N.N.: Die neuen Staaten und die Judenfrage (1918)

             Der Zerfall Österreichs schreitet immer weiter vor. Die meisten der auf österreichischem Boden gebildeten Nationalstaaten haben sich bereits konstituiert und die Nationalversammlungen haben die Regierung und Verwaltung ihres Gebietes übernommen. Wenn so in allen Nationen an Stelle der gänzlich versagenden Staatsgewalt eine neue Instanz tritt, so sind die Juden bisher ohne jede Interessenvertretung. Es ist daher notwendig, daß der jüdische Nationalrat so schnell als möglich seine Tätigkeit aufnimmt. Sowie für alle Völker muß auch für das jüdische Volk eine Volksregierung geschaffen werden, welche die oberste Gewalt in allen jüdischen Angelegenheiten für sich in Anspruch nimmt und ihre Legitimation in dem Vertrauen der breiten jüdischen Massen hat. Allerdings ist bei uns gegenüber anderen Völkern der Unterschied, daß es sich nicht um die Verwaltung eines Territoriums handelt und daß das jüdische Volk in allen Gebieten vertreten ist und überall nur eine Minderheit bildet.

Es ist bemerkenswert, in welcher Weise die neuen Nationalstaaten zur Judenfrage Stellung nehmen. Eine eindeutige Erklärung liegt bisher nur vom ukrainischen Nationalrat vor. Die Ukrainer haben die jüdische Nation vorbehaltlos anerkannt und ihr nationale und politische Minderheitsreichte zugesichert. Der ukrainische Nationalrat hat an die Jüdischnationalen bereits die Aufforderung gerichtet, ihre Vertreter in die ruthenische Regierung Ostgaliziens zu entsenden. In mehreren Versammlungen haben ruthenische Redner bereits Erklärungen dieses Inhalts abgegeben. Die ostgalizischen Vertreter des jüdischen Nationalrates werden bereits in der nächsten Zeit ihre Entscheidung treffen müssen. Die Ukrainer, die jahrelang selbst eine unterdrückte Minorität in Galizien waren, werden in ihrem Staate gewiß den nationalen Minoritäten Rechte gewähren. Sie folgen damit dem Vorbild des russischen Bruderstaates, der Ukraina, welche bekanntlich nach ihrer Konstituierung den Juden volle nationale Autonomie gewährte, sogar ein jüdisches Ministerium schuf und erst nach dem durch den Einmarsch der deutschen Truppen herbeigeführten Umschwung wieder entzog. Da das deutsche Intermezzo in der Ukraine bald beendet sein dürfte, so werden die Juden zweifellos auch dort ihre nationalen Rechte erhalten, da die Ukrainer selbst einsehen werden, daß die Erteilung der nationalen Autonomie an alle Minoritäten im Interesse des eigenen Staates liegt und auch für jedes neue Staatswesen der Prüfstein der Demokratie ist, was heute mehr bedeutet als eine bloße Prestigefrage.

Im tschechoslowakischen Staat bilden die Juden eine Minderheit, die aber keineswegs bedeutungslos ist. Es war immer der Ehrgeiz der Tschechen, daß ihr neues Staatswesen als eines der demokratischesten der Welt entstehe. Unser Prager Bruderblatt „Selbstwehr“ schreibt in seiner letzten Nummer:

„Wir glauben daran, daß die Tschechen in ihrem neuen Staate den anderen Völkern gegenüber Gerechtigkeit üben werden. Sie haben zuviel um ihre Selbständigkeit kämpfen müssen, sie wissen viel zu gut, daß ihr neuer Staat, der unter den Augen der ganzen zivilisierten Welt gegründet wird, das gleiche Recht für alle zur Voraussetzung hat, um dieses Recht nicht auch den Juden zuzubilligen.“

Wie wir an anderer Stelle berichten, hat der jüdische Nationalrat des tschechoslowakischen Staates dem tschechischen Nationalausschuß bereits ein Memorandum über die politischen und nationalen Forderungen der Juden überreicht. Die böhmischen Juden haben in ihrer Mehrheit bisher die deutschen Positionen in Böhmen gestärkt und ließen sich auch durch die Fußtritte der Deutschen nicht von dieser Politik abbringen. Wir haben die verderbliche Art dieser Politik stets gebrandmarkt und stets die Forderung aufgestellt, daß die Juden ausschließlich jüdische Politik treiben sollen und sich nicht in den Kampf der anderen Völker einzumischen haben. Wir haben schon damals darauf hingewiesen, daß die einzige wirklich ehrliche jüdische Politik, daher auch die einzige, zu der die anderen Völker Vertrauen haben können, die jüdischnationale ist. In diesem Augenblick, wo neue Nationalstaaten entstehen, gerät die Solidarität der Assimilanten ins Wanken. Denn was haben israelitische Deutschösterreicher, Tschechoslowaken, Polen, Ruthenen usw. noch für Gemeinsamkeit. Umso stärker erweist sich jetzt die Richtigkeit der jüdischnationalen Politik auch für das Judentum, da nur durch sie eine unverbrüchliche Einheit des Judentums der ganzen Welt geschaffen wird. Nur dann aber kann auch das jüdische Volk als politischer Faktor von einiger Bedeutung auftreten. Daß auch die anderen Nationen dieser Argumentation zugänglich sind, beweist die bereits in unserer letzten Nummer erwähnte Rede des Abgeordneten Klofatsch, welcher ausdrücklich sagte, daß die Tschechen sich dessen bewußt sein müssen, daß eine falsche Behandlung der Juden einen „empfindlichen Rückschlag“ auf die Position der Tschechen im Ausland haben könnte. Es ist nicht zu unterschätzen, wenn gerade von Seite der Tschechen, die doch über die besten Beziehungen im Ausland verfügen, der jüdische Einfluß in dieser Weise gewertet wird.

Der wichtigste von allen neuen entstehenden Staaten ist für das jüdische Volk zweifellos der polnische Staat, in dem drei Millionen Juden leben. Die Polen sind sich dessen bewußt, daß ihr Verhalten zur Judenfrage von entscheidender Bedeutung für ihre internationale Position sein wird. Sie glauben aber noch immer, die Welt täuschen zu können, indem sie schöne Proklamationen und Versprechungen über die „Gleichberechtigung der Juden“ machen, sogar dicke Bücher in allen möglichen Sprachen von Staats wegen herausgeben. In Wirklichkeit aber betreibt die neue polnische Regierung die alte Schlachzizenpolitik und zeigt sich jeder Forderung nach nationaler Autonomie für die Juden unzugänglich. Es wird gemeldet, daß die polnischen Juden ein Telegramm an den Präsidenten Wilson gerichtet haben, in dem sie ihn bitten, dahin zu wirken, daß das von den Polen in Anspruch genommene Selbstbestimmungsrecht auch den Juden in Polen gewährleistet wird. Es ist zweifellos, daß bei den internationalen Verhandlungen auch die Fragen der nationalen Minoritäten geregelt werden müssen. Nach der Auffassung des Präsidenten Wilson, der sich bereits alle Staaten angeschlossen haben, kann es in nationalen Fragen keine einseitige „innere“ Politik eines Staates mehr geben. Alle nationalen Fragen gehören vor das Weltforum und alle Streitfälle zwischen der nationalen Mehrheit und Minderheit eines Staates gehören vor den internationalenSchiedsgerichtshof des Völkerbundes. Die Polen werden zu derselben Einsicht kommen müssen, welche der Abgeordnete Klofatsch für die Tschechen ausgesprochen hat.

Dasselbe gilt aber auch für den neuen deutschösterreichischen Staat. Auch der deutschösterreichische Staat wird auf seine Stellung im Ausland Rücksicht zu nehmen haben. Soweit ein jüdischer Einfluß hiebei in Betracht kommt, ist bisher allerdings nicht viel geschehen, um diesen Faktor zu gewinnen. Deutschösterreich und insbesondere das christlichsoziale Wien gilt in der ganzen Welt als eine Hochburg des Antisemitismus und die antisemitischen Redeexzesse im Parlament und bei den deutschen Volkstagen haben noch in der letzten Zeit dazu beigetragen, dieses ungünstige Bild im Ausland zu verstärken. Wenn jetzt Deutschösterreich als Nationalstaat konstituiert wird, so wird es im eigenen Interesse die nationale Minoritätenfrage lösen müssen und hiebei auch den Wünschen des jüdischen Volkes Rechnung tragen müssen. Es liegt im beiderseitigen Interesse, daß das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden auf nationaler Basis geregelt werde. Nur auf diesem Wege wird es möglich sein, die Reibungsflächen zu vermindern. Wir haben schon unlängst auf die Stellungnahme der „Reichspost“ hingewiesen. In ihrem Abendblatt vom 26. d. M. äußert sie sich wieder sehr zustimmend zu den Richtlinien des Bukowinaer Manifestes. Die deutschösterreichische Regierung, die in ihrer Note an Wilson mit so beredten Worten für den Schutz der deutschen Minoritäten eintritt, wird auch ihren Minoritäten dasselbe nicht versagen können und sie wird hoffentlich einsichtig genug sein, um der jüdischen Minorität den Appell an Wilson zu ersparen. Es kommt nur darauf an, daß alle Nationen einsehen, daß die Minoritätenfrage eine einheitliche ist und daß es nicht geht, auf der einen Seite zu fordern und auf der anderen nichts selbst gewähren zu wollen.

Alle neuen Staaten werden die Unterstützung des Auslandes, insbesondere Amerikas, nicht nur in politischer, sondern auch in wirtschaftlicher Beziehung nötig haben. In dieser Hinsicht könnten die Juden zweifellos große Dienste leisten, besonders auch dem deutschösterreichischen Staat, der mit seiner Hauptstadt Wien wirtschaftlich bei der neuen Lage außerordentlich gefährdet ist. Aber nur die nationalen Juden verfügen über diese Beziehungen. Die Assimilanten, welche die fremde Nationalität annehmen, zerschneiden dadurch ihren Zusammenhang mit der auf der ganzen Welt wohnenden einheitlichen jüdischen Nation. Es wird für alle neuen Staaten von großer Bedeutung sein, daß sie rechtzeitig die Tragweite einer richtigen oder falschen Judenpolitik erkennen. Sache des jüdischen Nationalrates ist es, die Völker nicht darüber im unklaren zu lassen, was das jüdische Volk fordert.

In: Jüdische Zeitung, Nr. 44, Wien, 1.11.1918, S. 2

N.N. [J. Kreppel]: Spartacus und die Juden. (1919)

             Unsere Feinde, denen keine Verleumdung schlecht genug ist, um sie den Juden entgegenzuschleudern, benützen auch das Auftreten der Spartakusbewegung in Deutschland, um den Juden die Schuld zuzuschreiben, weil unter den Spartakisten sich zufällig einige nominelle Juden befinden. Wie wenig der Spartakismus den Juden zusagen kann, zeigt ein Aufsatz, den Rabbiner Dr. Samuel-Essen in einem jüdischen Blatte in Deutschland veröffentlicht, dem wir folgende Stellen entnehmen:

Die vielhundertjährige Geschichte des Judentums weist keinen Spartakus auf. Es fehlte in dieser Geschichte nicht an politischen Krisen; jedermann kennt die Kampfansage der Stämme an den König Rehabeam: Erleichtere uns das Joch, oder wir sagen uns los von dir. Es gab soziale Mißstände in Zeiten, wo die Gesetze verachtet wurden – man denke an Jeremias Rede für die Sklavenentlassung im Sabbatjahr; wirtschaftliche Notstände durch Auswucherung und Überschuldung bekämpfte Nehemias  Schuldentilgung. Nur Sklavenaufstände gab es nicht, von Spartakussen berichtet die Bibel nichts. „Wohl dem Volke, dessen Blätter leer sind.“ Die jüdische Lehre von der Gleichheit aller Menschen vor Gott hat den Kampf mit der bestehenden Sklaverei aufgenommen. Das Judentum hat die Überwindung dieses vom Altertum bis in die Neuzeit reichenden, die Menschheit schändenden Verhältnisses machtvoll vorbereitet. Es hat dem Sklaven eine rechtliche, gesellschaftliche, ja religiöse Stellung gegeben, die aus ihm den Dienenden, Entlohnten, kurz den freien Arbeiter schuf. Und dies zu einer Zeit, wo die übrige Welt ihn als bloße Sache des Besitzers behandelte. Der römische Sklave trug sein Brandmal, dem jüdischen winkte winkte das gesetzliche Freiheitsjahr; der römische mußte ausgeliefert werden, das jüdische Gesetz schützte den Entronnenen; es verlangte die sofortige Freilassung bei Leibesbeschädigung, das römische erfand zu seiner Bestrafung die Kreuzigung! Wir verstehen römische Sklavenaufstände, wir begreifen auch Spartakus. Schade, daß Lessing seinen Plan einer Spartakus-Tragödie nicht ausgeführt hat. Er wollte seinen Helden zum Vorkämpfer einer weltbeglückenden Idee machen; ein Fragment aus dem Entwurf lautet: „Sollte sich der Mensch nicht einer Freiheit schämen, die es verlangt, daß er Menschen zu Sklaven habe?“ Spanien, Holland, Nordamerika haben sich ihrer recht lange nicht geschämt. Und was war die Leibeigenschaft in Deutschland und Rußland besseres? Und wie lange gehört sie der Geschichte an?

             Bedenken wir aber wohl: auch aus edelsten Motiven kann man zu falschen Schritten verleitet werden. Wir Juden hatten mit dem historischen Spartakus nichts zu schaffen, die weitaus größte Mehrzahl gehört auch nicht an die Seite derer, die seinen Namen zum Schlachtruf machen. Wie immer wir uns sonst orientieren, wir müssen uns hüten, bei dem gewaltigen Zuge nach links willenlos zur schärfsten Tonart, zum äußersten Radikalismus fortgerissen zu werden. Wenn es jüdische Bolschewiki in Rußland gibt, so hat das seine besonderen Gründe. Deutschland war und ist nicht Rußland. Russische Bolschewiki passen nicht als unsere politische Lehrmeister. Die russischen Zustände sind wahrlich nicht verlockend. Wir müssen die politische Einsicht und Mäßigung besitzen, uns zu sagen, daß wir selbst als Mitläufer der Spartakusbewegung die junge politische Freiheit des neuen Vaterlandes aufs schwerste gefährden und ihr und uns selbst zum Schaden die Geschäfte der Reaktion besorgen.

             Daß Spartakus schon ein wohldurchdachtes Programm besäße, wird er wohl selbst nicht behaupten. Nur gefühlsmäßig und nach Schlagworten weiß er vielleicht, was er will, sicher aber noch besser, was er nicht will, nämlich keinen Andersdenkenden neben sich dulden. Seine Parole lautet: Gleichmachung um jeden Preis. Wie zur Gleichheit und Freiheit bekennt der Bolschewik sich natürlich auch zur Brüderlichkeit; sie bedeutet für ihn, daß es fortan nationale oder religiöse Schranken auf Erden überhaupt nicht mehr geben darf. Der Gleichheit widerstrebt aber am meisten das tief in der Natur und Menschheit gelegte Gesetz; sie soll für den Menschen vor Gott bestehen, da Gott nur nach inneren, sittlichen Werten abschätzt; für Menschen gilt sie // nicht, weder nach Gaben noch nach Gütern. Wieder kann uns hier das Judentum Wegweiser sein. Es hat den Mammon nie so hoch erhoben, wie das Vorurteil behauptet; zum Beispiel gab es in ihm bei Vergehen gegen das Eigentum nicht die entehrenden Strafen, bei christlichen Völkern bis in die Neuzeit hinein Leibes-, ja Todesstrafen. Aber es hat die Arbeit geadelt, die Menschen zur Tätigkeit angespornt, Kulturwerke begünstigt, darum hat es ihre Güter auch geschützt […] Es hat auch im Judentum Anflüge von Kommunismus gegeben; wir denken an die Sekte der Essäer; sie war politisch belanglos, weil sie ganz und gar religiös orientiert war.

             Ganz anders Spartakus. Zwar behauptet er, alle seine Forderungen auf streng gesetzmäßigem Wege durchsetzen zu wollen, vor allem auch die ersten, großen Enteignungen; er will auch nicht plündern und rauben, und so erscheint er vielleicht manchem jüdischen Gemüte harmlos. Aber wie will er zur Macht gelangen, die solche Gesetze erlassen und durchführen könnte? Nur auf dem Wege der Gewalt, kurz durch den Terror. In seinem weltbeglückendem Wahn schreckt er nicht davor zurück, die Diktatur seiner Gruppe über ein Millionenvolk anzustreben. Hat ja auch im alten deutschen Reiche eine winzige, aber mächtige Gruppe über die Massen geherrscht; jetzt soll eine viel edlere, ja geradezu ideale ans Ruder kommen.

             Für diesen Tausch sind wir nicht zu haben. Wir sträuben uns nicht als Besitzende, sondern als Juden. Nur eine dünne Oberschicht von Juden gehört zum Großbesitz, die allergrößte Zahl zum Mittelstande […] Nach dem Dogma des Spartakus muß jedes Streben, aus der Armut wieder emporzukommen, Wohlstand oder gar Reichtum zu erwerben, niedergehalten werden. Der Feind ist nach ihm der sogenannte Kapitalismus. Wir fühlen uns wahrlich nicht zum Anwalt des Kapitalismus berufen; wir kennen die Schäden durch Anhäufung allzu großer Vermögen ganz genau, auch die Gefahren des uneingeschränkten Spiels der Kräfte im Wirtschaftsleben. Und dennoch haben wir den Mut, zu behaupten, daß Freude am Besitz Kapital, und Kapital Arbeit schafft; daß Reichtum durch Adel der Gesinnung und unterstützt von einer sozialen Gesetzgebung den größten Segen schafft und für den Fortschritt der Kultur unentbehrlich ist. Spartakus aber möchte gerade diesen Wettstreit, wie unter den Einzelnen, sogar unter den Völkern beseitigen! Sein letzter Ehrgeiz ist ja, sich über alle Völker diesseits und jenseits des Ozeans auszudehnen, dem verruchten Gelde auch seine internationale Bedeutung zu rauben. Hier verlieren wohl auch die Mitläufer den Atem; sollen wir kurzlebigen Menschen doch auf den Nimmerleinstag vertröstet werden!

             Von der Warte des Judentums weigern wir Spartakus die Anerkennung und Gefolgschaft.

In: Jüdische Korrespondenz, 23.1.1919, S. 1-2.

N.N. Die Rolandbühne – Jargontheater. (1921)

(Kunst und Literatur des Getto. – Von Morris Rosenthal zu Max Reinhardt. – Freundschaftliche Wechselgastspiele)

             Während in Amerika schon vor zirka 60 Jahren Morris Rosenthal das erste jiddische Theater gründete und so das Interesse für die Kunst eines Volks wachrief, das ungeachtet aller Bedrängnis seine Eigenart nie verlor, beginnt in Europa erst jetzt das Erkennen (nach all dem Suchen durch die ganze Welt – Indien, Siam, Japan und China – nach Neuem), daß da mitten unter uns eine bodenständig nationale Kultur lebt, die voll des Eigenartigen ist und ganz grundlos bisher unbeachtet blieb. In Amerika gibt es schon seit Jahren in jeder Stadt eine jiddische Bühne, im alten Kulturland Europa nur in London, Paris, Warschau und Lemberg. Und so bekannt in Amerika jüdische Literatur und Kunst geworden ist, so unbekannt ist sie hier geblieben, hier im Land der Gettos, in deren drangvoller Enge alle jene schwermütigen, tiefgefühlten Werke geschaffen wurden.

Nun aber beginnt auch bei uns das Verstehen für diese Kunst wach zu werden und mit der immerwährend steigenden Zahl jerer, die tiefer eindringen wollen in Wesen und Geist dieser Kunstgattung, wächst naturgemäß auch das Bedürfnis für ein jüdisches Theater, das doch besser als jede, wenn auch noch so ausführliche Monographie in Sprache und Sinn dieser Dichtungsweise einführt.

             Und diesem Bedürfnis entsprechend werden Wien und Berlin von dieser Saison an ihre großen jüdischen Theater haben.

             In Berlin gründet es Max Reinhardt, in Wien hat Direktor Richter-Roland die bisherige Rolandbühne zum Sprechtheater umgewandelt und eröffnet heute dort das jüdische Theater.

             Direktor Richter-Roland, dem als artistischer Direktor Herr Ferdinand Schmergel zur Seite steht, hat ein großzügiges Aktionsprogramm ausgearbeitet, von dessen Durchführung man sich sehr viel Gutes versprechen darf. Direktor Richter-Roland, dem als artistischer Direktor Herr Ferdinand Schmergel zur Seite steht, hat ein großzügiges Aktionsprogramm ausgearbeitet, von dessen Durchführung man sich sehr viel Gutes versprechen darf. Direktor Richter-Roland plant die Einführung von fremdsprachigen Wechselgastspielen und beginnt diese mit einem Ensemblegastspiel der jüdischen Bühne des Direktors S. Podzamcze. Im Rahmen dieser Bühne wird auch die nunmehr schon durch ihre Gastspiele in der Vorsaison gefeierte amerikanische Künstlerin Mali Picon und ihr Gatte Direktor J. Kalich aus Boston gastieren, die einen dreimonatigen Kontrakt geschlossen haben. Mali Picon, diese rassige, feinnervige Frau, die eine der besten jüdischen Schauspieler Amerikas ist, wird hier in einigen neuen Operetten und Volksstücken auftreten, die neuerdings die Vielseitigkeit dieser Künstlerin zur Geltung bringen werden.

             Direktor Kalich, der als Interpret und Rezitator jüdischer Poesie ebenso bedeutend ist, wie als Schöpfer typischer Gestalten des unrastig wandernden und sich nach einer eigenen Heimat sehnende Judenvolkes, wird den sicher schon großen Kreis seiner Verehrer erweitern.

             Aber auch das übrige Ensemble weist beachtenswerte Erscheinungen auf. So den Regisseur L. Jungwirth, der sich als Theaterleiter in Czernowitz und Lemberg erfolgreich bewährte und dessen vornehmes Spiel und kultivierte Sprechkunst ihn zu einem der hervorragendsten Schauspieler machen. Dann die blendend schöne Viera Kaniewska, die temperamentvolle Frau Laura Glückmann und die durch vorzügliche Charakterisierungskunst Frau Dreiblatt. Unter den Herren seien noch hervorgehoben: der Bonvivant S. Sinin, der nachgerade zum Frauenliebling wird und nicht nur durch die prachtvolle Stimme, sondern auch durch seinen eleganten Tanz beachtenswert ist, ferner Herr Breitmann und schließlich die beiden trefflichen Komiker Zucker und Katz.

             Das Orchester bleibt auch weiterhin unter der Leitung des Kapellmeisters Kuczynski, der sich in kurzer Zeit einen populären Ruf geschaffen hat.

             Zur Aufführung gelangen sowohl jüdische Volksstücke als auch moderne Literaten wie Schalom Asch, Pinski, Gordin und Rosenthal. Aber auch die sang- und klangvollen amerikanischen Operetten Rumschinskys werden gepflegt werden.

             Besonderes Augenmerk verdient aber auch die geplante Aufführung jener altjüdischen Legenden und Volksmythen, wie Der Golem von Prag und Sulamith, (Themata, die wie bei Meyrink und Hans Heinz Ewers schon Stoff boten für Romane und auch im Film verwendet wurden), die in Europa auf einer Sprechbühne noch nicht zu sehen waren, während in Amerika auch dieses Genre schon seit langem gepflegt wird und die Besten unserer Bühnenkünstler, ich nenne nur Schildkraut, an die Lösung dieser schwierigen Aufgabe gingen.

             Ganz neu und in seiner Anlage großzügig ist der Plan der Direktoren Richter-Roland und seines theaterkundigen Associés Ferdinand Schmergel, mit den bestehenden jüdischen Bühnen Wechselgastspiele zu vereinbaren, so daß Gelegenheit geboten wird, auch die Stars anderer Städte kennen zu lernen.

             Das Haus wurde seiner neuen Bestimmung entsprechend umgebaut und adaptiert und bildet durch den intimen Charakter einen wunderhübschen Rahmen für Milieustücke. Auch die Tische wurden entfernt, um bequemen Klappstühlen Platz zu machen.

             Die Notwendigkeit eines jüdischen Theaters in Wien kann wohl nicht angezweifelt werden, wenn man erfährt, daß hier nach geringster Schätzung an 300.000 Jargon sprechende Menschen leben, die Zahl jener aber, die aus künstlerischen oder ethymologischen Gründen sich für diese Kunst interessieren, gleichfalls dieser Zahl nahe kommt, ganz abgesehen von jenen, die durch die klangvolle, bildhafte Musik der Operetten Rumschinskys das Theater besuchen werden und deren Gemeinde auch nicht klein sein dürfte.

             Nach diesen Erwägungen kann man dem neuen Unternehmen eine glänzende Zukunft vorhersagen, In künstlerischer Beziehung sicher; das verbürgt das Programm, das Ensemble und die bewährte Leitung.

In: Neues Wiener Journal, 1.9.1921, S. 8.

Eugen Hoeflich: Die Wilnaer. (1922)

             Neunzehnhundertfünfzehn beschlossen einige junge Leute in Wilna, Studenten, ein Kirchenmaler unter ihnen, ein jiddisches Theater zu gründen; ein wirkliches Theater, das – nichts mehr und nichts weniger wurde zum Vorbild genommen – Stanislawskis Ziele erreichen sollte. Aus einer Gruppe Dilettanten, anfänglich von den russischen Behörden unterdrückt, dann von der deutschen Okkupationsmacht begünstigt, von Eulenberg, Zweig, Jacobsohn, Struck und anderen außerordentlich gefördert, wurde nach wenigen Jahren gewaltigster Anstrengung das, was man heute in Europa als die Wilnaer Truppe kennt: eine Gruppe von starken schauspielerischen Potenzen, die trotz ihrer Zusammensetzung aus eigenwilligen Individuen, zur Truppe, zur individuellen Gruppe katexochen wurde. „Wilnaer Truppe“ wurde zu einer Marke, zu einer eindeutigen Bezeichnung, wie etwa Moskauer Künstlertheater.

             An einem Damaszener Sommerabend kam ich einmal unversehens in ein arabisches Theater. Stegreiftheater, naiv, primitiv, das Stück belanglos, die Akteure aber hinreißend in ihrer einfachen, naiven Hingabe. Nicht aus Überlegung, nicht aus Berechnung hob jener die Hand, dieser den Kopf, sondern spontan, intuitiv, voll eingefangen im Sinne des Menschen, den er zu verkörpern hatte, seiner Rolle hingegeben mit der letzten Faser seines Herzens. An dieses arabische Theater mußte ich mich erinnern, als ich die Wilnaer zum erstenmal sah. Es ist ein Stück Orient – selbst wenn sie ein Stück des europäischen Repertoires geben – ein Stück Osten, der vor uns aufsteht in seiner Beweglichkeit, Intuition, Spontanität; die außerordentlichste Hingabe an das Geschehen, das der Dichter ihnen vorzeichnet: es ist nicht mehr Schauspiel, sondern dramatisches, dramatisiertes Leben, Lebensschicksal in drei Theaterstunden eingefangen, zwingend hineingestellt in das Leben des Zuschauers, selbst wenn das Stück ein schlechtes und seine Personen nicht lebensfähig sind. Das Zusammenspiel von Menschen, die in ihre Rollen stündlich neu hineingeboren werden, sie allabendlich neu erleben, sie wahrhaftig durchdringen mit dem Intellekt und, was wichtiger ist, mit dem Instinkt, dieses Zusammenspiel pries und das Gerücht, ehe wir die Wilnaer hier sahen. Gleichgültig nun, ob wir ihre Sprache, diese außerordentlich modulationsfähige Sprache, verstehen oder nicht – wir erleben hier ein Ineinandergreifen, das uns vergessen macht, daß nach zwei, drei Stunden diese Menschen dort oben durchaus anderen Gesetzen, anderen Bewegungen und anderen Erlebnissen untertan sein werden, die kein Dichter und kein bewunderungswürdiger Regisseur tief durchdacht hat. Mitunter hat man den Wunsch, daß diese wunderbar klappende Regieführung nur einen Augenblick lang versagen möge.

             Mit den „Wilnaern“ verknüpft, kam stets ein anderes Wort zu uns: Der Dybuk. Dieses Theaterstück von Sch. An-ski, das in Warschau allein über zweihundertmal gespielt wurde, trug zum Weltruhm der Truppe mehr bei als die enthusiastischsten Artikel westeuropäischer Dichter von Namen. Als vor einigen Wochen die Königin von Holland der Aufführung beiwohnte, erschüttert den Schauspielern dann Dank sagte, als Reinhardt auf die Bühne kam, um ihnen zu danken, in diesem Augenblick wurde der Dybuk, die mystische Legende chassidischer Ekstatiker, auch zum Ereignis in Westeuropa. Für Polen und Rußland war er schon Sensation, als der sterbende, von den Bolschewisten verfolgte Dichter das Manuskript den Wilnaern übergab. Er war tot, ehe es aufgeführt werden konnte. Von der Vorstellung ans Sterbelager geholt, schwuren die Schauspieler, das Stück noch während der dreißigtägigen Trauerzeit aufzuführen. Über hundert Proben in einem Monat, die Nervenkraft eines halben Lebens, und der Wille, den ein Schwur am Bette eines Toten leitete, brachte eine Erstaufführung am dreißigsten Tage der Trauer zustande, die bis zwei Uhr nachts dauerte. Hunderte Menschen übernachteten im Theater, Hunderte im Polizeiarrest. Kriegsrecht verbot das Betreten der Straßen bei Nacht. Der Dybuk brach Krieg und Gesetz, Furcht und Befehl. Unlöslich verbunden waren von diesem Augenblick an Wilnaer und Dybuk.

             „Der Dybuk“: Ein mittelalterlicher Holzschnitt mittelalterlicher Menschen, Legende von einem Geschehen, das jenseits des bewußten Lebens und diesseits des Jenseits spielt: „abgeschnitten von beiden Welten“, liegt der Sinn dieses mystischen Ereignisses auf jener Linie, die von ältester urmenschlicher Mystik zur Mystik in uns Menschen dieser Tage führt und das mystische Blühen eines gotischen Europa irgendwo berührt. Ein wunderbares Stück Orient, wunderbarer als die Wunder der Tausend und einen Nacht, gleichnislos in der Literatur anderer Völker, blühte es aus dem Biden, der nicht der Nährboden seines Volkes ist, ein erschütterndes Wiedererleben verdunkelnder Erinnerungen an verklungene Lieder, die wir einmal hörten, als geheimnisvolle Strahlen aus den Landschaften grenzenloser Erwartungen uns umspielten. Ein Stück ursprünglichen reinen Judentums, das einen Baal Schem das wunderbare Gleichnis vom Spiegel oder das vom Seiltänzer lehren lassen kann – das kann keine andere Truppe aus dem schweren, starren Rahmen des Holzschnittes ins Leben hinausstellen. Der Dybuk ist für die Wilnaer geschrieben, ihm immer von neuem zu dienen, ist ihre Existenzpflicht. Das erschütternde unvergeßliche Erlebnis eines Meschulach, wie ihn Nachbusch verkörpert, eines Morevsky als Zaddik, einer Orleska als Leah, irgendeines Menschen dieser Truppe in irgendeiner Rolle, dieses Erlebnis zwingt zu neuen Einstellungen, die unabhängig sind von allen Einflüssen, die von außen kommen, sie revidieren die früheren Erlebnisse, aus denen sich uns Großes zu manifestieren schien und machen sie peripher.

             Man wird versuchen, das Stück auch auf dem europäischen Theater zu spielen (eine deutsche, außerordentlich schlechte Übersetzung liegt bereits vor) und der Versuch wird mißklingen. Würde ich jenes arabische Theaterstück der Damaszener Schauspieler in irgendeinem französischen Kolonialtheater sehen, dann würde statt Ergriffenheit ein Gefühl sinnloser, grotesker und peinlicher Art mich ergreifen. Europäische Schauspieler können den Dybuk nicht spielen, denn ihnen fehlen die spezifischen Schwingungen, die sich dort zu Elementen einer eingebornen Hingabe an etwas im Unterbewußtsein Erlebten verdichten und im Schauspielen immer wieder das grenzenlose Ereignis gebären, das allein ihn fähig macht, Erlebnis zu werden, Erlebnisse zu gestalten, Schauspiel zum Spiel unirdischer, unterirdischer Leidenschaften zu machen, nicht durch Logik, sondern durch jenes gütige Mitzittern zu zwingen, das einen Kontakt zu jedem einzelnen Zuschauer herstellt, das in seiner inbrünstigen Intensität jeden einzelnen Zuseher glauben machen muß, daß er allein Miterleber dieses Geschehens dort oben sei. Dieses höchste Ziel des Theaters, das der Phantasie des Menschen im Zuschauerraum schrankenlose Freiheit gibt, ist hier erreicht – selbst wenn er dann und wann die Sprache nicht versteht. Es kann aber nicht erreicht werden, wenn das Spiel den Zwängen einer seinem Wesen fremden Sprache unterworfen wird.

             Als nationales Kulturinstitut gegründet, als nationale Errungenschaft ersten Ranges (auch wenn Schauspieltalent im Juden eine Assimilationserscheinung ist) gewertet, haben die Wilnaer mit unheimlicher Schnelligkeit einen Weg zurückgelegt, der in der Historie des Theaters irgendeiner europäischen Nation durch Jahrhunderte führt. Unwesentlich, ob dies Vor- oder Nachteil bedeutet: die Zukunft wird zeigen, ob sie fremdnationale Elemente wird assimilieren können, ohne Schaden zu nehmen, ob sie die gefährliche Klippe des Spezialitätentheaters, die Gefahr liegt selbst bei Konzessionen an das fremdnationale Repertoire nahe, wird überwinden können, ohne auf den toten Punkt zu gelangen.

In: Neue Freie Presse, 10.11.1922, S. 7.

Jacques Hannak: Die Krise des Zionismus. (1927)

        In Basel ist im September der 15. Zionistenkongreß abgehalten worden. Als Jubiläumskongreß war er einberufen worden — sind es doch genau dreißig Jahre, seitdem, ebenfalls in Basel, der erste Kongreß getagt hat —, aber mit Mißstimmung und Resignation hat er geendet. Was vor drei Jahrzehnten mit dem frischen Schwung des Glaubens an eine große Sache begonnen worden ist, liegt heute krank und siech darnieder.

                 Als mit dem Beginn des neunzehnten Jahrhunderts der Kapitalismus seinen Siegeszug durch West- und Mitteleuropa antrat, da holte er auch den Juden wieder aus dem Dämmerzustand der Geschichtslosigkeit in das helle Licht des freien Wettbewerbs empor. Es ist bekannt, welch hohen Anteil das Judentum an der Entfaltung der Produktivkräfte des Kapitalismus, an seiner Organisation, seinem technischen Fortschritt, seinen Banken und Börsen besitzt. In der Herrenklasse der kapitalistischen Nationen haben überall auch Juden Heimatrecht. Auf der andern Seite aber erwirkte der Sieg des Liberalismus auch den mittel-, kleinbürgerlichen und proletarischen Schichten des Judentums die volle staatsbürgerliche Freiheit des Ringens um das tägliche Stückchen Brot. Bald wurde die Beweglichkeit des jüdischen Elements zur empfindlichen Konkurrenz. Der Gegensatz wäre in wenigen Generationen durch die Aufsaugung des jüdischen Elements bereinigt worden, wenn nicht ein unheimliche, in seiner Kraft schier unversiegbares Wesen die blutende Wunde immer wieder -neu aufgerissen hätte: der Koloß Rußland, dessen außerhalb der kapitalistischen Einflußsphäre liegende mittelalterliche Gesellschaftsverfassung von Jahr zu Jahr Massen jüdischer Elendsmenschen, behaftet mit allen Qualen und allen Lastern des Gettos, nach Westenuropa abstieß. Diese lumpenproletarischen, kulturlosen, unorganisierten Menschen waren es, welche durch den ungeheuren Druck ihrer Zahl, durch das Angebot ihrer Hände und ihre durch Not und Jammer begreifliche Skrupellosigkeit den Lebensstandard der übrigen mittelständischen und proletarischen Gruppen bedrohten. Als obendrein in den siebziger und achtziger Jahren der Kapitalismus nach den vorangegangenen „Gründerjahren“ einen ersten Rückschlag erlitt, den vor allem die besitzlosen Klassen zu tragen hatten, war die Reaktion darauf jene Welle des Antisemitismus, von der sich zum Beispiel in Österreich Lueger zur Höhe hat tragen lassen.

                 Der Antisemitismus wurde schon um weniges später als der „Sozialismus des dummen Kerls“ entlarvt, und zwar von jener Großmacht, die Luegers Herrschaft ablösen sollte: von der Sozialdemokratie. Erst ihr Auftreten hat die Massen verstehen gelehrt, wie in Wahrheit die Lösung der Judenfrage möglich ist,// erst ihr Auftreten hat dem arbeitenden Volke gezeigt, daß nur eine Verschüttung des Quells, dem das Übel entspringt, die Verschüttung des mittelalterlichen RußIand, der Sieg der Revolution auch im Osten Europas, die Kulturlosigkeit ‚der Menschen dieses Gebiets aufheben und sie zur Höhe westeuropäischer Gesittung emporführen könne.

                 Das ist ein langwieriger, ein geschichtlicher Prozeß. Die Ungeduld der vom Antisemitismus bedrängten Juden aber ertrug es nicht, so lange zu warten. Assimilation, Anpassung und Aufgehen in den Wirtsvölkern schien unmöglich, solange aus dem Osten immer wieder neues Getto einströmte. Also – das Gegenteil. Wenn uns die andern ablehnen, so wollen wir justament uns zu uns selber bekennen. Wenn der Gettojude euch nicht gefällt, so wollen wir selber Gettojuden sein! Die Antwort der jüdischen Intellektuellen auf den Antisemitismus ist das Bekenntnis zum jüdischen Nationalismus: ein Nationalismus der Abwehr.

                 Aber was war damit geholfen? Man schafft ein Übel nicht aus der Welt, indem man sich einfach zu ihm bekennt. Da trat Theodor Herzl auf, ein junger Schriftsteller, Redakteur der „Neuen Freien Presse“, und weil er begabt war, von ihr sehr schlecht behandelt. Ihm war es klar, daß das bloße Pochen auf die Existenz einer jüdischen Nation nicht taugte. Es mußte mehr geschehen. Wenn man die Situation der in Westeuropa wohnenden Juden bessern wollte, mußte der Zustrom aus dem Osten versiegen, mußte dieser Zustrom in ein anderes Bett geleitet werden: Palästina! So entsprang dem Kopfe Herzls die moderne zionistische Idee.

                 Mit der berühmten Programmforderung „einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte der Juden in Palästina“ organisierte und mobilisierte Herzl den ersten zionistischen Kongreß in Basel im Jahre 1897. Sein zündendes Wort fand begeisterten Widerhall. Die zionistischen Organisationen schossen nur so in die Halme und die ganze jüdische Jugend Europas und Amerikas hatte ein neues Ideal. Im Iuftleeren Raume bloßer Propaganda ließ es sich ja auch wunderbar experimentieren und schwärmen. Doch schon Herzl war Realpolitiker genug, die kommenden Schwierigkeiten zu ahnen. In einem gewissen Zeitpunkt wäre er sogar bereit gewesen, Palästina preiszugeben, als sich die Aussicht bot, eine jüdische Kolonie in Uganda gründen zu können. Herzls früher Tod ersparte ihm die Enttäuschungen, die seinen Nachfolgern nicht vorenthalten blieben.

                 Zwei entscheidende Schwierigkeiten standen der kleinbürgerlichen Utopie des Zionismus entgegen: zunächst einmal die politische Schwierigkeit, die darın beruhte, daß Palästina Bestandteil jener Türkei war, an deren Sterbelager die Aasgeier des Imperialismus versammelt waren, um jeder die fettesten Bissen der Beute bei erster Gelegenheit an sich zu reißen. Das orientalische Problem durch die Judenfrage noch verwickelter zu machen, dazu bestand nirgends besondere Geneigtheit. So mußte der Zionismus schon in der Vorkriegszeit viel Wasser in seinen Wein gießen und, um nicht nichts getan zu haben, wenigstens mit individueller Siedlertätigkeit durch den Ankauf von Grund auf palästinensischem Boden beginnen. Franz Oppenheimer hat damals den Gedanken seiner Siedlungsgenossenschaften in Palästina propagieren wollen. Aber über unbeträchtliche Versuche ist keine der Siedleraktionen hinausgekommen.

                 Eine entscheidende, dem Zionismus scheinbar äußerst günstige Wendung trat durch den Weltkrieg und die berühmte Balfour-Deklaration ein, jene Erklärung des englischen Minissters, daß im Falle des Sieges der Ententemächte der Judenstaat Palästina unter dem Schutze der Entente gegründet werden solle. Es war ein ausgezeichneter Schachzug Englands, das damit die Sympathien eines großen Teiles der Juden aus aller Welt auf die Seite der Entente hinüberriß. AIs die Mittelmächte zusammengebrochen waren, hielt England sein Versprechen ein. Es fiel ihm leicht. Auf Grund eines Mandats des Völkerbundes wurde es damit betraut, als „Mandatarmacht“ beim Aufbau des „nationalen jüdischen Heims“ die Obergewalt in Palästina an sich zu nehmen. Nach Artikel 4 des Mandats soll eine Jewish Agency, das heißt eine Vertretung der Juden, eingerichtet werden, welche der Mandatarmacht „beratend“ beizustehen hat. Als solche Jewish Agency wird die zionistische Organisation anerkannt, „solange die Man//datarmacht diese Organisation für diese Funktion als geeignet befindet. Also England gestattet, solange es ihm gefällt, daß der Wüsten- und Sumpfboden Palästinas von jüdischen Einwanderern urbar gemacht werde.

                 Damit sind wir zu der anderen, noch verhängnisvolleren Schwierigkeit der zionistischen Aktion gelangt: zu ihrer ökonomisch-sozialen. Es war der Grundfehler der zionistischen Illusion, daß sie wähnte, mit einer bloßen Richtungsänderung des Stromes der osteuropäischen Juden das Problem bewältigen zu können. In der Theorie nahm es sich sehr gut aus, den auswandernden Gettojuden nicht mehr nach Deutschland und Österreich, sondern na Palästina zu bringen. Aber in der Praxis zeigte sich sehr rasch, daß das Gefälle dieses mächtigen Wanderungsstromes ein viel zu starkes war. Innerhalb kurzer Zeit war Palästina „verstopft“, vor seinem Eingangskanal brodelte und schäumte es unter dem Drucke der nachdrängenden Einwanderermassen. Das Heilige Land, die durch Generationen vererbte messianische Hoffnung, es Iag vor ihnen und sollte sie nun alle aufnehmen, so, wie es war: arm, wirtschaftlich unerschlossen, sumpfreich, unkultiviert, und so, wie sie waren: arm, wirtschaftlich unerfahren, kulturlos. Vergeblich opferte sich die Blüte der jüdischen Jugend Zentraleuropas, die Pioniere einer höheren Kultur, in den Morästen und Sandwüsten des Landes, vergeblich hungerte sich ihr Idealismus durch die Kargheit des Bodens, vergeblich sanken sie im Sumpffieber, überwältigt von der schweren Arbeit, dahin, vergeblich riefen sie den hohen Gedanken proletarischer Arbeitsgemeinschaft, genossenschaftlicher Solidarität zu Hilfe: Indes sie in glühender Sonne, unter den Stichen der Malariafliege, die Moore trockneten und die Ölbäume pflanzten, ging über sie die Lawine der Einwanderer hinweg, stampfte Städte aus dem Boden, wie jenes Tel Awiw, ein echtes Gewächs der Einwanderungsinflation, so chaotisch, barbarisch und häßlich[1]) wie diese. Der einzige Beruf des russischen Gettojuden, der Beruf des Krämers und Schächters, er entfaltete sich fessellos, zügellos. Phantastische Bodenpreise, phantastischer Wucher mit Boden, Wohnungen und Häusern. Und immer noch drängten neue und neue Scharen nach….

                 Die Tragik der zionistischen Bewegung mußte dieses verderbliche Nachdrängen wollen. AIs ein Problem kleinbürgerlicher Ungeduld war der Zionismus ins Leben getreten; er konnte, er durfte also nicht warten. Jährlich brachte er 30.000 Juden ins Land, 1924/25 sogar 50.000. Insgesamt find jetzt etwa 150.000 Juden in Palästina; aber was macht das aus gegen die fünf- bis sechsmal so große Zahl der Araber? Ein Judenstaat, in dem die Juden eine Minderheit sind? Und umgekehrt: die Kolonisation fortsetzen, wo schon heute von den 150.000 Juden achttausend arbeitslos sind, viele zurückzuwandern beginnen und die größere Mehrheit so elend lebt wie vorher im Getto? Eingekeilt zwischen dem quälenden Bedürfnis nach der Macht im Lande und der Ohnmacht des Landes, die Massen aufzunehmen, ist der Zionismus in eine Ausweglosigkeit geraten, die er sich allmählich selber einzugestehen beginnt[2]).

Auf dem diesmaligen Basler Kongreß hat der gegenwärtige Führer der zionistischen Bewegung, Weizmann, mitgeteilt, daß der Fonds, der die Kolonisation ermöglichen soll, bereits ein Defizit von 151.000 Pfund (gegenüber 71.000 Pfund im Jahre vorher) hat. Dabei hat Weizmann, als ihm die Opposition vorwarf, um wieviel billiger zum Beispiel Griechenland vor ein paar Jahren 11/2 Millionen anatolische Flüchtlinge im Mutterland angesiedelt habe, das nicht // unedle Wort ausgesprochen, daß die jüdische Kolonisation wohl teuer sei, aber dies sei eine Kompensation für das menschliche Leid. „Wir haben unsere Kolonisation mit einem relativen Minimum von menschlichem Leid gemacht.“ Doch 151.000 Pfund sind fein Spaß und die Kassen find leer. In dieser verzweifelten Situation schlägt Weizmann dem Zionismus vor, eine finanzielle Anleihe bei nichtzionistischen amerikanischen Großkapitalisten zu machen und diesen dafür die Hälfte der Plätze in der „Jewish Agency“ einzuräumen. Damit soll nun den Nichtzionisten, denen Palästina ein verrücktes Experiment, unternommen von verachteten Ostjuden, ist, der gleiche politische Einfluß in Palästina gewährt werden wie den Zionisten. Da die Zionisten nur ihr Ideal beizusteuern haben, jene Kapitalsmagnaten aber ihre Mittel, sann es nicht zweifelhaft sein, wo in nicht ferner Zeit die Macht Iiegen wird. Der Zionismus ist im Begriff, Selbstmord zu begehen: er opfert seine Idee, um die Mittel zu ihrer Durchführung zu erhalten….

                 Gegen diesen aus der Verzweiflung geborenen Antrag Weizmanns wehrte sich eine kräftige Opposition, und auch der Majorität, die den Antrag schließlich annahm, war gar nicht wohl zumute dabei. […] Dabei ist selbst die Majorität nicht etwa ein geschlossenes Ganzes. Zu ihr gehören neben dem Zentrum, das sich von einer Belebung der Industrie mehr erhofft als von der Landwirtschaft[3]), das eine Mal die Misrahi, das sind die orthodox Religiösen, die sehr konservativ gesinnten Pfaffen, deren Führer Rabbi Meier Berlin auf dem Kongreß eine Hetzrede gegen die Arbeiter hielt, ein anderes Mal wieder die Hitachduth (Volkssozialisten) oder gar die sozialdemokratische Poale Zion[4]). Bei der Wahl der Exekutive enthielten sich die Arbeiterparteien der Stimme. Die Opposition wird von den Radikalen und Revisionisten gebildet, beide chauvinistisch-//nationalistischen Gruppen, deren Führer Jabotinsky ein verhinderter Mussolini im Westentaschenformat ist[5]). Der Mann schwärmt für militaristische Gewaltlösungen  und möchte am liebsten Krieg mit den Arabern. Jedoch selbst dieser Bramarbas ließ diesmal den Kopf sehr hängen und seine scharfe Opposition gegen Weizmann war mehr theatralisch aufgeputzt als ernst gemeint. Er hat natürlich recht, daß die Auslieferung der „Jewish Agency“ an Nichtzionisten die Sünder wider den Heiligen Geist ist, aber einen anderen Ausweg sieht er auch nicht. Und so konnte er nur deshalb dagegen stimmen, weil er wußte, daß die andern siegen würden.

                 Mit diesem Ausgang aber ist der Zionismus in ein neues Stadium getreten, vielleicht sein letztes. Entfremdet seinen ursprünglichen Träumen, die Judenfrage in der ganzen Welt zu lösen, getäuscht in seinen frohen Hoffnungen, aus Palästina einen Judenstaat zu machen, resigniert in der Erwartung, einen tüchtigen Menschenschlag jüdischer Bauern heranzuzüchten, zurückgezogen auf den letzten Wunsch, wenigstens das relativ Wenige zu behaupten, was in Palästina an Jüdischem geschaffen worden ist, schickt sich der Zionismus jetzt an, selbst dieses Wenige fremden Kapitalsmächten, die der zionistischen Idee fernstehen, zu überantworten. Ein großer Aufwand ward umsonst vertan, eine letzte Kraftquelle des so rar gewordenen bürgerlichen Idealismus wird zugedeckt mit Dollars aus Amerika.

In: Der Kampf, H. 10/1927, S. 454-458.


[1]) Oppenheimer sagte von Tel Awiw in einem Vortrag: „Es ist eine Stadt, der sich die Juden schämen müssen: ein stilloses Durcheinander von Hütten und kitschigen Palästen, der Boden der Willkür der kulturlosesten Elemente ausgesetzt, eine Orgienfeier des Ungeschmacks und eine Orgienfeier der Auswucherung der Ärmsten“.

[2]) Dabei wird das Verhältnis zu den Arabern ein immer ungünstigeres, Nicht nur ist deren Geburtenzahl eine weit größere, sondern je mehr sich dank der jüdischen Arbeit in Palästina die Ressourcen des Landes bessern, desto mehr Zuzug von Arabern aus der Wüste Iockt gerade die höhere Arbeitskultur an. Es hebt sich der Stand der arabischen Anbaufelder, der arabische Landarbeiter, der verachtete Fellach, beginnt sich gewerkschaftlich zu organisieren und der Zionismus ist es, der all das bewirkt hat, der sozusagen aus seinem eigenen Schoße seinen Gegensatz und seinen Überwinder gebiert: Palästina als kultiviertes arabisches Land.

[3]) Vorläufig gibt es nur drei Fabriken von Belang in Palästina: die Ölmühle in Haifa, die Zementfabrik ebendort und eine genossenschaftlich betriebene große Bauunternehmung.

[4]) Über die Lage der Arbeiter in Palästina schreibt Felix Pinner (Das neue Palästina, Berlin 1926, S. 75): „Es gibt in Palästina zurzeit eine jüdische Arbeiterschaft von etwa 16.000 Menschen, von denen rund 6000 in der Landwirtschaft und 10.000 in der Industrie beschäftigt sind. Diese Arbeiterschaft spielt aber in der ganzen wirtschaftlichen und politischen Struktur des Landes eine weit größere Rolle, als ihr in Anbetracht ihrer absoluten Zahl und des relativen Anteils an der jüdischen Gesamtbevölkerung, die doch immerhin jetzt (1925) 110.000 Seelen beträgt, eigentlich zukäme. Das liegt an verschiedenen Gründen. Erstens ist sie stark und straff organisiert. […] Darüber hinaus hat sich aber die Arbeiterschaft durch dasjenige, was man ihr kolonisatorisches Pioniertum nennt, ihren idealistischen und nationalen Schwung, ihre großen moralischen Anstrengungen und zum Teil auch Leistungen, ein Piedestall geschaffen, das sie mit allen ihren geistigen und körperlichen Manifestationen über die Niederungen hinaushob, in denen sich das Leben der Bourgeoisie bisher übewiegend noch immer bewegte.“ […]

[5]) Es ist nicht uninteressant, daß die österreichische Delegation beim Basler Kongreß sich ganz zur radikal-nationalistischen Opposition schlug. Das hängt sicher damit zusammen, daß, wie ja auch die heurigen Nationalratswahlen wieder bewiesen haben, die Politik der österreichischen Sozialdemokratie alles, was wirklich echt und gehaltvoll an einer Volksbewegung ist, in ihren Schoß aufnimmt und darum allem anderen, was außerhalb ihrer bleibt, nur die Möglichkeit eines überhitzten Radikalismus läßt.

Gina Kaus: Die erotische Freiheit. (1925)

Nein, es ist immer noch nicht weit her damit. Meine paar Laster zum Beispiel werden stän­dig durch böswillige Vorurteile gestört.

„Hören Sie mal! Wenn Sie schon nicht die Frau sind, die alle Freiheiten genießt…?“

Nur schön langsam. Sehen Sie, eine meiner geheimen Leidenschaften ist es, an milden Abenden allein und langsam spazieren und meinen Gedanken nachzugehen. Diese Gedanken — ganz gleich was für Bedeutung sie allgemein haben mögen — sind für mich bezaubernd und wichtig; nach einer solchen einsam verbum­melten Stunde fühle ich mich wie von einer chronischen Vergiftung befreit, rein gespült, mutig — kurz, wie ein Mensch, der sein Laster genossen und der es zu genießen verstanden hat.

Aber ach, wie selten wird mir solche Stunde der Lust zuteil! Zeit? Oh, für sein Laster hat man immer Zeit. Ich hätte schon Zeit, so von zehn bis zwölf Uhr nachts über die Ringstraße oder durch den Stadtpark zu gehen. Ich fürchte mich auch nicht im mindesten vor den gemeinen Dieben, denn erstens trage ich nichts Wert­volles bei mir und dann vertraue ich dem Dieb, daß er es schon so geschickt einrichten wird, daß ich das Fehlende erst zu Hause als abwesend und nicht ihn im Park als anwesend bemerken werde.

Aber ich kann nicht anders, als den Strolch im Paletot zu bemerken, dessen Schatten schon seit zehn Minuten recht auffallend neben den meinen auf den erleuchteten Weg fällt, in meinem Ohr verstummt das intime Flüstern der Baumkronen und es ertönt das Wort des Menschen:

„Verzeihen Sie, Fräulein…“

Nein, ich verzeihe nicht. Ich sag’s Ihnen nicht, weil Sie es nicht verstehen, aber ich ver­zeih Ihnen nicht. So wenig, als Sie verzeihen würden, wenn Sie gerade bei Ihrem geliebtesten Mädchen wären und der Zimmerkellner ohne anzuklopfen einträte, um „verzeihen Sie, die Fenster zu öffnen“ Denn diese Sphäre des Stundenhotels ist wohl die einzige, in der Sie verstehen, was „Stören“ bedeutet, nicht wahr? Wie sehr Sie meine Nerven geschädigt haben, können Sie nicht wissen und wenn ich, um sie zu schonen und Ihrer  Anwesenheit ein Ende zu machen, „Nein“ antworte, dann bleiben Sie zurück mit dem Gefühl der schmerz­lichen Verwunderung, daß es trotz Frauenrecht und Revolution noch immer Mädchen gibt, deren Sittenkodex ihnen verbietet, mit fremden Herren zu promenieren.

„Warum denn nicht? Weil wir uns nicht kennen. Aber was tut das? Denken Sie sich, wir hätten uns bei einer Freundin…“

In diesem Fall tue ich genau dasselbe, was das Mädchen, dessen Sittenkodex  verbietet, sich von fremden Herren ansprechen zu lassen, täte, wenn ihre Tugend in Gefahr ist: ich laufe ein­fach davon.

Der Zwischenfall hat drei Minuten gedauert. Ich könnte weiter meinen Weg gehen, wäre ich nicht streitbar geartet, so daß ich, wenn ich, wie in diesem Fall, meine Ansichten nicht an den Mann bringen kann, um den Mann nicht näher an mich zu bringen, verflucht bin, ein­sam mit ihm zu streiten. Wenn er, der glück­liche leichte Schäker, schon längst, die kleine Niederlage vergessend zu einem anderen weib­lichen seinen parallelen Schatten wirft, plag‘ ich mich noch damit, ihm zu erklären, daß ich weder Fräulein noch sittsam sei, daß aber die Freiheit, die ich mir heute abend nehmen will, die ist, von ihr, die ich in weit größerem Maße besitze, als er sie einer ihm nahestehenden Frau einräumen würde, keinen Gebrauch zu machen. Unmöglich kann einer das verstehen, der es ein anderes Mal mit der Formel versucht:

„Warum so allein?“

Eine Welt von Mißverständnis in drei Worten. Abgesehen davon, daß er annimmt, der Grund meines Alleinseins liege außerhalb meiner Person, in der Nichtbeachtung, die sie, ihn ausgenommen, bei anderen findet — er tut auch ganz harmlos, als habe er ein Recht auf Beantwortung dieser Frage, wenn merk­würdigerweise ein anderer Grund vorliegen sollte. Nicht streiten! Vorwärtseilen, vergessen, — aber an das entsetzte Ohr trägt der Wind noch die Worte:

„Eine so schöne, junge Dame, wie Sie…!“

Jetzt bin ich versorgt. Eine Stunde lang habe ich damit zu tun, dem Esel zu erklären, daß er einer sei: „Herr, glauben Sie denn wirklich, ich wüßte nicht, daß ich „schön“ bin?

Seit 15 Jahren — denn so jung bin ich nun wieder nicht— seit 15 Jahren habe ich es täg­lich gehört und meist bei ähnlich unpassenden Anlässen. Wenn ich kein Geld hatte und um Arbeit fragte, sagte man mir: „Eine so schöne, junge Dame, wie Sie…!“ Wenn ich in einem

Geschäft den Preis einer Ware, die mir gefiel, zu hoch fand: „Eine so schöne, junge Dame, wie Sie…!“ Wenn ich in Gesellschaft trotz bester Vorsätze mich in eine Debatte einließ: „Eine

so schöne, junge Dame, wie Sie…!“ Längst weiß ich, daß dieses, von mir gewiß nicht bestrittene Faktum, den anderen weit öfter zur Waffe gegen mich dient, als mir zur Waffe gegen die anderen. Und in allen diesen Fällen wäre das Ende dieses Satzes (wenn es nicht seine Bestimmung wäre, kein anderes als..! zu haben) eine Beleidigung oder ein ebenso grober Denkfehler. Sie zum Beispiel, mein Herr Esel, wollen ja gar nicht sagen, eine „so schöne, junge Dame“ schulde jede Stunde ihres Lebens der Menschheit, sondern sie wollten sich wundern, daß die Menschheit ihr eine Stunde schuldig blieb. Sie wissen also nicht einmal aus Er­fahrung, daß nichts auf der Welt so minder ist, daß es nicht einen geeigneten Partner fände, und daß keinen solchen zu haben, den Gedanken nahe legt, man sei nichts als sich selbst zu suchen in den Park gegangen.

„Aber alle diese Geschichten sind überflüssig. Wenn eine Dame sehr schnell geht und mit unnahbarem Gesichtsausdruck — “

Halt! Ich sagte doch eingangs, daß ich langsam spazieren gehen will, eben nicht wie eine Dame, die gezwungen ist, einen Einkauf zu machen, sondern wie eine, die zu ihrem Vergnügen spazieren geht. Ich will nicht schneller gehen, als meine Lunge atmet, denn nur so kann ich zum Bewußtsein des Geruches der Luft kommen, der in jeder Jahreszeit anders ist. Und ich will im Takte meiner Gedanken gehen, die unregelmäßig sind und manchmal gerne lächelnd oder traurig bei irgend was verweilen. Ich bin auch manchmal sehr müde nach einem Tag der Arbeit. Und dann will ich eine Viertelstunde in eine schöne Auslage sehen können, ohne zu wissen, was drinnen ist, und ich will einen Baum ansehen und nachdenken, woran er mich erinnert und ich will die Sterne ansehen dürfen. Wissen Sie, daß eine alleingehende Frau niemals gründlich die Sterne ansehen darf? Aus Angst, daß sich wieder ein Lausbub findet, der fragt:

„Fräulein, haben Sie dort oben was ver­loren?“

Dies geschah, als ich 15 Jahre alt war. Seither — und es ist lange her, obwohl mir jene Sorte noch immer „Fraulein“ sagt — denke ich über eine passende Antwort auf diese rhetorische Frage nach.

Mit dem Schnellgehen ist es also nichts, und was das „unnahbare Gesicht“ betrifft, so würde es mich weit mehr stören, als die anderen (so wie ich mich auch nie entschließen kann, Sal­miak gegen Mücken zu benützen, weil ihnen der Geruch keinesfalls unausstehlicher sein kann als mir). Ich verlange das Recht jedes Staats­bürgers, den meiner jeweiligen Stimmung // entsprechenden Gesichtsausdruck durch die Straßen tragen zu dürfen. Bitte, sagen Sie nicht, ich dürfe ja, müsse aber dann gegenwärtig sein, denn das ist ja genau das, was ich sage: daß ich eben nicht darf, solange jene dürfen.

„Aber Sie unterbinden den Zufall. Glauben Sie nicht, daß man auf diese improvisierte Weise die angenehmsten Bekanntschaften — “ erstens, ich glaube es nicht. Denn die paar Menschen, die ich angenehm finde, würden kaum eine Dame ansprechen, aus Rücksicht auf diese und auf die eigenen Nerven, mit denen sie ungern den Zufall ein Tänzchen wagen ließen. Diese Menschen suchen auch gar keine Aben­teuer, sondern leben wie ich im Kampfe mit der Überfülle des Abenteuerlichen, das dem fühlenden Menschen jeder Lebensaugenblick zu­trägt. Und in diesem Sinne zweitens: ich suche gar keine angenehmen Bekanntschaften. Das wundert Sie wieder, denn Sie dachten, ich sei eine „freie Frau“. Und nun glauben Sie, ich habe doch irgendwo verborgen jenen Sittenkodex, der verbietet — aber was erlauben denn Sie? Sie geben Freiheit mit der Ver­pflichtung, sie dauernd zu genießen, immer zu genießen, zu genießen. Ich aber halte diese „Genüsse“ nur für kleine Freiheiten, die man sich nehmen muß, wenn man die wirkliche, die einem aber auch Ungestörtheit sichern soll, nicht hat. Das glauben Sie aber nicht, denn seit Sie die Frauen nicht mehr für keusche Heilige hal­ten, warten Sie stündlich darauf, daß der Urwald einbricht, und sind überzeugt, daß der entfesselten Bestie keine Gelegenheit zu schlecht ist, sie zu ergreifen.

Meine Herren, wenn Sie wüßten, wie be­scheiden die Tigerinnen sind! Sie ergreifen bloß, was sie ergreift oder was sie zu fressen gewillt und imstande sind. Nur die Wanzen und die Eitelkeit sind unersättlich.

In: Der Tag, 14.8.1925, S. 4-5.

P. Haller: Neuere jüdische Erzählungskunst. (1926)

Die jüdische Literatur war wie jedes ursprüngliche Schrifttum prägnantester Ausdruck der spezifischen Lebensformen jenes jüdischen Volksteiles, dem sie entsprang und dem sie galt. Form und Stoffgebiet waren in unvergleichlichem Maße Produkt dieser Lebensform, in sich alles einschließend, was diese einschloß. Die konkreteste jüdische Lebenswirklichkeit war ihr Element und ihre Beschaffenheit. Die Abnormalität der sozialen Struktur konnte für einen Mendele Mocher Sfarim

Triebkraft zu einer Kopierung geben, die sich zu höchster künstlerischer Präzision gestalten sollte, den Weg ebnend zu jener eigenartigen Verinnerlichung und Auslösung letzter schöpferischer Potenz eines Schalom Alejchem oder der im Jüdisch-geistigen basierenden Kraft eines Jizchok Lejb Perez.

             Von Mendele über Scholem Alejchem zu Perez (darin liegt kein Wertmaß, welches den dritten über die beiden anderen stellt oder umgekehrt) ist eine natürliche Entwicklung, wie auf A B und C folgen. Diese drei waren eine Einheit. Die jüdische Literatur jenes grundlegenden Abschnittes hatte alle Merkmale gesunder Entwicklung und fester Zielsicherheit, von der Skizze, die um der Tendenz willen da war, zur psychologischen Erfassung jüdischen Wesens, am Exempel jüdischen Lebens gezeigt. Die Reise Benjamins des Dritten (Mendale), Menachem Mendel und Toiwje der Milchmann (Schalom Alejchem), die chassidischen und volkstümlichen Geschichten (Perez) waren Gipfel künstlerischer Durchdringung eines Lebens, das war…

            

Die unausbleibliche Folge nach einer solchen Spitzenleistung bei der Statik jüdischen Lebens in Osteuropa schien entweder dürftiges Epigonentum oder revolutionäre Abkehr von der Wesensform und dem Stoffgebiet hervorrufen zu müssen, was ohne Zweifel das Todesurteil für die jüdische Literatur bedeutet hätte, angesichts einer notwendigen krassen Entfernung vom Volksganzen. Für die jüdische Literatur gab es keine Alternative. Mit dem Volk wie die drei, oder überhaupt nicht! Zu ihrem Glück ging die Revolutionierung nicht von ihr, sondern vom Volk aus, wie es ja auch Kraft der Eigentümlichkeit des Galuthdaseins und der abnormalen soziologischen Bedingung verständlich ist, daß nicht sie das Volk trägt, sondern vom Volke getragen wird. Der einsetzende Prozeß der Halbassimilation, der durch den Bruch mit dem religiösen Traditionalismus weite Kreise des Ostjudentums er­faßt hatte, schuf eine Stimmung der Gärung, die wohl der Dynamik entbehrte, aber in gewissen Grenzen einen neuen epischen Ansatz ermöglichte. Dessen Stoffgebiet mußte freilich die Konfrontation des Gewesenen mit dem Werdenden sein. Jene Schriftsteller, deren Werke diesen Gärungsprozeß zum Inhalt haben, sind nicht gering an Zahl. Gemein haben sie alle, daß sie die Brücke von der Form der sprunghaften Skizze oder des einer einheitlichen Fabel entbehrenden Romans zur europäischen Form der Novelle und des Romans mit konzentriertem Inhalt schlugen.

Die Revolutionierung der Form war ohne besondere Erschütterung der notwendigen Kontinuierlichkeit gelungen und einer neuen Emotion angepaßt. Der Gefahr, dem Einfluß anderer Literaturen völlig zu unterliegen, wurde vom Leben selbst begegnet, da die inneren und auch noch äußeren jüdischen Bedingungen immerhin anders waren, so daß die Beeinflussung im wesentlichen über das Formelle nicht allzu sehr hinausging.

L. Schapiro und David Bergelsohn sind die bedeutendsten Erzähler dieser für die neuere jüdische Literatur wichtigen Epoche, die mit den politischen Wirren in Rußland zu Anfang des Jahrhunderts beginnt und im großen und ganzen mit dem Ausbruch des Weltkriegs ihr Ende findet.

Beide Schöpfungen sind von dauerndem Wert in der künstlerischen Bewältigung der Probleme einer Übergangsepoche, die man für das seitdem Gewordene, die neue Formierung und neue Orientierung des jüdischen Volkslebens, nicht wegdenken kann. Der eine, L. Schapiro, entrollt machtvolle Bilder von der Wirkung der damaligen russischen Geschehnisse (Revolution und Pogrom) aus den jüdischen Menschen und vom Rückzug des letzteren von per Front der blinden Weltbeglückung zur Selbstbesinnung (die Novelle Der Zelem). In David Bergelsohns Roman Nuch alemen, in den Novellen Arim Wugsal und In a fargrebter schtut erscheint in einmaliger Plastik diese ganze gärende Stimmung einer irregewordenen Gemeinschaft, die wehmütig Abschied nimmt von jahrhundertelangen Lebensformen, deren Werte für sie keine Werte mehr sind, die sich nach Neuem, Anderem sehnt und das Neue, Andere fürchtet, deren Konflikt die absterbende Kultur ist, die ihre eigene war und einer neuen, fremden, ungewollt-gewollten Platz macht. Ihr Stempel ist die dumpfe Ungewißheit dessen, was kommt und die zermürbende Gewißheit, die letzten einer langen

Ahnenreihe zu sein. Bergelsohns wehmutumflossene, nie sentimentalen Menschen agieren als oder vielmehr sind passive Objekte von Erlebnissen, deren Konflikte die Konflikte einer Gemeinschaft sind. Sie, ihre Exponenten, sind mimosenhaft empfindsam und müssen am Milieu zugrunde gehen, weil das Milieu zugrunde geht.

Die in diesen Jahren vollzogene innere Umstellung der Ostjudenheit, das Sichanklammern an die Rettungsanker des politischen Nationalismus und des national-orientierten jüdischen Sozialismus, die, immer tiefer ins Volk dringend, Äquivalente wurden für einen brüchig gewordenen religiösen

Die in diesen Jahren vollzogene innere Umstellung der Ostjudenheit, das Sichanklammern an die Rettungsanker des politischen Nationalismus und des national-orientierten jüdischen Sozialismus, die, immer tiefer ins Volk dringend, Äquivalente wurden für einen brüchig gewordenen religiösen Traditionalismus, waren für die weitere Entwicklung der jüdischen Erzählungsliteratur von außerordentlicher Wirkung.

Der Verweltlichungsprozeß zog einen immer weiteren Kreis und erreichte während des Krieges und nach seinem Abschluß seinen Höhepunkt, so daß in der Struktur des inneren jüdischen Lebens eine Wandlung in der Richtung der Angleichung der geistigen Situation mit der der anderen Völker Platz griff. Es ist der Zeitpunkt für die Probleme eines Kulturkampfes gekommen, ähnlich dem der anderen Völker, verstärkt nur noch durch die Besonderheiten, die der Kampf um Sein oder Nichtsein des jüdischen Volkes mit sich bringt.

Dies und der allmähliche Eintritt des jüdischen Amerika in die Sphäre des jüdischen Kulturschaffens brachten eine neue Orientierung der jüdischen Erzählungskunst, von der eine Reihe beachtenswerter Talente Zeugnis ablegt.

In: Wiener Morgenzeitung, 16.3.1926, S. 3.

[Jonas Kreppel]: Deutschösterreich und die Juden. (1918)

             An Stelle des alten Österreich ist nun die Volksrepublik Deutschösterreich getreten. Die bewährte Loyalität der Juden verbietet es ihnen, denjenigen heute Steine nachzuwerfen, denen sie gestern in Treue und Anhänglichkeit zugetan waren. Eben diese Loyalität gebietet ihnen aber, dem neuen Staate dieselbe Treue und Anhänglichkeit zu bewahren sowie dessen Wohl zu wünschen und zu fördern. Deutschösterreich kann auf seine jüdischen Bürger jederzeit rechnen.

             Als demokratisches Element par excellence paßt sich die Judenheit der Neuordnung der Dinge an, die infolge der jüngsten Ereignisse eingetreten ist und sie wird sich bemühen, an der Konsolidierung und Stabilisierung der Verhältnisse mitzuwirken. Sie erwartet aber auch, daß der neue Staat seinem Namen und seinen Aufgaben gerecht werden und allen seinen Bürgern ohne jeden konfessionellen Unterschied alle Entwicklungsmöglichkeiten, Freiheiten und Gerechtigkeiten bieten wird.

             Freilich, wie bei jeder Gelegenheit, taucht auch schon jetzt in Deutschösterreich die Judenfrage in einer gewissen Form auf. Gelegentlich der Diskussion über das Gesetz betreffend das deutschösterreichische Staatsbürgerrecht, wurde diese Frage im Nationalrate gestreift. Die näheren Details der Vorlage sind nicht genau bekannt; aber aus dem Verhandlungsberichte ist beiläufig zu ersehen, um was es sich eigentlich handelt. Der diesbezügliche Bericht lautet:

             „Hierauf wird das Gesetz über das deutschösterreichische Staatsbürgerrecht in Verhandlung gezogen. Berichterstatter Dr. Ofner legt den Inhalt der Vorlage dar und empfiehlt, sie der Ausschußberatung zuzuweisen. Abg. Wolf beantragt, im § 1 statt der Worte „sich zur deutschen Nationalität bekennen“ zu setzen „der deutschen Nationalität zuzugehören“. Zu § 2 beantragt er folgenden Zusatz: „In die Zeit, durch deren Ablauf gemäß § 2 des Gesetzes vom 5. Dezember 1896 der Anspruch auf Zusicherung der Aufnahme in den Heimatsverband erworben wird, ist der Zeitraum [der] vom 1. August 1914 bis zur Kundmachung dieses Gesetzes nicht einzurechnen. Insofern zum Antritt oder zur Ausübung eines Gewerbes oder einer Beschäftigung die deutschösterreichische Staatsbürgerschaft erforderlich ist, muß die Zusicherung der Aufnahme in den Heimatverband jener Gemeinde erlangt werden, in welcher das Gewerbe oder die Beschäftigung ausgeübt wird.“ Berichterstatter Dr. Ofner verweist darauf, daß die Frage, welcher Nationalität jemand angehöre, wenn man das Bekenntnis ablehne, eigentlich in der Luft schwebe, Über einige vom Abg. Wolf gemacht Ausfälle gibt er dem Bedauern Ausdruck. Die Vorlage wird dem Justizausschuß zugewiesen.“

             Es ist klar, daß hierbei die Staatszugehörigkeit der in Deutschösterreich zur Zeit sich aufhaltenden Juden in Betracht kommt. Die Stellung Wiens als eines politischen und wirtschaftlichen Zentrums des Reiches brachte es mit sich, daß daselbst sehr viele Juden wohnen, die nach den anderen Kronländern der gewesenen Monarchie zuständig sind. Im alten Reiche fiel dieser Umstand wenig ins Gewicht und hatte höchstens für Wien die Bedeutung einer lokalen Frage. Nunmehr aber erhält die Sache ein anderes Gesicht. Alle diejenigen, die nach Galizien, der Bukowina, Böhmen, Mähren ec. zuständig sind, können formell als Ausländer gelten und wie es scheint, fehlt es im Lager der extremen Nationalisten nicht an Stimmen, diesen Juden gegenüber derart vorzugehen.

             In Wirklichkeit jedoch wäre dies eine himmelschreiende Ungerechtigkeit und sachlich kaum zulässig. Der deutschösterreichische Staat ist der Rechtsnachfolger der bisherigen Monarchie, deren Aktiven und Passiven er bis zu einem gewissen Grad übernimmt. Die in Wien lebenden Juden waren bisher österreichische Bürger, und hatten trotz ihrer lokalen Zuständigkeit mit den neu entstehenden Staaten nichts zu tun. Ein großer Teil derselben wäre kaum nach Wien gekommen, wenn diese Stadt nicht das eigentliche Zentrum des Staates wäre, dessen Bürger sie waren. Sehr viele unter ihnen sind ihrer eigentlichen Heimat ganz entfremdet und würden es geradezu als Unglück empfinden, dorthin zurückzukehren und sich unter ganz unbekannten Verhältnissen eine neue Existenz gründen zu müssen. Von Rechts wegen müßte also all diesen bisherigen österreichischen Bürgern das Optionsrecht für Deutschösterreich zugestanden werden. Wir wollen hoffen, daß der Nationalrat sich diesbezüglich von keiner kleinlichen Engherzigkeit leiten lassen und diejenigen in die Schranken verweisen wird, die die Schaffung des freien Volksstaates mit Ausnahmebestimmungen und konfessioneller Hetze diskreditieren wollen.

             Die Wolf und Konsorten mögen ihrerseits bedenken, welches Unglück sie mit ihrer nationalistisch-chauvinistischen Politik über ihr eigenes Volk gebracht haben und endlich einmal dieser Taktik entschlagen. Deutschösterreich soll und muß im wahren Sinne des Wortes ein Volksstaat sein.

In: Jüdische Korrespondenz, 14.11.1918, S. 1.

Boykott österreichischer Schriftsteller in Deutschland. (1933)

             Namens des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller in Österreich richtete vor einigen Tagen der Vorsitzende des Verbandes, Oskar Maurus Fontana, ein Schreiben an die österreichische Gesandtschaft in Berlin, in dem es unter anderem heißt: 

             Wie aus Zeitungsberichten zu ersehen ist, hat die deutsche Reichsregierung in letzter Zeit sich wiederholt gegen den Boykott im Wirtschaftsleben gewandt und ihn an manchen Orten untersagt, mit der Begründung, „daß in einem solchen Vorgehen eine öffentliche Beleidigung, eine versuchte Nötigung oder gar Erpressung gesehen werden kann“. Was für das Wirtschaftsleben gilt, muß auch für das Geistesleben seine Berechtigung haben.

Nun wird gerade in den letzten Wochen in verschiedenen deutschen Zeitungen, unter anderem auch im „Börsenblatt“ des deutschen Buchhandels, gegen österreichische Schriftsteller zum Boykott aufgefordert, unter dem Vorwande, sie seien als Österreicher Deutschfeinde. Diese Aktion bezieht ihr Material zum größten Teil von österreichischen, in letzter Zeit nach Deutschland übergesiedelten Schriftstellern.

             Der Schutzverband deutscher Schriftsteller in Österreich findet es unter der Würde des Standes, sich mit einem solchen Vorgehen, das sich selber richtet, weiter zu beschäftigen und überläßt das Urteil darüber getrost jedem Menschen, der sich sein moralisches Bewußtsein bewahrt hat.

             Etwas anderes ist aber der angedrohte und in einigen Fällen auch zur Ausführung gelangte Boykott, dem österreichische Schriftsteller in Deutschland zum Opfer gefallen sind, Sie zu schützen, ist um so mehr unsere Pflicht, als alle diese Verdächtigungen auf schlechte, übelwollende Informationen zurückzuführen sind. Wir wagen zu behaupten:

Kein österreichischer Schriftsteller (die oben erwähnten „Gebärdenspäher und Geschichtenträger“ ausgenommen) hat sich gegen die deutsche Kultur vergangen; die deutsche Kultur kann darum keinen österreichischen Schriftsteller ausschließen.

             Der S.D.S.Ö ersucht Sie verehrter Herr Gesandter, im Propagandaministerium, in der Reichsschrifttums-Kammer und in der Reichspresse-Kammer in diesem Sinne vorstellig zu werden und dahin zu wirken, daß solche Ächtungen, in welcher Form immer sie erfolgt sein mögen, aufgehoben werden. Der S.D.S.Ö. ist bereit, jenen ihm zur Kenntnis gebrachten einzelnen Fall gemeinsam mit den österreichischen offiziellen Stellen zu untersuchen und aufzuklären. Anderseits darf erwartet werden, daß der von unverantwortlichen Personen eingeleitete und geführte Boykott österreichischer Schriftsteller in Deutschland ehestens zum Stillstand gebracht werde.

In: Der Tag, 10.12.1933, S. 6.

Oskar Maurus Fontana: Zum neuen Theater. (1921)

Das Theater erlebt eine Zeitwende, Abgelebtes gespenstert noch herum, Neues bracht es erst zu Frühgeburten oder Siebenmonatskindern. Aber wie der Schoß der Zeit kreißt, so kreißt auch der Schoß des Theaters. Was wird er gebären?

    Antwort darauf kann nur die Generation der Zwanzigjährigen, der Dreißigjährigen geben. Sie kommt aus dem Alten, sie marschiert zum Neuen. Sie sammelt sich in der Forderung „Neue Bühne“, 1921, herausgegeben von Hugo Zehder im Verlage Rudolf Kämmerer in Dresden. Viele Stimmen, manche mit Lunge, manche ohne Lunge, Sprecher und Stotterer, rein und klar Denkende und auch die Spezies der Tintenfische, die bei der Verfolgung ihrer Gedanken einen alles verdunkelnden Sepiasaft ausspritzen. Wichtig aber bleibt, hier stehen Menschen für eine Generation, weil sich mit ihnen das Schicksal der neuen deutschen Schaubühne erfüllen wird. Was diese verschiedenen Köpfe, aus verschiedenen Zonen kommend (denen der Regie wie der Dichtung, wie der Kritik) eint, ist die Forderung: Das Theater soll wieder allgemein Gut // (res publica), wieder aus einem ästhetischen Problem eine Tribüne des Geistes werden. Die Situation von heute gibt Hugo Zehder in einem mit sicherer Hand geführten Querschnitt. Er stellt fest: „Es ist erreicht, dasß das Theater ein Jahrzehnt hinter den anderen Künsten zurückgeblieben und das Reproduktive statt des Schöpferischen in bejammernswerter Weise hervorkehrt.“ Robert Müller sieht die Wiedergeburt des Theaters aus dem Geist der Komödie, weil in ihr der amor fati gelehrte werde, in ihr sich die uns unentbehrliche Synthese von Natur und Reflexion vollziehe. Proletarisches Theater, Volksbühne scheinen anderen die nächsten Wege. Ihr bester Sprecher ist Ludwig Berger: „Dann (wenn der Schauspieler seine absichtliche Spezialität aufgibt, wenn der Schauspieler untertauchen lernt in die Tiefzonen dichterischer Schöpferkräfte, wenn der Dichter untertauchen lernt in die Körperschaft seiner Mittler-Menschen), dann kann – o läge es doch im organischen Kreislauf der Entwicklung vorbestimmt! – die Volksbühne, die „Jeder-Mensch-Bühne“, von innen nach außen lebendig werden!“ Aber er schließt seine Vision skeptisch: „Wären wir erst so weit, auf dem Nullpunkt reinlich zu beginnen!“ Diesen reinlichen Beginn wollen auch die anderen Mitarbeitenden, wollen ihn mit ihren Kräften, ob sie nun über den Schauspieler, den Regisseur, den Dramaturgen, die Wanderbühne, den Theaterkritiker, das Publikum sprechen, aber zum Wesentlichen, zu den Schalen des Wesentlichen scheinen mir außer den genannten nur noch Berthold Viertel, der den Regisseur des neuen Theaters anschaulich macht, und Carlo Mierendorf vorzudringen, der sehr klug über Wandertheater und Schmiere spricht: „Sich um das Wandertheater bemühen, ist als Sonderart des Theaters vor allem eine Sache kultureller Verantwortlichkeit.“ Über „Dekoration“ spricht keiner, sprechen alle, weil keiner mehr Dekoration auf dem Theater sehen möchte, weil jeder dieser Zwanzig- und Dreißigjährigen auch den Hintergrund aus der illustrativen Dekoration in das auszudeutende Wesen des Dramas einbezogen wissen möchte. Die Abbildungen nach Inszenierungen und Szenenentwürfen von Ludwig Berger, Gustav Hartung, Oskar Kokoschka, Paul Legband, Karlheinz Martin, Bertold Viertel, Richard Weichert, Robert Neppach, Emil Birchan [sic!], Ludwig Sievert gehören zum Wertvollsten des Buches, weil sie den reinlichen Beginn des neuen Theaters auf dem Nullpunkt des alten am sichtbarsten, offensichtlichsten zeigen.

             Herbert Ihering gesellt sich diesem Kreis als einzelner, er ist von ihm durch minder tropische Art der Einstellung und Diktion geschieden, er ist mit ihm durch die leidenschaftliche Bejahung der neuen Bühne verbunden. Sein Buch Regisseure und Bühnenmaler (im bibliophilen Verlag O. Goldschmidt-Gabrielli, Berlin-Wilmersdorf, 1921) ist in seinen Porträts, die es von den führenden deutschen Theatermenschen entwirft, fast in allen Einzelheiten verneinend, aber selten wird sich eine Schrift finden, die so geeint ist durch das // unsichtbare Ja, das durch alle Nein hindurchschreit. Das Nein gilt allen Halben, allen Kompromißlern, allen Machern, allen Verwässerern großer Ideen, allen Stilisten, allen Illustratoren. Er wird nicht müde, immer neue Typen als abschreckende Beispiele vorzuführen. Er tut das, was Pazaurek auf dem Gebiet des Kunsthandwerks tat: Indem er zeigt, wie es nicht gemacht werden soll, um zu zeigen, wie es gemacht werden muß. Daß es so gemacht werden muß, ist sein inbrünstiger Glaube. Zusammendrängung, Akzentuierung, Rhythmus – das ist ihm (und uns) das neue Theater und seine eifernde Liebe peitscht vorwärts, damit es „nicht nur seelisch-musischer Ausdruck geistiger Dramaturgen, sondern auch Blutwille sinnlicher Komödianten“ werde. Seine wesentliche Entdeckung ist, daß der romantische  Impressionismus Reinhardts ebenso in der Wirklichkeit blieb, wie der naturalistische Impressionismus Brahms. „Eine bunte Wirklichkeit ist so gut eine Wirklichkeit wie eine graue. Das antinaturalistische Theater beginnt in Wirklichkeit erst heute, weil jetzt erst das Gesetz der Ähnlichkeit dem Gesetz der Energie gewichen ist. Weil jetzt erst der Maßstab der Kunst aus ihr selbst, aus ihrem rhythmischen Gleichgewicht und nicht aus der Kontrolle von Vorlagen und Motiven der Realität gewonnen wird“. Herbert Ihering ist Regiekritiker, was den Deutschen bis Siegfried Jacobsohn fast ganz fehlte. Jacobsohn ist der Anschauende, der Peter Altenberg der Regiekritik, überschwenglich im Lob, überschwenglich im Tadel. Aber man mochte zehn Berichte über Jeßners Regie von Richard III. lesen, erst beim elften, bei Jacobsohn wußte man, wie es war, gewann man ein Bild. Ihering führt das so gewonnene Regiebild in die Tiefe, er gibt ihm die dritte Dimension, er ist nicht nur Analytiker, er ist Synthetiker, er führt die Regiekritik aus der impressionistische abmalenden Nervosität Jacobsons in einen architektonischen Aufbau. Auch in ihm drängt das Gesetz der Energie: Zusammenballung, Akzentuierung und Rhythmus, denn keiner sucht etwas draußen in der Welt, was er nicht bereits innen, in sich selber hat.

In: Der Merker, II/1921, S. 282-284.