Karl Federn: Lion Feuchtwangers „Jud Süß“ (1925)

Vor hundert Jahren hat Wilhelm Hauff die Geschichte des jüdischen Finanzministers des Herzogs Karl Alexander von Württemberg, Josef Süß Oppenheimer unter dem Titel Jud Süß in einer seiner zartlinigen Novellen behandelt. Unter dem gleichen Titel, dem Namen, mit dem das Volk den glänzenden und verhaßten Mann bezeichnete, hat jetzt Lion Feuchtwanger einen Roman veröffentlicht.

Wilhelm Hauff lebt in seinen prächtigen und farbenreichen Märchen fort, während seine Novellen uns heute wie sauer gezeichnete, mit kalten Farben und Schatten ausgeführte und ein wenig vergilbte Skizzen anmuten. Sein Roman Liechtenstein ist ein hübscher Bilderbogen für die Jugend. Die historische Erzählung stand durch die ganze erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts und länger unter dem Einfluß Walter Scotts. Es war eine theatralisch äußerliche Auffassung und Darstellung der Ereignisse. Die unsägliche Fülle, die außerordentliche Kompliziertheit der Vorgänge in der eigenen Zeit begann man zu fühlen; Balzac, der Schöpfer des modernen Romans, stellte sie dar; für die Vergangenheit erlaubte man sich eine sonderbare Vereinfachung: ein wenig Pathos und Kostüm genügte.

Seither hat die historische Forschung durch die Erschließung und Beobachtung einer Fülle früher  unbeachteter Quellen und Dokumente die vergangenen Geschlechter in ihrem intimsten Leben gleichsam beobachten gelernt; und die Dichtung, der ja die Vergangenheit als Stoff nur durch die Geschichte vermittelt wird, müßte ihr folgen und stellt sie heute mit ganz anderer Erkenntnis dar. Wir erkennen die tiefe Gleichheit, die uns mit den Menschen, die vor uns waren, verbindet, mit denen wir alle Urtriebe gemeinsam haben, Hunger, Liebe, Ehrgeiz, Rachsucht und Habgier und die anderen Lüste sowie die natürlichen und die kosmischen Ereignisse Geburt, Tod und Krankheit, Land und Meer und den Wechsel der Jahreszeiten, die immer gleich wichtig und mächtig über unser Dasein bestimmen. Zugleich aber haben wir die unendliche Verschiedenheit in en Formen des

Lebens und im Ausdruck von jetzt und einst schärfer erkannt. So haben wir im Spiegel der psychischen Komplikationen unserer eigenen Zeit die der Vergangenheit verstehen gelernt, und wir stellen heute die Menschen und Ereignisse vergangener Jahrhunderte mit ganz anderen Farben dar und suchen diesen Darstellungen eine viel intimere und wahrere Stimmung zu geben als jene mit ein wenig Kostüm und Pathos geschaffene, die vor fünfzig Jahren üblich war. Das Abblassen und Schönfärben in der Literatur hat aufgehört. Und so wie wir in unserer eigenen Zeit gefährliche Unterströmungen erkannt haben und nicht verschweigen, so kennen wir heute die wirklichen Schrecken der Vergangenheit, die früher hinter den Kulissen und Vorhängen des pathetischen Theaters verborgen blieben: Und es verlangt heute fast eine größere Intuition und Begabung des Dichters, die Vergangenheit künstlerisch vor uns auferstehen zu lassen, als die Gegenwart zu schildern, wobei so häufig eine billige Beobachtung an die Stelle schöpferischer Phantasie tritt und so wenig wie der photographische Apparat die Kunst ersetzen kann.

             Feuchtwanger läßt eine ganze Epoche vor uns auferstehen. Wo Hauff eine kurze tragische Szene mit ein wenig Kostüm darstellt, gleichsam eine Skizze mit ein paar Schatten und Lichtern hinsetzt, da entrollt der Autor unserer Zeit ein breites Gemälde, läßt Fürsten und Völker, die Schicksale der einzelnen wie die der Massen in tragischer Verkettung vor unseren Augen sich entwickeln. Sein Stoff, in diesem Falle die Vorstellungen von einem vergangenen Leben, die er aus Büchern gewonnen, und durch sein dichterisches Schauen und die in eigener Erfahrung erworbene Menschenkunde belebte, ist nicht nur die Geschichte und die Tradition von dem fragwürdigen jüdischen Finanzminister, sondern die Welt des achtzehnten Jahrhunderts, oder doch ein Teil dieser Welt, die süddeutschen Kleinstaaten des Rokokos. Württemberg, seine Fürsten, seine Stände und sein Volk in ihren Kämpfen um die Verfassung, die benachbarten Reichstädte und Bischöfe; Katholiken und Lutheraner in ihren Gegensätzen; Weltleute und Pietisten, Beamten und Offiziere und dazwischen als seltsame fremdartige bewegliche und bewegende Gestalten die Juden, gehaßt, verfolgt und mächtig in alles tief verwickelt und verstrickt durch die Fäden des Geldes, die so vielfach durch ihre Hände gehen. Diese alle tauchen auf aus der Masse des Volkes und versinken wieder im Volk, das wie zu allen Zeiten das Opfer der wenigen Gewalthaber ist, die, stark und listig oder unbewußt, es zu ihren Zwecken trügen, treiben und ausbeuten und deren williges oder murrendes Werkzeug es selber ist. Das lebt und brodelt vor unseren Blicken auf allen Straßen, in Fürstenschlössern in Bädern und auf den Marktplätzen der Städte, in Kramläden, Wirtschaften, Kirchen und Synagogen, wie in einsamen Winkeln des weiten Landes.  Und auf dem Hintergrund dieser ameisenartig durcheinander kribbelnden Masse treten scharf umrissen, durch das kreisende Räderwerk der Ereignisse alle unentrinnbar mit einander und mit ihrem Hintergrunde verflochten, die einzelnen in ihren Sonderschicksalen hervor, vor allein der dem Buch den Namen gab, der geschmeidige, elegante, lebensgierige Halbjude Josef Süß Oppenheimer, unerhört begabt, ehrgeizig, oberflächlich, frevelhaft gewissenlos und doch anziehend durch seine Kühnheit und seine Tragik. Und neben ihm der Herzog Karl Alexander in seiner stattlichen Wüstheit, seiner falschen — Biederkeit und so viele andere Männer und vor allem auch Frauen jeder Art, Fürstinnen, Maitressen, Bürgerfrauen und Mädchen bis zum armseligsten Schlammgeschöpf hinunter, eine ungezählte, glänzend gesehene, glänzend beherrschte Komparserie, die man nicht, sie aus dem Buch heraushebend, nachzeichnen kann, wie das lebendige Leben sich darstellen, aber nicht kritisch charakterisieren läßt.

Ob die geschichtlichen Vorgänge sich so abgespielt haben, ob Feuchtwanger, wie er als Dichter durfte und mußte, das Räderwerk zu seinen Zwecken eingestellt und verschoben hat, ist gleichgültig; genug, daß er uns zwingt, was er erzählt, // zu sehen und zu glauben. Als ein wesentliches Moment geht der Gegensatz und die Wechselwirkung von Juden und Christen durch das Buch, die darzustellen so oft versucht wird und so selten gelingt. Hier gelingt es, weil es mit gelassener Kunst, gleichsam absichtslos geschieht. Das Pathos wie der Humor im Spiele der Rassen, die wenige Herrlichkeit und die viele Gemeinheit und Niedertracht in den Menschenseelen, und doch auch das Süße und vor allem das Mitleidswürdige ihres Wesens und Daseins ist voll zum Ausdruck gebracht. Und während dieses ganze bunte Welttheater, auf der einen Seite gesehen, in Regierungsintriegen, Geschäften, Prozessen, Liebeshändeln, in erklärlichen Zusammenhängen verläuft, so fällt mitunter, wenn der Vorhang oder die Kulisse sich zu verschieben scheint, plötzlich ein Ausblick in die geheimnisvolle Welt dahinter, wo unsichtbare und unbekannte Mächte das Ganze an magischen Fäden zu schieben und zu leiten scheinen.

Das Buch ist in einer starken und gesunden Sprache geschrieben, die weder gesucht noch verzerrt ist und doch keinen Augenblick leer oder gewöhnlich wird. Die Sätze sind durchblutet und übervoll an Inhalt; jeder fügt ein Geschehnis, eine Farbe, einen Sinn hinzu; keiner ist Füllsel, jeder ist notwendig. Die Handlung geht stark und unaufhaltsam vorwärts, ohne Stillstand, ohne Länge. Gern bezeichnet Feuchtwanger seine Personen mit ein paar bestimmten, scharf gewählten Worten, die ihr Wesen oder ihre Erscheinung kennzeichnen, und die, jedesmal wiederholt, den Eindruck beständig verstärken und die einzelnen Figuren so plastisch hervortreten lassen; ähnlich wie Richard Wagner mit seinen Leitmotiven die einzelnen Helden und andere wiederkehrende Vorgänge begleitet und anzeigt. Es ist ein technischer Kunstgriff, den schon Thomas Carlyle in seinen historischen Werken anwendete, den Thomas Mann in den Buddenbrooks einführte. Je mehr ein Roman sich dem Kunstwerk nähert, desto leichter wird der Autor zu diesem rhythmischen und zugleich malerisch wirkenden Mittel greifen. Und dieser Roman ist, was so wenige Romane sein können, was die besterzählten und unterhaltendsten zumeist nicht sind, ein wirkliches Kunstwerk durch einen straffen Aufbau, die Rhythmik seines Ganges das harmonische Verhältnis der einzelnen Teile, die Notwendigkeit, die in ihm herrscht. Oder vielmehr, es ist gar kein Roman — wenn man sich über die Willkürlichkeit der Werte hinwegsetzen will — es ist ein Epos: ein Epos von Christen und Juden und vom deutschen Leben im fürstlichen und bürgerlichen Rokkoko des achtzehnten Jahrhunderts.

In: Neue Freie Presse, 4. 10. 1925, S. 32-33.

Max Foges: Die Rotte Korahs. Hermann Bahrs neuester Roman (1919)

                Hermann Bahrs neuester Roman ist in Buchausgabe erschienen. Er ist ein Band der Romanserie, die Bahr mit der Rahl begonnen hat, und bildet gewissermaßen die Fortsetzung dieser epischen Schöpfungen, die eine Art Philosophie des Österreichertums darstellen. Die Rotte Korahs ist der fünfte Band in der Reihe, und die Niederschrift ist gerade vor einem Jahre Ostern 1918, vollendet worden. (S. Fischer Verlag, Berlin.) Wieviel liegt zwischen diesen beiden Ostern, den von 1918 und den von 1919! Und bei der Lektüre des Buches fallen die dunklen Schatten dieses so ereignisreichen Katastrophenjahres auf die Blätter… Ein Abgrund hat sich aufgetan zwischen dem Leser und dem Inhalt des Buches. Es ist wieder eine Predigt Bahrs von der Religion des Österreichertums, aber wo ist dieses Österreichertum seither hingeraten? Wo ist Österreich? Alles hat der Abgrund verschlungen, und so ist es einigermaßen mühsam, sich zurückzufinden in die Gedankenwelt dieses Romans, obwohl anderseits gerade die Gestalten und Ereignisse des Buches vielfach den Schlüssel bieten zu manchem, was wir jetzt miterleben. Bahrs große österreichische Romanserie bildet ein Panorama und jedes Buch einen Sektor. Es geht dabei selbstverständlich nicht ohne einige störende Empfindungen ab, die darauf zurückzuführen sind, daß eben bei dem Ausschnitt jedes einzelnen Sektors der Zusammenhang, wenigstens soweit er die Personen betrifft, die in den verschiedenen Teilen der Serie wiederkehren, zerrissen erscheint. Indessen gelingt es der Kunst Bahrs, über diese Schwierigkeit hinwegzukommen, und je weiter er die Handlung seines neuen Buches ausspinnt, desto selbstständiger entwickelt sich das Problem, desto mehr Eigenleben gewinnt der Roman Die Rotte Korahs.

                Ein Roman und eine Predigt – erfüllt von jenem Zug zu katholischer Mystik, dem sich Bahr schon in dem vorhergehenden Werke Himmelfahrt hingegeben hat, dabei doch ein weltlich frohes Buch, amüsant, voll feiner Ironie, reich an echt Bahrschen Antithesen, mit einer geistvollen Problemstellung. Der Held des Buches ist ein junger adeliger Beamter des Ministeriums des Äußern, der Enkel eines österreichischen Staatsmannes der liberalen Ära, der Sohn eines Reiteroffiziers aus südslawischem Blut, einer mit verwegener Passion gezeichneten Figur des Romans. Der junge Diplomat ist eine Persönlichkeit von tiefernster, vornehmer Veranlagung. Im Augenblick, wo der Leser seine Bekanntschaft macht, erholt er sich von einer tiefen seelischen Erschütterung – er hat an der Front in Italien einen Lungenschuß erhalten – und in sein Amt wieder zurückgekehrt, während draußen die Schlachten noch immer geschlagen werden, noch immer die kaiserliche Armee den Feinden ringsum siegreichen Widerstand bietet, findet er sich im Hinterland schwer zurecht. Erziehung und soziale Stellung beginnen bei dem Helden des Buches sozusagen naturgemäß eine zumindest ablehnende Haltung gegenüber dem Judentum und dem jüdischen Einfluß in der österreichischen und in der Wiener Gesellschaft. Und gerade steht die Judenfrage im Vordergrunde der gesellschaftlichen Sensation Wiens. Der ehemalige Theaterdirektor Jason – Bahrs Leser kennen ihn aus O Mensch und auch aus der Gelben Nachtigall ist er dem Theaterpublikum Bahrs erinnerlich – hat als großer Faiseur ein vielfaches Millionenvermögen erworben. Er repräsentiert die Macht des skrupellosen Kapitals während des Krieges, ist das Prototyp der Kriegsgewinners, die Verkörperung der großen Korruption. Heute noch der allmächtige, umschränkte, umschmeichelte und umwedelte Heldfürst, wird er plötzlich zum Sündenbock, weil die öffentliche Meinung seines Glückes überdrüssig geworden ist, und kommt als Angeklagter vor Gericht … Ganz Wien lauscht nach diesem Prozeß, er kann die unerhörtesten Enthüllungen bringen, denn Jason wird sich zweifellos zur Wehre setzen und er ist imstande, viele sehr viele von stolzer Höhe mit in die Tiefe zu reißen. (Der Leser wird die Beziehung zu einem Sensationsprozeß der Kriegsjahre unschwer herausfinden.) Der Prozeß endet aber noch viel sensationeller als die lüsternste Neugierde erwartet hat. Der Angeklagte Jason stürzt vor den Schranken des Gerichtes infolge der ungeheuern Erregung, in die ihn die Anklage versetzt, vom Schlage gerührt tot zusammen.

                Bisher ist der Held des Romans sozusagen am Rande der Ereignisse dahinflaniert, vom Autor von allen Seiten beleuchtet und analysiert, sozusagen exponiert für die kommende überraschende Handlung. Das Testament Jasons enthüllt nämlich ein vom Großvater und vom Vater des Helden sorgsam gehütetes Geheimnis. Der junge Diplomat ist nämlich gar nicht der leibliche Sohn des Reiteroffiziers Baron Drzie, sondern ist das Kind Jasons, der der Verführer seiner Mutter geworden war. Der Rittmeister hatte das unglückliche junge Mädchen geheiratet, ihm seinen Namen geschenkt, allerdings nicht, ohne daß Jason dazu beigetragen hätte, ihm dafür seine Schuldenlast abzunehmen. Diese Vorgeschichte – und Bahr will durchaus, daß der Rittmeister als Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle aufgefaßt und die Verführte, die übrigens bei der Geburt des Kindes stirbt, obendrein von der Gloriole mystischer Frömmigkeit umstrahlt wird – darf den Leser allerdings nicht stören. Geht er auf diese Voraussetzung des Autors nicht ein, dann allerdings wird ihm alle Kunst Bahrs die Lektüre wenig erfreulich gestalten. Allein man kann überzeugt sein, daß bei den meisten Lesern Bahrs Virtuosität siegen wird, die Vorgeschichte in Vergessenheit gerät und das eigentliche Problem des Buches zu jener Geltung gelangt, die ihm Bahr verschaffen will. Die ihn lockende Antithese ist nämlich der Konflikt, der in dem jungen Baron Drzie entsteht, der nun plötzlich erfährt, daß er jüdisches Blut in den Adern hat, dem mit dieser Erkenntnis seine ganze Weltanschauung zusammenstürzt und der nun plötzlich vor dem Konflikt steht, zwischen den zwei Menschen, die er in sich vereint fühlt, zu wählen … Der eine ist der Österreicher von christlicher, katholischer Kultur, der andere ist der Jude mit dem tragischen Erbteil seiner Rasse. Der junge Diplomat ist mit einem Male der Herr eines ungeheuren Vermögens geworden. Seine erste Regung, den Millionen zu entsagen, überwindet er über Rat seines Großvaters und in der ihm werdenden Erkenntnis, daß man seine Entsagung allgemein für eine Pose halten würde. Und gerade das will er nicht, er will wahr gegen sich selbst sein, wahr bis zum Extrem. Das Reizvolle des Buches ist nun, wie sich der Held mit sich selbst und der Gesellschaft auseinandersetzt, um zum Schlusse, eine Sünde gutmachend, ein seltsames Mädchen zu heiraten und sich auf einen Landsitz zurückzuziehen, einzig in dem Bestreben, ein guter Mensch zu sein, ein zärtlicher Gatte, ein liebevoller Vater. Diese Entwicklung rollt das Problem der Judenfrage nach allen Richtungen hin auf und gibt Bahr Gelegenheit, in geistvoller Weise diese Frage dialektisch zu erörtern, das heißt, nicht er erörtert sie, sondern die zahlreichen Gestalten des Buches, die wir in ihrer frappierenden Lebendigkeit als Type des Österreichertums aus den früheren Bänden seiner Romanserie kennen. Da ist der flotte Franz Heitlinger, der berühmte Chirurg Hofrat Scharizer, der „Menschenfischer“ Domherr Zingerl, die köstliche Fürstin Uldus, und vor allen der unerhört lebenswahre Zionist und Oberarzt Dr. Beer. Es ist eine vergnügliche, köstliche Gesellschaft, ein drolliges Schattenspiel des Lebens, virtuos behandelt von dem meisterlichen Puppenspieler Bahr. So virtuos und so meisterlich ist das alles erzählt und durcheinandergewirbelt, daß der Leser sogar über manche Länge hinwegliest, über manche Wiederholung, die aber durchaus vom Autor beabsichtigt erscheinen, denn Bahr will offenbar nicht nur einen Roman geschrieben haben, sondern auch ein Erziehungs- und Erbauungsbuch. Von Österreich und seiner Eigenart, von der katholischen Kirche und ihren Wundern, von Adalbert Stifter und Hölderlin, von Heiligem und Unheiligem predigt er unermüdlich; allerdings ein amüsanter Prediger, ein moderner Abraham a Santa Clara. Und auch derjenige wird sein neuestes Buch nicht ohne Genuß aus der Hand legen, der vielleicht, wenn er den Band schließt, finden wird, daß Bahr das Problem der Judenfrage zwar ungemein geistvoll beleuchtet, aber durchaus nicht gelöst hat. Hat er es aber überhaupt lösen, hat er eine Antwort erteilen wollen?…

In: Neues Wiener Journal, 16.4.1919, S. 3-4.

Ernst Fischer: Aus den Tiefen eines Jahrhunderts (1930)

            Folgendes hat sich ereignet: Eine militärische Kommission hat einen Soldaten ausgegraben, der sich tot stellte. Der Militärarzt erklärte den Tachinierer für frontdiensttauglich. Man gab ihm Schnaps zu trinken und nahm ihn mit. Die Nacht war blau und schön. Man konnte, wenn man keinen Helm aufhatte, die Sterne der Heimat sehen. Voran die Musik mit Tschindrara spielt einen frohen Marsch. Und der Soldat marschiert in der Mitte, und daß man den Grabgeruch nicht merke, schwingt ein Priester das Weihrauchfaß. Die Zeitungen haben diesen Vorfall totgeschwiegen. Die Wissenschaft hat ihn totgeschwiegen. Die Weltgeschichte hat ihn totgeschwiegen. Da gab es größere Sensationen; außerdem glaubt der gebildete Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts so was nicht. Trotzdem hat sich die Sache herumgesprochen, die Sache von dem toten Soldaten; ein Mensch namens Brecht hat sie schließlich dem deutschen Publikum mitgeteilt, diese Sache, die doch gewiß aufregender, beunruhigender, wesentlicher ist als zum Beispiel die Rede irgendeines Ministers oder irgendein Bericht irgendeiner Studienkommission, ja sogar nervenaufpeitschender als die täglichen Meldungen über Morde, Raubüberfälle, Brandlegungen usw. Um aber nicht der Lüge geziehen zu werden und die atembeklemmende Wahrheit so zu sagen, daß man sie nicht berichtigen kann, hat dieser unangenehme Brecht sie in Verse gepreßt. So ist das Gedicht vom toten Soldaten entstanden:

            Und wenn sie durch die Dörfer ziehn,
                kommt’s, daß ihn keiner sah.
                So viele waren herum um ihn
                mit Tschindrara und Hurra.
                So viele tanzten und johlten um ihn,
                daß ihn keiner sah.
                Man konnte ihn einzig von oben sehn.
                Und da sind nur Sterne da.
                Die Sterne sind nicht immer da.
                Es kommt ein Morgenrot.
                Doch der Soldat, so wie er’s gelernt
                zieht in den Heldentod.

Wir möchten schreiend aus den Gräbern steigen!

            Also Lyrik! Jawohl, Lyrik. Wahrheit, die man in Prosa totgeschwiegen hat. Bericht aus der Tiefe eines Jahrhunderts. Mitteilungen aus der Mördergrube, zu der man das Herz einer ganzen Generation gemacht hat. Telegramm aus dem fernsten, unbekanntesten Kontinent, aus der von Krieg und Hohn und Hunger verschütteten Seele der Fünfundzwanzigjährigen, Dreißigjährigen. Stimmen aus dem Massengrab:

            Wir haben Dreck im Mund. Wir müssen schweigen.
                Und möchten schreien, bis das Grab zerbricht!
                Und möchten schreiend aus den Gräbern steigen!
                Wir haben Dreck im Mund. Ihr hört uns nicht.
                Ihr hört nur auf das Plaudern der Pastoren,
                wenn sie mit ihrem Chef vertraulich tun.
                Ihr lieber Gott hat einen Krieg verloren
                und läßt euch sagen: Laßt die Toten ruhn!

– in der Weltgeschichte beschäftigt!

Dreck im Munde, pfui wie gemein, wie ordinär! Lyriker haben Gold im Mund zu haben,

Geruch von Frühlingsspülwasser, Sonne auf der Zunge und die Herzallerliebste im Gaumen – für Friedenszeiten, versteht sich; wenn ein Krieg auszubrechen droht oder bereits ausgebrochen ist, ersetzt das Vaterland die Herzallerliebste und der Pulverdampf die Lenzesluft. Darum ist uns die Lyrik so zum Kotzen geworden, darum haben wir plötzlich genug gehabt von allen Gedichten – bis die toten Soldaten schreiend aus ihren Gräbern stiegen, bis die Wahrheit sich der Versform bediente, bis wir mit Herzklopfen die Gedichte des Bert Brecht, des Joachim Ringelnatz, des Erich Kästner lasen. „Wir haben Dreck im Mund. Wir müssen schweigen!“ das ist von Erich Kästner; von ihm ist das ungeheure Gedicht Jahrgang 1899.

        …dann holte man uns zum Militär,
        bloß so als Kanonenfutter.
        In der Schule wurden die Bänke leer,
        zu Hause weinte die Mutter…
        …wir haben sogar ein Examen gemacht
        und das meiste schon wieder vergessen.
        Jetzt sind wir allein, bei Tag und bei Nacht,
        und haben nichts Rechtes zu fressen!
        Wir haben der Welt in die Schnauze geguckt,
        anstatt mit Puppen zu spielen.
        Wir haben der Welt auf die Weste gespuckt,
        soweit wir vor Ypern nicht fielen.
        Man hat unsern Körper und hat unsern Geist
        ein wenig zu wenig gekräftigt.
        Man hat uns zu lange, zu früh und zumeist
        in der Weltgeschichte beschäftigt!
        Die Alten behaupten, es würde nun Zeit
        für uns zum Säen und Ernten.
        Noch einen Moment. Bald sind wir bereit.
        Noch einen Moment. Bald ist es soweit!
        Dann zeigen wir euch, was wir lernten!

Hymnus an die Zeit.

Die Weltgeschichte, in der wir beschäftigt wurden, hat uns jahrelang übertönt: Krieg und Revolution haben wir schweigend miterlebt, die schlechten Kriegsgedichte wurden im Hinterland geschrieben, die schlechten Revolutionsgedichte waren das erste Gestammel einer verzweifelten Hoffnung, was galten damals Gedichte, da wir die Welt umformen wollten! Dann aber, als die Weltgeschichte uns beurlaubte, hatten wir lange nicht den Mut zu unserer Zerstörtheit, zu unserem Wesen und unserem Schicksal. Bis dieser Erich Kästner sein erstes Gedichtbuch herausgab: Herz auf Taille, angefüllt mit der wilden Traurigkeit, der bitteren Erkenntnis, der ironischen Leidenschaft unseres Lebens. Wir waren tausendfältig bereit, zu lieben, anzuerkennen, uns zu begeistern – aber wie war die Welt, für die wir Gut und Blut und unsere ganze Jugend gegeben hatten? Hymnus an die Zeit? Soweit wir vor Ypern nicht fielen, grüßen wir diese Zeit:

            Wem Gott ein Amt gibt, raubt er den Verstand.
                In Geist ist kein Geschäft. Macht Ausverkauf!
                Nehmt euern Kopf und haut ihn an die Wand!
                Wenn dort kein Platz ist, setzt ihn wieder auf!
                Macht einen Buckel, denn die Welt ist rund!
                Wir wollen leise miteinander sprechen:
                Das Beste ist totaler Knochenschwund.
                Das Rückgrat gilt moralisch als Verbrechen.

Noch einen Moment! Bald ist es so weit! Dann zeigen wir euch, was wir lernten! Euch ins Gesicht zu sehn, ihr Verdiener an jeder Konjunktur, ihr Händler mit jeder Ware, mit Eisen und Menschenmaterial, mit Aktien und Idealismus, euch in die Schnauze zu gucken, anstatt mit den Puppen zu spielen, die ihr uns für Brot und Freiheit gebt! Zeitgenossen haufenweise:

Es ist nicht leicht, sie ohne Haß zu schildern,
und ganz unmöglich geht es ohne Hohn.
Sie haben Köpfe wie auf Abziehbildern
Und, wo das Herz sein müßte, Telephon…
In ihren Händen wird aus allem Ware.
In ihren Seelen brennt elektrisch Licht.
Sie messen auch das Unberechenbare.
Was sich nicht zählen läßt, das gibt es nicht.
Sie haben am Gehirn enorme Schwielen,
fast als benutzten sie es als Gesäß.
Sie werden rot, wenn sie mit Kindern spielen.
Die Liebe treiben sie programmgemäß.

Einmal kommt auch eure Zeit!

Ja, dieser Erich Kästner ist kein Lyriker für die braven Bürger,d ie Lyrik soll sich mit edlen und idealen Dingen beschäftigen, mit Dingen also, die in der Bürgerwelt keinen rechten Platz haben; solche Gedichte wird man loben und sie keinesfalls lesen (mit Recht), sondern höchstens die Jugend damit belästigen, damit sie auch was Höheres kennenlernt als den Betrieb des rationalisierten Kapitalismus. So sind die Lyriker bei der Jugend in Verruf geraten (mit Recht!), aber die Gedichte des Erich Kästner, diese „unmoralischen, zynischen, poesielosen“, diese wahrhaften, aufregenden, befreienden Gedichte soll jeder, jeder, jeder junge Mensch lesen! Herz auf Taille und Lärm im Spiegel heißen die Gedichtbände; euch alle gehen sie an! Die Proletarierkinder: „Weihnachtslied, chemisch gereinigt!

Morgen, Kinder, wird’s nichts geben!
Nur wer hat, kriegt noch geschenkt.
Mutter schenkte euch das Leben.
Das genügt, wenn man’s bedenkt.
Einmal kommt auch eure Zeit.
Morgen ist’s noch nicht so weit.
Die Stenotypistinnen: Chor der Fräuleins“:
            Wir hämmern auf die Schreibmaschinen.
                Das ist genau, als spielten wir Klavier.
                Wer Geld besitzt, braucht keines mehr verdienen.
                Wir haben kein’s. Drum hämmern wir.

Und wir alle, die wir uns nicht vormachen lassen, daß wir „Sonne im Herzen“ haben und Idealtypen der Menschheit sind (Type I A, in Serie hergestellt):

            Man kann sich selber manchmal gar nicht leiden
                und möchte sich vor Wut den Rücken drehn.
                Wer will, ob das berechtigt ist, entscheiden?
                Doch wer sich kennt, der wird mich schon verstehn.

            Kameraden, zu euch spreche ich!

            Junge Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts, ihr glaubt mit Unrecht, daß Lyriker unbedingt langweilige Leute sind. „Es gibt wieder Verse, bei denen auc der literarisch unverdorbene Mensch Herzklopfen kriegt oder froh in die leere Stube lächelt. Es gibt wieder Lyriker, die wie natürliche Menschen empfinden und die Empfindungen (und Ansichten und Wünsche) in Stellvertretung ausdrücken.“ Ja, dieser Erich Kästner hat recht; er spricht in Stellvertretung von hunderttausend jungen Menschen der Großstadt, tönende Stimme aus den Massengräbern der großen Zeit. In Stellvertretung von Millionen aber, eingesargt in den Massengräbern der kapitalistischen Industrie, spricht ein Fünfundzwanzigjähriger, Walter Bauer, der größte Arbeiterdichter Deutschlands (und daher kaum bekannt!). Dieser Walter Bauer war Arbeiter in den Leunawerken, aus dem Inferno hat er Gedichte geschöpft, die unvergleichlich sind. Ein schmales Gedichtbuch, „Kameraden, zu euch spreche ich!“, unbeachtet von der Öffentlichkeit, übertönt vom Lärm der Tagessensationen. Und doch ist dieses Buch zu kennen Glück und Erschütterung. Da wird nicht getrommelt, nicht posaunt, nicht pathetisch herumgeredet, da klirrt keine Phrase, dröhnt kein Schlagwort, reimt sich nicht ‚rot‘ auf ‚Tod‘, da ist nichts als die schlichte, unaufgeregte, namenlose Wahrheit des Proletarierschicksals: Für die Gestorbenen der Leunawerke!

            Laßt die Musik beiseite,
                weg mit Reden, Literatur, Violinspiel, Gebet,
                                                               was soll das hier?
                Wir!
                Aus unseren Sachen dampft der Ammoniak-
                                               geruch der Schufterer,
                aus unseren Blicken fällt die Müdigkeit der
                                               Nachtschichten.
                Alle!
                Und aus uns strahlt unaufgefordert un-
Ausgesprochene,
                nie bekannte brüderliche Liebe…
                …wir verbergen
                eure Leiden nicht, wir schreien sie nicht, wir
                                               sprechen sie aus,
                seid ihr glücklicher jetzt? Ihr schweigt? Vielleicht,
                                               vielleicht seid ihr glücklicher als wir.

Hier ist ein Frühling von grünem Gas!

            Wir verbergen eure Leiden nicht, wir schreien sie nicht, wir sprechen sie aus. Dieses Aussprechen, ruhig, einfach, aus der Tiefe des Lebens (Laßt die Musik beiseite, weg mit Reden, Literatur!), das ist die bezwingende Kunst dieses Leunawerk-Arbeiters. Mensch im Maschineninferno:

            …hier blüht ein Frühling ohne Baum und
Vogellaut,
                hier ist ein Frühling von grünem Gras…
                …Eingepreßt zwischen Benzinwäschern, Silos,
                                                               Windhitzern,
                erhebt sich der Ruf, verborgen in der Welt,
                im Bau siebenhundert, laßt,
                               laßt mich zu Wort kommen!

Unter dem traurigen Himmel des Krieges.

            Als dieser Mensch, dieser Arbeiterdichter, Walter Bauer, wenigen nur bekannt, unerhörte Gedichte formend, die niemand drucken will, als dieser Mensch ein Kind war, starb sein Vater, starb sein Bruder im Kriege.

In der zweiten Stunde schrieben wir einen
Klassenaufsatz,
                und ich schrieb ihn zum Teil von meinem Kame-
                               raden ab,
                dem ich in Mathematik half.
                In der zweiten Stunde lag mein Bruder da und
                               Schrie,
                immer…
            Und die Mutter („Du Gute, graue
            Geliebte!“) ging über Land zu den Bauern, um Brot und Kartoffeln zu hamstern und ein paar Pflaumen.
            Aber abends. Mutter, ging ich dir immer weit
übers Feld entgegen auf der langen Straße, da
                                               brannten
schon Lichter, und Wagen kamen von den Feldern
                                               wollten heim,
und die im langen Kriegsjahr geschwächten
                                               übriggebliebenen
Gäule bliesen Dampf des Herbstes durch die
Nüstern.
Dann ging ich vor den Häusern schneller,
                                               Mutter, weil
es dunkel war und ich allein, dann lief ich dir
                                                entgegen,
schnell wie heim, und sieh, da warst du, sieh, ich
                                               fiel
dir so entgegen, schneller war mein Herz, und
                                               unter
dem traurigen Himmel des Krieges küßte ich dich
und sah, ob du im Korb auch ein paar Pflaumen
                                               hattest.

  • über Jahrhunderte hinweg!

Kindheit „unter dem traurigen Himmel des Kriegs“, Jugend, in der traurigen Hölle der Fabrik. Und eingepreßt zwischen Benzinwäschern, Silos, Windhitzern, schreibt der Arbeiter seiner Freundin:

            Dein Herz ist grün wie die Gärten, die grünen,
                in denen Amseln und solche Vögel singen,
deren Namen ich nicht weiß,
denn ich bin Arbeiter im Kraftwerk.
Bäume sind, schreibst du mir, auch da und
Sinken grün ins Erinn’rungsherz.
Ach, wie lange ist’s, daß ich Rauschen von Bäumen
nicht gehört, solchen besonderen Gärten, in denen
du groß geworden bist. Du sagst,
Blumen sind da, noch immer,
noch, wenn wir den Mars kolonisieren, werden
einige da sein. Ihre Namen
weiß ich nicht, im Kraftwerk ist nur Platz für
zweckmäßige Dinge.
Ich bin ein völlig anderer als du,
anders klingt als in Gärten auf Asphaltstraßen
                                die Stimme der Welt.
Blumen und Gräser.
In den Städten hörten wir, daß es Blumen gäbe.
Wir erinnern uns ihrer noch, denn
wir lernten, dies sei
Schafgarbe, dies Rittersporn und
das Rot Mohn zwischen Feldern.
Unsere Kinder werden das nicht wissen,
die letzten wird man in Museen halten
in Erde, und einmal
wird eine Zeit kommen, da man die Namen
der Bäume nicht kennt, wird nur sagen: der
                                Baum –
wird nur wissen: die Blume –
wird nur lächeln und es lustig empfinden,
aber ich sage, ich sage es dir
über Jahrhunderte hinweg.

            Stimme des Menschen in dieser rationalisierten, mechanisierten, atemlosen Welt des Kapitalismus, angstvoll, beschwörend, schonungslos. Der Proletarier im Leunawerk und der Intellektuelle in Berlin, Walter Bauer und Erich Kästner, Kinder der Maschinenzeit, Rebellen gegen sie, Dichter unserer Jugend, unserer Wahrheit, unseres Lebens! Laßt sie zu Wort kommen in euren Herzen, ihr jungen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts.

In: Arbeiter-Zeitung, 8.7.1930, S. 5.

Jakob Fingermann: Die Jüngsten. Bemerkungen zur neuen deutschen Moderne (1919)

In den Achtzigerjahren des verflossenen Jahrhunderts kommt ein kleiner Kaufmann aus dem Osten nach Berlin. Er hat wenig Geld, aber desto mehr Spürsinn und den glühenden Wunsch, Berlin zu erobern. Er versucht sich in verschiedenen Geschäften, die mißlingen, bis ihm eines Tages die entscheidende Idee aufblitzt. Er mietet ein schmales Lädchen und ein bescheidenes Schild kündet die Etablierung des Verlages S. Fischer an. Einige junge Dichter, die eben ihren Sturmlauf gegen die alten Literaturgötzen begonnen haben und denen die alten, wohlfundierten Verlagsanstalten ihre Pforten verschließen, finden in dem kleinen, unscheinbaren Mann einen kühnen, jede Erfolgsmöglichkeit behend ausnützenden Verleger, der bei alledem für ihre Menschlichkeiten ein humor- und hilfswilliges Verständnis zeigt. Die Stürmer und Dränger von 1890, um nur einige aus der großen Schar zu nennen, Hauptmann, Dehmel, Bahr, Wassermann, Hofmannsthal und die Brüder Mann. Es sind die heute Fünfzigjährigen, die neuen Klassiker der deutschen Literatur, die Erfüllung einer Epoche, die mit dem Weltkriege abschließt.

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Neunzehnhundertneunzehn – der […] meiner Männer setzt an. Ein besiegtes Land zeigt sich geistiger Gärung voll. Aus den Ruinen zusammenbrechender Weltanschauungen, aus den Kratern sozialer Umwälzungen sprießt in schillernder Üppigkeit eine neue Moderne und kündet sich die Fanfarentönen an: „Wir sind!“ Wieder ist es S. Fischer, der die Jüngsten unter seine Fittiche nimmt. Diesmal heißen sie: Johannes R. Becher, Georg Kaiser, Adolf von Hatzfeld, Emil Alphons Rheinhardt, Ernst Toller, Paul Kornfeld, Ludwig Meidner, Gottfried Köhwel, Kurt Heynicke – eine lange Liste, die sich fortsetzen ließe. Ein Trommelfeuer von Lyrikbänden, Dramen und Novellenbänden überschwemmt den Büchermarkt und zwingt zur Stellungnahme.

Thomas Mann, einer der feinsten Köpfe des schöpferischen Deutschland, hat jüngst in einer dänischen Zeitung mit einem gewissen Pessimismus von der Zukunft der deutschen Dichtung gesprochen. Alfred Kerr hingegen sieht in ihr den Aufstieg und die Erfüllung. Er erwartet sich von ihr das Glühende und Ewige und begeistert sich an ihrem Aktivismus. Meinung wider Meinung zweier Persönlichkeiten, deren Blick vielleicht tiefer als der unsere sieht; aber die Frage, ob hier neue Kräfte zu walten beginnen oder nur Erscheinungen des Tages am Werke sind, bleibt dennoch offen.

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Zur rechten Zeit erscheint ein Sammelbuch des neuen Kreises[*], welches charakteristische, bisher noch unveröffentlichte Arbeiten enthält. Wenn man es gelesen hat, ist man leicht geneigt, mit einem harten Urteil abzuschließen, sich selbst zu mißtrauen, sich zu sagen; daß doch etwas daran sein müsse, nochmals zu lesen, um wiederum unbefriedigt, sich selbst zürnend, dem Gedanken Raum zu geben: Diese sind die Rechten nicht! Sie gehen mit der Zeit und deren Schlagworte liegen auf ihren Lippen. Ihre Zungen sprechen: „Brüder!“ ihre Worte malen das Grauen, aber die große Liebe, die sie künden, ist nicht in ihnen. Je mehr sie mit Gefühlen hantieren, je tiefer sie in den Wunden der Menschheit wühlen, je heftiger ihr Schrei Liebe, Erbarmen, Beglückung fordert, ein umso kälterer Hauch strahlt von ihnen aus. Etwas Dumpfes und Unwahres ist in ihnen, ein Lallen Erdgebundener, denen der Flug in die erlösende Unendlichkeit versagt bleibt.

                                                                       *

Gefühlsüberschwang rührt oft von innerer Verarmung her. Ihnen allen ist dieses Stigma aufgedrückt. Einer verarmten Zeit Ersatzdichter. Sie bauen Wortphalanxe zum Sturm, wühlen in absurden Bildern, häufen rhetorischen Schwall, zeigen ihre Muskeln gleich Athleten, sind kühn, erfahren, altersweise und jugendwild, so und so, in allen Sätteln gerecht, ein Bräu von Schiller, Büchner und Wedekind und doch wieder anders. Sie haben die Literaturen abgegrast, die Franzosen und Russen schlecht verdaut und geben ihre Überflüsssigkeiten mit vulkanischem Getöse von sich.

Die neue deutsche Literatur? Man möchte es, der großen Vergangenheit eingedenk, verneinen. Übergangsprodukte…

In: Wiener Morgenzeitung, 4.5.1919, S. 2.


[*] „Die Erhebung“, Jahrbuch für neue Dichtung und Wertung, herausgegeben von Alfred Wolfenstein, Verlag S. Fischer, Berlin.

Edwin Rollett: „Traumtheater“ und „Traumstück“ von Karl Kraus (1924)

(Erstaufführung: Neue Wiener Bühne, 29. April.)

Die Feier des 50. Geburtstages von Karl Kraus, die am Dienstag in der Neuen Wiener Bühne vor sich ging, wurde durch eine Rede des Regisseurs Berthold Viertel eröffnet, der Kraus, „den eigensinnigsten Sohn Wiens“, nach Wesen, Art und Charakter schilderte, die Bedeutung Wiens für Schaffen und Entwicklung des Mannes darstellte, der, „indem er in Wien geblieben, weit über Wien hinauswuchs“, und die verschiedenen Wege aufzeigte, auf denen der Norden und der Süden an die Persönlichkeit des Kämpfers und Dichters Kraus

heranzukommen streben: wie dem Berliner die schneidende Verstandesschärfe das gemäße Eingangstor zu seinem inneren Wesen, dem Wiener dagegen die Pointe des Witzes die Brücke zu ihm bildet. Das zu sich selbst geflüchtete Innenleben des Satirikers, dessen Darstellung die Rede gewidmet war, bildet auch den Inhalt der nachfolgenden Stücke, die, wie Viertel sagte, „seinen Schreibtisch auf die Bühne stellen““und die Zuhörer „in einer

Stunde eine Nacht mit dem Dichter erleben lassen“, wie deren ungezählte in seinen Schaffensjahren dahingegangen sind.

Diese abschließenden und überleitenden Sätze der Rede geben die richtige Einstellung zu den beiden Stücken. Traumtheater und Traumstück sind durchaus lyrische Werke, unmittelbare Bekenntnisse, Nachtvisionen, bei denen das direkte und persönliche Mitwirken und Mitleiden des Dichters noch verdeutlicht und veranschaulicht wird durch den

Rahmen, den „Der Dichter“ als dramatis persona beherrscht. Im wörtlichen Sinne steht sein Schreibtisch auf der Bühne, er ist es, der daran sitzt, er, der die Visionen erlebt und an ihnen teilnimmt. Aus dieser Subjektivität aber erwächst ein Typus: der des Kunst- und Lebenverbundenen, des Gestalters und Weltleid Erleidenden. Und das Wort des 

Traumtheaters: „Ich habe zu Einzelgestalten, wie sie im Leben herumlaufen, keine Beziehung“, darf in höherem Sinne über beide Dichtungen gesetzt werden.

„Das Einssein des Weibes und der Schauspielerin, die Übereinstimmung ihrer Verwandlungen, die Bühnenhaftigkeit einer Anmut, die zu jeder Laune ein Gesicht stellt“, die Erkenntnis der „zeitwidrigen Urkraft“ des Weibes, des „Urgesichts der monotonen Vielgestalt und Wechselblicks Naturgewalt“ sind die Probleme der „zarten Gabe“, die Traumtheater heißt. Fünf kleine schlanke Szenen, licht, klar und  spielfreudig, in dem schweren Rahmen des Zwiegespräches von Dichter und Regisseur, eingefügt als erhellender Traum in die trübe Wirklichkeit, als ein Lichtblick aus den

Regionen, in denen „die Elemente auf das Leben losgelassen“ sind, einen Meter hoch über dem Leben. — Ein Fliehen in das Reich der Phantasie, aus dem das Theater als einziges Vorwerk in die Wirklichkeit herüberragt, dem Traum verwandt in seiner Unwirklichkeit, Sinnenspiel und Spiel der Gedanken vereinend, im Verlorensein Geist und Leib zueinander führend, zugleich Symbol des künstlerischen Schaffens und seiner Kämpfe mit der Realität überhaupt.— Was an Symbolik und an mystischen Zusammenhängen noch in diesem feinen

Spiele liegt, ist wohl nachzufühlen, nicht nachzudenken. Wie viele Deutungen möglich, wievielerlei Gaben daraus zu nehmen sind, läßt sich nur ahnen. Eine skizzierende Analyse von Poesie bringt nur den Schatten ihres Skelettes fertig. Nur Konstruktionen lassen sich bis zu Ende deuten. Dichtung muß in ihrem Wesen erfühlt, immer neu, immer anders erfühlt werden.

Das Traumstück, das aus Vorlesungen des Dichters und aus der schon seit längerer Zeit erschienenen Buchausgabe bereits bekannt war, ist das weltanschaulichere, das wirklichkeitsnähere der beiden Stücke. Visionen der Sehnsüchte und der Widerstände, gestaltende Abrechnung mit den Fratzen der Wirklichkeit, die in das Traumleben eindringen.

Die peinigenden Erscheinungen der entmenschten Nachkriegszeit, aus denen Niedertracht, Habsucht, Vertierung und abgründiges Elend ihre Bekenntnisse tun, löst die Flucht in die Natur, zum Ideal ab. Die dorthin nachdringenden scheußlichen Bilder knechtender Unfreiheit erwecken die Kampfesfreude des Verstandes, der wieder durch Ausartungen des Verstandes, die „Psychoanalen“, denen die längste // und schärfste Szene des Dramas gilt, verscheucht wird. Traum und Traumdeutung sind hier in ebenso geistreicher als boshafter Art in Beziehung gestellt. Der Hilferuf, in den die Szene ausklingt, sucht Rettung aus solcher Klarheit in den Traum. „Imago“, das aus der Wand sprechende Bild, hier eine Versinnlichung künstlerischen Weltfühlens, das alles durchlebt und sich in allem darbietet, das kleine, sonst übersehene, von ihm beachtete Geräusch des fallenden Tropfens, die Poesie des Kleinsten, und der Traum selbst führen endlich den Weg des Trostes, leiten in ein  phantasiebeschwingtes Erwachen, dem das Geräusch des Teppichklopfens noch zu einer letzten Vision verhilft, die die Welt nicht nach Besitz, sondern nach Wert geordnet zeigt und schon durch einen Ansatz dazu Versöhnung mit dem Leben verheißt. 

Das Erlebnis dieser Traumdichtungen wird durch eine ganz ungewöhnlich intensive Regietat Berthold Viertels vermittelt. Er ist der bühnenkundige, hingebungsfreudige Leiter, den solche Dichtung, ja Dichtung überhaupt, braucht. Seine Führung bleibt in der Gefolgschaft des Autors, hebt Gedanken, Vers und Wort sinnlich, ohne sie zum Effekt auszuschroten. Aus dem Versenken in die dichterische erwächst ihm die theatralische Vision. Geringfügiges gewinnt Bedeutung: Der gedämpfte Trommelwirbel hinter der Szene, der die Erscheinung des Schieberpelzes begleitet, das spukhafte Hervorschnellen der drei Nachkriegsvisagen, der unheimlich starre Aufmarsch der Teufel des Weltkrieges sowie die unwirkliche Lieblichkeit der Imagoszene im Traumstück und die halb wie ein Märchen, halb wie ein Marionettenspiel gehaltene Stilisierung der Visionsszenen des Traumtheaters spiegeln Geist vom Geiste des Dichters. Die szenischen Bilder Leopold Blonders gesellen der Dichtung und den Regieideen das entsprechende malerische Gewand. Lothar Müthel hat in beiden Stücken die Rolle des Dichters inne. Sein Spiel ordnet sich von innen heraus. Der Schwerpunkt liegt im Herzen. Der Körper gehorcht den Gängen der Seele, der Ton des Sprechers dem Geiste des Wortes. Cäcilie Lvovsky innig und lieblich als Imago, weich, instinkthaft, gar nicht dämonisch als Schauspielerin im Traumtheater, weder Schlange noch Kätzchen, sondern warmes Weib. Von überwältigender Scheußlichkeit Oskar Homolka als Gürtelpelz und als tanzender Zinsfuß, Lyda Salmanova als Valuta, das Trio der Psychoanalen (Behal, Farkas, Schrecker) äffende Alpdrücke. Karl Götz, dezent als „der alte Esel“, Ernst Stahl-Nachbaur männlich und fest in beiden Stücken. Unter den Darstellern gab es keinen, der nicht gegeben hätte, was er konnte und mußte.

Daß die Hörerschaft von diesem in jeder Hinsicht seltenen Theaterereignis hingerissen ward, gehört zum Selbstverständlichen.

In: Wiener Zeitung, 2.5.1924, S. 1-2.

Ernst Lothar: Gespräch über die besten Bücher des Jahres. Ratschläge, Urteile, Feststellungen (1928)

Der Bücherfreund (zum Kritiker): Sie haben kürzlich vom „Glück der Bücher“ gesprochen, das einem seither ja auch auf allen Plakatwänden mundgerecht gemacht wird. Wollten Sie nicht über das Allgemeine hinausgehen und bestimmte Werke nennen? Vor Weihnachten haben viele, die Bücher kaufen werden, den Wunsch nach einem Rat. Blättert man aber die Kataloge durch, dann erschreckt man vor der Quantität und wird noch konfuser. Welche Bücher empfehlen Sie? 

Der Büchersnob: Die Frage des Herrn ist wohl in der Einzahl gemeint! Er will, hoffe ich, schlimmstenfalls sagen: welche zwei oder drei Bücher empfehlen Sie? Denn das, worum es sich hier handeln kann, ist doch nur: das Buch des Jahres. Das Buch, von dem man spricht. Sind Sie mehr für den Ulysses von James Joyce oder für das Chinabuch Die Eroberer von Malraux? 

Der Kritiker: Auf diese Art werden wir uns schlecht verständigen. Rekommandationen für Fünfuhrgespräche zu liefern, bin ich außerstande. Auch ist es weder meine Sache, das Verstiegen-Abseitige zu bestätigen noch irgend etwas nur deshalb zu rühmen, weil es von Ausländern herrührt. Damit will ich nicht sagen, daß dieses Jahr nicht eine ganze Anzahl ausgezeichneter ausländischer Bücher, darunter etwa die genannten, hervorgebracht hat. Aber solange es ausgezeichnete neue Bücher deutscher Verfasser gibt, werde ich zuerst für diese stimmen. Besonders dann, wenn man ihre Autoren noch nicht gebührend kennt. 

Der Bücherfreund: Gibt es denn neue wertvolle deutsche Namen?

Der Kritiker: Es gibt zwei. Sie heißen: Ernst Glaeser und Ernst Weiß. Ernst Glaeser steht im Beginn, Ernst Weiß hat sich trotz vielfachen Beweisen seiner Dichterschaft noch nicht „durchgesetzt“. Lassen Sie mich mit dem Unbekannten beginnen. Von Ernst Glaeser liegt ein Roman Jahrgang 1902 (Verlag Kiepenheuer) vor. Nichts ist mir zuwiderer als die fetten Lobkleckse, die fast jedem Druckwerk prompt und wahllos angepinselt werden. Aber bei ersten Buche eines jungen Deutschen, das die Epoche, die dem Krieg unmittelbar voranging, aus Knabenausgen sieht, das von lapidarer Sachlichkeit ist, ohne nüchtern oder roh zu sein, das die junge Generation hinreißend verteidigt, weil es ihre Defekte aus ihrem Erlebnis ursächlich erklärt und ihre Vorzüge wortlos sichtbar macht: bei diesem Buch, das überall dokumentarisch wirkt, ist das Wort „außerordentlich“ am Platze und vielleicht noch zu gering. Wer die höhnischen Schlagworte über die neue Jugend verlernen und die um 1902 Geborenen verstehen lernen will, erwerbe den Jahrgang 1902. Auch der Roman Boetius von Orlamünde (Verlag S. Fischer), der Ernst Weiß zum Dichter hat, formt das Problem des jungen Menschen dieser Zeit. Mit reinsten Mitteln, in einem beispielhaften Deutsch von // schöner epischer Ruhe wird das Heranreifen eines adeligen Konviktszöglings erzählt und der Sport monumentalisiert. Doch nicht auf die landläufige Zyniker-Art, welche den Erd- zu einem riesigen Fußball deformiert, sondern in einer neuen, persönlichen, harmonischen Verbindung von Muskel- und Seelentum. Ergreifend klingt ein Oberton von Güte und Zartheit aus diesen Blättern, die den Fäusten Reverenz erweisen… Ein Ton, der in den jüngeren geistigen Hervorbringungen Deutschlands selten wurde. 

Der Büchersnob: Sie preisen also noch immer „Romane“ an? Haben Sie gelesen, was bei einer Rundfrage nach den besten Büchern Bert Brecht einer Berliner Zeitschrift jüngst geantwortet hat: er findet den Roman von heute „stumpfsinnig“ und nennt als „Prototyp der üblichen stumpfsinnigen Form unsres Romans“ den Fall Maurizius von Jakob Wassermann. Was sagen Sie dazu? 

Der Kritiker: Dazu lache ich. Urteile solcher krassen Verantwortungslosigkeit kann man nicht ernst nehmen. Derselbe Bert Brecht spricht übrigens an derselben Stelle von der „respektablen Dummheit“, die er in Wells „Welt des William Clifford“ gefunden haben will. Ich, meinerseits, habe sie in seinem Werturteil über Wassermann und Wells gefunden, und nicht einmal so respektabel. Was aber den „Fall Maurizius“ betrifft, ist er der beste deutsche Roman dieses Jahres; in Problematik, Komposition und Ausdruck. 

Der Bücherfreund: Wie denken Sie über Arthur Schnitzlers Therese? Ich habe in deutschen Blättern Beurteilungen gelesen, die miteinander nicht übereinstimmen. 

Der Kritiker: Hier liegt ein kritisch sonderbarer Fall vor. Man hat, in Deutschland, der Therese ihren „grauen Ton“ zum Vorwurf gemacht. Man fand die chronikale, sozusagen protokollhafte Aneinanderreihung von Fakten des kargen Lebens einförmig und der Gesamtfarbe abträglich. Dieser Meinung kann ich nicht beipflichten. Denn hier wird als ein Manko betrachtet, was bewußte dichterische Absicht und wohl auch Notwendigkeit war. Nie hat sich Arthur Schnitzler um Vortrag oder Thema monoton gezeigt; immer als das absolute Gegenteil. Schon dieser sinnfällige Unterschied zwischen seinem bisherigen Werk und der „Therese“ hätte klarstellen müssen, daß dieser Unterschied gewollt war. Nicht also zufällig oder aus nachlassender Kraft hat hier ein großer Dichter einen Lebensalltag grau in grau gezeichnet, sondern: dies war strenges Darstellungsprinzip. Richtiges, wie ich glaube. Aus der Summe gleichbleibender Summanden sollte die ungeheure Differenz zwischen Anspruch und Erfüllung abgelesen werden; aus dem lebenslang Unveränderten die Überlebensgröße des Unabänderlichen; aus dem Oberflächengrau die unterirdische Blutröte der Sehnsucht. Deshalb wirkt das Buch ganz so beklemmend wie unser Leben. Die Französin Bovary hat in der Wienerin „Therese“ eine ebenbürtige Schwester gefunden. 

Der Bücherfreund: Und wie steht es mit den Büchern anderer Autoren von anerkanntem Rang?

Der Kritiker: Es sind Nieten darunter. Dem Rang ihrer Dichter entsprechen: Heinrich Manns Eugenie (Verlag Zsolnay): eine faszinierende Frauenfigur, von einem bizarren Hintergrund meisterhaft abgehoben. Dann: Franz Werfels Abituriententag (Verlag Zsolnay); René Schickeles Blick auf die Vogesen (Verlag Kurt Wolff): Beide von innerem Blick, zeitnah, vollkommen erzählt. 

Der Bücherfreund: Und das nichtdeutsche Ausland? Jetzt werden Sie doch wohl Ausländer nennen?

Der Kritiker: Ich habe noch nicht die Absicht. Ich fange geradezu erst an. Denn nun kommen die Bücher jener Autoren, die zwar bekannt, aber in Österreich nicht genug gelesen sind. Wappnen Sie sich mit Geduld, denn ihrer sind nicht wenig! Da ist vor allem Arnold Zweig. Kennen Sie seinen Roman Der Streit um den Sergeanten Grischa? (Verlag Kiepenheuer). Es ist der Kriegsroman Deutschlands. Ganz abgesehen davon, daß er (technisch) mit einer staunenswerten Kunst gebaut, gesteigert, vorgetragen ist, besitzt er eine Universalität der Anschauung, eine Objektivität des Urteils, eine Schlagkraft der gestalterischen Beweisführung, daß man diesem Buche anheimfällt wie einer Passion. Um dieses gräßlich abgegriffene Wort zu brauchen: das Buch ist ein Erlebnis. Arnold Zweig hat in diesem Jahre außerdem die Erzählung Pont und Anna veröffentlicht, die eine Figur aus dem „Sergeanten Grischa“ übernimmt und fortsetzt (Verlag Kiepenheuer). Auch diese Erzählung überragt durch Realität und Landschaftsbildnerschaft den Durchschnitt hoch. Hier nenne ich gleich Leonhard Frank, aus dessen Humanitätsschule der junge Ernst Glaeser kommt, mit dem entzückenden Ochsenfurter Männerquartett (Insel-Verlag); Heinrich Eduard Jacobs kleinen Roman Jacqueline und die Japaner (Verlag Rowohlt): Rassenfragen mit Takt und Feinfühligkeit gültig beantwortet und in schwebende Sprachmusik gesetzt; „Als Mariner im Krieg“ von Joachim Ringelnatz (Verlag Rowohlt): Berichte von einer Präzision, Vitalität und Ungeschminktheit, die ihresgleichen suchen; Bruno Frank: Politische Novelle (Verlag Rowohlt), fesselnde Verbindung von politischer und Menschenanschauung, die einem eminenten Stilisten gelang; erfreulicherweise auch zwei österreichische Erzähler: O. M. Fontanas Roman Gefangene der Erde (Verlag Knaur), der mit Recht den Preis der Stadt Wien erhielt, da er Phantasie, Feuer und ethische Kraft vereint; Paula Grogger, die steirische Dichterin, deren Roman Grimmingtor und deren Novelle Die Sternensinger (Ostdeutsche Verlagsanstalt) seit langem wieder ein großes österreichisches Frauentalent beglaubigen. Lassen Sie mich hier der herrlichen Gedichte gedenken, die Max Mell im Speidelschen Verlage hat erscheinen lassen. Es sind Strophen von einer solchen edlen Anmut, von solcher spürbaren Naturnähe, schlichten Macht und keuschen innersten Melodie, daß ich sie zum Kostbarsten zähle, was wir an deutscher Lyrik überhaupt besitzen. 

Der Büchersnob: Und das Ausland? Geben Sie doch endlich die Pfahlbürgerei auf, immer nur „Nationales“ // zu propagieren. Europäisch muß das Buch sein, wenn es mir gefallen soll. Nennen Sie mir europäische Bücher!

Der Kritiker: Entschuldigen Sie es, wenn ich bei meinen Ratschlägen und Feststellungen auf Ihre Privatmeinung nicht genügend Rücksicht nehme. Denn ich fürchte, daß Ihnen das Wort „europäisch“ nur deshalb so ans Herz gewachsen ist, weil es mit den drei anderen eisernen Intelligenzphrasen („Einstellung“, „Mentalität“, „Rhythmus“) zum täglichen Weltbürgerbedarf gehört. Was sich davor drängt – aber lassen wir das. Ich nenne Ihnen lieber einen ausländischen Roman, der mir den Begriff „europäisch“ vorbildhaft zu verkörpern scheint: „Die amerikanische Tragödie“ von Theodore Dreiser (Verlag Zsolnay). Halten Sie das für paradox: ein amerikanisches Erzeugnis als europäisch reklamiert? Dafür müßten gerade Sie Verständnis haben, obschon ich nichts weniger als ein Paradox beabsichtige. Doch in der Dreiserschen Trilogie manifestiert sich, wie in keinem Buche irgend einer Nation zuvor, der europäische Gedanke: Gegen die Todesstrafe! Wer gelesen hat, wir der junge Clyde Griffith im „Todeshaus“ auf den elektrischen Stuhl vorbereitet wird und ihn nach Jahresfrist erleidet… der ist so unsäglich erschüttert, ja wochenlang ans Kreuz dieser Vision genagelt, daß er für sein ganzes Leben erzogen worden ist. Europäisch erzogen. 

Der Bücherfreund: Ich fürchte, das ist zu deprimierend. Ich für meinen Teil wäre für minder triste Bücher dankbar. 

Der Kritiker: Dann lesen Sie Hamsuns letzten Roman: Landstreicher (Verlag Langen): Nicht ganz so bezaubernd wie „Segen der Erde“ und Die Weiber am Brunnen. Aber immer noch: Hamsun. Also göttliche Ironie der Darstellung. Leben aus der Distanz, trotzdem tief genähert. Und lesen Sie die beiden ersten Originalbände von J. Haseks Geschichte des braven Soldaten Schwejk (Verlag Synek): das ist nicht etwa der von Piscator plakatierte Theaterfilm, sondern ein Epos tiefgründigen Humors, eine gelassene entlarvende Auseinandersetzung mit Schändlichkeiten. Auch der Roman Das Schlangenhemd von Grigol Robakidse (Verlag Diederichs), einem neuen „Ausländer“, zeigt ein unvergeßliches Gesicht, das sich der „Monotonisierung der Welt“ entgegenstemmt und die Charakterzüge des Georgischen Volkes aus dem Hexenkessel europäischer Gleichmacherei erhebt. 

Der Büchersnob: Das alles sind Romane, Novellen, Gedichte. Gibt es denn nichts, das im Grenzgebiet zwischen dem allen läge? Eine neue Form? 

Der Kritiker: Gewiß gibt es das. Es ist die „kleine Form“, die Alfred Polgar meistert. Sein neues Buch Schwarz auf Weiß (Verlag Rowohlt) bereitet ein durch nichts geschmälertes Vergnügen. Delikatessen für literarische Feinschmecker, und noch etwas mehr. Denn in diesen Miniaturen unseres kleinen Lebens ist eine blendende Stilkunst, doch auch eine Beobachtungsschärfe am Werk, welche mit des Messers Schneide spielt und trifft. Überdies empfehle ich für jeden, der vor Allzumenschlichem fliehen will, Paul Eippers Tiere sehen dich an (Verlag Reimer) als Rettung. 

Der Büchersnob: Und? 

Der Kritiker: Ich nehme Ihnen das Wort vom Munde, das Sie vorwurfsvoll zurückhalten: Memoiren. Sie wollen (weil auch das zu den Gemeinplätzen gehört, auf denen „europäisch Eingestellte“ mit Vorliebe lustwandeln) vermutlich sagen: „Mir sind Memoiren hundertmal lieber als die besten Romane!“ Bedienen Sie sich. Ob Ihnen freilich Rudolf G. Bindings Erlebtes Leben (Verlag Rütten & Löning), das eines Dichters Dasein schildert, nicht zu „einfach“ sein wird? Diese Einfachheit ist, notabene, grandios. Und ob sie Vera Figner Nacht über Rußland (Malik-Verlag) nicht zu revolutionär finden werden? Ungeachtet diese Denkschrift das Gedächtnis der Welt für alle Zeiten wachrütteln müßte! Ohne mir indes den Kopf hierüber zu sehr zu zerbrechen, nenne ich auf exakteren Literaturgebieten: den zweiten Band von Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit (Verlag Beck): Barock und Rokokko in durchaus persönlicher Weise gesehen und sichtbar gemacht; falsche Meinungsfassaden glänzend blankgeputzt, eingekrustete Vorurteile rabiat abgerissen; eines wie das andere mit einer Polyhistorkenntnis, mit außerordentlicher Formulierung und mit bedeutender Kraft zu rebellischer Synthese. Wells Weltgeschichte (Verlag Zsolnay): Mehr als Wissenschaft, die es natürlich auch ist. Hier wird Welt- als Menschheitsgeschichte vorgetragen. Schließlich, vom Biographischen dieses Jahres: Josef Redlichs bewundernswertes Standard-Werk über Franz Joseph (Verlag für Kulturpolitik); André Maurois: Disraeli (Verlag S, Fischer), der die großartige Figur Lord Beaconsfields der Dauer überliefert; Paul Wieglers „Wilhelm I, und seine Zeit“ (Avalun-Verlag): eine Epoche nobel empfunden und ebenso beschrieben; Rudolf Kayser: „Stendhal“ (Verlag S. Fischer): Verlebendigung der schönen Gestalt durch Nach- und Nahgefühl; Werner Hegemann: Der gerettete Christus“ (Verlag Kiepenheuer): mißverständlich als Lästerung aufgefaßt, während der Autor im Gegenteil die heilige Idee stützt und reinigt; Emil Ludwig: Der Menschensohn (Verlag Rowohlt): Heilandsbiographie, nicht durchaus auf der Höhe von Ludwigs vorangegangenen historischen Porträts, doch um ihrer psychologischen Klarheit willen lesenswert. Damit bin ich am Ende. 

Der Bücherfreund: Ist Ihre Liste vollständig?

Der Büchersnob: Meiner Meinung nach überkomplett! Und nun verraten Sie mir noch, was Sie bei der Auswahl aller dieser Bücher geleitet hat? 

Der Kritiker: Sie irren in der Annahme, mein Lob-Index erhebe nur den mindesten Anspruch auf Vollständigkeit. Er ist unvollständig, weil subjektiv. Damit beantwortet sich auch Ihre Frage. Um gut zu sein, müssen Bücher, meiner Meinung nach, zwei Forderungen erfüllen: Die der Kunst: diese Forderung ist relativ. Die der Menschlichkeit: diese Forderung ist absolut. 

In: Neue Freie Presse, 16.12.1928, S. 1-3.

Rudolf Lothar: Der Autor als Unternehmer (1926)

Als ich im Herbst vorigen Jahres zu Beginn der Saison in einem meiner Artikel an dieser Stelle den Berliner Theaterverhältnissen eine sehr pessimistische Diagnose stellte, waren die Berliner Theaterdirektoren über meinen Artikel sehr empört. Ich muß gestehen, daß diese Empörung mir sehr sympathisch war. Denn zu keinem anderen Beruf braucht man mehr Optimismus und Selbstvertrauen als zum Berufe des Theaterdirektors. Ein guter Theaterdirektor muß an sich, an seine Schauspieler, an seine Autoren glauben und muß diesen Glauben dem Publikum beibringen. Wenn ihm das gelang – in der guten alten Zeit – dann war er geborgen. Aber heute genügt auch der stärkste Optimismus nicht mehr, um ein Theater zu einem gewinnbringenden Unternehmen zu machen, selbst dann nicht, wenn das Publikum tatsächlich kommt und ein Stück tatsächlich Erfolg hat. Der Etat ist nicht hereinzubringen. Die Schauspielergagen sind nicht zu erschwingen. Auch darüber habe ich bereits an dieser Stelle gesprochen, wie die Gagenforderungen der Schauspieler heute jedes Theatergeschäft unmöglich machen. Leider hält das Frühjahr, was ich im Herbst prophezeite. Die großen Truste entlassen alle ihre Schauspieler. Ein so kluger Theatermann wie Dr. Zickel sagte, wie die Leser Ihres Blattes wissen, daß am 1. Mai wohl alle Berliner Theater geschlossen sein dürften. So schwarz sehe ich nun allerdings nicht, aber ich muß Zickel recht geben, wenn er behauptet, daß unter den gegenwärtigen Verhältnissen das Theaterführen unmöglich ist. Es müssen ganz neue Verhältnisse geschaffen werden, das Theater muß auf ganz neuer Basis aufgebaut werden. Aber auf welcher Basis? 

In Paris ist eine solche neue Basis gefunden worden. Dort tritt immer mehr und mehr der Autor selbst als Unternehmer auf. Dort wird es nach und nach zur Regel, was bei uns noch verpönt ist. Der Theaterdirektor ist sein eigener Autor. 

Die erfolgreichen französischen Dramatiker geben ihre Stücke in eigener Regie: das tut Bernstein, das tut Verneuil, das tun Savoir und andere. Wenn ein Dramatiker ein Stück hat, von dem er sich etwas verspricht, dann geht er zu einem Direktor, garantiert ihm den Etat und ein paar hundert Franc darüber und der Rest fließt in seine Tasche. Natürlich ist das Geschäft ausgezeichnet, wenn das Stück einschlägt. Geht es schief, so kann der Mißerfolg dem Autor Kopf und Kragen kosten. Allerdings hat der Pariser Autor weit mehr Möglichkeiten, den Erfolg zu forcieren als der deutsche Autor. Die Theaterreklame spielt in Paris eine viel größere Rolle als bei uns. Den wahren Sinn der Kritik verstehen nur die Leute vom Bau und die Eingeweihten, denn äußerlich ist fast jede Kritik so liebenswürdig und wohlwollend, daß der gewöhnliche Leser oft an einen Erfolg glaubt und gar nicht ahnt, wie der Kritiker den Autor verreißt. Eine geschickte Claque täuscht vollends den Provinzbesucher über den Wert des Stückes hinweg. Allerdings läßt sich ein Mißerfolg auch dort durch alle Mittel und Mittelchen nicht zu einem Erfolg stempeln, aber es ist immerhin möglich, vor allem, wenn man über genügend Geld verfügt, ein Stück statt zwanzigmal, wie es regulär gehen würde, hundertmal zu geben. Und hat einmal ein Stück die hundertste Aufführung erreicht, dann rollt es von selber weiter. Zum Theaterführen gehört nun einmal Geld, denn um einen richtigen Erfolg zu machen, braucht man Reklame und Reklame muß gut bezahlt werden. Der Autor also, der als Theaterdirektor auftritt, wenn auch nur vorübergehend und von Fall zu Fall, muß Kapitalist sein. Ich weiß nicht, ob sich heute deutsche Autoren finden würden, die bereit wären, Geld in ihre eigenen Stücke zu stecken. Ich betone: heute. Denn ich kann mir sehr gut den Fall vorstellen, daß es bald für den Autor keine andere Möglichkeit geben wird, sein Stück auf der Bühne zu sehen, als wenn er selbst als Unternehmer auftritt. Vielleicht läßt sich sogar einmal eine Formel finden, auch die Schauspieler am Risiko zu beteiligen und ihre Gage von der Größe des Erfolges abhängig zu machen. 

Das Pariser System nähert sich, wie man sieht, sehr dem amerikanischen. Auch in Amerika übernimmt der Unternehmer stets nur das Risiko für ein Stück. Nur daß drüben der Unternehmer selten der Autor selbst ist. Ich möchte aber als Kuriosum erwähnen, daß der größte Erfolg, den die amerikanische Bühne je erlebt hat, das Stück Abie’s Irish Rose ist. Die Autorin Annie Nichols konnte das Stück nirgends anbringen und wagte endlich, es auf eigene Faust in einem ad hoc gemieteten Theater zu spielen. Dieses Wagnis hat ihr bis heute über drei Millionen Dollar eingebracht. Das Stück ist in New York allein über viertausendmal gespielt worden. Dieses Beispiel mag beweisen, daß der Autor als Unternehmer auch sehr gut reüssieren kann, wenn er Glück hat. Allerdings, ein bißchen Hasard wäre bei diesem System immer im Spiele. Noch kein Mensch mit irdischen Sinnen hat bis heute die Chancen eines Stückes vor der Aufführung voraussehen können. Es wirken zu viele Imponderabilien mit. Es kann passieren, daß ein Stück gegeben wird, das einem maßgebenden Kritiker außerordentlich gefallen hätte. Dieser Kritiker wird am Tage der Premiere krank, und dem Kollegen, der ihn ersetzt, gefällt das Stück ganz und gar nicht. Oder: an dem Tage, wo ein Lustspiel gegeben wird, passiert in den Nachmittagsstunden kurz vor der Aufführung etwas Schreckliches, was die ganze Stadt in Aufruhr versetzt. Die Stimmung ist vorbei. Das Lustspiel, das an einem anderen Tage vielleicht stürmische Heiterkeit erweckt hätte, findet bei dem zerstreuten, erregten Publikum nur eine kühle oder gar eisige Aufnahme. Zu jedem großen Erfolg gehört eine Dosis Glück. Also ist Theaterleben allemal ein Glückspiel. Der heutige Direktor kann die Scharte von gestern morgen auswetzen. Der Autor-Unternehmer hat keinen zweiten Pfeil im Köcher. Der Mißerfolg kann ihn finanziell so schwer schädigen, daß er Jahre braucht, um sich wieder hochzurappeln. Aber da wird es vielleicht auch Mittel geben, um die Gefahr abzuschwächen. Etwa eine Kombination zwischen Unternehmer und Autor, eine Paarung von Autor und Finanzmann, wobei natürlich der Autor auf einen Teil seines Gewinnes verzichten müßte. Jedenfalls aber glaube ich, daß die Erscheinung des Autors als Unternehmer nicht auf Paris beschränkt bleiben wird. Er ist gewiß eine der Formen des künftigen Theaterbetriebes. 

In: Neues Wiener Journal, 14.3.1926, S. 16.

Was soll man lesen? Umfrage der Bukum-AG (1924)

Die Bukum A.G. (vorm. Hugo Heller & Co.) hat ihrem diesjährigen Weihnachtskatalog eine interessante Rundfrage vorangestellt, deren Beantwortung sie iener großen Anzahl namhafter Schriftsteller überlassen hat. 

„Welches Buch des Jahres hat auf Sie den stärksten Eindruck gemacht? Wodurch ist dieser Eindruck nach Ihrer Meinung begründet?“

So lautet die Frage. Mit Bewilligung der Bukum A.G. veröffentlichen wir nachstehend einige der interessantesten Antworten, doppelt interessant dadurch, daß es ja selbst Schriftsteller sind, welche ihrer Ansicht hier Ausdruck geben. 

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Ich bin ein viel zu unpünktlicher Leser, als daß ich es wagen dürfte, das beste Buch des letzten Jahres zu nennen; schon ein rein subjektives Urteil wäre unfair gegen die vielen guten Bücher, die ich offenbar im letzten Jahr nicht gelesen habe. Hätten Sie mich nach dem schlechtesten Buch des Jahres gefragt oder nach dem Buch, das mir am stärksten mißfiel, dann hätte ich leichter antworten können: ich hätte, einem bewährten Instinkt folgend, unter den großen Schlagererfolgen des Jahres gesucht, und ich verrate Ihnen, obwohl Sie mich nicht gefragt haben, daß die Versuchung nahegelegen hätte, blindlings und ohne Wahl Ossendowskis verlogenes Buch über Tierische Menschen und Götter zu nennen. Wenn ich aber ein gutes Buch nennen soll, kann ich Ihnen höchstens sagen, daß unter allen Büchern, nicht des letzten Jahres, sondern der letzten Jahre, der Roman Babbit des Amerikaners Sinclair Lewis mich am stärksten angepackt hat – diese große Anklage gegen die Bourgeiosie nicht als soziale Klasse, sondern als Lebensform; ich denke an dieses Buch mindestens einmal am Tag, seitdem ich es gelesen habe. Ich liebe dieses Buch, weil es zugleich revolutionär und geduldig ist, weil es zugleich zu verurteilen und zu begnadigen weiß, weil der Autor, als der erste Dichter nach Thackeray, jenen höchsten Grad erlangt hat, den des tragischen Humoristen…

Aber Sie wollen ja, daß ich von einem Buch spreche, das vor höchstens zwölf Monaten erschienen ist. Ich unterdrücke eine Neigung, noch von dem Roman Goha le Simple der Ägypter Albert Adès und Albert Josipovia zu schwärmen (es erschien in Paris im Jahre 1922) – und beschließe resolut, Ihnen das meiner Meinung nach beste Buch dieses, wie mir scheint, nicht sehr reichen Jahres 1924 nicht zu nennen. Ich begnüge mich damit, ohne Vergleich, ohne Rangordnung, ohne sie anderen guten Büchern ungerecht vorziehen zu wollen, von zwei ausgezeichneten Büchern dieses Jahres die Titel herzusetzen: das erste, Andreas Reischks Buch über Neuseeland, wird in Ihrer Buchhandlung viel gekauft – die Leute mögen es, obwohl es ein scheues, schüchternes, eigentlich unscheinbares Buch ist – es ist herrlich, voll von einer Wanderlust, Natursehnsucht, Schlichtheit! – und das andere kauft niemand, der Autor, Josef Weinheber, ist noch nicht berühmt, und der Roman Das Waisenhaus auch nicht. Ich nehme an, die Durchschnittskunden Ihrer Buchhandlung werden dieses Buch noch einige Zeit nicht kaufen – und daher nicht erfahren, warum es so gut ist. 

Richard A. Beermann

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Welches Buch des letzten Jahres den stärksten Eindruck auf mich gemacht hat? Die Denkwürdigkeiten des Grafen Waldersee. Und weshalb? Weil sie ganze Bibliotheken selbst guter Romane an Anschaulichkeit, Interessantheit und Spannungsreiz aufwiegen. Wäre die deutsche Republik eine; sie würde einen Auszug aus diesen Denkwürdigkeiten – mehr als acht Druckseiten brauchten es nicht zu sein – in 60 Millionen Exemplaren anfertigen lassen und damit der nationalistischen Kriegsschuld- und der Dolchstoß-Legende für immer ein Ende machen. 

Siegfried Jacobsohn

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Ich bin mit der Nicht-Abfassung meiner eigenen Werke so intensiv beschäftigt, daß ich nicht die Zeit fand, irgend ein Buch des Jahres 1924 kennenzulernen. 

Anton Kuh

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Unter den wenigen Büchern von allgemeinerem Interesse, die ich in diesem Jahr gelesen habe, möchte ich das Buch von Rolf Schott „Reise in Italien“ (Sibyllen-Verlag) herausheben. Rolf Schott ist Maler und Dichter zugleich, er schildert italienische Landschaften und südliche Gesittung mit einer so tiefen Kenntnis aller Kultur und einem so klaren Künstlerbild, daß diesem Buch nicht viele Reisebücher gleichgesetzt werden können. Ganz zarte Zeichnungen sind dem Text beigegeben. Niemand, der Italien kennt, wird dieses Buch lesen, ohne ihm dankbar zu sein. 

Emil Lucka 

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  1. Der kleine Peter von Anatole France.
  2. Durch die Zartheit, mit der das Problem der Kinderpsyche behandelt ist. 

Maria Mayer

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Von neuen Büchern hat mir zuletzt ein historisches Werk, Die Wiedertäufer in Münster 1534/35, – Berichte, Aussagen und Aktenstücke von Augenzeugen und Zeitgenossen, ausgewählt von Klemens Löffler, Jena bei Diederichs – großen Eindruck gemacht. Warum? Weil darinnen, im Bild eines politisch-religiösen Umsturzes, steht, was nicht alle Tage in Büchern zu finden ist: ein ganzes Bild menschlichen Lebens.  

Max Mell 

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Ich nenne lieber einige Bücher, aus verschiedenen Gebieten; denn Eindrücke sind durchaus nicht immer vergleichbar: 

Den im Verlag Die Schmiede erschienenen Gedichtband Sprung auf die Straße von Victor Wittner. Neuer Mann, Österreicher. Es sind Bildchen der Großstadtstraße, aus dem sechsten Stockwerk eines vielfenstrigen Hauskäfigs gesehen. Von einem, der hinabspringen möchte, um dabei zu sein, aber auch, aus, Gott weiß, welchen Gründen. 

Die bei Gunther Langes erschienene Erzählung Oskar Maurus Fontanas Die Insel Elephantine. Sie behandelt bildhaft, in einem Hotel am Nil, einen Niederbruch der Zivilisation im Zusammenstoß mit Naturkräften. Sie ist eine Parabel und das Entscheidende an ihr ist „der unendlich ferne Punkt“, zu dem hin jede Parabel deutet und sich wendet, was wir in der Geometrie gelernt, aber im Leben vergessen haben. Pessimismus und Erlösung, Zivilisation und Natur, unheilbare Widersprüche mögen sich dort schließen, das Buch selbst hat keinen Schluß: es flieht etwas hindurch, hinterläßt als Zeichen den wie aus Vogelfedern gewebten Stil des Dichters.

Eine bei E. Reiß erschienene Feuilletonsammlung Der rasende Reporter, weil der „Tagesschriftsteller“ Egon Erwin Kisch kein durchgefallener, sondern ein aus der Ewigkeitsschule davongelaufener Dichter ist. Er wurde lieber Pilot, U-Bootsmann, Reporter bei Mördern, Henker, Diplomaten, Taschenspielern und Hochöfen; alles nur für einen Tag oder ein Feuilleton, ungeduldig, witzig, essentiell; der Leser, der die Nase in dieses Buch steckt, sieht durch ein Periskop Gebiete der Welt (samt Beleuchtung), die er sonst nie kennenlernen könnte; diese Art der Reportage ist eine Zeitnotwendigkeit. 

Das Kuriositäten-Kabinett der Literatur, bei Paul Steegemann erschienen. Nicht nur, weil diese Essais Führer der zu wenig bekannten amüsanten oder wertvollen Erscheinung der Weltliteratur sind. Oder weil Franz Blei, ihr Dichter, einer der gescheitesten und belesensten europäischen Schriftsteller ist. Sondern auch, weil er einer der größten Kritiker ist, der sein Geschäft leider nie anders ausübt, als im Vorübergehen mit ein paar Bemerkungen.

Den Fall Elli Link von Alfred Döblin, welcher im Verlag Die Schmiede, Sammlung Außenseiter der Gesellschaft, erschienen ist, weil Döblin hier nackter als es in der Dichtung üblich ist, seine geistige Arbeit zeigt. Dieser im jüngeren Deutschland ganz vorne stehende, in Wein merkwürdig wenig bekannte Dichter ist Arzt, und seine Psychologie ist stark psychoanalytisch gefärbt, Doch kann man menschenpsychologisch zwar zerlegen, unmöglich ist es, sie aus solchen Elementen aufzubauen; es bleibt etwas übrig, das Ungesetzliche, Tatsächliche, die Art der Mischung, das Schicksal, das Zufällige und eben deshalb Individuelle: dafür hat Döblin in dieser kleinen Arbeit ganz sachlich und unsentimental ergreifende Ausdrucksmöglichkeiten gefunden. 

Nachtrag: Die bedeutende Drammaturgie des Films Der sichtbare Mensch von Béla Balázs, Deutschösterreichischer Verlag, habe ich nur deshalb aufzuzählen vergessen, weil ich gerade einen großen Essai über sie schreibe.

Robert Musil 

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Stärkster Bucheindruck dieses Jahres: Brandes, Voltaire

Arthur Schnitzler

In: Der Tag, 10.12.1924, S. 10.

Oskar M. Fontana: Der Kampf um das Buch (1928)

             Eine Zeitlang schien es, als sterbe der „liebe Leser“ in Deutschland langsam, aber unerbittlich aus, als bauten die Verleger am Bücherturm nur aus Gewohnheit weiter. Wer nicht Fußball spielte, tanzte. Wenn schon etwas gelesen werden mußte, weil man nicht einschlafen konnte, las man Magazine. Die vermehrten sich wie die Fliegen. Für ein Novellenbuch war und ist kein Käufer zu finden, aber für ein Magazin mit Kurzgeschichten, also auch Novellen, waren und sind tausende Leser zu finden.

             Es ist gesund und erfreulich, daß der Mensch endlich wieder einmal gemerkt hat, daß er einen Körper besitzt und daß er ihm ein Daseinsrecht geben muß. Aber es ist ungesund und unerfreulich, daß er darüber ebenso den Geist vergessen hat so wie ein früheres Stubenhockergeschlecht den Körper. Oberflächlichkeit ist ebensowenig ein Ziel wie Ästhetizismus.

             Was geschah von „Amts wegen“, um dieser drohenden Abwanderung der Heutigen ins belanglose Banale einer zu nichts verpflichtenden Magazinswelt zu begegnen? Nichts geschah. Der Staat hielt und hält ein paar Theater aus in der lächerlichen Überschätzung der Kulissen. Damit glaubt er seinen Verpflichtungen gegenüber der Dichtung und der Literatur erfüllt zu haben. Er deckt das Defizit, sorglos kann also „Alt Heidelberg“ oder „Das Duell am Lido“ gegeben werden. Denn die Theater, auch die Staatstheater, müssen gefüllt werden und so zahlt der Staat dafür, daß Publikumsstücke gespielt werden können. Deutschland gibt für seine fünf oder sechs Staatstheater jährlich 15 Millionen Mark aus. Diesen Millionen stehen 10.000 Mark gegenüber als jährliche Gesamtsumme der Aufwendungen für Literaturförderung.  (Österreich wiederholt dieses groteske Verhältnis im Kleinen.) Der Staat, mit den Repräsentationspflichten und Lasten des Theaters beladen, merkt gar nicht, daß das Buch und damit die geistige Spannkraft seines Volkes bedroht ist. Es kümmert ihn nicht.

             Merken es die Parteien? Kümmert es sie? Nicht im mindesten. Sie haben keine Zeit für solche „Kleinigkeiten“. Sie verurteilen die Kräfte, die innerhalb des Parteigefüges für eine Erhaltung des lebenden alten Schrifttums und einen durchsetzenden Vorstoß der neuen Autoren sorgen könnten, zur Einflußlosigkeit. Und so kommt es, daß eine Wiener sozialistische Wochenschrift für Frauen einen Roman von der Marlitt bringt. Widerspruchslos. Wo hört die Bourgeoisierung des Geistes auf? Wo beginnt sie?

             Die Not des deutschen Buches wird nur von den Verlegern bekämpft. Nicht aus Idealismus natürlich, sondern aus Wirtschaftsgründen. Sie kämpfen damit um ihre Existenz. Der Schriftsteller, als der ökonomisch Unselbständige, konnte diesen Kampf gar nicht aufnehmen, selbst wenn er ihn ahnte, außerdem blieb ihm der rettende Ausweg in die Zeitung offen. Der Verleger aber hat keine anderen Möglichkeiten, als die im Kapital und im Buch enthalten sind. Das Mißverhältnis zwischen beiden wurde in den letzten Jahren immer größer. Der Verleger begann das sehr heftig, sehr unangenehm zu spüren. Er mußte sich aus Selbsterhaltungstrieb dagegen zur Wehr setzen und wurde dadurch der einsame Schützer des Buches.

             Von der einen Seite her geht der Kampf um die Bewahrung der feinsten, gebrechlichsten und am „überflüssigsten“ scheinenden Literatur, das heißt um Lyrik und um jene Form von Epik die aus einem inneren Gesetz oder einem inneren Mangel – gleichviel – sich nur an wenige wenden kann und die doch das Recht hat, gehört zu werden, und der gegenüber die Gesellschaft die Verpflichtung hat, sie am Leben zu erhalten. Hans Martin Elster, der nicht nur Verleger ist (Horen-Verlag), sondern auch Schriftsteller, kommt diesem am meisten bedrohten Flügel der Literatur mit der Forderung nach seiner Schaffung einer Notgemeinschaft deutschen Schrifttums zu Hilfe. Er verweist als Beispiel auf die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, die glänzend arbeitet und durch die Beistellung von Geldmitteln Publikationen ermöglicht, die sonst nicht hätten ediert werden können.

             Mit Recht scheint ihm ein Zustand absonderlich und unwürdig, der wohl den über den Dichter Schreibenden schützt, den Dichter selbst aber für sich allein sorgen, also verkommen läßt. Eine Notgemeinschaft des deutschen Schrifttums kann, indem sie einen Teil der Herstellungskosten übernimmt, bewirken, daß wieder Lyrik, daß wieder sucherische oder abseitige Dichtung gebracht werden kann, und daß ihre Autoren wieder zu leben vermögen. Die Widerstände gegen eine solche Notgemeinschaft kommen von Beamten, von Administrativen, die ihre Schreibtische für wichtiger halten als eine ganze Generation von Schriftstellern. Dennoch scheint mir eine Notgemeinschaft des Schrifttums nicht mehr aufzuhalten. Sie ist notwendig. Sie wird sich durchsetzen.

             Von der anderen Seite wird der Kampf um das Buch mit der Idee der Demokratisierung des Buches geführt. Es ist zu teuer geworden, es steckt in seinen Kalkulationen, in seiner Produktions- und Verkaufsweise noch immer in der Postkutschenzeit. Auch das Verlagswesen hat erkannt, daß es „Massen“ gibt, und daß diese mit ihren eigenen Mitteln erfaßt werden müssen. Organisierung der Kaufenden versuchten die Buchgemeinschaften. Ihre Gefahr: Sattheit, Schwerfälligkeit, Zaghaftigkeit haben sie bisher nicht überwunden. Die Organisation wurde ihnen letzten Endes wichtiger als der Geist.

             Die Demokratisierung des Buches macht erst der Verlag. Th. Knaur Nachf. in Berlin zur Wirklichkeit. Er ging von dem Gedanken aus, daß das deutsche Buchwesen im Gegensatz zum französischen nicht auf Broschüren, sondern auf dem gebundenen Buch beruhe, daß also dieses zum billigsten Preis hergestellt werden müsse, wenn Deutschland wieder für das Buch erobert werden solle. „Die Romane der Welt“ begannen im Vorjahr in diesem Sinne zu erscheinen und jetzt läßt der Knaur-Verlag ihnen die Standard-Bücher folgen, das sind Romane und wissenschaftliche Werke dauernder, klassischer Art. Hier wie dort ist das auf gutem Papier klar gedruckte Buch in Ganzleinen gebunden und kostet einheitlich 2 Mark 85 Pfennig (nicht ganz 5 Schilling). Den Romanen der Welt konnte Ungleichheit des Niveaus und Favorisierung der Ausländer vorgeworfen werden (trotzdem: sie brachten Joseph Hergersheimer, O’Flagerty, Walter Mehring, Sinclair Lewis – mutige und kühne Werke). Die Standard-Bücher sind dem Streit der Meinungen entrückt. Sie bringen Ewiges wie Dante und Dostojewski, ein deutsches Volksbuch wie Freytags Bilder aus der deutschen Vergangenheit, sie versuchen Jakob Burckhardts Kultur der Renaissance, bisher nur unter den „Gebildeten“ berühmt und geliebt, auch unter die Massen zu bringen – es ist der erste Versuch, nach Haeckels Welträtseln, ein wissenschaftliches Werk zu popularisieren – ein sehr ernster Versuch, dem entscheidende Bedeutung zukommt.

             Die Standard-Bücher bringen auch den ganzen Konrad Ferdinand Meyer, der bisher auf dem Ehrenfriedhof des deutschen Buchhandels ruhte. Diese vier Einzelbände, deren erster den Jürg Jenatsch und Angela Borgia, deren zweiter die Gedichte Huttens letzte Tage und Engelberg, deren dritter die Novellen und deren vierter den Heiligen und die Versuchung des Pescara bringt, sind eine sehr große Leistung. Im Wirtschaftlichen: jeden der Bände dieser vorbildlichen Art zu dem billigsten Preis herauszubringen und ohne den Zwang, alle vier gleichzeitig abnehmen zu müssen. Im Geistigen: weil hier ein großer deutscher Schöpfer endlich die Stoßkraft erhält, die ihm gebührt.

             Der Verlag Th. Knaur Nachf. hat zur Verbilligung seiner Ausgaben von Ford das Produktionsprinzip des rollenden Bandes übernommen, aber auch die Grundidee. Dem amerikanischen Motto: „Jedem sein Auto“ entspricht hier: „Jedem sein Buch“. Amerikanismus, ins Deutsche umgebogen. Es ist dadurch bewiesen, daß Bücher von innerer und äußerer Qualität zu billigstem Preise hergestellt werden können und daß dann die Leser, die es fast nicht mehr gab, wieder da sind. Und das ist das sehr Wichtige an dem Versuch des Knaur Verlages. Daß 400.000 Bände seines Konrad Ferdinand Meyer innerhalb einer Woche vom deutschen Buchhandel und seinen Käufern verschluckt wurden, ist mehr als ein persönlicher Erfolg – der bekümmerte die Allgemeinheit kaum –, vielmehr der in der Wirklichkeit vollzogene Beweis einer bisher geleugneten billigen Herstellungsweise, und die Tatsache des Erfolges wird die deutschen Verleger zur Umstellung ihrer Produktion zwingen. Es gibt ihn wieder. Er ist da. Jede Schlacht um den Leser ist aber ein Sieg des Buches. 

In: Der Tag, 4.3.1928, S. 3.

N.N.: Boykott österreichischer Schriftsteller in Deutschland (1933)

             Namens des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller in Österreich richtete vor einigen Tagen der Vorsitzende des Verbandes, Oskar Maurus Fontana, ein Schreiben an die österreichische Gesandtschaft in Berlin, in dem es unter anderem heißt: 

             Wie aus Zeitungsberichten zu ersehen ist, hat die deutsche Reichsregierung in letzter Zeit sich wiederholt gegen den Boykott im Wirtschaftsleben gewandt und ihn an manchen Orten untersagt, mit der Begründung, „daß in einem solchen Vorgehen eine öffentliche Beleidigung, eine versuchte Nötigung oder gar Erpressung gesehen werden kann“. Was für das Wirtschaftsleben gilt, muß auch für das Geistesleben seine Berechtigung haben.

Nun wird gerade in den letzten Wochen in verschiedenen deutschen Zeitungen, unter anderem auch im „Börsenblatt“ des deutschen Buchhandels, gegen österreichische Schriftsteller zum Boykott aufgefordert, unter dem Vorwande, sie seien als Österreicher Deutschfeinde. Diese Aktion bezieht ihr Material zum größten Teil von österreichischen, in letzter Zeit nach Deutschland übergesiedelten Schriftstellern.

             Der Schutzverband deutscher Schriftsteller in Österreich findet es unter der Würde des Standes, sich mit einem solchen Vorgehen, das sich selber richtet, weiter zu beschäftigen und überläßt das Urteil darüber getrost jedem Menschen, der sich sein moralisches Bewußtsein bewahrt hat.

             Etwas anderes ist aber der angedrohte und in einigen Fällen auch zur Ausführung gelangte Boykott, dem österreichische Schriftsteller in Deutschland zum Opfer gefallen sind, Sie zu schützen, ist um so mehr unsere Pflicht, als alle diese Verdächtigungen auf schlechte, übelwollende Informationen zurückzuführen sind. Wir wagen zu behaupten:

Kein österreichischer Schriftsteller (die oben erwähnten „Gebärdenspäher und Geschichtenträger“ ausgenommen) hat sich gegen die deutsche Kultur vergangen; die deutsche Kultur kann darum keinen österreichischen Schriftsteller ausschließen.

             Der S.D.S.Ö ersucht Sie verehrter Herr Gesandter, im Propagandaministerium, in der Reichsschrifttums-Kammer und in der Reichspresse-Kammer in diesem Sinne vorstellig zu werden und dahin zu wirken, daß solche Ächtungen, in welcher Form immer sie erfolgt sein mögen, aufgehoben werden. Der S.D.S.Ö. ist bereit, jenen ihm zur Kenntnis gebrachten einzelnen Fall gemeinsam mit den österreichischen offiziellen Stellen zu untersuchen und aufzuklären. Anderseits darf erwartet werden, daß der von unverantwortlichen Personen eingeleitete und geführte Boykott österreichischer Schriftsteller in Deutschland ehestens zum Stillstand gebracht werde.

In: Der Tag, 10.12.1933, S. 6.