmungen beginnt. Andererseits aber reißt das Kind Stücke der Welt, aus der es sich löst, gierig in sich hinein; was wir „Nachahmung“ nennen, ist nichts anderes als der Prozeß der Aneignung, ja, der Identifizierung mit den Menschen rings um das Kind, in erster Linie also mit den Eltern. Das Kind stopft immer mehr Umwelt in sich hinein, erfüllt sich mit Wort und Bewegung, mit reichem Lebensmaterial; es unterscheidet die Dinge, die Menschen, es scheidet, unterscheidet sich selbst von der Umwelt— aber noch immer ist es kein „Ich“. Jeder weiß, daß das Kind längst schon eine „Persönlichkeit“ ist, aber noch immer von sich und den anderen Menschen in der dritten -Person spricht, daß es längst schon einen trotzig-betonten Eigenwillen hat, aber ohne das dazugehörige „Ich“. Nicht: „Ich mag nicht!“, sondern: „Der Poldi mag nicht!“ ist die Kundgebung dieses seines Willens.

Das „Ich“ entsteht nun (allerdings schon in frühem Stadium, lange vor der Bewußtwerdung) aus der Liebe des Kindes zu seinem eigenen Körper, zu seinem eigenen Selbst. Diese frühe Sexualität, diese „Autoerotik“, wird schöpferisch und erfindet, zur eigenen Lust, das eigene „Ich“, das Subjekt-Objekt der Liebe, bündelt alles der Umwelt entrissene Material zusammen, eignet es im „Ich“ sich selber zu, sich selber an.

Und das „Über-Ich“? Das Kind empfängt alles von den Eltern (oder von den stellvertretenden Erwachsenen), es „identifiziert“ sich mit ihnen, es liebt in ihnen sein eigen Ich. Aber auch alles Unangenehme kommt von den Eltern, alle Einschränkung der Freiheit, alle Hemmungen der Triebe, alle Unlust des Verzichtenmüssens; so haßt das Kind in den Eltern auch das ordnende, das strafende, das „kulturele“ Prinzip, die Gewalt der Autorität und die Macht des Gesetzes. Untrennbar verschlungen sind beide Elemente: Liebe und Haß, Eros und Aggressionstrieb. Das Kind will seinen Eltern gleichen, den großen, allwissenden und allmächtigen Göttern, es spielt „Vater und Mutter“, es identifiziert sich mit den Allesüberragenden. Gleichzeitig will sich das Kind an den Eltern rächen, will es das Verhältnis umkehren, will es sie schlagen und „erziehen“, wie es selber geschlagen und „erzogen“ ird — aber wie kann es das in seiner Schwäche und Ohnmacht? Es wendet, so sagt Freud, den Aggressionstrieb gegen sich selber, gegen Vater und Mutter, die es in sein eigenes Ich aufgenommen, mit denen es sich identifiziert hat. Der Mechanismus der „nach innen verschobenen Aggression“ produziert das Gewissen, das „Über-Ich“.

Entwicklungsgeschichtlich stellt sich das in einem wissenschaftlichen Mythos dar, für den exakte Beweise fehlen, der aber recht überzeugend klingt: Die Söhne der „Urhorde“ erschlagen“ den Urvater, den fürchterlichen Tyrannen. Da er tot ist, erlischt der befriedigte Haß und das Gefühl erwacht: Wir haben einen Menschen getötet, den wir liebten. So entsteht das Schuldbewußtsein, die Reue — vor dem Schuldgefühl und dem Gewissen. Dann aber wird das „Über-Ich“ aufgerichtet: die Angst, ermordet zu werden, wie der Vater ermordet wurde, produziert gesellschaftliche Sicherungen dagegen, der gehemmte Zerstörungstrieb wendet sich nach innen, gegen das „Ich“, das sich mit dem toten Vater identifiziert. Mit einem Mord hat die Kultur begonnen; sie setzt dem Vernichtungstrieb „Leistungen und Einrichtungen“ entgegen, aber der Dämon ist unüberwindlich. Er zerfleischt nicht mehr den Vater, den Bruder, den Mitmenschen (wenigstens ist das Nicht die Regel), er zerfleischt, nach innen wütend, den Vater, den Bruder, den Mitmenschen in der Seele des Individuums. „Das Gewissen entsteht durch Unterdrückung einer Aggression und verstärkt sich durch jede neue Unterdrückung.“ So wächst mit der Kultur das Gewissen, das Schuldgefühl, das „Über-Ich“ — und mit ihm das Unbehagen in der Kultur.

Damit werden auch zwei scheinbare Widersprüche erklärt: daß das Gewissen desto feiner, desto unerbittlicher funktioniert, je weniger der Mensch „sündigt“, und daß Unglück das Schuldgefühl steigert. Der Mensch, dessen Aggressionstrieb weniger gehemmt ist, entlädt ihn weniger nach innen als der Mensch, der nichts „Böses“ tut und daher alles in seinem „Über-Ich“ aufspeichert. Oder: das Kind, das weniger geschlagen wird, findet weniger äußere Anlässe, gegen die Eltern loszugehen als das verprügelte, verwahrloste Kind — daher wächst sein Gewissen, sein Schuldgefühl. Das Unglück jedoch wird instinktiv als Strafe gewertet: wer aber straft, an wem soll der Mensch sich rächen? Er findet im eigenen Ich den strafenden Vater und züchtigt ihn mit Schuldgefühl und schlechtem Gewissen.

Ist dieser Mechanismus zu kompliziert? Nun: alles, was die Menschen als „selbstverständlich“ abtun, ist in Wahrheit verteufelt kompliziert. Trotzdem glaube ich, daß manches anders, wenn man will, „einfacher“, zu deuten wäre als Freud es deutet. Er hat uns den Weg gezeigt und die Mittel gegeben — versuchen wir, mit seinen Elementen unsere Auffassung, das Gewissen sei die Stimme der menschlichen Gesellschaft im Individuum, zu stützen.

Wir haben geschildert, wie das „Ich“ entsteht: aus einer Fülle von Elementen, die das Kind sich aneignet, die es, alle Erwachsenen „nachahmend“, in sich aufnehmend, in sich aufstapelnd, zu einem Bündel zusammenfaßt, der Umwelt entreißt und im Ichbewußtsein ordnet; dazu kommen alle die Einschränkungen, alle die Hemmungen und Zwänge, die das uferlose Lebensgefühl dämmen und in Maß und Regel zurückdrängen. Wesentlich daran ist, daß sich das „Ich“ aus lauter gesellschaftlichen Elementen zusammensetzt; denn alles, was die Eltern, die ersten Erzieher, sagen und tun, ihr Gang und ihre Sprache, ihre Meinungen und ihre Gewohnheiten, sind ja allgemeinstes Gesellschaftsgut. Nicht sie haben die Worte erfunden, die das Kind von ihnen lernt, die Gesellschaft hat sie produziert, sie sind das eigentliche Medium des Sozialen, der menschlichen Beziehungen, nicht sie haben ihre Meinungen und ihre Gewohnheiten erdacht, sie teilen sie mit Millionen, sie sind, als Erzieher und als Vorbilder, einfach die Repräsentanten des Menschengeschlechtes, der menschlichen Gesellschaft, Menschheitsgöttern gleich über das Kind geneigt. Das ganze Material des „Ich“, alle Erfahrungen, alle Erkenntnisse, alle Einschränkungen, sind also nur ein Stück Gesellschaft; trotzdem ist das „Ich“, in sich selber verliebt, Isolierung von der Gesellschaft, Loslösung, Losreißung von der ganzen Umwelt, lustvolle Verkrampfung in das eigene Wesen. Daher ist der Zwiespalt von allem Anfang an da: aus gesellschaftlichen Elementen bestehend, ist das „Ich“ gleichzeitig das, was sich in schroffsten Gegensatz zu allem „Nicht-Ich“ stellt — und diese dialektische Spannung, diese Vereinigung tiefster Widersprüche ist sein wahres Wesen. So entsteht gleichzeitig mit dem „Ich“ das „Über-Ich“, die Gesellschaft im Individuum, die Summe aller Erfahrungen, Erkenntnisse, Einschränkungen, denen das „Ich“ seine Existenz verdankt.

Das Ich hat nur eine Tendenz, kennt nur einen Trieb— den leidenschaftlichen Willen, sich immer radikaler zu isolieren, sich selber in höchster Freiheit und Macht, in höchster Erotik und Schöpferkraft zu genießen, sich immer mehr Umwelt anzueignen, in Liebe und in Zerstörung, in Selbstvergottung und Weltvernichtung. Die Gesellschaft hat nur eine Tendenz: sich gegen Gefahr und Zerstörung, gegen den hemmungslosen Lust- und Vernichtungstrieb zu schützen, zu konservieren, zu erhalten, zu mäßigen. Zwei Urtriebe prallen gegeneinander, in der Geschichte und in der Seele jedes Menschen: der Erhaltungstrieb (Arterhaltungstrieb, Selbsterhaltungstrieb, „Wille zum Leben“) und der Steigerungstrieb (Lusttrieb, „Wille zur Macht“, die Terminologie ist nicht so wichtig). Der dionysische Lust- und Todestrieb, der das „Ich“ erzeugt hat, und der apollinische Erhaltungstrieb, der die Gesellschaft produziert und das Leben zu sichern bemüht ist, sind aber so ineinandergekettet, ineinandergewoben, daß einer ohne den anderen nicht bestehen kann, obwohl einer der Todfeind des anderen ist. Sie sind das „Ich“ und das „Über-Ich“, verknotet in einer Seele, diese Seele ununterbrochen // gestaltend, sie sind die Persönlichkeit und die Gesellschaft, der Eros und die Vernunft. Ja, ihre Verschlingung ist so intensiv, daß einer sich oft die Maske des anderen leiht, daß einer sich oft des anderen bedient, um seine Pläne durchzusetzen: Der Erhaltungstrieb bedient sich bei der Fortpflanzung des Lusttriebs, der Lusttrieb bedient sich des Erhaltungstriebes, wenn er den Menschen vorgaukelt, irgendein Abenteuer, ein Nordpolflug oder die Jagd nach einer Frau seien eigentlich sehr nützlich und vielleicht sogar ein Dienst an der Menschheit. Darin, in diesem tragischen Dualismus, in diesen ewigen Versuchen des Ich, alle Hemmungen zu zerstören und allen Schranken zu entfliehen (was ihm im Tode, sich selbst vernichtend, gelingt), und in den ewigen Versuchen der Gesellschaft, jede Regung des Ich zu unterdrücken, mag das innerste Wesen des Lebens, mag alles Dasein begründet sein.

Aber Freud selbst deutet auf den letzten Seiten des Buches diese Dialektik an, wenn er sagt: „In der individuellen Entwicklung fällt, wie gesagt, der Hauptakzent meist auf die egoistische oder Glücksstrebung, die andere, „kulturell“ zu nennende, begnügt sich in der Regel mit der Rolle einer Einschränkung. Anders beim Kulturprozeß; hier ist das Ziel die Herstellung einer Einheit aus den menschlichen Individuen bei weitem die Hauptsache, das Ziel der Beglückung besteht zwar noch, aber es wird in den Hintergrund gedrängt; fast scheint es, die Schöpfung einer großen menschlichen Gemeinschaft würde am besten gelingen, wenn man sich um das Glück der einzelnen nicht zu kümmern brauchte.“ Mit bewunderungswürdiger Präzision wird da die Zwiespältigkeit des Gesellschaftsprozesses formuliert; aber wie fügt sich das in das System, das Freud vorher entwickelt hat? Die Lösung ist kühn und genial: Die gesellschaftliche Tendenz der innigen Aneinanderkettung immer größerer Menschengruppen ist Libido-bedingt, der durch die Kultur in der Einzelpersönlichkeit unterdrückte Sexualtrieb findet einen sozialen Ausweg, er bindet den Menschen an den „Nächsten“ und an den Fernsten, er produziert im Laufe der Kulturgeschichte die „Menschheit“. Also nicht die Not, der Hunger, der Selbsterhaltungstrieb, sondern der Sexualtrieb ist das Wesentliche; er wird vergesellschaftet und wirkt vergesellschaftend.

Wie aber, wenn man auch darin das Widerspiel des Erhaltungstriebes und des Lusttriebes erblickt? Es scheint ja doch, als sei in erster Linie der Erhaltungstrieb gesellschaftsbildend, als wachse aus der Not die gesellschaftliche Notwendigkeit; die Tendenz der Gesellschaft ist Einschränkung des „Egoismus“, der Persönlichkeit, des Lusttriebes. Gleichzeitig aber sieht der Einzelmensch den Sinn der Gesellschaft in der Entfaltung seiner Persönlichkeit, weniger in der Sicherung aller als in der Bürgschaft für eigene Lust. So verschränken sich hier wie überall Erhaltungstrieb und Lusttrieb. Man untersuche nur irgendein soziales Gebilde, etwa eine Partei; man wird erkennen, daß jede Partei wesentlich eine Interessengemeinschaft, nicht eine Lustgemeinschaft ist; aber sie kann nicht ohne den Lusttrieb, ohne den Lebenssteigerungstrieb bestehen, sie muß Fahnen und Feste, Lieder und Symbole produzieren, Ideale und andere Elemente der Lust, sie muß ihre Mitglieder auch gefühlsmäßig aneinanderbinden, sie muß schließlich das Glücksstreben  des einzelnen berücksichtigen, um die Zwecke der Gesamtheit erfüllen zu können. Daraus können, ja müssen immer wieder Konflikte zwischen dem Lustwillen der Persönlichkeit und der Notwendigkeit der Gemeinschaft entstehen.

Ein anderes Beispiel: Der Einzelmensch will den sexuellen Lusttrieb hemmungslos befriedigen, die Gesellschaft muß ihn einschränken, zu Kulturleistungen sublimieren. Der Erhaltungstrieb bemächtigt sich in der Sexualität des Lusttriebes; die Arterhaltung interessiert das Individuum weniger als die Lustbefriedigung, in der Sexualität aber werden beide zusammengefaßt. Der Erhaltungstrieb jedoch, der gesellschaftliche Sicherungen baut, drängt auch die Sexualität immer weiter zurück, die Kultur zerstört die Sexualität. So entsteht folgende Situation: Immer mehr Sexualität wird an den kulturellen Erhaltungstrieb abgegeben; die Sexualität wird „schwer geschädigt“, weniger Kinder werden gezeugt; andererseits versucht der Lusttrieb, je vollkommener die Kultur wird, desto entschiedener sich aus den Fesseln des Erhaltungs- // triebes, der blinden Sexualität, zu befreien und eine Erotik zu produzieren, die Glück ohne Folgen, unfruchtbarer Genuß ist. Dieses Widerspiel gefährdet aufs höchste den Bestand der Kulturvölker. Das heißt: Mit der Vergesellschaftung wächst der Individualismus, mit den Sicherungen, die der Erhaltungstrieb aufbaut, das Freiheitsverlangen, der Glücksanspruch des Individuums — und die Vollkommenheit der Kultur wäre gleichzeitig ihre Selbstaufhebung, da jeder Kulturmensch sich ihrer nur bedient, um sein Ich auszugenießen.

So finden wir überall diese Dialektik, diesen Widerspruch zweier entgegengesetzter Triebe, der gedanklich nicht zu lösen und dessen ununterbrochene Lösung das Leben ist. Nicht Lusttrieb und Destruktionstrieb, sondern Lusttrieb und Erhaltungstrieb, nicht Eros und  der Todesdämon, sondern Eros und Ananke (die Not, die Notwendigkeit) wirken ewig gegeneinander, binden sich ewig zur Synthese unseres Daseins…

„Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, die Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. In diesem Bezug verdient vielleicht gerade die gegenwärtige Zeit ein besonderes Interesse. Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Und nun ist zu erwarten, daß die andere der beiden »himmlischen Mächte«, der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten.“

Mit diesen Worten voll reifer Weisheit endet das Buch. Uns obliegt es, die Methoden und Erkenntnisse des einzigartigen Mannes unserem Weltbild einzufügen und die Wege, die er durch den Urwald der Menschenseele gebahnt hat, weiterzugehen— bis zu einer marxistischen Sozialpsychologie, die heute noch nicht existiert.

In: Der Kampf, H. 6/7/1930, S. 282-287.

Hans Gastgeb: Panem et circenses (1933)

Anfang Dezember fand in London das Länderspiel der Fußballprofessionals zwischen England und Österreich statt, das England knapp gewonnen hat. Rund um dieses Spiel haben sich bemerkenswerte Ereignisse abgespielt, die es rechtfertigen, in diesem Rahmen darüber zu schreiben.

Der bürgerliche Sport und die bürgerliche Sportpresse leben vom Sensationssport und nehmen daher zum Professionalsport in allen Sportzweigen eine zustimmende Haltung ein. Der bürgerliche Amateursport in Österreich ist unbedeutend geworden. Mit dem fortschreitenden Wachstum des Arbeitersportes ist für das Bürgertum der Professionalsport die einzige wirkliche Domäne. Der Arbeitersport lehnt den Professionalismus im Sport und Sport als Selbstzweck ab. Das Bürgertum hingegen will durch Sport die Bevölkerung neutralisieren, um sie möglichst weit von politischer Betätigung abzuhalten. Auch der Arbeitersport veranstaltet Wettkämpfe innerhalb des eigenen Landes und auch internationale Wettkämpfe. Niemals aber ist es bei sportlichen Begegnungen der Arbeitersportler zu solchen nationalistischen Szenen gekommen, wie im bürgerlichen Sport. Der bürgerliche Sport ist und bleibt national eingestellt. Anläßlich des Länderspieles der Fußballprofessionals aber hat nicht nur die rein bürgerliche Presse und das Bürgertum, sondern auch die demokratische und zum Teil auch die sozialistische Presse tief bedauerliche Anwandlungen zum Nationalismus gezeigt. Daß man dazu nicht schweigen kann, ohne sich mitschuldig zu machen an einer vollkommen falschen Orientierung in der Sportpolitik, wie sie Sozialdemokraten zu vertreten haben, ist klar.

II.

Die bürgerliche Presse hat schon ein halbes Jahr vor dem Stattfinden des Englandspieles eine großangelegte Propaganda für das Spiel begonnen. Auch die demokratische Presse und Parteizeitungen haben sich in den Dienst dieser Propaganda für das Professionalspiel gestellt. 700.000 Kartenbestellungen für das Spiel wurden in die Welt hinausposaunt, in Wirklichkeit waren dann bei dem Spiel 42.000 Menschen anwesend, obwohl der Platz 80.000 faßt. Die Engländer haben dem Spiel nicht weniger und nicht mehr Interesse entgegengebracht als jedem Meisterschaftsspiel. Am Tage der Durchführung selbst

haben der Radioübertragung des Spieles tausende und aber tausende Menschen gelauscht und es hat sich sogar ergeben, daß der Finanzausschuß des österreichischen Parlaments an diesem Tage seine Sitzung unterbrochenhat, um den Abgeordneten die Möglichkeit zu geben, der Fußballübertragung zuzuhören. In der darauffolgenden Sitzung des Finanzausschusses hat sich weiter ergeben, daß der Sprecher der Partei (Otto Bauer) bei der Generaldebatte zum Budget erklärte, daß man dieser Regierung (Dollfuß) das Vertrauen versagen müsse, denn Herr Rintelen habe bei den Kreditanstaltsverhandlungen in London nicht „so ehrenvoll“ abgeschnitten wie die elf Wiener Jungen beim Fußballspiel. Die ehrenvolle Niederlage haben alle Zeitungen, auch die sozialistischen, zum Anlaß genommen, die elf Fußballprofis als Nationalhelden hinzustellen und diese Propaganda für Österreich durch das Fußballspiel zu betonen. Der Bundeskanzler Dollfuß hat es auch für notwendig

befunden, die elf Fußballspieler persönlich am Westbahnhof abzuholen und verschiedene Minister haben erklärt, daß man den arbeitslosen Profispielern (die nebenbei bemerkt gar nicht arbeitslos sind) Staatsanstellungen erwirken müsse, weil sie sich um das Ansehen Österreichs so verdient gemacht hätten. Der Bundesminister Jakoncig hat den Fußballern zu ihrer Niederlage, die so „ehrenvoll“ war, ein Glückwunschtelegramm gesandt, das die Führer der Delegation und die Spieler angeblich mit großer Begeisterung aufgenommen haben. Ein Glückwunschtelegramm vom Heimwehrminister in Österreich ist gewiß etwas wert.

Daß das Bürgertum für ihm nahestehende Sportler Begeisterung aufbringt, ist weiter nicht verwunderlich. Unverständlich ist und bleibt nur die Kurz-// sichtigkeit der Sozialdemokraten, die den nationalistischen Schwindel des bürgerlichen Sports nicht durchschauen und dem Sensationssport so wie andere erliegen. Es taucht dabei die Frage auf, wieso es möglich ist, daß Sozialisten ihre Grundsätze, die sie einmal als richtig erkennen, derart vergessen oder verleugnen können. Dazu muß man das Kulturprogramm der Partei in Erinnerung rufen.

III.

Die Befreiung der Arbeiterklasse von den Fesseln des Kapitalismus kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein. Deswegen richten sich die Sozialdemokraten eigene politische, wirtschaftliche und kulturelle Organisationen ein. Die Befreiung der Arbeiterklasse von der bürgerlichen Ideologie kann nicht allein auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet, sondern muß auch in allen gesellschaftlichen Erscheinungsformen vor sich gehen, wenn wir unsere Aufgabe ernst nehmen. Es kann daher auch der Sport nicht als neutrales Gebiet aufgefaßt werden, sondern als eines der vielen Gebiete, wo wir uns von bürgerlicher Ideologie loslösen und unsere eigene sozialistische Politik betreiben. Der Sport, der nur durch die sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse zu einem Massensport werden konnte, hat in der Nachkriegszeit tausende und aber tausende Menschen angelockt. In Österreich ist es den im Askö vereinigten Arbeitersportverbänden gelungen, 300.000 Österreicher zu erfassen, die sich zum Arbeitersport, aber auch zum Sozialismus bekennen. Die grundsätzliche Einstellung des Arbeitersportes sagt, daß es keinen Arbeitersportler geben könne, der nicht Sozialist sei, daß es aber auch keinen Sozialisten geben dürfe, der Sport treibt und nicht Arbeitersportler sei. Man kann nicht auf politischem Gebiet sozialistische Tendenzen verfolgen und kulturell die bürgerliche Ideologie als richtig ansehen. Man kann aber auch nicht als Sozialist nur auf politischem Gebiet den Kampf gegen den Kapitalismus führen, wie dies gewiß von unserer sozialistischen Presse geschieht, aber auf kulturellen Gebieten Konzessionen an die Bürgerlichen und Kapitalisten machen. Daher ist nicht darüber zu klagen, daß die bürgerliche Gesellschaft und die bürgerliche Presse für ihre Auffassungen eintreten und Propaganda machen, sondern es ist darüber Klarheit zu schaffen, daß es keinesfalls angeht, daß die sozialistische Presse und sozialistische Kämpfer der bürgerlichen Tagesideologie erliegen und so zu Handlangern und Stützen der bürgerlichen Gesellschaftsordnung werden. Der Kampf um die sozialistische Auffassung muß auf allen Gebieten geführt werden und Presse und Funktionäre der Partei müssen beispielgebend wirken.

IV.

Man mißverstehe den Standpunkt der Arbeitersportbewegung nicht. Es wird kein Kampf gegen den Professionalspieler im Sport als Einzelspieler geführt, denn er ist genau so ein ausgebeutetes Objekt wie der Arbeiter in der Textilfabrik. Die bürgerliche Sportbewegung bedient sich aber der Professionalspieler, um ihre Klassenherrschaft im Sport aufrechtzuerhalten, was ihr ohne den Professionalsport in Österreich schwerlich mehr gelingen könnte. Man begreife daher den Kampf der sozialistischen Arbeitersportler; der sich gegen die bürgerliche Ideologie wendet. Wenn sie sich gegen die Unterstützung des Professionalsportes durch die Parteipresse oder einzelne Parteiangehörige wenden, so verteidigen sie den Klassenstandpunkt des Proletariats. Der Sport soll Volksgut sein und nicht zum Geschäft und nicht zum Beruf werden. In der sportlichen Betätigung liegt ein ungeheures Mittel, die physische Voraussetzung für die Kampffähigkeit des Volkes zu schaffen. Weil die Arbeiterklasse aber ein großes Interesse daran hat und haben muß, diese physische Kampffähigkeit des Volkes in den Dienst des Sozialismus zu stellen, so darf sie niemals zugeben, daß diese Kampffähigkeit zu politischer Indifferenz oder für die bürgerlich-kapitalistische Weltanschauung eingesetzt wird. Die Umwelteinflüsse sind neben den Erbmerkmalen und Bildungseinflüssen das Entscheidende in der Erziehung der Menschen. Das Proletariat hat von vornherein infolge seiner politischen und wirtschaftlichen Lage nicht die günstigsten Erbmerkmale und Bildungsmöglichkeiten. Die Lage des Proletariats wird durch // die herrschende Kapitalistenklasse noch eher ungünstig als günstig gestaltet. Das Wichtigste ist daher der Umwelteinfluß, der auf die sozialistische Gesinnung neben der verstandesgemäßen Aufklärung auf den Proletarier einwirkt.

Kann und darf die sozialistische Bewegung nationalistische und kapitalistische Umwelteinflüsse auf das Proletariat einwirken lassen, ohne sich aufzulehnen?

Daher kann auf so „scheinbar“ abliegendem Gebiet wie der Sport der Kampf gegen bürgerliche Ideologie und kapitalistische Erscheinungsformen nicht aufgegeben oder abgeschwächt werden. Die Grundsätze sozialistischer Auffassung müssen eben in jeder Lebenslage eingehalten werden.

V.

Die bürgerliche Welt bemüht sich, die Macht der Arbeiterklasse abzuschwächen. Das Proletariat hilft dabei mit, indem es den bürgerlichen Ideen, hauptsächlich auf kulturellem Gebiet, erliegt und keine klare sozialistische Kulturpolitik verfolgt. Der Kapitalismus hat ein großes Interesse daran, weite Kreise der Bevölkerung weit vom politischen Interesse abzutreiben und sie mit anderen Dingen zu beschäftigen. Brot und Zirkusspiele für das Volk, die Macht aber der Herrenklasse. Das Volk als Spielball kapitalistischer Wunschträume. Der Sport ist dank seiner physiologischen und psychologischen Vorzüge eine Massenerscheinung in allen Ländern geworden. Ganz selbstverständlich, daß das Bürgertum sich dieses Mittels bedient, um die allzu starke Politisierung der Masse zu sublimieren. Der Arbeitersport ist die wirksamste Form, dem Bürgertum auf diesem Gebiet seine Pläne zu zerstören. Der Arbeitersport will Massensport mit politischer Aufklärung vereint wissen. Nicht Spiel und Sport um der Ablenkung willen, sondern sportliche Betätigung in der Erkenntnis, ein geistig und physisch kampffähiges Proletariat zu erziehen, das imstande ist, die politische, wirtschaftliche und kulturelle Reaktion und den Kapitalismus zu überwinden.

In: Der Kampf, H. 1 (Jänner) 1933, S. 36-38.

Max Ermers: Unbehagen in der Kultur. Ein Alterswerk Freuds. (1930)

             Si[e]gmund Freud, der Altmeister in der Analyse seelischer Leiden, der zu Österreichs Ruhm im Ausland mehr beigetragen hat als alle unsere Schlachten und Heldentaten, hat uns im achten Jahrzehnt seines Lebens ein Buch der Altersweisheit geschenkt, das keiner, der seiner ganz inne wird, ohne Schwermut und Dankbarkeit lesen wird. Kein Buch, das so leichthin überblättert werden kann wie die allzuschnell fabrizierte psychoanalytische Literatur unserer Tage, die nach dem Schema iX-Ypsisolon-Zet aufgezogen wird und abläuft wie ein gut funktionierender Wortmechanismus: in Romanen, Psychographien, Künstlergeschichten und Neurosenbeschreibungen… In den kaum hundertdreißig Seiten umfassenden Büchlein, das der Internationale psychoanalytische Verlag zum neuen Jahr herausbringt, legt Freud nicht mehr und nicht weniger als unsere ganze Kultur mit all ihren glorreichen Errungenschaften auf den Sezier- und Krankentisch, um sie auf Herz und Nieren zu prüfen und um zu guter Letzt uns alle zu fragen, ob die Anstrengungen und Forderungen, die die Kultur an uns stellt, damit wir Kulturmenschen seien, überhaupt der Mühe wert seien.

             Mit anderen Worten, Freud stellt der Kultur die Schicksalsfrage der Existenzberechtigung. Er weiß, daß [es] die Hymniker der Zivilisation mit ihren geistigen, sozialen, seelischen und religiösen Segnungen gibt, weiß aber auch, daß die Philosophie- und Menschheitsgeschichte nicht wenige Pessimisten kennt, die diese Segnungen mit höchst gemischten Gefühlen betrachten und überzeugt sind, daß innerhalb dieser Kultur „alles, was entsteht, wert ist, daß es zugrunde geht“, daß die Anstrengung, ein Kulturwesen zu sein, nicht lohne. Ja, er stellt die Frage, ob nicht die ganze Menschheit unter dem Einfluß der Kultur „neurotisch“ geworden sei, ob diese selbst nicht eine „Gemeinschaftsneurose“ – schwer zu diagnostizieren, schwerer aber noch zu heilen –, darstelle. Beim einzelnen ist die Neurose ja noch relativ leicht erkennbar, schwieriger schon die Behandlung. Wer aber hätte die Autorität, der Menschheit als Masse die Therapie aufzudrängen?

             Urmenschheit und die angrenzenden Tierfamilien waren frei von Kultur, frei von den Schuldgefühlen, die das Leben des einzelnen und der Menschheit als Kulturwesen vergiften. Sie lebten heiter, sorglos, schuldlos und triebsouverän dahin, von keines Gedankens und Gewissens Blässe angekränkelt. Aus uns allen aber, die wir in den letzten Jahrtausenden leben, „macht das Gewissen Feige und Gehemmte“, die ihren Trieben und Urantrieben nicht mehr Folge leisten dürfen, weil die innere Stimme, das Gewissen, das Über-Ich, das ewige Reue- und Schuldgefühl in uns revoltieren läßt gegen ein robust und naiv dahingelebtes Leben, das allein Bürgschaft gäbe für ein unneurotisches Dasein.

             Das Gemälde, das Freud von Entwicklung und Schuldgang der Menschheit bis in die Gegenwart herein, von jenen Urtagen, da die Ödipustriebe noch zum Vatermord verlockten, bis in die heute triebgehemmte Situation hinein, entwirft, ist für den ungeübten Analytiker nicht überall leicht zu dechiffrieren. Dazu ist es noch ein Gemälde voll von Andeutungen und Übermalungen, die Farben an vielen Stellen zaghaft und voll Zweifel – jedenfalls aber mit höchster Vorsicht – aufgetragen. Freud selbst allerdings ist der Überzeugung – wohl eine Form des inneren Protestes gegen die konsequenzenvolle Schwermut seines Nachdenkens – daß er „bei keiner Arbeit so stark die Empfindung gehabt habe wie diesmal, daß er allgemein Bekanntes darstelle, Papier und Tinte, in weiterer Folge Setzarbeit und Druckerschwärze aufbiete, um eigentlich selbstverständliche Dinge zu erzählen…“ Anderseits aber fügt er dennoch am Schlusse seines Buches, fast entschuldigend hinzu, daß es seinen Lesern auf dem beschwerlichen Weg und Umweg „durch qualvolle Unsicherheit und rastloses Tasten“ „kein geschickter Führer gewesen sei.“ Goethes Harfner im Wilhelm Meister hätte all das, was Freud schwerfällig und doch nicht anders sagen zu müssen vermeint, in viel müheloserer Weise von den himmlischen Mächten, um die es sich diesmal dreht, gesungen: „Ihr führt ins Leben uns hinein, ihr läßt den Armen schuldig werden, dann überläßt ihr ihn der Pein, denn jede Schuld rächt sich auf Erden…“

             Die „himmlischen Mächte“, die sich als gar nicht so himmlisch erweisen, ihre Art und Methode uns ins Leben zu führen, uns schuldig werden zu lassen, und in der Pein des Schuldgefühls zu verbrennen… sie stehen im Zentrum der Freudschen Abhandlung, die den Patienten Menschheit untersucht, als wäre er ein Einzelindividuum. Ausgangspunkt allerdings ist der einzelne mit seiner Libido – als Kraftäußerung des Eros verstanden, die von der Energie des Todestriebes gesondert werden soll – mit seinen primitiven Aggressionstrieben den lieben Nächsten, vor allem aber dem Vater gegenüber. Wenn die einzelnen sich zur Gemeinschaft zusammenschließen – zur libidinös verbundenen Gemeinschaft des Stammes, der Gesellschaft – dann beginnt der Kulturprozeß der Menschheit als Erziehung zur Triebhemmung… denn wir können nicht mehr in absoluter Triebfreiheit leben. Ein sozialer Erziehungsprozeß hebt an, der dem der Einzelmenschen parallel läuft. Das ursprüngliche Programm des uns alle beherrschenden „Lustprinzips“, die Glücksbefriedigung, wird zwar noch als Hauptziel festgehalten, die Einreihung in die Menschheit aber zwingt zu Triebbeschneidung und „altruistische“ Rücksicht auf die anderen. So entsteht ein Kampf zwischen Individuum und Gesellschaft, in dem die letztere ein moralisches Über-Ich in den großen Führerpersönlichkeiten schafft, die strenge Forderungen stellen. Soweit wir diesen nicht gerecht werden – immer noch revoltieren die schlecht verdrängten, nie völlig sublimierten Urtriebe unserer seelischen Unterwelt – insoweit entsteht „Gewissensangst“, Ethik erscheint so nach Freud „als ein therapeutischer Versuch, als Bemühung, durch ein Gebot des Über-Ichs zu erreichen, was bisher durch sonstige Kulturarbeit nicht zu erreichen war.“ Jedes Individuum ist auf diese Weise der Gesellschaft und sich selbst gegenüber – gezwungen, sich ein eigenes Über-Ich, eine Zensurstelle, ein Gewissen anzuschaffen, daß bei Nichterfüllung der gesellschaftserforderten Triebbeschneidung mit Schuldgefühlen beantwortet… und mit Neurosen, die mit ihren Symptomen nichts anderes sind als Ersatzbefriedigungen für unerfüllte sexuelle oder Aggressionswünsche.

             Kultur wird so zu Triebverzicht. Sie reguliert vieles, aber versetzt jeden in einen inneren Zustand der Anklage, der nur schwer zu ertragen ist. Jeder von uns wird so zum Kampfplatz der Spannungen zwischen Trieben und Gewissenspflichten, die wir nicht immer befolgen können. Manchesmal werden sie uns zu schwer, dann flüchten wir in die schwere neurotische Krankheit. Aus dieser argen, nicht überbrückbaren Spannung in allen Menschen ergibt sich die allgemeine Unzufriedenheit, Depression, jenes beunruhigende Angstgefühl und Unbehagen, das wir trotz aller Daseinsfreude der Kultur entgegensetzen. Ein Unbehagen, das uns heute vielleicht stärker attackiert als jemals die Menschheit zuvor. Wird die Menschheit Mittel und Wege finden – in der Sublimierung der Triebe vielleicht? – um jenes Unbehagens, jener Bangigkeit Herr zu werden? Daß der Sozialismus diesen Weg darstellt, glaubt Freud nicht, obwohl er ihn an sich bejaht. Sicheren Trost, meint er, weiß er der Menschheit nicht zu bringen. „Die Schicksalsfolge der Menschenart scheint mir zu sein“, so schließt der alte Seher, der nicht Prophet sein will, sein aufwühlendes Buch, „ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. In diesem Bezug verdient vielleicht gerade die gegenwärtige Zeit ein besonderes Interesse. Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte soweit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Und nun ist es zu erwarten, daß die andere der beiden „himmlischen Mächte“, der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten.“

In: Der Tag, 1.1.1930, S. 14.

Marie Deutsch-Kramer: Die Befreiung der Frau durch den Sport. (1929)

Der große Aufmarsch der Frauen auf der Ringstraße am 14. April und die vielen großen Frauentagsfeiern in der Provinz haben wieder einmal recht gezeigt, wie stark die Frauenbewegung in der österreichischen Sozialdemokratie ist. Es ist eine wirkliche Freude, diesen raschen Aufstieg der Frauenorganisationen mitzuerleben.

             Der Umsturz hat den Frauen ihre

politische Befreiung

gebracht. Der Republik und der sozialdemokratischen Partei in erster Linie verdanken sie das Wahlrecht, dessen zehnjähriger Bestand jetzt überall gefeiert wird. Politisch sind die Frauen den Männern gleichgestellt. Ihre

wirtschaftliche Befreiung

müssen sie sich noch erkämpfen.

                           Die geistige Befreiung

der Frauen ist eine ungeheuer wichtige Sache für jedes Volk und jedes Land, ja für die Entwicklung der ganzen Menschheit. Die Frauen sind die Trägerinnen dieser Menschheit, sie sind Mütter und die berufensten Erzieherinnen der Kinder. Von ihrer geistigen Einstellung hängt die Entwicklung der Kinder ab und damit die Zukunft des ganzen Volkes.

             Aber mit der geistigen muß Hand in Hand

                           die körperliche Befreiung

gehen. Ein wirklich harmonischer Mensch soll nicht nur entwickelte geistige Fähigkeiten, sondern auch einen gepflegten, gesunden Körper haben. Es ist sicherlich kein Zufall, daß gerade in den letzten zehn Jahren

die Frauenmode

eine so große Veränderung erfahren hat. Die Mode ist, abgesehen von lächerlichen Auswüchsen, die es immer gegeben hat, sehr oft ein Abbild des Zeitgeistes. In der Zeit, da die Frau ihre geistige Befreiung er-// lebte, mußten auch jene äußeren Merkmale fallen, die die Frau zur körperlichen Sklavin machten. Das Mieder, die langen Haare, die Schleppe und die unförmigen Hüte mit den Spießen von Hutnadeln verschwanden, weggeweht von dem erfrischenden Sturme der Revolution.

             Unmöglich wäre heute im Straßenbild eine derart angezogene Frau, gefährlich wäre die Mode der langen Röcke im Hinblick auf die jetzigen Verkehrsmittel, unmöglich diese Hüte in der Straßenbahn und im Auto, unpraktisch und zeitraubend die langen Haare der Frau bei ihrer so mannigfachen Arbeit.

             Zugleich aber mit diesen Veränderungen im Frauenleben kam noch eine.

                           Der Frauensport

wuchs in den letzten Jahren zu ungeahnter Größe. Während früher der Sport fast nur eine Angelegenheit der Männer und da wieder bis in die letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts eine bürgerliche Angelegenheit gewesen ist, hat sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts der Arbeitersport und seit dem Umsturz der Sport der arbeitenden Frauen in ganz ungeahnter Weise entwickelt.

             Wir zählen heute in Österreich schon 35.000 Sportlerinnen, und immer neue Scharen strömen zu. Der jährliche Zuwachs der Frauen übertrifft den der Männer in einzelnen Sportzweigen, besonders im Turnen, oft um das Zehnfache.

             Man sieht daraus deutlich, wie rasch die Frauen erkannt haben, daß der Sport gerade für sie von der größten Bedeutung ist.

Der Wert des Frauensports

liegt darin, daß er den Körper stark macht, aber auch schön erhält. Eine Frau, die viel Sport betreibt, wird sich noch in den Jahren, in denen sie früher schon zu den alten Frauen gehört hätte, noch immer ein jugendliches Aussehen bewahren. Diese Art Schönheitspflege hat nichts zu tun mit der bürgerlichen Unart, die den Lippenstift und die Puderquaste als das Um und Auf der weiblichen Schönheit betrachtet. Als die wahre Ursache, daß bürgerliche Frauen sich ihre Anmut viel länger erhalten können als Proletarierfrauen, muß man vielmehr die Tatsache bezeichnen, daß sie ihren Körper viel mehr pflegen konnten als die arbeitende Frau.

             Die übermäßige Arbeit und der gänzliche Mangel an jeglicher Körperpflege ist schuld an der so rasch schwindenden Schönheit der Proletarierin.

             Dem abzuhelfen ist eine der wichtigsten Aufgaben des Frauensports.

             Er soll ein Teil der Erholung sein, die sich die Arbeiterin in der freien Zeit gönnen kann. Diese freie Zeit ist zwar heute noch karg bemessen. Der fortschreitende Sozialismus wird auch hier Besserung schaffen.

             Dann wird es sich auch zeigen, daß die arbeitende Frau ihrer bürgerlichen Geschlechtsgenossin an Schönheit und Anmut durchaus nicht nachsteht. Nur gesunde und starke Mütter können ebensolche Kinder zur Welt bringen. Darum ist der Frauensport auch vom Standpunkt der Volksgesundheit lebhaft zu begrüßen.

             Aber auch ein psychologisch wichtiges Moment ist beim Frauensport nicht zu übersehen. Die Frauen leiden im allgemeinen noch aus den Zeiten der Unterdrückung her an einem mangelnden Selbstbewußtsein.

             Sie fühlen sich häufig als minderwertig, was sich in der Scheu vor einem Auftreten im öffentlichen Leben ausdrückt. Gerade das aber ist für die Frau und ihre politischen Aufgaben von großem Nachteil. Auch hier kann der Sport helfen. Wer auf sportlichem Gebiet etwas leisten will, muß seine körperlichen Kräfte ständig üben, er muß aber auch geistesgegenwärtig sein und seine Gedanken konzentrieren können. Der Sport verlangt körperliche und geistige Disziplin.

             Gelungene sportliche Leistungen erzeugen aber in jedem Menschen// ein Gefühl der Befriedigung und steigern sein Selbstbewußtsein. So können sportliche Erfolge zur Überwindung des Minderwertigkeitsgefühls führen. Viele Frauen werden es an sich selbst erfahren, daß sie, wenn sie Sport betreiben, dann auch auf geistigem Gebiet mutiger und selbstsicherer werden.

             Bis vor wenigen Monaten hatten die Frauen im Verein für Arbeitersport und Körperkultur in Österreich (Askö) keine Vertretung. Nun hat sich aber ein

                           Frauenausschuß im Askö

gebildet, dem je eine Vertreterin jedes Sportzweiges, eine Sportärztin, eine politische und technische Leiterin angehören.

             Die Aufgaben dieses Ausschusses sind mannigfachig. Um nur die wichtigsten anzuführen, sei hier erwähnt:

  1. die Werbung möglichst vieler Genossinnen für den Frauensport durch Vorträge, Vorführungen und sonstige Propaganda;
  2. die Aufstellung eines Sportprogramms für die Frauen, das im Herbst auf dem Internationalen Sportkongreß in Prag vorgelegt werden soll; dieses Programm enthält alle Aufgaben, die der Frauensport erfüllen soll, und einen Hinweis auf jene Sportzweige, die den Frauen besonders empfohlen werden;
  3. soll auch eine gute Verbindung zwischen der Frauensportorganisation und der politischen Frauenorganisation hergestellt werden, damit auch alle Sportlerinnen politisch erfaßt werden können; zu diesem Zwecke entsenden die Bezirkskartelle des Askö je eine Sportlerin in die politischen Bezirksfrauenkomitees.

Es ist auf dem Gebiet des Frauensports noch Großes zu leisten, und es bedarf aller Anstrengungen, um die Frauensportorganisation in Österreich so auszubauen, daß sie der politischen Frauenorganisation entspricht. Mögen alle Genossinnen dazu beitragen, damit die geistige Befreiung der Frau Hand in Hand gehe mit der körperlichen durch die Hebung und Ausgestaltung des Frauensports.

In: Die Frau, H. 6/1929, S. 10-11.

Ernst Decsey: Reinhardts „Helena“-Revue in der Volksoper. (1932)

Es ist eine Augenweide. Und die Weide beginnt mit dem Vorspiel im Vorspiel: während der Ouver­türe, nach ein paar Orchestertakten geht der Vorhang hoch, zwei Arbeiter öffnen Kisten und heben aus dem entnagelten Grab die Figuren der Operette heraus. Da liegen sie als halbtote Wurstel, der Agamemnon, der Orest, der Pylades, und langsam erwachend fangen sie unter Führung der zwei Ajaxeln zu leben, zu singen, zu spielen an. Ein geistreicher Regie-Einfall, dem das Publikum sofort Dank und Anerkennung ausspricht. „Echter Reinhardt…“

Und nun beginnt die eigentliche Helena-Revue: ein Ueberschüttetwerden mit Farben, Kostümen, Tänzen. Musik, und man weiß tatsächlich nicht, welcher von den drei Akten der üppigste ist. Es scheint, das Publikum entschied sich für den ersten, und das mit gutem Gefühl. Reinhardt ist nicht nur bei Shakespeare, er ist auch bei Offenbach der Regisseur der Regisseure, kurz das Genie, von dem die Talente lernen können. Ein Genie wie Reinhardt hat aber auch die Fehler des Genies. Er denkt nicht an Steigerung im Überschütten, nur ans Überschütten. Ein normales Talent hätte den ersten Akt zum schwächeren, den dritten Akt zum stärksten gemacht. Hier ist es fast umgekehrt: der stark eingekochte dritte Akt erscheint mager, weil man schon genug hat, weil man blasiert wurde, weil man — sagt der Chor in der griechischen Tragödie — über den Appetit hinaus nichts mehr verträgt. Zuviel des Besten, zuviel des Guten…!

Es gibt allerdings märchenhaft schöne Bühnen­dinge, neben denen verblaßt, was man sonst in diesem Genre sieht. Die traumhafte grüne Trauerweide mit dem darunter schlummernden Paris, die goldleuchtende Muschel-Badewanne, worin Helena badet, das zauber­hafte Boudoir, das laszive, farbenwirrende Bacchanal, das geschlossene Tor des Menelaus-Palastes, an dem die bezechten Bacchanten vorbeischweben, vorbeischwirren, vorbeitorkeln. Dann die Burg Ilion, von deren Mauerkranz Bogenschützen Pfeile versenden, die silberlanzenstarrenden Heere der Griechen und Trojaner, die aufgetakelten Prunkschiffe im Hafen, alles, alles Bühnenwunder. Revue-Wunder. Reinhardt kennt keine Grenzen. Und keine Pausen. Pausenlos drängt sich Bild an Bild. Er duldet zum Glück keine Wiederholung, wie sonst in Operetten üblich. Tempo, Tempo. Er überschüttet fortgesetzt bis zum Schluß, unaufhörlich, und man fragt schon gar nicht mehr, welchen Sinn der dritte Akt und ob er überhaupt einen habe.

                                                                                 *

Sinn? Ad vocem Sinn. Die Uridee der Offenbachiade, das Sittenstück in antiker Maske, die Persi­flage des Kaiserreiches ist mit dem Witz der Bearbeiter Friedell und Saßmann imprägniert worden, und schüchtern wie Menelaus duckt sich ihren Blitzen der Kritiker und meint halt: es ist eine moderne Zeitsatire daraus geworden, anspielungsreich. amüsant, mit Erotik geladen, so ungefähr wie es Offenbach eigentlich hätte machen müssen….

Alles ganz buffonesk, wenn aus der Zeitsatire nicht wieder in Reinhardts Händen und dank seiner Phantasie eine Revue geworden wäre. Eine geistvolle Revue, aber eine, die Offenbach gar nicht im Sinne lag: dazu war er nicht geistreich genug. Deutlich zeigt dies

der unentschlossene dritte Akt der Bearbeitung. Boudoir der Helena. Frühstück mit Paris. Hektor macht den Drückeberger aufmerksam, daß draußen Krieg ist. Kriegswitze. Verwandlung. Schlacht vor Troja. Duell zwischen Menelaus und Paris. Entrückung des Paris durch die Venus, die Dea ex machina. Waffenstillstand. Abfahrt des Menelaus mit Helena, zu Schiff nach Hellas, als ob gar nichts gewesen wäre. Schlußhymne. Was war? Was ist? Versöhnung des Ehepaars? Wozu, fragt man, haben wir die Kröte überhaupt.. .? Homer tritt trotz Vorhersage nicht auf. Homer scheint hier wirklich geschlafen zu haben. O popoi…!

                                                                                 *

E. W. Korngold saß in der Orchestra und dirigierte seine Offenbach-Musik mit dionysischem Schwung. Als ob er einen Thyrsos-Stäb schwänge. Er singt den Dar­stellern, er deklamiert ihnen alles mit den Lippen vor, jede charmante Wendung des Rhyt[h]mus, jedes Legato und Stakkato. Muß er nicht auf die Sänger achten, gibt er sich dem Reiz der Musik hin. seine Mienen strahlen: Evoë! Die Musik selbst ist abermals eine Offenbach-Revue, rollt vieles aus vielen Offenbach-Partituren auf, eine Ohrenweide. Aber sooft das Schalksauge des Originals durchblitzt, geht ein freudiges Raunen des Wiedererkennens durch das Publikum. So beim Traumduett, so bei „Menelaus dem Guten“, so beim Esprit des chromatisierenden Hauptwalzers und dem Cancan. Evoë!

Die Bühne der Volksoper ist fast zu wenig ge­räumig für die Massenentfaltungen, für die in Wogen hereinflutenden Gruppen, die meistens im Sprungschritt ansausen oder amphorentragend, lanzenschwingend antreten. Wie schön wären diese Farben- und Formenquirle erst in der tiefausgedehnten Bühne der Staatsoper gewesen und sicher wäre die Helena-Revue auch nicht das übelste Geschäft geworden…. Das Ballett des Großen Schauspielhauses Berlin zeigte seine Schöngestalten und seine Künste, und es gab darunter Solokünste der Nini Teilhade sowie der ephebenhaft aussehenden La Jana. Dazu wirbeln immer die zwei Ajaxe (Brüder Latabar) über die Bühne, die femininen Gegenstücke zu den virilen Damen. Dazwischen erscheint der Fußballkämpfer Achilles mit Augen, die „Immer feste druff“ rollen (Raoul Lange), und zeigt sich eine weiße Marmor­statue, die berlinsche Mundart, echter Kurfürstendamm, redet, der Merkur (Herr. v. Meyerinck). „Sie, Herr Weiß…!“, ruft den mehlbestaubten Berliner einmal Menelaus an: das ist Hans Moser, von dem der über diesem Griechenland lachende Himmel herrührt.

Oh, Hans Moser!… Man freut sich, daß dieser Menelaus nicht nach Kreta fährt, sondern gleich wieder­kommt, denn sooft er da ist, wird Hellas fidel. Herr­lich die Szene im Schlafzimmer, wo er sich selbst als Paris neben seiner Frau im Bett zu sehen glaubt und die Fußpaare abzählt. Oh, Hans Moser! In dem kleinen Komiker lebt der große parodistische Geist des Ganzen, und seine Wiener Note, der rührend komische Armitschkerlton, sagen wir’s noch einmal, macht Hellas ideal. Marie Rajdl singt mit den feinsten Kopftönen die Helena, und Gerd Niemar als Paris ist ein echter deutscher Operntenor mit hoher, blonder Stimme. Als echter Opernbariton gesellt sich ihm Herr Ballarini (Agamemnon); aber ich sage zum drittenmal: Hans Moser….

                                                                                 *

Welche von den Frauen die schönste war, darüber möchten wir uns kein Paris-Urteil erlauben. Frau Rajdl war es, Frau La Jana, Fräulein Overhoff, die junge Dänin Teilhade, und nicht zuletzt war es die gaminhafte Friedel Schuster, die den Orest, die Minerva und den Epilog mit gleicher Grazie sang. Das Publikum rief nach ihr. Wie es nach fast allen rief. Nach fast allen mit Stentorstimme.

Besonders stentorhaft, als sich Max Reinhardt vor dem Vorhang zeigte, der bisher unsichtbare Heros eponymos. Wir haben hier den Thersites gespielt, der gegen alles Schöne einen Einwand wußte. Aber Thersites will auch nicht stören, sondern empfiehlt sich nun und beugt sich sowohl den Göttern wie ihrem Obergott Max. Aber auch dem Erfinder des unvergeß­lichen: „Weil es ja nur ein Traum ist…“ Evoë!

In: Neues Wiener Tagblatt, 8.6.1932, S. 9.

Julius Deutsch: Dank des Parteivorstandes der Arbeitersportinternationale (1931)

                           Genossinnen und Genossen!

Der Parteivorstand der Sozialdemo­kratischen Arbeiterpartei Österreichs ist erfreut über den gewaltigen Fortschritt des Arbeitersportes, der durch die Zweite Arbeiterolympiade in glänzender Weise be­kräftigt wurde.

Der internationale Arbeitersport hat vor den Vertretern von vierunddreißig sozialistischen Parteien eine schwere, aber erfolgreiche Probe bestanden. Er hat durch eine Fülle prachtvoller Veranstaltungen gezeigt, daß er imstande ist, eine gewaltige Wirkung zu erzielen.

Insbesondere die österreichischen Ar­beitersportler haben sich der ihnen gestellten Aufgabe würdig erwiesen. Sie haben in den Tagen des großen Festes eine Leistung vollbracht, die allen Lobes Wert ist. Nicht allein als Gastgeber haben sie sich bewährt, sondern auch als Sportler tragen sie mit dazu bei, das Ansehen der österreichischen Arbeiter­klasse zu mehren. Zu ihren überraschend großen sportlichen Erfolgen seien sie herzlichst beglückwünscht.

Der Parteivorstand der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs dankt der Sozialistischen Arbeitersport-Internationale dafür, daß sie Wien zu ihrem Festort gewählt hat, er dankt allen Genossen und Genossinnen, die in den Ausschüssen und auf den Sportplätzen an dem Gelingen der Arbeiterolympiade gewirkt haben, und er dankt allen Vertrauensmännern und den Mitgliedern der Wiener Parteiorganisation, die die ausländischen Genossen in herzlicher Weise empfangen und beherbergt haben.

Wien und Österreich können stolz sein, daß sie das Ziel vieler zehntausend Genossen und Genossinnen waren, die, heimgekehrt, die Botschaft der Kraft, der Einigkeit und des Kulturwillens der österreichischen Ar­beiterschaft verkünden und dadurch zum Fortschritt und zum Sieg des Sozialismus in ihren Ländern beitragen werden.

Es lebe die Sozialistische Arbeitersport-Internationale!

Es lebe der Sozialismus!

Parteivorstand der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs.

Arbeitersportler und Arbeitersportlerinnen!

Das rote Wien stand in der abgelaufenen Woche im Mittelpunkt der internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung.

Siebzigtausend Arbeitersportler und Arbeitersportlerinnen aus 22 Ländern und tausend Delegierte aus 34 Ländern, die zu dem Kongreß der Sozialistischen Arbeiter-Internationale gekommen sind, waren be­geisterte Teilnehmer und Zeugen der glän­zenden Veranstaltungen der Sozialistischen Arbeitersport-Internationale.

Trotz wirtschaftlicher Not und politischer Unterdrückung hat die Zweite Arbeiter-Olympiade den Beweis erbracht, daß der Kulturaufstieg der Arbeiter unwidersteh­lich ist.

Das Büro der Sozialistischen Arbeiter­sport-Internationale dankt all den vielen Zehntausenden, die durch ihre Teilnahme an der Olympiade nicht nur zu ihrem äußeren Gelingen, sondern auch zu ihrem moralischen und politischen Erfolg beigetragen haben.

Das Büro der Sozialistischen Arbeiter­sport-Internationale dankt aber besonders den Wiener Genossen und Genossinnen, die die Organisation der Arbeiterolympiade in vorbildlicher Weise vorbereitet und durch­geführt haben; sie dankt der sozialistischen Gemeindeverwaltung von Wien, der sozialdemokratischen Partei Österreichs und dem Volk von Wien, das in überaus gastfreund­licher Weise die Arbeitersportler empfangen und beherbergt hat.

Dank, herzlichen Dank euch allen, Ge­nossen und Genossinnen, die ihr dem Ar­beitersport und mit ihm dem Sozialismus durch eure Opferwilligkeit, durch eure Kraft und durch eure Tatbereitschaft zu einem so herrlichen Erfolg verholfen habt.

Es lebe die österreichische Sozialdemokratie!

Es lebe die Sozialistische Arbeitersport-Internationale!

Das Präsidium der Sozialistischen Arbeitersport-Internationale:

Julius Deutsch (Wien), Kornelius Gellert (Leipzig), Rudolf Silaba (Prag).

In: Arbeiter-Zeitung, 28.7.1931, S. 1.

Stephanie Endres: Die Frau und der Sport (1925)

So denkt der Mann über die Frau und ihre Stellung im Staate? Wir Frauen haben nur den einen Trost, daß der Mann, der so denkt, nur Anton Schneider ist, und nicht alle Männer seine Ansichten teilen.

Sollten an uns Frauen alle neuen Geistesströmungen so spurlos vorübergehen und wir so hinter­listig sein, daß wir, kaum dem Gefängnis entronnen, daran denken, wie wir unseren Befreier ins Gefängnis bringen? Woher weiß denn Anton Schneider, daß die Idee des Sozialismus bei uns Frauen nicht tiefer ein­gedrungen ist? Wir wissen, was Sozialismus heißt: Er will, daß alle Menschen gleich sind, daß sie einander helfen, daß sie gütig sind zueinander. Sozialismus ist nicht Mißgunst, Strenge Herrschsucht.

Wir Frauen verdanken auch nicht gerade dem Kriege die Errungenschaft unserer Gleichberechtigung, sondern unserer langen, mühevollen Kampfesarbeit.

Wer etwas tiefer in die Geschichte und in den Geist der einzelnen Zeitperioden eingedrungen ist, der weiß, daß es immer Frauenbewegungen gegeben hat.

Wer etwas mehr Kenntnisse von der Frauenseele hat, der weiß auch, daß nicht alle Frauen fürs Heim ge­schaffen sind und die Frauen nicht „der Not gehorchend“, sondern aus innerem Schaffenstrieb heraus, aus dem Wunsche, in der Gesellschaft und für sie etwas zu leisten, einem Beruf nachgehen.

Wir sind nur bisher an unserem Aufstieg, an unserer Entwicklung durch jene un- und widernatürliche Einrichtung, die katholische Kirche, gehindert worden. Als Aschenbrödel des Männerstaates, als Magd und Dienerin des Mannes, dem wir zu gehorchen hatten, mußten wir unsere eigenen Gedanken zurückhalten und konnten uns nicht frei entfalten. Die katholische Kirche hat uns Jahrhunderte hindurch geistige Entwicklung und körperliche Durchbildung vorenthalten.

Aber einmal frei, wollen wir jetzt nachholen, was Wir bisher versäumt hatten. Aber nicht die Kultur des Mannes wollen wir uns aneignen, nein, unsere eigene, eine unserem Wesen entsprechende Kultur uns schaffen, nicht „um zu herrschen und über die Männer herrschen zu können“, sondern um als gleichwertige Menschen neben, nicht über, aber auch nicht mehr unter den Männern zu stehen. Wir wollen dem Manne Helferinnen, Kameradinnen sein. Und um diese Kultur ins Leben zu rufen, werden wir mit unserer Körper­bildung beginnen.

Unseren Körper bilden müssen wir Frauen, und nicht Sport betreiben. Hat Anton Schneider schon ein­mal darüber nachgedacht, wann und wo Sport möglich ist und was Sport bedeutet?

Unsere Gegner müssen doch immer hell auf­ lachen, sich herzlich freuen und sich die Hände reiben, wenn wir Proletarier, wir Sozialisten für eine Sache, die überhaupt nur im kapitalistischen Staate existieren kann, immer mit vollster Energie eintreten und sie propagieren.

Wirklich Sport betreiben kann doch nur der, der selbst Kapitalist ist oder einen Kapitalisten zum Freund hat. Nun sind wir aber weder Kapitalisten, noch haben wir Kapitalisten zu Freunden. Welch edler Kapitalist würde uns die Reise nach Davos zahlen, damit wir dort Wintersport betreiben können?

Und erreichen wir durch Sport wirklich völlige Harmonie des Körpers und des Geistes, das Ziel des Arbeiterturnvereines? Wir brauchen uns nur die Sportler anzusehen. Die geübten Muskeln sind über­mäßig entwickelt, während eine Reihe anderer Muskeln verkümmert. Wir alle kennen den knolligen Bizeps eines Athleten, die übermäßig, entwickelten Wadenmuskel eines Fußballers, den schwachen Oberkörper eines Läufers ec.

Auch für den Geist schafft der Sport keine Ausgeglichenheit. Geradezu geisttötend wirkt einseitig betriebener Sport. Was wir Proletarier brauchen, was vor allem wir Frauen brauchen und was auch für die Masse erreichbar ist, ist das richtige Gefühl für unseren Körper; wir müssen den Trieb, unseren Körper zu achten, zu schätzen, zu schonen, zu bilden, entwickeln. Wir müssen wissen, daß unser Körper immer da ist, und nicht nur an ihn denken, wenn er sich durch Schmerzen unangenehm bemerkbar macht.

Wir werden ordentlich gehen lernen, daß wir unsere dreißig Kilometer im Tag ohne Mühe zurück­legen können: wir werden springen lernen, damit wir über eine Hecke oder einen Zaun springen können: wir werden schwimmen lernen, damit wir uns auch im Wasser bewegen können: wir werden eislaufen, damit wir uns auf glatter Fläche bewegen lernen; wir werden klettern lernen, damit wir den Gipfel eines Berges erklimmen können: wir werden tanzen lernen, damit wir die Musik wirklich erleben und was wir erleben, durch und in Bewegungen ausdrücken lernen. Wir werden auch lernen, wie wir uns gesund kleiden und aufs beste ernähren, Aber all das werden wir mit Maß betreiben und immer zu passender Zeit. Wir werden und wollen alle Muskeln üben, keinen zu viel, keinen zu wenig. „Harmonie in allem!“ soll unsere Losung sein.

In: Arbeiter-Zeitung, 8.2.1925, S. 11.

Friedl Schreyvogl: Österreichische Dichter. (1921)

             Der österreichische Geist fliegt längst in die Weite neuer Zukunft aus. Über alle Not der Gegenwart breitet sich das starke und berauschende Gefühl eines Lebens, das verwundet, aber nie überwunden werden kann. In den Büchern unserer Dichter, die in den letzten Wochen in schier unübersehbarer Fülle den Reichtum schöpferischer Kräfte bezeugen wollten, gibt das einen starken und bezwingenden Ton. Und es ist schon an sich ein frohes Beginnen, aus dem Vielen das Bedeutende, aus manchem Vorüberrauschenden das Bleibende zu greifen.

             Da ist gleich Egyd Fileks neues Buch: Die wundersame Wandlung des Herrn Melander, vielleicht eines der innigsten, in der Bedeutsamkeit seiner klaren Linienführung bemerkenswertesten Bücher des Jahres. Es spielt nach dem dreißigjährigen Krieg. Aber mühelos spannen sich die Fäden von damals zu heute, wird das Schicksal des vom Krieger zum Menschen geklärten Herrn Melander ein erlösendes Zeichen dessen, was auch uns nottut. Im Sprachlichen hat das Buch manche kleine Kostbarkeit, Stimmungen von feinstem Reiz und in der selbstverständlichsten Proportion seines Aufbaues alle Vorzüge, die die nun ausgereifte und in ihrem Welterfassen zuweitest gespannte Erzählkunst Fileks zu schenken vermag. So hat auch das (bei Konegen erschienene) Buch schon heute seinen Erfolg gefunden.

             Einen unbestreitbaren und dabei höchst verdienstvollen Platz hat sich die Wiener literarische Anstalt gesichert. Weit über hundert Wila-Bücher sind in Jahresfrist herausgekommen, freilich nicht immer Weltbewegendes, aber doch stets Lebendiges, das Regen neuer und die besinnlichen Gaben bewährter Talente. Und manchmal eine reizvolle Besonderheit.

In: Neuigkeits Welt-Blatt, 22.6.1921, S. 2.

Mendel Singer: Judenfrage und Zionismus. (1927)

Mit Befriedigung wollen wir feststellen, da unsere Genossen in Österreich das Totschweigen einer so großen Bewegung wie den Zionismus aufgegeben haben. €3 gibt heutzutage kaum noch eine größere Partei in der Sozialistischen Arbeiterinternationale, deren Führer sich mit dieser Bewegung nicht befaßt hätten. Österreich bildete eine Ausnahme, wenn man von der Stellungnahme Engelbert Pernerstorfers vor nahezu 30 Jahren absieht. Es ist ein Verdienst Hannaks (siehe: Jacques Hannak, „Die Krise des Zionismus“ im Oktoberheft des Kampf), die Auseinandersetzung mit dieser Bewegung eröffnet zu haben, Die Methode aber, die sich Hannak bei Behandlung dieser Frage zurechtgelegt hat, entspricht keinesfalls der unbedingt notwendigen Unvoreingenommenheit, mit der denkende Sozialisten an solche Probleme herantreten sollten.

             Gerade auf dem Gebiet der nationalen Frage, der Erforschung der erhaltenden und auflösenden Tendenzen innerhalb eines Volkes haben österreichische Sozialdemokraten große Verpflichtungen. vor nahezu zwei Jahrzehnten erschien Otto Bauers Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, das klassische Werk der Ergründung des nationalen Problems vom Gesichtspunkt des Marxismus. In diesem Werke ist der Judenfrage ein Kapitel gewidmet; jeder Sozialist, der an die Erörterung dieser Frage herantritt, sollte daher eigentlich die Darlegungen Bauers zum Ausgangspunkt nehmen. Es wäre ja sehr interessant, zu untersuchen, inwiefern sich die Prognose Otto Bauers in der Judenfrage als richtig oder unrichtig erwiesen hat. Hannak aber unterzog sich dieser Aufgabe nicht. Er faßt sein Urteil über die Judenfrage in folgenden Sätzen zusammen:

Der Gegensatz (zwischen den Juden und Nichtjuden. M. S.) wäre in wenigen Generationen durch die Auffassung des jüdischen Elements bereinigt worden, wenn nicht ein unheimliches, in seiner Kraft schier unbesiegbares Wesen die blutende Wunde immer wieder neu aufgerissen hätte: der Koloß Rußland, dessen außerhalb der kapitalistischen Einflußspähre liegende mittelalterliche Gesellschaftsverfassung von Jahr zu Jahr Massen jüdischer Elendsmenschen, behaftet mit allen Qualen und allen Lastern des Gettos, nach Westeuropa abstieß. Diese Iumpenproletarischen, kulturlosen, unorganisierten Menschen waren es, welche durch den ungeheuren Druck ihrer Zahl, durch das Angebot ihrer Hände und ihre durch Not und Jammer begreifliche SkrupelIosigkeit den Lebensstandard der übrigen mittelständischen und proletarischen Gruppen bedrohten. Als obendrein in den siebziger und achtziger Jahren der Kapitalismus nach den vorangegangenen „Gründerjahren“ einen ersten Rückschlag erlitt, den vor allem die besitzlosen Klassen zu tragen hatten, war die Reaktion darauf jene Welle des Antisemitismus, von der sich zum Beispiel in Österreich Lueger zur Höhe hat tragen lassen.

Der erste und wichtigste methodologische Fehler besteht darin, die Judenfrage vom Gesichtswinkel des Westjudentums zu behandeln. Otto Bauer hütete sich nicht nur davor, Oft- und Westjudentum unter eine Haube zu bringen, er unterschied sogar sehr sorgfältig die Entwicklungstendenzen in Galizien und Bukowina von den Entwicklungstendenzen in Rußland. Hannak aber spricht in einem Atem von Rußland und dem Österreich Luegers, als ob das Problem hier und dort den gleichen Charakter oder zumindest eine ähnliche Tendenz hätte. Genosse Hannak spricht von der Aufsaugung des jüdischen Elements in einem Tone der Selbstverständlichkeit, als ob der Sieg der Assimilationstendenz innerhalb des Judentums jetzt, nach Entlarvung des Antisemitismus als den „Sozialismus des dummen Kerls“, unmittelbar bevorstünde.

Die Tatsachen im jüdischen Leben beweisen aber das Gegenteil.

1. Im Ietzten halben Jahrhundert ist die Zahl der Juden in der Welt von acht auf fünfzehn Millionen gestiegen. In den Ietzten zwei Jahrzehnten geht sowohl in den alten Wohnländern als in den neuen Einwanderungsländern eine stete Konzentrierung der jüdischen Massen vor sich. Fast der dritte Teil des jüdischen Volkes Iebt gegenwärtig in Städten mit einer jüdischen Bevölkerung von mehr als 100.000 Seelen. Mehr als die Hälfte der Juden Iebt in Städten mit einer jüdischen Bevölkerung von mehr als 25.000 Seelen. In allen Städten Iebt der größte Teil der Juden auf geschlossenen Gebieten.

Vor ungefähr hundert. Jahren gehörten gegen 80 Prozent der Juden dem Mittelstand an, wobei nicht weniger als der dritte Teil der Juden Pächter, Schankwirte und Makler waren. Nach einer Aufstellung des Sozialökonomen Jaakow Leschtschinsky, die zwar keinen Anspruch auf vollständige Genauigkeit erhebt, die aber die Veränderung, die sich innerhalb des Judentums vollzogen hat, zweifellos richtig illustriert, gliedern sich gegenwärtig die Berufe der Juden wie folgt:

Landwirtschaftliche Arbeiter                                                          600.000

Lohnarbeiter aller Art                                                                    2,000.000

Handwerk und Heimarbeit                                                           4,000.000

Intellektuelle Berufe                                                                      1,000.000

Groß- und Mittelbourgeoisie                                                       2,000.000

Keinkrämer, Marktfahrer, geistliches und rituelles Personal

und Beschäftigungslose                                                                5,400 000

Insgesamt                                                                                         15,000.000

Wenn wir also die ersten vier Gruppen als produktiv arbeitende Menschen bezeichnen, ersehen wir, daß die Hälfte des jüdischen Volkes von ihrer für die Menschheit nützlichen Arbeit lebt, während vor hundert Jahren kaum 20 Prozent der jüdischen Bevölkerung produktive Arbeit leisteten. (Hannak möge aus diesen Zahlen ersehen, wie es um seine Behauptung, daß „der einzige Beruf des russischen Gettojuden der Beruf des Krämers und Schächters“ sei, bestellt ist.) Die hier aufgezählten Erscheinungen bewirken zweifellos eine Stärkung der Tendenz der Erhaltung der jüdischen Nation. (Siehe übrigens auch Otto Bauer: Die Bedingungen der nationalen Assimilation im „Kampf“, Jg 1912, Heft 6.)

2. In den letzten zwei Jahrzehnten hat auch das künftlerische jüdische Schaffen eine repräsentable Entwicklung aufzuweisen. In der jiddischen und in der neu-hebräischen Sprache sind Werke belletristischen und wissenschaftlichen Inhalts entstanden, die einem Vergleich mit den Schöpfungen anderer Völker standhalten und die zum Teil Eingang in die Literatur der europäischen Völker gefunden haben. Die Entwicklung einer jüdischen Musik, der bildenden und darstellenden Kunft kann auf bedeutende Fortschritte hinweisen.

3. In Polen, Rußland, Rumänien, Nord- und Südamerika hat sich ein umfangreiches Netz von Schulen mit jiddischer Unterrichtsprache gebildet. So hat man zum Beispiel vor einiger Zeit in der Sowjetukraine 80.000, in Weißrußland 30.000, in Polen gegen 23.000 Schüler in Kindergärten, Volks- und Mittelschulen mit jiddischer Unterrichtssprache gezählt. Also, sowohl in Sowjetrußland, wo die jiddische Sprache den Sprachen der anderen nationalen Minderheiten gleichgestellt ist, als auch in Polen, wo das herrschende Bürgertum (die P.P. S, hat sich von dieser Politik den Juden gegenüber seit einiger Zeit abgewandt) den Juden die Anerkennung ihrer nationalen Rechte noch verweigert, faßt die jüdische Kultur in den jüdischen Massen immer stärker Fuß.

Es dürfte für uns von besonderem Interesse sein, zu erfahren, welchen Schichten der jüdischen Bevölkerung die Kinder dieser Schulen, die fast ausschließlich auf private Geldmittel angewiesen find, entstammen. In Warschau zum Beispiel waren die Eltern dieser Kinder:

              Arbeiter                                                                                21,4%

              Handwerker                                                                         41,4%

              Kleinhändler                                                                         32,7%

Verschiedene                                                                        4,5%

Also, der größte Teil der Schüler waren Kinder von Eltern, die der werktätigen Bevölkerung angehören. Die jüdische Arbeiterschaft ist der faktische Träger dieses weltlichen Schulwesens in jiddischer Unterrichtssprache.

4. In allen Ländern jüdischer Massensiedlung sind mächtige sozialistische Parteien und Gruppierungen jüdischer Arbeiter entstanden, die das jüdische Volkstum bejahen. Im Lager dieser Parteien und Gruppen befindet sich in allen erwähnten Ländern der größte und aktivste Teil des jüdischen Proletariats. Bei den Gemeinderatswahlen in Lodz zum Beispiel, die im Oktober 1927 stattfanden und die das erfreuliche Wachstum der sozialistischen Stimmen dokumentierten, erhielten die jüdischen sozialistischen Arbeitergruppen insgesamt 21.679 Stimmen. (Die P.P.S. erhielt 55.702, die deutschen Sozialisten erhielten 16.643 Stimmen.)

5. In Palästina konzentriert sich eine Bevölkerung von mehr als 150.000 Seelen (Zählung gegen Mitte 1926), von denen 100.638 im Zeitabschnitt 1919 bis 1926 eingewandert sind. Die eingewanderte jüdische Bevölkerung hat zum allergrößten Teil zu produktiver Arbeit gegriffen. Es find Arbeitersiedlungen entstanden, es hat sich ein Netz wirtschaftlicher, kultureller und gewerkschaftlicher Organisationen der Arbeiterschaft entwickelt, die als mustergültig bezeichnet werden dürfen. Ramsay Macdonald nannte die Gemeinwirtschaft Palästinas das Laboratorium des Sozialismus.

Diese Tatsachen widersprechen der Auffassung von der Aufsaugung des jüdischen Elements, Hannak aber scheint nämlich darüber nicht informiert zu sein, daß bis zum Kriegsausbruch der Prozentsatz der jüdischen Auswanderung aus Galizien zum Beispiel höher als der von Rußland war. Er scheint auch übersehen zu haben, daß der Strom der jüdischen Wanderung nicht nach Europa, sondern über den // Ozean ging. In den Jahren 1889 bis 1914, der Zeitabschnitt der größten jüdischen Wanderbewegung, haben die Vereinigten Staaten nicht weniger als vier Fünftel aller jüdischen Emigranten aufgenommen. Wenn Hannak das beachtet hätte, könnte er nicht die Wanderbewegung der Juden ausschließlich oder auch nur vorwiegend auf Rußland mit feiner „außerhalb der Kapitalistischen Einflußsphäre liegenden mittelalterlichen Gesellschaftsverfassung“ und das Versagen der Assimilation in Europa durch die Auswanderung aus Rußland zu erklären versuchen.

Hannak nennt die wandernden jüdischen Massen „Iumpenproletarische, kulturIose, unorganisierte Menschen“. Da wir nicht annehmen können und wollen, daß dem Genossen Hannak das glattrasierte Gesicht und die moderne Bekleidung als wesentliches Zeichen der Kultur erscheint, so können wir uns diese absolut unbegründete und nicht zu rechtfertigende Kränkung hunderttausender arbeitsuchender Juden nicht erklären. Hannak übersieht, daß es diese „kulturlosen, unorganisierten Menschen“ sind, die in Lodz und in anderen Städten Polens unerschrocken für die Sache des Sozialismus kämpfen, die im reaktionären Rumänien in den ersten Reihen des kämpfenden Proletariats marschieren, die viele Jahre hindurch den

einzigen sozialistischen Abgeordneten Neuyorks gewählt haben. Diese „kulturlosen, unorganisierten Menschen“ haben in Palästina eine Arbeiterorganisation geschaffen, die gegen 22.000 Mitglieder zählt und dem internationalen Gewerkschaftsbund angeschlossen ist. Der Prozentsatz der Arbeiterschaft, den diese Organisation umfaßt, übersteigt den aller „kulturellen organisierten“ Völker. Die Werte, die sie schufen und noch immer schaffen, der sozialistische Idealismus, der sie beseelt, wird von allen, die sie kennengelernt haben, bewundert. Und — um noch eine Tatsache aus Österreich anzuführen — möge Hannak auch in Erinnerung behalten, daß in jenen Tagen des Jänner 1918 in Österreich, als sich die geknebelte Arbeiterschaft, das vergewaltigte Proletariat zum ersten Male gegen den blutigen Krieg auflehnte, viele jener „kulturlosen, unorganisierten Menschen“ bei Organisierung und Leitung der Auflehnung eine hervorragende Rolle gespielt haben.

Die hier angeführten Tatsachen, die nicht bestritten werden können, beweisen wohl, daß die Tendenz der Erhaltung des jüdischen Volkes sich durchgesetzt hat.

II.

Und nun zur Beurteilung der Wirtschaftskrise in Palästina, die Hannak unrichtig als „Krise des Zionismus“ bezeichnet. Hannak stützt seine Behauptung, daß der Zionismus „vielleicht in sein Ietztes Stadium“ getreten sei, hauptsächlich auf folgende Beweise:

1. Palästina erwies sich als unfähig, den mächtigen Wanderstrom aufzunehmen.

„Innerhalb kurzer Zeit war Palästina »verstopft«“

2. Die finanziellen Schwierigkeiten des Palästinaaufbauwerkes, „Doch 151.000 Pfund sind kein Spaß und die Kassen find leer.“

3. Die Erweiterung der „Jüdischen Agentur“, die der Mandatarmacht beratend zur Seite stehen soll, durch Hinzuziehung kapitalsreicher Nichtzionisten. „Der Zionismus ist im Begriff Selbstmord zu begehen: er opfert seine Idee, um die Mittel zu ihrer Durchführung zu erhalten…“

Hannak meinte nun, den folgenden Schluß ziehen zu dürfen:

Vergeblich opferte sich die Blüte der jüdischen Jugend Zentraleuropas, die Pioniere einer höheren Kultur, in den Morästen und Sandwüsten des Landes, vergeblich hungerte sich ihr Idealismus durch die Kargheit des Bodens, vergeblich sanken sie im Sumpffieber, überwältigt von der schweren Arbeit, dahin, vergeblich riefen sie den hohen Gedanken proletarischer Arbeitsgemeinschaft, genossenschaftlicher Solidarität zu Hilfe.

Indes sie in glühender Sonne, unter den Stichen der Malariafliege, die Moore trockneten und die Ölbäume pflanzten, ging über sie die Lawine der Einwanderer hinweg, stampfte Städte aus dem Boden, wie jenes Tel Awiw, ein echtes Gewächs der Einwanderungsinflation, so chaostisch, barbarisch und häßlich wie diese.

Hannak schließt hierauf mit den Sätzen:

Entfremdet seinen ursprünglichen Träumen, die Judenfrage in der ganzen Welt zu lösen, getäuscht in feinen frohen Hoffnungen, aus Palästina einen Judenstaat zu machen, resigniert in der Erwartung, einen tüchtigen Menschenschlag jüdischer Bauern heranzuzüchten, zurückgezogen auf den letzten Wunsch, wenigstens das relativ Wenige // zu behaupten, was in Palästina an Jüdischem geschaffen worden ist, schickt sich der Zionismus jetzt an, selbst dieses Wenige fremden Kapitalsmächten, die der zionistischen Idee fernstehen, zu überantworten. Ein großer Aufwand ward umsonst vertan, eine letzte Kraftquelle des so rar gewordenen bürgerlichen Idealismus wird zugedeckt mit den Dollars aus Amerika.

1. Besitzt Palästina eine Aufnahmefähigkeit für die jüdische Einwanderung? Das Westjordanland allein hat auf einem Umfang von 27.000 Quadratkilometer Boden 757.000 Einwohner, das entspricht 28 Einwohnern auf einen Quadratkilometer; bloß 10.8 Prozent des Bodens sind bebaut, der allergrößte Teil des anbaufähigen Bodens liegt also brach. Der größte Skeptiker kann nicht bestreiten, daß eine wichtige Voraussetzung für die Ansiedlung von Hunderttausenden von Menschen gegeben ist… Im Jahre 1925 war auch Palästina tatsächlich das Land der größten jüdischen Einwanderung gewesen. Im Laufe der Jahre 1919 bis 1926 hat sich die jüdische Bevölkerung Paläftina nahezu verdreifacht. Warum ist aber Palästina seit zwei Jahren „verstopft”?

Das Jahr 1925 war ein Jahr der furchtbaren Wirtschaftskrise der polnischen Republik gewesen. Wie überall, hatten auch hier die Juden unter der Wirtschaftskrise am meisten zu leiden. In der Not griffen Zehntaufende von ihnen zum Wanderstab.   Einwanderungsmöglichkeiten in andere Länder gab es damals und gibt es auch heute fast nicht. Da zog sich der Wanderstrom wahllos nach Palästina. Bis zu diesem Zeitpunkt bestand der größte Teil der Palästinawanderer aus jungen Menschen („Chaluzim“— Pioniere), die sich Jahre hindurch auf Palästina beruflich und geistig vorbereitet hatten. Die Seßhaftmachung der Eingewanderten konnte deshalb ziemlich glatt vonstatten gehen. Die Masseneinwanderung aus Polen aber bestand zum großen Teil aus Elementen, die für Palästina überhaupt nicht oder nur sehr mangelhaft vorbereitet waren. Die plötzliche zahlenmäßige Steigerung der Einwanderung allein müßte, bei dem jetzigen Entwicklungsstadium Palästinas, naturgemäß große Schwierigkeiten bereiten, die Qualität der Eingewanderten erhöhte diese Schwierigkeiten noch bedeutend. Aber man wäre dieser Schwierigkeiten vielleicht dennoch Herr geworden, wenn nicht die Klassengegensätze innerhalb des Zionismus hineingespielt hätten.

Die Einwanderung der „Chaluzim“ führte zur Entfaltung eines großen Netzes von gemeinwirtschaftlichen Siedlungen, von Konsum- und Produktionsgenossenschaften. Die Arbeiterschaft war und ist auch heute noch der bedeutendste Machtfaktor unter den Juden Palästinas. […] Diese mächtige Position der Arbeiterschaft ist natürlich ein Dorn im Auge des bürgerlichen Zionismus. Seine Anhänger spähten lange nach einer Gelegenheit, um das stete Wachsen der Macht und des Einflusses der Arbeiterschaft aufzuhalten. AIs nun die Masseneinwanderung aus Polen zahlreiche Angehörige des Mittelstandes nach Palästina brachte, hielten die bürgerlichen Zionisten den Moment für geeignet, diese Einwanderung gegen die Arbeiter auszuspielen. […] Die Arbeiterschaft erhob ihre warnende Stimme. Sie wies darauf hin, daß in Palästina nur eine Einwanderung, die neue Möglichkeiten produktiven Schaffens erschließt, im Lande Fuß fassen könne. Sie wies nach, daß diese Einwanderer als einzelne über zu geringe Kapitalien verfügen, um als Arbeitgeber Dauerndes schaffen zu können, und daß sie als Händler und Vermittler im Lande keine Existenzmöglichkeit haben. Die Arbeiterschaft forderte, daß man die Einwanderer organisatorisch erfasse und sie produktiven Beschäftigungen zuführe.

Aber die Mehrheit der zionistischen Bewegung segelte unter der arbeiterfeindlichen Flagge. Sie war von der Hoffnung auf baldiger Überwindung des Systems der Gemeinwirtschaft, auf die Erschütterung der Position der Arbeiterschaft geblendet und sah die nacken Tatsachen nicht. Die eingewanderten Juden des Jahres 1925 gingen nun daran, in Palästina, hauptsächlich in Tel Awiw, ihre alte Beschäftigung aufzunehmen. Kramladen schossen wie Pilze aus dem Boden, die // Spekulation feierte Orgien, Die junge, noch unentwickelte Wirtschaft Palästinas konnte das nicht lange tragen. Da krachten die „Positionen“ des neuen Mittelstandes wie Kartenhäuschen zusammen. Da bei einem solchen Rückschlag die Arbeiterschaft durch Arbeitslosigkeit die größten Leiden und Entbehrungen ertragen muß, dürfte ja uns in Österreich nicht neu sein.

Die Kurzsichtigkeit des größten Teiles der zionistischen Bewegung, hervorgerufen durch den engherzigen Klassenegoismus des zionistischen Bürgertums, hat die schwere Wirtschaftskrise in Palästina, wenn nicht heraufbeschworen, so doch zumindest verhindert, ihr die Spitze zu brechen. Wir sehen also auch hier, was wir schon oft bei anderen Völkern feststellen konnten: der Klassenegoismus des Bürgertums gefährdet ein wichtiges nationales Werk.

Das ist das tiefste Wesen der Wirtschaftskrise in Palästina, die übrigens ihren Höhepunkt längst überschritten hat (in Jerusalem, Chaifa und Afulle konnte bereits an Stelle der Arbeitslosenunterstützung für alle Arbeitsuchenden Arbeit beschafft werden. In Tel Awiw ist die Arbeitslosigkeit im Abnehmen begriffen und macht einer steten Besserung Platz). Diese Wirtschaftskrise in Palästina kann doch nicht als Krise des Zionismus bezeichnet werden.

[…]

Wie beurteilt die Arbeiterschaft diese Angelegenheit?

Es gab stets und es gibt auch jetzt noch in allen Ländern nicht nur einzelne, sondern organisierte Kreise von Juden, die sich der zionistischen Bewegung aus verschiedenen Gründen nicht anschließen, aber dennoch den Palästinaaufbau aufrichtig fördern. Das gilt übrigens nicht bloß vom jüdischen Bürgertum, sondern auch von der jüdischen Arbeiterschaft. In Amerika wird zum Beispiel alljährlich eine Aktion der jüdischen Gewerkschaften für die Institutionen der jüdischen Arbeiterschaft Palästinas durchgeführt. Diese Aktion, die eine ständige Einrichtung geworden ist, erstreckt sich auf jüdische Arbeiter, die keiner zionistischen Arbeiterorganisation angehören. Nun glaubt Weizmann jene Kreise des Judentums, insbesondere in Amerika, die für das Palästinaaufbauwerk zu gewinnen  wären, durch ihre Teilnahme an der „Jüdischen Agentur” dauernd an das Aufbaumwerk zu

fesseln, um größere Geldmittel für Palästina aufbringen zu können. Durch die Teilnahme von nichtzionistischen Kreisen an der „Jüdischen Agentur” erhofft sich// auch Weizmann eine Stärkung ihrer Autorität der Mandatarmacht gegenüber. Von einer Kapitulation der zionistischen Idee vor dem Dollar ist zumindest verfrüht zu sprechen, denn schließlich weiß man ja noch nicht, welche Pläne jene Nichtzionisten Amerikas hegen.

Und gerade die Arbeiterschaft, die stets bemüht ist, sich von Illusionen fernzuhalten, beurteilt den Plan der Erweiterung der „Jüdischen Agentur“ nüchtern, denn schließlich wird selbst ein Marshal (ein Vertreter der Nichtzionisten Amerikas) der jüdischen Arbeiterschaft kein größerer Gegner sein als zum Beispiel die orthodoxen Zionisten (Misrachi) und Herr Jabotinsky selbst, der ein so erbitterter Gegner der „Jüdischen Agentur“ ist. Die Arbeiterschaft kämpft für die Demokratisierung der „Jüdischen Agentur“, für die Heranziehung der proletarischen Organisationen zu dieser Institution, aber sie erblickt hierin absolut keine Liquidierung des Zionismus, keine Kapitulation vor dem amerikanischen Dollar. Wenn nun Hannak glaubt, feststellen zu dürfen, daß all die Mühe der Arbeiterpioniere, ihre schweren Opfer vergeblich waren, da die Spekulation, der Wucher alles zerstampft hat, müssen wir ihn schon fragen, woher er diese verteufelt schwarze Brille hat?

Die hundert jüdischen kleinwirtschaftlichen Siedlungen in Palästina stehen unerschüttert da. Die Zahl der Arbeitersiedlungen hat sich im Ietzten Jahre sogar vermehrt. Einige Arbeitersiedlungen find bereits in der Lage, sich selbst zu erhalten und Darlehen zurückzuerstatten. Ein weiterer Teil der Arbeitersiedlungen wird in den nächsten zwei Jahren diesen Zuftand erreicht haben. Die berufliche Gliederung der Juden Palästinas ift gesund.

[…]

Diese Umschichtung, die sich in Palästina vollzog, wird es bedeutend erleichtern, die Episode der wilden „Einwanderungsinflation“ zu überwinden. Ein Teil der Eingewanderten hat wohl das Land enttäuscht verlassen, die Auswanderung jener Elemente, die sich den Arbeits- und Lebensverhältnissen in Palästina nicht anpassen können, wird noch einige Zeit anhalten. Aber ein nicht unbeträchtlicher Teil ist im Lande geblieben und macht die größten Anstrengungen, um produktive Arbeit zu leisten. Die jüdische Arbeiterschaft Palästinas hat gerade in den Jahren der schweren Krise bewiesen, daß ihr Glaube an das Gelingen des Aufbaues unerschüttert ist. In allen Ländern der jüdischen Diaspora warten zehntaufende jüdischer Arbeiterpioniere auf die Möglichkeit, ihren Kampfgenossen in Palästina beim Aufbau der Heimstätte der jüdischen Arbeit helfen zu können. Genügen diese Tatsachen nicht, um den Pessimismus denkender Sozialisten zu zerstreuen?

In: Der Kampf, H. 12/1927, S. 574-580.