Kurt Sonnenfeld: Streber von heute. (1921)

Beim Umsturz dachte man sich das sehr einfach: der Adel wird abgeschafft, Ordensauszeichnungen werden nicht mehr verliehen, folglich hört alle Streberei auf. Aber die menschliche Natur läßt sich nicht von heute auf morgen umkrempeln. Und die Streber, die seit jeher gewohnt waren, ihre Laufbahn auf dem Bauch zurückzulegen, rutschen auch heute noch auf dem Bauch langsam, aber sicher vorwärts und aufwärts wenn sie auch ihr Haupt manchmal mit einer Jakobinermütze geschmückt und dadurch dem Zeitgeist Rechnung getragen haben.

Der Krieg war die Hochkonjunktur der Streberei. Wer anläßlich des Kaiserjubiläumshuldigungsfestzuges (welch schönes Wort) noch nicht den ersehnten Adel, sondern vielleicht nur den Franz-Josef-Orden bekommen hatte, der war nunmehr überzeugt, daß man diesmal Allerhöchsten Ortes seine Verdienste gebührend zu würdigen wissen und ihm Gelegenheit geben werde, sich eine neunzackige Krone in die Leibwäsche sticken zu lassen.

Man benutzte die sinnreichsten Mittel, um sich Verdienste zu erwerben. Ein Herr zum Beispiel hatte die Spezialität, „Anregungen“ zu machen, wie man dem Hinterland durch Sparsamkeit eine verlängerte Kriegsführung ermöglichen könne. Er war sonst ein ruhiger, gesitteter Mensch; aber wenn der Dämon der Anregungen in ihn fuhr, so rief er schäumend: „Sammelt Tramwaykarten! Sammelt Obstkerne! Sammelt Abreißkalender!“ Diese genialen Anregungen hätten ihm auch wirklich den Adel eingetragen, wenn der Krieg nicht durch den Umsturz ein vorzeitiges Ende genommen hätte. Der Ärmste, der sich durch die dumme Revolution um die Früchte seiner Arbeit betrogen sah, ist trübsinnig geworden und macht gegenwärtig in Steinhof noch immer Anregungen: „Sammelt Regenwürmer! Sammelt Schneeflocken!“

Immerhin sind diejenigen noch gut daran, die bloß durch Anregungen und nicht auch durch Zeichnung von Kriegsanleihe eine Standeserhöhung anstrebten. Denn Anregungen sind ja schließlich nur eine geistige Arbeit, und geistige Arbeit ist billig, – oder das Geld, das auf dem Altar des Ehrgeizes geopfert worden ist, hätte sich in einer Partie Baumwollwaren jedenfalls weit besser verzinst.

Diese Streber waren verhältnismäßig harmlos, –  obwohl auch sie jene Atmosphäre mitschufen, deren Ausdünstungen noch heute die Luft vergiften. Weniger harmlos aber waren die Streber, die auf fremde Kosten ihren Ehrgeiz befriedigen wollten und bedenkenlos Menschenleben hinopferten, um sich bei irgendeiner maßgebenden Persönlichkeit einzuschmeicheln.

Herrmann Bahr hat kürzlich in seinem Tagebuche gesagt, Personenwechsel sei der Sinn aller Revolutionen und unter neuem Namen werde der alte Betrieb fortgesetzt. Wer aber inbrünstig an die beglückende, befreiende und erneuernde Kraft einer gewaltlosen und geistigen Revolution glaubt, der wird eine politische Umwälzung, bei der sich allenfalls ein Personenwechsel – und oft nicht einmal dieser – vollzogen hat, nicht als revolutionär bezeichnen. Denn ob die Streber, die auf dem Buckel des Volkes zur Macht emporklettern möchten, von rechts oder von links kommen, das bleibt sich für das Volk gleich. Die geistige Revolution ist noch fern.

Es wird weiter gestrebt. In der Elektrischen kam ich neulich mit drei fremden Herren ins Gespräch, die über die hohen Tabakpreise schimpften. Alle drei hatten das Bedürfnis, sich vorzustellen: „Rat Meier!“ – „Rat Müller!“ – „Rat Huber!“ – Ich sagte dreimal: „Sehr angenehm!“ und suchte herauszubekommen, mit was für Räten ich es zu tun habe. Rat Meier entpuppte sich als Armenrat, Rat Müller als Arbeiterrat und Rat Huber als (wie er neckisch hinzufügte: ehemaliger) kaiserlicher Rat… Angesichts dieser drei Räte, die einander an Titel, Gestalt und Ansichten so ähnlich waren, daß man sie getrost hätte mit einander vertauschen können, war ich buchstäblich und im wahrsten Sinne des Wortes ratlos.

Man hat oft darüber gelacht, daß sich viele Kriegslyriker von 1914 mit beflissener Promptheit in die Freiheitsfänger von 1918 verwandelten. Man täte ihnen aber unrecht, wenn man sie ausnahmslos der Streberei beschuldigen wollte. Künstler reagieren auf ein Erlebnis zumeist mehr mit dem Gefühl als mit dem Verstande – und die Lyriker, die sich im Juli 1914 für die Mobilisierung und im Oktober 1918 für Barrikadenkämpfe begeisterten, brauchen deshalb durchaus keine Gesinnungslumpen zu sein, sondern sie erlebten in beiden Fällen den prachtvollen und berauschenden Elan einer Massenbewegung als ästhetisches Schauspiel, ohne nach der logischen und sittlichen Berechtigung dieser Bewegung viel zu fragen. Ich spreche aus Erfahrung, denn ich war selbst in der Überschwänglichkeit meiner zwanzig Jahre bei Kriegsausbruch glühend begeistert und ich verwahre in meiner Schreibtischlade sogar noch ein fürchterliches Gedicht, in dem ich Serben auf Scherben und Sterben reimte. Diese Begeisterung verflog aber bald und gründlich nach meiner Einrückung, als ich schaudernd erkannte, daß der Krieg eigentlich doch nicht das richtige Thema für Lyriker sei.

Aber selbst wenn manchen Literaten Gesinnungslosigkeit oder, sagen wir, allzu große Anpassungsfähigkeit vorgeworfen werden kann, so darf man mit ihnen nicht allzu streng ins Gericht gehen, da man die tieftraurigen Verhältnisse berücksichtigen muß, in denen diese Menschen leben. Ehrgeizig, nervös, von ihren Stimmungen gequält, zwischen Größenwahn und Verzagtheit hin- und hergerissen, wissen sie nur allzu gut und bekommen es täglich und stündlich zu fühlen, daß ihre Manuskripte nicht gerade Bedarfsartikel sind. Nirgends ist eine gewisse Eitelkeit begreiflicher und verzeihlicher als beim Literaten; denn hier sind doch Leistung und Name am engsten und unmittelbarsten mit einander verknüpft. Darum sind manche Literaten in ihren Namen geradezu verliebt und sind zu allem fähig, um ihren Namen und das mit diesem Namen verknüpfte Opus gedruckt zu sehen. Die Sehnsucht nach der Öffentlichkeit und nach dem Erfolg hat schon manchen Charakter verdorben und aller Würde beraubt. In mancher Literatenkaffeehäusern kann man beobachten, mit welcher Beflissenheit diese von unbefriedigtem Ehrgeiz zerfressenen Menschen darauf lauern, sich „Beziehungen“ zu verschaffen, die sie fortwährend grüßen und sich verbeugen, weil man doch nicht wissen kann, ob nicht der Herr mit dem Spitzbart ein Verleger und der glattrasierte Herr ein Rezensent ist. Sie fühlen sich von jedem abhängig und darum leben sie nach dem Grundsatz: Tiefer bücken, tiefer bücken, wenn man was erreichen will!

Wie während des Krieges, so muß man auch heutzutage zwischen harmlosen und gefährlichen Strebern unterschieden, nämlich Strebern, die auf fremde Kosten spekulieren. Haben die Streber von damals das Volk in die Schützengräben gehetzt, so hetzen die Streber von heute das Volk auf die Barrikaden. Bei gar zu blutrünstigen Schreiern, die sich aber immer hübsch vorsichtig im Hintertreffen halten, soll man sich immer fragen: Was will dieser Mensch für sich? Namen, Geld, Macht? Oder alles zusammen?

Ich hatte selbst einmal ein lustiges Erlebnis auf diesem Gebiete. Ein in seiner Gesinnung sehr anpassungsfähiger Herr, dessen literarische Leistungen hauptsächlich darin bestehen, daß er sich mit dem Privatleben einiger Mitmenschen sehr genau beschäftigt und durch eine mit Kraftausdrücken unflätigster Art gespickte Sprache den Anschein biederer Treuherzigkeit zu erwecken sucht, sandte mir einmal einige Monate vor dem Umsturz eine Gedichtsammlung und ersuchte mich in einem Begleitbriefe, einen Redakteur einer bestimmten Zeitung um die Veröffentlichung einer Probe aus der kleinen Sammlung. Er schloß sein höfliches Schreiben mit der liebenswürdigen Wendung: „Ich bin zu Gegendiensten gern bereit.“

Ich antwortete ihm, daß ich seinem Wunsche nicht entsprechen könne und daß er die Gedichte direkt an die betreffende Redaktion schicken möge. Damit hielt ich die Angelegenheit, der ich keine sonderliche Bedeutung beimaß, für erledigt.

Der Umsturz kam und der Herr entschloß sich, Karriere zu machen. Leider verstand er vom Sozialismus nicht das geringste und zog es vor, in Kaffeehäusern bei kaltem Aufschnitt und Bäckerei verschiedene Likörsorten zu studieren, anstatt sich mit dummen, theoretischen Büchern zu plagen, die er ja auch in Volksversammlungen nicht zu benötigen glaubte. Er dachte, für die Arbeiter sei es gerade gut genug, wenn man die Bourgeoisie, die Sozialdemokratie, die Anhänger der Gewaltlosigkeit und noch einige Richtungen mit wüsten Schimpfworten bombardieren und so ganz nebenbei und gleichsam per Hetz die Bewaffnung des Proletariats und ein bißchen Blutvergießen verlange. Aber die Arbeiter durchschauten bald, daß sie es mit einem Wurstel zu tun hatten und lachten ihn aus.

Auf meine Freunde und mich aber wirkte der blutrünstige Barrikadenkämpfer, der sich in Kaffeehäusern mästete und in Versammlungen haßerfüllt gegen die Schlemmer und Prasser und namentlich gegen die Zeitungen und insbesondere gegen eine ganz bestimmte Zeitung loszog, außerordentlich drollig. Denn wir lasen mit Vergnügen den Brief, in dem er mich noch vor wenigen Monaten ersucht hatte, gerade diese Zeitung um die Veröffentlichung einiger Gedichte zu bitten, diesen Brief, der mit einer für einen Barrikadenkämpfer immerhin sonderbaren Wendung schloß: „Ich bin zu Gegendiensten gerne bereit…“

Gerade diejenigen, denen die Revolution, nämlich die Beseitigung von Zwang, Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt heilig ist, empfinden es als tieftraurig, daß gewissenlose Streber an dem heiligen Feuer ihr Süppchen kochen wollen. Hier ist die Grenze, wo die Streberei verächtlich wird. Mit der Streberei nicht zu verwechseln ist aber der Ehrgeiz, der selbst in seinen Entartungen eine edle und schöpferische Leidenschaft ist. Der Ehrgeiz treibt uns Arbeiter zu rastloser Tätigkeit, er spornt die Geduld und Gedankenkraft des Forschers an und beflügelt die nervenverzehrenden Visionen des Künstlers. Ohne den Ehrgeiz wäre die Welt ein stickiger Sumpf.

In: Neues Wiener Journal, 18.4.1921, S. 3-4.

Else Feldmann: Kulturarbeit (1919)

             Wem sind noch die Augen blind? Wer glaubt noch, daß wir das für Kultur anzusehen haben, was uns vor dem Sommer 1914 Kultur bedeutete? Was war uns Kultur?

             Ein herrlich strahlender Maimorgen. In der Reitallee der Ringstraße sprengten elegante Reiter daher. Das war Kultur. Oder der Blumenkorso im Prater. „Ah, die Metternich!“ riefen ausgemergelte Proletarierweiber – schon damals ausgemergelt, wo ein Kilogramm Mehl noch dreißig Heller kostete!  – und hoben ihre rachitischen Kinder in die Höhe; und während die armen Kleinen mit den dünnen Ärmchen nach den Blumen griffen, wurde die Mutter vom Kopf bis zu den Füßen mit Kot bespritzt – allein, was tat’s, sie ging nach Hause, nach Ottakring, in dem frohen Bewußtsein, die Metternich in ihrer gelben Karosse gesehen zu haben. Oh, schmachvolle Wachträume der Armen! Oh, Hunger und Notdelirien der Elenden!

             Was nannte man alles Kultur?

Lueger hat den Wald- und Wiesengürtel um Wien gelegt, hat blühende Gärten um die Stadt gebaut. Aber wie hat er gleichzeitig das Herz dieser Stadt mit widerlichem Parteigezank vergiftet und verpestet.

Wie schön sind unsere Bauten. Zum Beispiel das spielerische Antikwerk des Reichsratsgebäudes, die wundervollen Mosaiken daran im Sonnenglanz eines Frühherbstabends. Und wie häßlich war das, was jahrzehntelang darin geschah. War das überhaupt je Arbeit erwachsener, ernster Menschen, nicht vielmehr wichtigtuerischem Geschrei kleiner Schullausbuben vergleichbar?

Was ist geschehen? Was haben wir außer Gassenhauern und Operetten geleistet? Die prächtige Renaissance des Burgtheaters. Für wen stand es da? Für die frisierten und manikürten Damen im Goldkäferschuh und in großer Gala, für glattrasierte Herren im Lackschuh und Frack, duftend nach Kölnerwasser. Das war Kultur! (Die Jugend aus besseren Häusern stellte sich an.) Wo aber war das Volk geblieben? Das Volk? Dafür waren die Branntweinschenken. Das Äquivalent für all die Nichtanteilnahme des Volkes an den Festen des Geistes, an den Freuden und Errungenschaften der Kultur war, daß die hohe Regierung den schrankenlosen Ausschank von Alkohol gestattete. Und er war billig. Um fünf, sechs Kreuzer konnte man sich einen ordentlichen Rausch antrinken, nach Hause gehen, in die freudlose Lichthofwohnung, um die Kinder zu zeugen, die dann mit Wasserköpfen, Rückgratverkrümmungen, Nerven- und Herzfehlern zur Welt kamen.

Unsere Herrscher, Staatsmänner, Parlamentarier und Politiker hatten im „Kirchenstaat“ ein Leben der äußeren Kultur zu leben mit gut gehender Beamten- und Polizeiwirtschaft; sie hatten dafür Sorge zu tragen, daß man nicht aus dem Gleichgewicht kam.

In: Neues Wiener Journal, 5.1.1919, S. 6.

Joseph Aug. Lux: Die vierzehn Punkte des Kunst- und Kulturrates. Mit Anwendung auf alle Städte und Länder. (1919)

             Wenn die Dinge ihren bisherigen Gang gehen, dann ist leicht vorauszusehen, daß auch in der neuen Staatsform an der von den jetzigen Lebensmächtigen besetzten Tafel kein Platz für ideenschöpferischen, geistigen Menschen ist. Nur im Äußerlichen hat sich das Bild verändert; etliche Destruktionen, eine Revolution der Oberfläche, aber die Seelen sind unberührt geblieben von dem Sturmhauch der Freiheit, der die herrlichsten Hoffnungen auf eine neue, wahre Kultur erweckte – und schon enttäuschte. Aus unfruchtbaren Herzen keimt keine edle Saat; im tiefsten Kern steckt der alte verknöcherte Geist, die kompakte Majoriät philiströser Hierarchien, der Bureaukratismus, die Zünftelei der Ämter, Bauämter, Kunstämter, Schulämter, der Berufsorganisationen, der Vereinsmeierei, der sentimental gefärbte Materialismus, die ewige Verneinung verkrüppelter Seelen, die unfruchtbare Rückständigkeit, die im innersten nicht weniger reaktionär ist als früher, auch wenn sie jetzt demokratische Spruchbänder zum Halse herausreckt. Das System ist geändert, der Geist ist geblieben, mehr oder weniger bewußt verschworen – vielleicht nicht so sehr aus angeborener Bosheit, als mehr aus Trägheit oder Dummheit – gegen die Macht neuer Ideen, dieses gefürchtetste und darum gehaßte und doch so unentbehrliche Göttergeschenk und gegen dessen Träger, die freie geistige Persönlichkeit.

             Und abseits von dem Lärm steht das leidende, namenlose Volk, vielfach roh und unwissend ohne eigene Schuld, und der Künstler, scheinbar entgegengesetzte Pole und doch innerlich zusammengehörig, wurzeleins, wesensgleich und schicksalsverwandt, so verwandt wie der himmelwärtsstrebende Baum und die Erde, darin er wurzelt. Der Künstler sucht das Volk als platonische Idee und Menschheitsbegriff; das Volk ahnt den Künstler vielleicht aus seinem unbewußten Genius heraus, aber sie können nicht zueinander kommen; was dazwischen steht, sind die Macher und Makler, die Wechsler im Vorhof des Tempels; was dazwischen steht ist vielleicht auch das sogenannte P.T. „Publikum“, jene konventionelle Menge, die indessen im Grunde noch lange nicht so schlecht ist wie ihre gefälligen Diener, Verblender und Ausbeuter.

             Wann bilden Kunst und Volk eine Einheit? Sie bilden eine Einheit, wenn eine Kunstschöpfung, ein gefühltes Leid, ein edler Gedanke, eine schöne Tat die Seelen ergreift. Um aber ein Echo zu geben bedarf es einer unbefleckten Empfängnis der Seelen, einer inneren Vorbereitung und entwickelter Seelenorgane: Kunst und Kultur sind im richtigen Sinn kein Luxus für die Reichen, sondern eine Kultsache für die Menschheit, mit der Glück und Leben der Einzelnen und des ganzen Volkes zusammenhängt. Dazu bedarf es der Aufwärtsleitung, der Emporläuterung aller Kräfte nach dem Priestertum //der hohen Sache, nach den inneren, höheren Zielen, die das Antlitz des Lebens veredeln. Das Werk, die Tat wird von Einzelnen geboren, Träger und Vollender ist die Gesamtheit mit ihrer Resonanz; nur nach den Schöpfungen des Genius bemißt sich die Kulturhöhe eines Volkes. „Darum sind ja von jeher Sänger, Seher und Gotterleuchtete gewesen“, lautet ein Wort Grillparzers am Grabe Beethovens, „damit sich die Menschheit an ihnen aufrichte, ihres Ursprungs eingedenk und ihres Zieles.“

             Wann und Wo hat man je ein Wort auch nur annähernd dieses Sinns aus dem Munde eines Volksvertreters oder Politikers vernommen? Wann und Wo gab es ein Parlament, einen Landtag, einen Gemeinderat, eine Wählerversammlung, wo von dieser tiefsten Notwendigkeit der Volkswirtschaft der menschlichen Werte die Rede war? Heute wäre Zeit dazu.

[…]

Dem Zwang der Ideen, die überall ihre Träger und Verfechter haben, wird sich der Geist der Schwere und der Negation auf die Dauer nicht widersetzen können. Aus dieser idealen Gemeinsamkeit stellen wir zunächst die vierzehn Punkte unseres Programms auf, die den Machthabern zeigen können, was not tut, nicht um bloß zu regieren, sondern um gut zu regieren.

             Punkt 1. Gründliche Reform der Schulpläne und Volkserziehung. Die Schule entläßt den jungen Menschen mit einem Ballast toten Gedächtnisraums und einem falschen Weltbild im Hinblick auf Geschichte und Leben. Flickwerk an den Schulplänen für Volks-Bürger-, Mittel- und Gewerbeschulen ändert nichts an dem Übel. Der Unterricht muß mit der Werkfreude (Spieldrang) des Kindes beginnen und damit fortsetzen im Sinn einer Verlebendigung und Erweckung aller schlummernden, schaffenden und seelischen Kräfte des Kindes und seiner künftigen Stellung im Alltag. Die Bestrebungen des Professors Czischek [Cizek] in Wien und an der Wiener Kunstgewerbeschule unter Roller, die Schule Joseph Hoffmann und die früheren Kurse des Malers Böhm für Frauen und Mädchen, als Vorbild für viele ähnlichen Einrichtungen in Deutschland, besonders in Magdeburg, Köln und Düsseldorf, die Gewerbeschulreform in Bayern nach Arch. Zell, sind Vorbilder. Ähnliches wird in Salzburg ind en neuen kunstgewerblichen Lehrwerkstätten für Frauen und Mädchen in Anschluß an die Salzburger Werkstätten für Kunst und Mode eingerichtet. Eingehende detaillierte Pläne für // alle in Betracht kommenden Fälle werden ausgearbeitet und den neuen Regierungen vorgeschlagen.

             Den Überbau bildet die Volkshochschule, die wichtiger ist als der akademische Zopf der Universitäten, davon einige bereits obdachlos sind. Die Volkshochschule (freie Universität), die bedeutenden Lehrern und freien künstlerischen Persönlichkeiten eine Gaststätte für Vortragsserien und freie Kurse bietet, bildet die Centralstelle der Volksbildungsbestrebungen, nicht im Sinne von Verbreitung von abstrakten weit abliegenden Stückwerks akademischen Wissens, das nur Halbbildung im Volk erzeugt, sondern im Sinn wahrhaft geistiger und seelischer Vertiefung vom Standpunkt des praktischen Lebens und Berufes der Hörerschaft nach dem Beispiel der Volkshochschulen in Schweden und Dänemark.

[…]

             Punkt 2. Theaterkultur. Die vornehmste Bildungsstätte im künstlerischen Sinn ist die Bühne, aber nicht in ihrer bisherigen Verfassung, besonders was die Stadttheater, die Geschäftstheater, die früheren Hoftheater betrifft, von den wenigen Fällen einer wahrhaft künstlerischen Volksbühne abgesehen. Das Theater muß als künstlerische Erbauungs- und Bildungsstätte der Volksseele auf die Höhe zeitgemäßer Anforderungen gebracht werden, darüber sich die Denkschrift über die Probleme der Theaterkultur in diesem Heft genauer ausspricht. […]

Punkt 3. Der Kino. Die Kinolizenzen befinden sich fast ausnahmslos in den Händen unqualifizierter Elemente. Es ist daran zu denken, den Kinobetrieb zu verstaatlichen, da er nicht nur eine wichtige Geldquelle für höhere anderweitige Kulturzwecke erschließt, sondern auch die Aufsicht über seine Tendenzen als Kulturmittel erleichtert und überhaupt erst ermöglicht.

Punkt 4. Heimatschutz und Industrie. Es ist ein offenes Geheimnis, daß die Heimatschutzvereine zur Ohnmacht verurteilt sind. Sie arbeiten in sich, eine erbaulicher Verein für die Mitglieder, aber die Stoßwirkung nach außen ist in vielen Fällen gleich Null. Das bedauerliche //Schicksal, überall zu spät zu kommen und sich mit einem wirkungslosen Protest begnügen zu müssen, wird behoben sein, wenn die öffentliche Meinung wieder für die Aufgaben des Heimatschutzes, der nicht das Neue verhindern, sollen wachen soll, daß es die Schönheit vermehre, im größeren Ausmaß wieder gewonnen sein wird, wozu wir helfen wollen. […]

Punkt 5. Stadtregulierung. Die Schandtaten der Stadtbauämter überall, wo nicht Künstler von Ruf am Werke sind, müssen aufgedeckt werden. So auch in Salzburg, in diesem Weltstelldichein, auf dessen Schönheit die Menschheit ein Recht hat. […]

Punkt 6. Bauordnung, Bauaufgaben.[1] […]

Punkt 7. Arbeiterhäuser. Das Proletarierviertel und die Mietkasernen als Schandprodukte der Ausbeutung müssen schwinden, Arbeiterkolonien sind aus den Schrebergärten als der gegebenen natürlichen Grundlage unter künstlerischer Bauberatung zu entwickeln. Der Ruf nach Kinderheimen, Invalidenheimen, Dienstbotenheimen ist ein Zeichen, daß etwas krank ist am Volkswirtschaftskörper. Nicht mit den – „Heimen“ ist es getan, sondern mit der Ausrottung des Grundübels, mit der Sanierung der Wohnstätten und mit der Sanierung der Gesinnungen und menschlichen Verantwortungen.

Punkt 8. Denkmäler – Museen. Kriegerdenkmäler, Helden- und Freiheitsbrücken sind zu verbieten. (Ausgenommen schlichte Denksteine, Totenmäler.) Wertlose Denkmäler sind zu beseitigen. Die Museumsfragen unterliegen einem besonderen Studium, wobei Gewicht gelegt wird auf Volksmuseen mit Abendbesuch und freiem Vortrags- und Diskussionsrecht.

Punkt 9. Volkslied, Volkstracht, Volksbrauch. Ihnen gehört eine besondere Pflege. Volkstracht ist zu verlebendigen in kleidsamen, kunstgewerblich betonten Formgebungen, um sie aus dem petrefakten Zustand, der ihr Verschwinden verschuldet, weiter zu entwickeln. //

Punkt 10. Volkstümliche Hausindustrie und Qualitätsarbeit in Handwerk und Industrie. Das Ziel ist die künstlerische und wirtschaftliche Hebung der Hausindustrie durch kunstgewerbliche Anregung und Organisation, die von der freien Arbeitsgemeinschaft unternommen wird.

[…]

Punkt 11. Volksgesundheit.

[…]

Punkt 12. Ausstellungswesen. Das Ausstellungswesen ist ein Mittel der Volkserziehung und der Kunsterziehung, der Fachkreise wie des Publikums. Künstler von europäischem Rang sind einzuladen; Malerei, Kunstgewerbe und Handwerk sollen sich im freien Wettbewerb mit den besten Kräften von auswärts messen und höherbilden dürfen.

Punkt 13. Kulturgemeinschaft der Völker. Nicht Fremdenindustrie im herkömmlichen Sinn, gegen den sich ein gesunder Volksinstinkt auflehnt, sondern Kulturgemeinschaft mit den Völkern und den besten in aller Welt ist unser Ziel als Valutaregulierung menschlicher Werte, davon Sein und Nichtsein abhängt. Austausch der Güter, der Werte, der Anregungen im freien Verkehr. Idealer Fremdenverkehr. Wie? Darüber Genaueres zur geeigneten Zeit.

Punkt 14. Der innere Mensch – sichtbare Seelenkultur.

Dies liegt uns vor allem als die Hauptsache am Herzen. An der persönlichen Verwirklichung zu arbeiten und ein eigenes Beispiel zu geben, ist der Anfang jeder Kultur. Von der Zündholzschachtel bis zum Haus und zum Stadtbild muß alles in Ordnung sein. Aber nicht mit dem Äußerlichen ist es getan. Das Sichtbare ist Seelenausdruck. Dieses Innerliche steht uns am Nächsten. Musik, Dichtung, geistige und seelische Pflege sind die Pfade zum Evangelium der Schönheit und zu dem Mysterium einer neuen kosmischen Weltanschauung als Religion, die wir kommen sehen und vorbereiten helfen wollen.

Es ist daran gedacht, die Richtlinien der einzelnen Programmpunkte, soweit sie allgemeine Interessen betreffen, genau auszuarbeiten, in unsern Heften zu erörtern und in Kommissionen, zu denen autoritative Persönlichkeiten, Korporationen ec. jeweils berufen werden, für die Durchführung, Gesetzgebung ec. vorzubereiten. Das kann nur nach und nach geschehen, man kann nicht alles auf einmal sagen. Aber wir werden nicht ruhen, bis das Ziel im Wesentlichen erreicht ist.

In: Kunst- und Kulturrat. Salzburg, H. 1/1919, S. 3-7 (Auszüge)


[1] Bei diesem Punkt, der sich vorwiegend mit Bauordnungs- und Regulierungen, die in nachfolgenden Heften präzisiert werden sollen, verweist Lux auf seine Schrift: Städtebau und die Grundpfeiler der heimischen Bauweise. Dresden 1908.

Helene Scheu-Riesz: Appell an die Jugend. (1928)

Österreich hat noch kein Grabmal des unbekannten Soldaten. Dieses zerrissene, blutende, schwer heimgesuchte Land braucht kein äußeres Zeichen, um täglich und stündlich an den Krieg erinnert zu werden. Kein Marmorstandbild kann uns unsere Schuld so deutlich ins Gedächtnis rufen, wie sie in jeder Stunde in uns und um uns ist, auf jedem Schritt in die Straßen uns begegnet. Und dennoch klirren noch immer Waffen und Kriegstiraden. Dennoch wird sogar bei uns immer wieder zu irgendeinem inneren oder äußeren Krieg gehetzt und Zündstoff angehäuft, der sich unversehens zu einer Weltkatastrophe entladen kann.

             Ich wüßte ein besseres Denkmal für jenes erschütternde Symbol hingeopferter Jugend, den unbekannten Soldaten. Ein Denkmal, das sogar die Toten versöhnen könnte und die, die um sie trauern, Wenn alle Waffen in der Welt gesammelt und auf dieses Grab gelegt werden könnten an Stelle der welkenden Kränze, und wann man statt die hingegangenen Helden zu besingen, die Schwüre einlösen wollte, die ihnen mitgegeben hat: daß dieser Krieg der letzte sein werde, geführt, um die Institution des Krieges abzuschaffen und eine friedliche Organisation der Welt an ihre Stelle zu setzen. Die Diplomaten der Welt, ihre Regierungen, ihre Herrscher, Minister, Parteiführer und Presseleiter sprechen zuweilen von Abrüstung, der eine lauter, der andere leiser, der eine schüchtern, der andere zuversichtlich. Alle ehrlichen und einsichtigen Menschen geben zu, daß die Kriege die unmittelbare Folge der Rüstungen sind, und das alte „Si vis pacem, para bellum“ eine der gefährlichsten Lügen ist, die je ein Volk ins Elend gejagt haben. Und dennoch, wer entschließt sich, zu handeln? Es scheint, als ob die Generation, die diesen Krieg verschuldet hat, von allen guten Geistern verlassen wäre. Es scheint, als ob die neue Ordnung der Welt nicht beginnen könnte, solange noch irdendeiner von den zu ihr gehörenden etwas Entscheidendes zu sagen hat. Wenn es so ist, dann hilft nur ein Appell an die Jugend, an die Neuen, die im Krieg leidende und hungernde Kinder waren oder Sklaven oder Frauen, schuldlos gehetzte Opfer wie der unbekannte Soldat selber.

Heute findet, von der politischen Gruppe der „Internationalen Frauenliga“ und dem „Bund der Kriegsdienstgegner“ veranstaltet, eine Versammlung statt, in der über das Problem der äußeren und inneren Abrüstung gesprochen werden soll. Tausende Männer und Frauen Wiens haben Gelegenheit, in dieser Versammlung zu hören und zu sagen, was für den Frieden geschehen muß. In Genf waren die Russen die einzigen, die einen wirklich großzügigen und praktischen Vorschlag zur Abrüstung gemacht haben. Nun, die Welt hätte die Gelegenheit gehabt, sofort festzustellen, ob die Russen es ehrlich meinen oder nicht. Sie hätte den Vorschlag bloß annehmen müssen. Sie wird ihn eines Tages annehmen oder zugrundegehen. Ob das eine oder das andere geschehen soll, darauf hat jedes Volk Einfluß, das sich seiner Würde und Kraft besinnt, auch ein so armes und schwer geschlagenes Volk wie Österreich es ist. Es kann sogar vielleicht besser und leichter als ein anderes Volk zeigen, daß Würde und Kraft einer Nation nicht in den Waffen und nicht im Schwertrklirren liegen, sondern in der seelischen Bereitschaft und Entschlossenheit, sich einer neuen Zeit anzupassen, in der nicht die Gewalt, sondern das Recht herrschen wird.

In: Neue Freie Presse, 13.3.1928, S. 7.

Alfred Polgar: Synkope (1924)

             Der Mann, der hinter dem Schlagwerk der Jazzband sitzt, hält es durchaus mit den Schwächeren. Ein Freund der geringen, der unbetonten Taktteile ist er. Er tut für seine Schützlinge, war er nur kann, klopft sie in den Vordergrund, rettet sie, mit markigen Schlägen den Rhythmus teilend, wenn sie in diesem untergehen wollen. Etwas Justamentiges, Revolutionäres ist in seinem Getrommel. Gegen den Strich trommelt er.

             Seinem Schlagwerk hat es sich zum Gesetz gemacht, dem rhythmischen Gesetz nicht zu folgen, dem die brave Geige und das brave Klavier bis zum letzten Hauch von Darm- und Metallsaite gehorchen. Es tut, was es will, zigeunert durch die Zeitmaße. Wenn die anderen vier Tempi machen, macht es fünf.

             Ich kannte einen Jazzbandspieler, der schlug auf das gespannte Fell sieben Synkopen in den Viervierteltakt und verrührte sie drin mit Hilfe der kleineren Trommel , wie man ein Ei in der Suppe verrührt. Er hatte einen Hornbrille, sprach das reinste Südamerikanisch, warf die Schlegel in die Luft und klopfte indes, ihr Herabkommen lässig erwartend, seinen Part mit den Füßen. Die Instrumente genügten seinem Klangbedürfnis nicht. Er klopfte mit beiden Stäben auf den Klavierrücken, auf den Fußboden, auf den eigenen Kopf, auf das Weinglas; alles ward Trommel, Schallgelegenheit. Er stäubte unregelmäßiges Geräusch von sich wie ein Hund, der eben aus dem Wasser kommt, Tropfen. Er schneuzte sich in Synkopen. So entlud er sich, ein Glücklicher, aller Unzufriedenheit, die in ihm war, und förderte doch, ein Musikant, durch seinen Widerspruch, die Harmonie, der er diente, dienen mußte.

             Die Synkope ist Salz und Würze der zeitgerechten Tanzmusik. Und nicht nur der Tanzmusik. Die Synkope ist ein Symbol unserer widerspenstigen Tage, das Symbol einer aus dem Takt geratenen Welt, die doch nicht aufhören mag und kann, in Brudersphären Wettgesang zu tönen.

             Es macht sich allenthalben lebhafte Bewegung zugunsten der unbetonten Taktteile merkbar. Die Akzente verschieben sich, wackeln, stürzen.

             Die kleinen Leute haben auch schon was mitzureden. Sie behaupten obstinat, daß sie da sind.

             Der Rhythmus, nach dem die Himmelskörper kreisen, ist nicht so unverbrüchlich fixiert, wie wir dachten. Die Einstein-Synkope hat ihn auf ziemlich irritierende Weise gelockert.

             Die Wissenschaft von der Seele legt auf das vom Bewußtsein nicht Betonte den gewichtigsten Ton.

             Die Maler nehmen den Akzent vom Wesentlichen der Erscheinung fort und legen ihn auf das Un-Wesentliche.

             Die Stückeschreiber trommeln drei Stücke über einem. „Nebeneinander“ von Georg Kaiser ist das Muster eines syncopated Drama.

             Die Romanschriftsteller lassen die Kapitel ungeschrieben und schreiben das, was zwischen den Kapiteln steht.

             Die Affekte werden, unter Patronanz der Psychoanalyse, verschoben. Die Ware wird verschoben. Das Geld wird verschoben. Vom Sinn des Lebens ganz zu schweigen.

             In der Hotel-Hall sitzen die Damen und duften je nachdem. Der Akzent des Gewandes ist dort, wo es nicht ist. Der Rhythmus des Kleides wir durch die Betonung der Nacktheit angenehm inspiriert.

             Frau Goldstein spielt mit Herrn Goldstein takt-voll die Ehepièce. Der Ton aber liegt auf dem Skilehrer mit den eisblauen Augen. Ehen ohne Synkopen gar es vielleicht zur Walzerzeit.

             Die Musik der Sphären scheint sich mit einem Jazzbandspieler komplettiert zu haben. Und der Mensch muß ganz neue Schritte lernen, wenn er hiezu mit Grazie tanzen will.

In: Der Tag, 24.2.1924, S. 3.

Arnolt Bronnen: Sabotage der Jugend (1922)

Nachdem vor etlichen Sonnenjahren mit großem Lärm sich neue Menschen und neue Geschehnisse angekündigt hatten, bemerkt der gütige Leser aus der großen Stille, daß wieder einmal mehr Worte den Zähnen entrannen, als mit der Schwäche der Lungen vereinbar war, und geht zur Tagesordnung über. Ihm sei im folgenden ein kleines, harmloses Märchen, sozusagen eine sinnige Allegorie erzählt.

             Der junge Autor hatte im Jahre x13 die kindische Idee, gänzlich unvorbereiteterweise ein Schauspiel zu schreiben. In diesem glücklichen Alter hat man natürlich keine Ahnung, wozu das weiter gut sein soll. Im übrigen ist es seinem auch völlig wurst. Also sandte der junge Autor das Produktum teils für fünfundzwanzig Mark einem literarischen Bureau, wo offenbar gleich mehrere Leute von dergleichen Späße lebten, teils einen „Autoritäten“.

             Der junge Autor erhielt zwei Schreiben, in denen behauptet wurde, das Stück müsse und werde gedruckt werden. Es sei gleich bemerkt und der gütige Leser wird mir’s aufrichtig danken –, daß dies bis heute nicht geschehen ist. Hierauf wurde das Produktum dem großen Verlage gesandt. Der große Verlag sandte es dem großen Theater, und das große Theater sandte es dem großen Verlage. So oder so ähnlich spielte sich dies anmutige „Vater, leih mir d’Scher“ ab.

             Es würde den gütigen Leser ebenso langweilen wie den jungen Autor, wenn hier geschildert werden sollte, was sich im Jahre x14 ereignete, als der junge Autor auch weiterhin furchtbar einhertrat auf der eigenen Spur. Um es kurz zu sagen: es spielte sich dasselbe ab. […] Es kann also nicht behauptet werden, daß der junge Autor etwa an den falschen gekommen ist, wie dies dem Fräulein Säuselrot geschah, als sie ihre revolutionäre Lyrik im „Schwarz-Gelb-bis-auf-die-Knochen-Verlage“ veröffentlichen wollte. Nichts hiervon. Der Kern der Sache – lag wo anders.

             Der Kaiser rief, das Volk stand auf. Der junge Autor legte rasch ein Ei und stürmte mit den k. und k. hinaus. In alter Ahnungslosigkeit wurde auch dieses Eich dem Laboratorium des großen Theaters zur Bebrütung eingesandt. Die Front verschluckte den Helden, während die Konjunktur der Kriegsstücke die Heimat ergriff, saß der junge Autor drei Jahre in der Sizilei. Andere Leute hätten in dieser freien Zeit hundert Dramen geschrieben; die gerührte Mitwelt dankte es dem jungen Autor, daß er nur ein halbes schrieb (und auch das war nichts wert).

             Es sei bemerkt, wo nicht gar betont, daß der junge Autor bis dahin zu den Leuten gehörte, die das Gefühl hochgradiger Wurschtigkeit gegenüber den eigenen Produktionen beseelte. Ach, mit den Jahren wird es anders. Als gegen Ende des Jahres x19 der junge Autor in die schiebende Heimat zurückkehrte, da – dies läßt sich nicht länger verheimlichen – war es anders geworden. Man begann zu denken, man begann zu rechnen. Und die Rechnung lautete: sechseinhalb Jahre.

             Sechseinhalb Jahre sind eine lange Zeit. Der große Verlag erhielt einen Brief, der sich gewaschen hatte. Die Gönner erhielten Briefe, die sie sich kaum auf den Hut stecken werden. Sie antworteten übrigens prompt, wie schon Gönner sind. Und nun wäre ohne Zweifel alles geblieben, wie es war, wenn nicht der große Verleger sich der geschlossenen Front seiner Lektoren gegenübergesehen hätte. Nun, er nahm zwei Sachen von vieren.

             Und druckte eine. […]

Im weiteren Verlauf dieser Geschichte seien nur kurz gestreift die gebrochenen Verträge der Theater, die Sage von den Konventionalstrafen, die Legende vom modernen Theaterdirektor und die schwachen Nerven aller Beteiligten. […]

             Diese Schauermär erzählt Ihnen, gütige Leser, Herr Bronnen aus folgenden Gründen: erstens weil sie wahr ist; zweitens weil sie ein sehr mild verlaufener Fall dessen ist, was täglich passiert; drittens weil dann dieselben Leute, die wissen, daß es passiert, ebenso täglich zu behaupten pflegen, daß die Jugend nichts wert ist; und viertens, weil sie das nicht nur behaupten, sondern auch noch beweisen, und sie beweisen es nicht nur, sondern es ist auch wahr, und es ist deshalb wahr, weil die ganze Generation von den kargen Brocken lebt, die ihnen eine schroffe Zunft von Verlegern vor die Füße wirft.

             Und ich behaupte – und Gott strafe mich, wenn ich es je beweisen müßte: Niemals hat eine Zeit ihre Jugend mehr verhöhnt und frecher verhandelt als diese. Während aus den Hirnhöhlen der Verstorbenen die die Villen der Obengenannten aufbauen, vererbt sich das Wesen des Schaffenden gezwungen in Inzucht. Es geht die Epoche, ohne zu lernen, und es sterben die Jungen, ohne geben zu können.

In: B.T. (vermutlich Berliner Tagblatt, 1922; nicht verifizierbar; zit. nach F. Aspetsberger, A. Bronnen: Sabotage der Jugend. Kleine Schriften. Innsbruck 1989, S. 15-17)

Max Winter: Rundfahrt durchs rote Wien[1]

Selbst dem, dem oft Gelegenheit gegeben war, in die einzelnen Gemeindebauten zu kommen und alle ihrer Einrichtungen kennenzulernen, selbst dem, der häufig bei Eröffnungen der neuen Bauwerke, die die Gemeinde Wien aufgeführt hat, als Gast anwesend sein konnte, ist es wie eine Offenbarung, so eine Reise durch das rote Wien, wie sie jetzt unsere Bildungsstelle ganz regelmäßig an allen Sonntagen veranstaltet. Es ist ein politischer Anschauungsunterricht ersten Ranges, der da geboten wird, und es ist nur zu bedauern, daß verhältnismäßig nur so wenige diesen so lehrreichen Kursus in praktischer politischer Verwaltung mitmachen können.

Am ersten Aprilsonntag hatte sich eine Ottakringer Sektion — die 21.— zu so einer Fahrt zusammengefunden. Beileibe nicht die ganze Sektion. 300 hatten sich zu der Teilnahme an der Fahrt gemeldet. Es konnten in den vier Autobussen aber nur 180 Teilnehmer verstaut werden. Ueber die Friedensbrücke führte der Weg von Ottakring nach dem Winarsky-Hof[2], dem ersten Ziel. Die breite Brücke und dieser vielverheißende Name! Ein technisch vollkommenes Werk, das eine breite Verbindungsstraße zwischen zwei volkreichen Bezirken darstellt, und dazu ein Name, der wie ein Bekenntnis klingt— beides flog durch die Wagen, die über die Brücke rollten.

Winarsky-Hof.

Zuerst der Saal. Er beginnt sich gerade zu einer Vorführung der Wahlfilme zu füllen. Erwartungsvolle Spannung auf den Gesichtern und freudiges „Freundschaft!“ zwischen Brigittenau und Ottakring. Einzelne Vertrauensmänner erkennen und begrüßen sich. Und der Führer der Gruppe, Sektionsleiter Wolf, sagt es ihnen, daß sich die Ottakringer einmal den Winarsky-Hof ansehen wollten. Die wichtigsten Hausvertrauensmänner sind zur Stelle und führen die vier Gruppen in die verschiedenen Teile des Hauses. Im eigentlichen Winarsky-Hof fesselt neben dem Saal die große Bücherei die Aufmerksamkeit. Und es entgeht den aufmerksamen Besuchern auch nicht die Kunde der neuen Sittlichkeit, die ihnen mit dieser Bücherei wird. Da sagt irgendwo an der Wand ein handgeschriebenes Plakat: „Jedem stehen die Bücherschätze umsonst offen; wer aber kann, soll freiwillig spenden.“ Auch so eine Bücherei hat Hunger. In Nebenräumen sehen wir, wie immer neue Werke zur Einreihung vorbereitet werden, schauen wir hinter die Kulissen einer großen Arbeiterbücherei. Im ersten Stock der große, schmucke Beratungssaal mit den bequemen Lehnstühlen, mit dem gediegenen großen Tisch in Hufeisenform. Das lachende Antlitz unseres Leopold Winarsky in schönem Rahmen darüber, des ersten sozialdemokratischen Gemeinderates der Brigittenau, dessen Andenken zu Ehren der Hof so benannt wurde. Auch der Entwurf zum Lassalle-Denkmal ist sonst hier an der Wand zu sehen, aber nun muß ihn der Sektionsvertrauensmann erst aus einem Berg von Flugschriftenballen, hinter denen er verborgen ist, hervorholen, um ihn uns zu zeigen. Der Sitzungssaal ist zum Arbeitszimmer geworden, zwanzig Menschen sind den ganzen Sonntag über hier tätig, wahrscheinlich noch viel mehr, in Schichten abwechselnd, die Wahlaufrufe zu kuvertieren und zu versenden. Hochbetrieb! Wir stören nicht länger und gehen weiter. Eine ins Freie mündende Gasse, oder besser ein Straßenhof, nimmt zwei Turn- und Spielplätze auf, auf denen sich die Jugend ungefährdet tummeln kann. Diese „Gasse“ trennt das Hauptgebäude des Winarsky-Hofes von dem zweiten Gebäude, dem Grundsteinblock. Die Spielplätze, über die wir eben schreiten, bekommen dadurch ein besonders schönes Aussehen, daß die beiden Häuserfronten, die auf sie niedersehen, von vielen kleinen Balkons unterbrochen sind. Blumenbalkons, die im Sommer ganz besonders herrlich sein mögen.

Und dann kommen wir in den großen Hof des Grundsteinblocks, der mit seinen strengen Linien jetzt im ersten Vorfrühling den Beschauer fast kalt anspricht, der aber in wenigen Monaten durchzogen sein wird von der Sohle bis zum Dachfirst von rotleuchtenden Linien, denn alle 16 Stiegenhäuser, die in den Hof münden, haben an ihren Fenstern grüne Blumenwannen angebracht, die, sobald nur die erste Sicherheit gegeben ist, daß der Frost den Blüten nicht mehr gefährlich wird, von der Stadtgärtnerei mit leuchtenden Blumen versorgt werden. Und jede Wohnung hat mindestens ein in den Hof mündendes Fenster mit einer solchen Blumenwanne. Im Mai schon setzt der edle Wetteifer zwischen den Bewohnern und der Stadtgärtnerei und unter den einzelnen Bewohnern ein, wer wohl sein Fenster am schönsten hat. Oh, sie sind so schönheitshungrig, diese Proletarier! Man muß ihnen nur Sonne und Luft geben und sie tun dann alles selber dazu, was nötig ist. In einzelnen Ecken des Grundsteinhofes sind amerikanische Reben gepflanzt, sie kriechen an dem Rauhbewurf hinauf. Sie sind gehegt und gepflegt von den Bewohnern. In wenigen Jahren werden sie ihr grünes Sommerkleid über den ganzen Innenhof breiten. In einer Ecke hat ein Straßenbahner mit Hilfe der ganzen Mieter des Hausblocks eine besondere Einrichtung zur Verschönerung geschaffen. Er hat ein kleines Alpinum gebaut mit Wegen, kleinen Almhütten— die Freude der Kinder— und einem wirklichen, sprudelnden, murmelnden Bach. Man braucht nur aufzudrehen und der Bach beginnt zu rinnen und berieselt die Ränder, an denen jetzt schon die Vorfrühlingsblüten wachsen, die im Wienerwald und auf den Höhen weiter draußen zu finden sind. Aber auch einige exotische Primeln, die kinderfaustgroße, kugelrunde violette Blütenballen austreiben, sind schon zu sehen. Anschauungsunterricht für die Kleinen. Sie werden der Natur so nähergebracht. Und die Naturfreunde im Haus kommen selten von einer Wanderung zurück, auf der sie nicht in ihrem Rucksack irgendein Pflänzlein geborgen hätten, das hier, mitten im proletarischen Wohnhof, zu neuem Leben erblühen soll.

Mutter Gemeinde.

In die Mitte des Hofes springt von dem Kindergarten weg im Halbkreis eine Pergola, ein italienischer Laubengang, der zur sommerlichen Zeit vom Grün des wilden Weines umsponnen ist, ein Laufgang zugleich für die Kinder, und in der Mitte im weiten Halbkreis der eigentliche Garten für die Kinder, die dahinter ihre herrlichen Räume haben mit den kleinen Montessori-Möbeln und Tischchen und Stühlchen und kleinen Kasten und dem vielen Spielzeug. Genau so wie es die große italienische Pädagogin wollte, genau so ist es hier zur Wirklichkeit geworden. Während die Mütter oben kochen, spielen unten im Hof, geleitet von kundigen Frauen, ihre Kinder förmlich unter den Augen der Mutter. Ein Blick zum Fenster hinaus, und die Mutter sieht unten ihr Kleines im frohen Kreise der Gleichaltrigen; wohl behütet von den Augen der Mutter Gemeinde.

Da entringen sich den Seelen der Frauen, die mit bei der Besichtigung sind, die ersten Seufzer. Wenn man nur auch so etwas haben könnte!

Im Haus hat sich auch ein Doktor der Krankenkasse niedergelassen. Er öffnet die Tür seiner Wohnung und ladet uns alle ein, wenn wir schon eine Wohnung besichtigen, seine anzusehen. Die Räume sind wohl niedrig, aber die Fenster sind hoch, so daß bis in den letzten Winkel hinein Licht und Sonne scheinen kann. Sie gewinnen etwas Trauliches, etwas Gemütliches, und der Doktor ist glücklich, daß er hier inmitten der Proletarier wohnen kann, und die Vertrauensmänner des Hauses erzählen uns, wie glücklich die Frauen sind, daß sie einen kundigen Mann im Hause wohnen haben, der — und das trifft hier zu— zu jeder Stunde, bei Tag und Nacht, bereit ist, ihnen Hilfe zu leisten. Es ist ein Gefühl der Beruhigung, wenn man weiß, daß der Arzt immer gleich zur Stelle sein kann.

In der Ecke beim Alpinum ist die Badeanlage des Hauses. Sonntag vormittag. Alles vollbesetzt. Der Vorraum voll Wartender. Warme Wannen- und Duschbäder sind vorgesehen. Eine Männerabteilung, eine Frauenabteilung. Welche Wohltat! Welcher kulturelle Aufstieg, daß nun auch der Proletarier immer wieder sein Bad bereitfindet, daß Reinlichkeit kein Vorrecht mehr des Großbürgers ist, der es sich zahlen kann. Wenn die Gemeinde Hausherr ist, so kann auch der Proletarier sein Bad haben, so wie in der Kindergärtnerin auch das Proletarierkind seine Gouvernante haben kann. Warum denn auch nicht! Soll denn wirklich alles ein Vorrecht der Besitzenden sein! Glücklich und zugleich von leisem Neidgefühl beseelt, gehen die Frauen und Männer weiter.

Sechzehn Stiegen hier im Grundsteinhof, zweiunddreißig Stiegen im eigentlichen Winarskv-Hof, insgesamt achtundvierzig, und alle zusammen bilden eine Wohnungsgemeinschaft, die sich einen Mieterausschuß mit drei Untergruppen eingesetzt hat, einen Verwaltungsausschuß, einen Ordnungsausschuß und einen Schlichtungsausschuß. Sie brauchen keinen Administrator, der für alles sorgt, diese Mieter verwalten sich selbst ihr Haus. Der Ordnungsausschutz findet demokratische Mittel, um eine allen genehme Ordnung herbeizuführen, peinlichste Reinlichkeit und Sauberkeit im ganzen Hause, an mehreren Stellen in den Höfen die Colonia-Kübel[3], in die Abfälle hineingeworfen werden können, nirgends liegen Papierln oder Obstschalen herum – und schließlich, wie sie einen Kurator und eine Polizei nicht brauchen, so brauchen sie auch kein Bezirksgericht. Der Schlichtungsausschuß ist das Gericht dieser kleinen Stadt, die sich da in der Stromstraße aufgetan hat, einer in alter Zeit von allen guten Geistern verlassenen Gegend, in die nun das neue Leben Einzug gehalten hat. Aus dem alten Männerheim gegenüber ist ein Heim für alte Männer geworden, ein Versorgungsheim der Stadt Wien, umgeben von einem schönen Garten, und auch das Entbindungsheim der Stadt Wien hat dort seinen Platz gefunden, die jüngste, reichen Segen bringende Mutter- und Frauenanstalt der Gemeinde Wien.

Aus dem Verkehrshindernis wird ein Verkehrsweg.

Mit herzlichem „Freundschaft!“ geht es weiter, hinüber über die große Floridsdorfer Brücke. Wieder ein Werk der roten Gemeinde. Ein Unfertiges hat die bürgerliche Verwaltung hier zurückgelassen, und erst die Tatkraft der roten Gemeinde hat diesen breiten schönen Weg über den Donaustrom geschlagen. Aus dem Verkehrshindernis von gestern ist heute ein Verkehrsweg geworden, der die Mutterstadt mit dem rasch wachsenden Teil jenseits der Donau verbindet. In raschem Fluge geht es hinüber, und ehe noch die Wagen vor dem Schlinger-Hof halten, sehen wir zur Linken wieder ein Werk der Gemeinde Wien, den Paul-Hock-Park, links von der Brünnerstraße, in den der alte Friedhof verwandelt wurde, der einst an diese Stelle war. Dem tapferen Vorkämpfer für die Freie Schule ein lebendes, unvergängliches Denkmal, der Bevölkerung eine Stätte der Erholung. Zur Rechten dann der Schlinger-Hof, ein neues Wahrzeichen von Floridsdorf. Ein Wahrzeichen der Tatkraft der sozialdemokratischen Gemeinde. Und vor dem Hofe der Markt. Er ist erst vor wenigen Wochen eröffnet worden.

Ist es wirklich gleichgültig, ob private Hausherren Häuser bauen oder die Gemeinde Wien? Nirgends wird einem der Unterschied so bewußt wie hier. Wenn man durch die auch gegen Regen geschützten, das heißt in den Mittelwegen überdachten Marktstände wandert, so fällt einem auf, daß der typische Marktgeruch hier nicht so stark auftritt. Der führende Marktinspektor sagt uns, daß das davon komme, weil die Marktkaufleute ihre Waren in den Kellern im Schlinger-Hof verstauen können. Die Gemeinde baut den Schlinger-Hof, die Gemeinde baut den Markt. Da weiß nun die Linke, was die Rechte tut, das Marktamt und das Wohnungsamt verständigen sich und es wird im Kellergeschoß des Schlinger-Hofes der Raum abgewonnen, um jedem zum Marktstand auch einen lüftbaren und gut gelüfteten Keller zu geben, in den der Marktkaufmann seine Waren mit Hilfe eines Aufzuges schaffen kann. Und an zwei Stellen dieser weiten Kellerräumlichkeiten sind auch große Waschbecken angebracht, in denen das Gemüse gewaschen werden kann. Vom gesundheitlichen und vom wirtschaftlichen Standpunkt bedeutet das einen Fortschritt. Die Ware ist einwandfrei und sie kann länger frisch erhalten werden. Es geht weniger Ware zugrunde. Je weniger Gemüse aber dem Händler zugrunde geht, desto billiger kann das Gemüse dann abgegeben werden. Hätten den Schlinger-Hof Wiener Hausherren gebaut und die Gemeinde hätte von ihnen verlangt, daß sie für die Marktkaufleute Keller einbauen sollen, so wäre dafür eine so hohe Miete begehrt worden, daß das Gemüse nicht verbilligt, sondern wahrscheinlich verteuert worden wäre. Letzten Endes hätten die Marktbudenbesitzer ihre Waren entweder täglich wieder nach Hause schleppen müssen, um sie zu Hause wieder gut aufbewahren zu können, oder sie hätten sie in ihren Buden nachtsüber aufstapeln müssen. Welcher Fortschritt das Heute [!]! Auch Konfiskationsräume sind da und brauchbare Räume für das Marktamt und eine ideale Wage [!], in der irgendeine Manipulation zugunsten oder ungunsten der Parteien darum ausgeschlossen ist, weil die Feststellung des Gewichts völlig auf automatischem Wege vollzogen wird.

Und im Hofe des Riesengebäudes eine der schon berühmt gewordenen Waschküchen der städtischen Wohngebäude, eine Waschküche, wo die Hausfrau in vier Stunden reinigen kann, was eine fünfköpfige Familie in vierzehn Tagen an Wäsche braucht. Neuerdings Bewunderung und Neid derer, die das noch nicht mitbenützen können. Aber auch hier ist schon wieder ein Schritt nach vorwärts gemacht. So wie der Kindergarten nicht nur den Kindern des Hauses zur Verfügung steht, so ist auch diese Waschküche gegen eine ganz bescheidene Miete andern Proletarierfrauen zugänglich, die außerhalb des Hauses wohnen. Die Leistungsfähigkeit der Waschküchen kann dadurch auf das äußerste ausgenützt werden. In einer Viertelstunde ist die Wäsche in den Trockenkulissen trocken und nicht rußig. Ueber jedem Waschtrog gibt es zwei Auslaufhähne für heißes und kaltes Wasser, daneben steht ein Dampfkessel mit Zulauf für heißes Wasser und einem Hebel für den Ablauf des Schmutzwassers. Nirgends braucht die beim Waschen sonst so gequälte Frau schwere Lasten zu heben: Wasser oder nasse Wäsche; immer wieder kommen ihr mechanische Vorrichtungen zu Hilfe. Die elektrische Rolle, die Streudüse zum Wäscheeinspritzen und das elektrische Bügeleisen vervollkommnen die Einrichtung. Da ist es wirklich ein Vergnügen, zu waschen, keine Last mehr, kein Schrecken mehr!

Schlinger-Hof und Bretteldorf.

Und dann der Gegensatz!

Eine rasche Fahrt in das benachbarte Bretteldorf, das auf Ueberschwemmungsgebiet gestellt, von den Kleinbesitzern der Bretterhütten verteidigt wird wie ein Heiligtum, das aber doch eine gesundheitliche Gefahr, nicht nur für die Bewohner des Bretteldorfes, sondern für die ganze Stadt bedeutet. Wir sehen die Kehrichtabfuhr nach dem Coloniasystem, wir sehen, wie oben ein ganzer Wagen gestürzt wird und unten ein Tankwagen seinen Inhalt aufnimmt und wie dieser Tankwagen dann über die neue „Mistg’stetten“ dahinrollt und irgendwo seinen Inhalt entleert, der dann noch sortiert wird von seinem Unternehmer, der da unten den Abfall der Großstadt und proletarische Kraft auswertet. Eine Milliarde Pachtschilling zahlt der Mann für die Erlaubnis, den Abfall der Großstadt auswerten zu dürfen und trotzdem wird er noch ein schwerreicher Mann dabei. Aber die armen Menschen, die diese Arbeit zu leisten haben, wie hausen sie hier! Es ist ein schauriger Einblick, den wir im Vorüberfahren gewinnen, wenn wir in die kleinen Eisenbahnwaggons oder Wagen sehen, die da mitten im Mist, aber ohne Räder, gestellt sind und deren eine Wohnung für ein paar Menschen darstellt. Berge von Glasscherben, Kondensbüchsen sind da und dort aufgestapelt und von anderm Gerümpel. Der Pächter hat einen eigenen Schmelzofen, in dem die Kondensbüchsen und andern Metallgegenstände in Barren gegossen und dann wieder verkauft werden. Ein Großbetrieb, aufgebaut auf die Arbeitskraft wahrer Enterbter. Schaudernd schauen wir in dieses Leben. Und wie Befreiung scheint es uns allen, als der Führer das Zeichen zum Aufbruch gibt, nach der letzten Station, die wir vor uns haben, nach dem Amalienbad in Favoriten[4].

Auf dem Wege dahin begegnen wir in der Rasumofskygasse[5] zwei Damen in Reithosen, die eine mit

einer schwarzen Jockeimütze, die andre in schwarzem Schlapphut, beide in schwarzen Fräcken steckend, die eben auf ihren Pferden von dem Morgenritt in den Prater zurückkehren. Ein Blick in die andre Welt. in die Welt derer, die nur ihrer Pflege, nur ihrer Schönheit leben …

Verbrüderung Ottakring-Favoriten.

Ehe wir die herrlichen Hallen des Amalienbades betreten, das moderne „Tröpferlbad“ und das schöne Dampfbad besichtigen, laden uns noch die Vertrauensmänner eines städtischen Wohnbaues in der Bürgergasse in Favoriten zu kurzem Verweilen ein. Wir treten ein, sie empfangen uns in ihrem noch nicht völlig fertiggestellten Beratungssaal, aber was sich in dieser halben Stunde, die wir dort zubringen, abspielt, das ist ein herzerfreuendes Verbrüderungsfest zwischen den Proletariaten der beiden mächtigsten Wiener Proletarierbezirke, zwischen Favoriten und Ottakring. Im Nu ist aus der Exkursion eine Wählerversammlung geworden, in der ein Exkursionsteilnehmer den Gefühlen aller beredten Ausdruck gibt, den Gefühlen aller für die rote Gemeinde Wien auf der einen Seite, den Gefühlen aller aber auch gegen die Preßhelden der Einheitslistler[6], die begehren, daß alle diese Herrlichkeiten, die da in einem Vormittag geschaut werden konnten, erbaut werden sollen, indem sich die Gemeinde Wien dem internationalen Kapital tributpflichtig macht, ja nicht aus der eigenen Kraft, und die zugleich alles zu schön, alles zu luxuriös, finden. Für die Herren das schön verkachelte hygienische Bad, für das Proletariat das muffige Tröpferlbad, wie es einst war. Das ist die Meinung der Zeitungen der Einheitsfront von dem christlichsozialen Regierungsblatt bis zur „N. Fr. Pr.“.

Und dann geht es wirklich ins Amalienbad. Wir schauen den Zauber, den da die Gemeinde Wien wieder geschaffen hat, für das Proletariat geschaffen hat, damit auch das Proletariat seinem Körper in Gesundheit und Schönheit zugleich dienen könne.

***

Dann geht es wieder nach Hause in die alten Wohnungen und ein Stück Unzufriedenheit in dem Herzen zieht nun mit ein. Dabei aber belebt jeden Einzelnen der große Gedanke: Das, was wir heute geschaut haben, den kleinen Ausschnitt aus dem großen Wirken der sozialdemokratischen Gemeinde der letzten vier Jahre, das ist alles noch ein bescheidener Anfang, es soll noch viel mehr, es soll noch viel Schöneres kommen: 30.000 neue Wohnungen, Spielplätze und Bäder, und für Kinder und Mütter, alles was nötig ist, Krippen, Heime, Kliniken, und für die Kranken und Alten alles, und für die Hausgehilfinnen Heime und dazu Parks und schöne staubfreie Straßen für alle, und vieles andre, alles, alles will die rote Gemeinde leisten, wenn sie getragen ist, von dem Vertrauen des roten Wien. Möge der 24. April ein Tag des Segens werden für diese Stadt, für unser aller geliebtes Wien.

In: Arbeiter-Zeitung, 17. April 1927, S. 19-21.


[1] Der Text erschien eine Woche vor der Nationalrats- sowie der Wiener Gemeinderatswahl 1927.

[2] 1924/25 nach Plänen von Josef Hoffmann, Peter Behrens, Oskar Strnad, Josef Frank, Oskar Wlach, Franz Schuster, Margarete Lihotzky und Karl Dirnhuber erbauter Gemeindebau

[3] 1923 in Wien eingeführtes „Umschüttsystem nach dem reichsdeutschen Patent Colonia“. Siehe dazu: http://www.dasrotewien.at/seite/coloniakuebel (Zugriff: 30.12.2022)

[4] Zwischen 1923 und 1926 in Favoriten erbaute Badeanstalt, benannt nach der 1924 verstorbenen Politikerin Amalie Pölzer, die seit 1919 als erste Favoritnerin dem Wiener Gemeinderat angehört hatte. Siehe dazu: http://www.dasrotewien.at/seite/amalienbad (Zugriff: 30.12.2022)

[5] Gasse im dritten Wiener Gemeindebezirk, benannt nach Andrej Fürst Rasumofsky (1752-1836), 1793-1809 russischer Gesandter in Wien. Siehe dazu: https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Rasumofskygasse (Zugriff: 30.12.2022)

[6] Wahlgemeinschaft der Christlichsozialen Partei, der Großdeutschen Volkspartei sowie österreichischer Nationalsozialisten bei der Nationalrats- sowie Wiener Gemeinderatswahl 1927.

Ernst Fischer: Ungeduld der Jugend (1931)

Aus einem demnächst im Verlag Hetz und Komp. erscheinenden Buch „Krise der Jugend“.

             Von Jahr zu Jahr wächst in der Jugend das Gefühl, daß alles Bestehende versagt hat, daß alle Parolen, die man ihr gibt, Betrug und Schwindel sind. Was bis zum Zusammenbruch einer Welt im Trommelfeuer des Krieges, im Giftgasangriff der Massenarbeitslosigkeit, der Massenhoffnungslosigkeit gegolten hat, gilt heute nicht mehr. Die Jugend hat genug von allen Erklärungen, Versprechungen, Redensarten, sie will, daß endlich etwas Entscheidendes geschieht. Das Jugend hat genug von der zögernden Klugheit, von der wartenden Vorsicht, sie ist der Meinung, daß man zu lange gezögert, zu lange gewartet hat, sie will sich nicht länger mit dem tödlichen Stillstand abfinden, den man den Gang der Ereignisse nennt. Und wenn sie sich abfindet, geschieht es um einen übermäßigen Preis: um den Preis aller Ideale, aller Opferfreudigkeit und Zukunftsbereitschaft. Eine Jugend, die revoltiert (gegen alles Bestehende meinetwegen, gegen alle gültigen Weltanschauungen), ist nicht verloren; aber verloren ist eine Jugend, die sich abfindet, verloren für jede Bewegung, die das Neue will. Zehntausende junge Menschen lassen heute die Schultern hängen, die Fahnen fallen, ziehen sich in den Winkel eines fragwürdigen Privatlebens zurück, finden sich ab mit der allgemeinen Erstarrung, die man den Lauf der Dinge nennt. „Alles Bestehende hat versagt, alle Ideen sind zur Phrase, zur unverbindlichen Redewendung geworden!“, das Gefühl zernagt wie Rost die Seelen, entfremdet die junge Generation immer mehr der alten.

             Ist es wahr, daß alle Ideen zur Phrase geworden sind? Hat nicht nur eine ganz bestimmte Ideologie, eine ganz bestimmte Lebenshaltung versagt? Und welche Ideologie, welche Lebenshaltung ist es, die heute durchaus anrüchig, durchaus unglaubwürdig geworden ist?

             Was die Jugend heute klar oder unklar fühlt, ist der Widerwille gegen die Vernünftigkeit, die Wissenschaftlichkeit, den Fortschrittsoptimismus des neunzehnten Jahrhunderts. Was wir heute erleben, ist eine ungeheure Revolte gegen den Nationalismus.

             Dieses neunzehnte Jahrhundert hat sich eingebildet, mit seinen Maschinen und seinen Apparaten, mit seinen wissenschaftlichen Methoden und seinen technischen Konstruktionen, mit seinen immer besseren Instrumenten und immer exakteren Erkenntnissen, mit seiner wachsenden Wirtschaftlichkeit und Vernunft alle Probleme ordentlich lösen und einen dauernden Wohlstand der Menschheit heraufbeschwören zu können. Die Idee des gediegenen und unaufhaltsamen Fortschritts war der Polarstern, an dem sich alle orientierten, die Unternehmer und die Arbeiter, die Kapitalisten und die Sozialisten, die Bürger und die Feinde der Bürgerwelt. Man hat diese ganze Welt als eine große Fabrik gesehen, deren Produktivität man durch Investitionen, Verbesserungen und Verbilligungen stetig erhöhen, stetig den Bedürfnissen anpassen kann, man war bestrebt, alles Irrationelle auszuschalten und mit Vernunft und Ruhe jede Stockung und Störung zu überwinden. Ja, die Vernunft war geradezu das Rauschmittel dieses Jahrhunderts: die Technik wurde wie eine Gottheit angebetet, der Wissenschaft traute man Unwahrscheinliches zu, von der Allmacht des Menschengeistes war man überzeugt. Daß Wissen Macht sei, wurde wie ein unumstößliches Dogma gepredigt, daß gegen jede Krankheit ein Kraut gewachsen sei, glaubte man unbedingt, daß die Gesellschaft sich einem dauernden Frieden, Reichtum und Humanitätsideal entgegenentwickelte, war man rückhaltlos überzeugt.

             Dann kam die Katastrophe, triumphierte die Unvernunft des Massenmordes über alle Grundsätze der Vernunft. Und als man einige Jahre später meinte, nach diesem Zwischenspiel fortsetzen zu können, was so schnöd unterbrochen worden war, als man die Vorkriegsideale herausholte, als habe das Blut und Gas der großen Zeit ihnen keinen Schaden zugefügt, siehe, da war alles anders geworden, und was einst überzeugend klang, tönt nun so hohl und gespensterhaft, wie aus Gräbern.

             Der Fortschrittsoptimismus der alten Generation wird von der neuen nicht mehr verstanden. Daß die Welt sich, kraft innerer Gesetzlichkeit, dem Guten und Schönen entgegenentwickle, glaubt die Jugend nicht mehr; daß man diesen Prozeß gewaltsam unterstützen müsse, davon ist sie durchdrungen. Und wenn man ihr erzählt, daß ja doch so manches besser geworden sei, daß es vor dem Krieg die jungen Leute viel schlechter gehabt hätten, oh, dann lächelt diese Jugend scharf und ironisch: Ja, was geht uns das eigentlich an, warum erzählt ihr uns Ammenmärchen aus der Vergangenheit? Wollt ihr uns etwa einreden, unser Leben sei gar nicht so schlimm, wie wir meinen? Wie uns das imponiert, wie uns das überzeugt! Wollt ihr uns etwa zumuten, Dankbarkeit sei unsere Pflicht? Wir haben keinen Grund, dankbar zu sein; wofür auch? Dafür, daß wir keine Arbeit finden, nirgend hingehören, in der Welt nicht aus und ein wissen? Nein, wir haben keinen Grund, dankbar zu sein; war ihr damals für uns getan habt, mag ja ganz ordentlich und anständig gewesen sein – aber heute? Was tut ihr heute für uns? Wie sieht diese Welt aus, mit der wir uns abfinden, mit der wir Geduld haben sollen? Begreift ihr denn überhaupt, daß wir nicht so leben können, daß wir verkommen und verkümmern müssen, wenn nicht endlich etwas für uns geschieht? Ihr habt leicht reden; ihr nährt euch von der Vergangenheit, materiell und ideologisch, für uns gibt es keinen Platz in der Welt, und daß es von selbst einmal besser wird, glauben wir nicht.

             Nein, das glaubt die Jugend nicht. Der Zweifel ist ihr Element. Der Zweifel ist gut und produktiv, wenn er zur Waffe wird, die das Bestehende zerstört. Er ist schlecht und verhängnisvoll, wenn er nicht zur Aktion, zum Aufruhr werden kann, wenn er nach innen bohrt und gräbt, ohne nach außen wirken zu dürfen. Dazu aber, zu solchem unproduktivem Zweifel, ist die Jugend verdammt.

             Immer problematischer wird die Technik, die von der alten Generation blindlings vergöttert wurde; daß man über den Ozean fliegt und Riesenluftschiffe baut, gefällt den jungen Menschen gewiß, sie sind entzückt von diesem Heroenmythos der Gegenwart, von diesem Aufschweben, Aufglänzen der Materie. Aber daß man mitten in den Wundern der Technik, in einer elektrisch illuminierten, mit Verkehrsmitteln, Radioapparaten, Telephonen, mit laufenden Bändern und riesigen Panzerkreuzern ausgestatteten Welt verhungert, das erlebt diese Jugend. Daß die Technik den Menschen überflüssig macht, daß sie ihn hinausdrängt ins Nichts der Arbeitslosigkeit und der Hoffnungslosigkeit, daß sie zwar imstande ist, das Überflüssige, nicht aber das Notwendige zu erzeugen, das ist der ungeheuerliche Eindruck, den die Jugend von dem Fortschritt der Rationalisierung gewinnt. Freilich: es ist der Kapitalismus, der die Technik mißbraucht, der die Vernunft in Wahnsinn verwandelt, aber das zu begreifen, ist manchmal nicht leicht und die unmittelbare Reaktion gegen den unerträglichen Zustand ist eine Reaktion gegen den rationalisierten Wirtschaftsapparat, ist ein Gefühl, das dem der Maschinenstürmer ungemein ähnlich ist. Die Maschine, von den einen zum Gott erhoben, wird im Empfinden der andern zum Dämon zum Schicksalsgötzen, der alles zermalmt, den zu preisen der bitterste Hohn gegen seine Opfer, gegen die aus Produktion und Lebensberechtigung ausgeschalteten Proletarier ist. Kommen wir wirklich weiter, wenn wir uns zu dem Fortschritt der Technik, zu dem Rationalisierungsprozeß bekennen? Sollten wir nicht vielmehr dagegen Stellung nehmen, diese Tollheit mit allen Mitteln bekämpfen? Das ist eine Frage, die man immer häufiger hört; aus den Tiefen des Zweifels steigt diese Frage empor, des Zweifels am Wert und Nutzen der Technik.

             Die Tiefe des Zweifels aber ist damit nicht ausgeschöpft; nicht nur an der Technik, an dem ganzen System des Rationalismus, der selbstbewußten und selbstgefälligen Vernünftigkeit, zweifelt die Jugend.

             Daß man mit der Vernunft etwas ausrichten könne, wird ernsthaft in Frage gestellt; ach, die Menschen, die verantwortlich sind für das Schicksal der Völker, diese Staatsmänner und Diplomaten, diese Minister und Parteiführer, diese Nationalökonomen und Sozialwissenschaftler sind alle bemerkenswert vernünftig, sie wissen viel, sie können alles erklären, mit hundert Argumenten beweisen sie, warum die Dinge so und nicht anders sind, und das Gefühl der Jugend schlagen sie mit der Überlegenheit der Statistik, der Wirtschaftskenntnis und der Geschichtsbetrachtung zu Boden. Schließlich muß der junge Mensch, der kleinlaut vor soviel Gelehrtheit kapituliert, zu der Überzeugung gelangen, es sei das Wesen der Vernunft, klipp und klar darzulegen, daß man um keinen Preis etwas tun dürfe. Ausgezeichnete Theorien, ausgezeichnete Reden, ausgezeichnete Lehrsätze – und das Ergebnis: Nichts. Weiterwursteln. Weiterberaten. Weiterverhandeln. Das ist das Schauspiel, das seit zehn Jahren vor der europäischen Jugend aufgeführt wird; wundert man sich, wenn diese ganze Gescheitheit den jungen Leuten eines Tages zu dumm wird? Wenn ihr Mißtrauen gegen staatsmännische Weisheit und wissenschaftliche Vernunft unüberwindlich wird? Wenn sie sich die Frage vorlegen: Wäre es nicht besser, gar nichts zu wissen, dafür aber kühn und entschlossen vorzugehen? Wundert man sich, wenn diese Frage äußerst gefährliche Formen annimmt? Wenn sie etwa lautet: Kann man überhaupt nach Vernunftgründen leben, handeln, Politik machen? Ist nicht vielmehr der Instinkt, die Gewalt, die Genialität eines Führers entscheidend? Ist der Geist, von dem man quatscht, nicht ein Unfug, kommt es nicht vielmehr auf Blut und Eisen, auf ein großes und wildes Hasardspiel an? Wundert man sich, wenn solche Fragen zu fascistischer Antwort, zu romantischen Aberglauben drängen? Nein, man darf sich nicht wundern, daß die Revolte gegen den Rationalismus losgebrochen ist, daß unzählige junge Menschen entschlossen sind, keinem Argument mehr zu glauben, sondern nur dem Beweis der Kraft, dem Erfolg?

             Hundertfach zeigt sich diese Revolte, diese Sehnsucht nach dem Romantischen, das völlig anders ist als alles Bestehende. Die Alchymie kommt wieder zu Ehren, die mittelalterliche Goldmacherkunst; das Geld ist zum leeren Phantom geworden, her mit dem Zaubergold! Mit rationellen Methoden kommt man nicht zu Geld, helfe daher, was helfen kann, das Wunderrezept, die schwarze Magie. Die Quacksalberei kommt wieder zu Ehren; die medizinische Wissenschaft, die allen zu helfen versprach, wie wenigen hat sie geholfen! Helfe, was helfen kann! Der weiße Käse, der elektrische Zauberstab, der suggestive Zuspruch eines wundertätigen Charlatans, oder irgendein Naturheilverfahren auf eigene Faust, oder die Geheimlehre irgendeiner Sekte! Die Wissenschaft hat enttäuscht, alles ist unsicher geworden, vielleicht geschieht ein Wunder. Es ist eine wachsende Ungeduld zu spüren, niemand will seine Angelegenheiten auf die lange Bank schieben, für das kurze Verfahren, für den radikalen Umschwung ist man privat und öffentlich. Man hat zuviel gewartet, zu lange gewartet in dieser Welt.

In: Arbeiter-Zeitung, 1.5.1931, S. 17.

Gisela Berger: Die Schicksallosen.

             Zu den vielen Tausenden wandeln sie heute umher, die Peter Schlemihle im weltpsychologischen Sinn, die gleichsam keinen Schatten des Schicksals werfen. Ein ganzer generationaler Typus der letzten Neuzeit ist dies, der durch das Leben hinirrt, hingaukelt, sinnlos, planlos, grundlos, glücklos, leidlos, charakterlos – und schicksallos. Eine Art von Larven- und Lemurengeschlecht, dem das rote Blut des Lebens abhanden kam.

             In der Tat ist es eine sonderbare psychologische Wahrnehmung, die bei näherem Hinblick rings sich aufdrängt. Es gab niemals so wenig Schicksal in der Welt wie heute. Oder eigentlich nie so wenige Menschen, die ein Schicksal haben. Oder – um mit einer paradoxen Antithese das Unverständliche verständlich zu machen: Es gab nie so viele Menschen, die – ihr eigenes Schicksal nicht haben. Die ihr eigenes Erleben nicht erleben. Und ihr eigenes Lebensresultat nicht repräsentieren.

             Das Schicksal ist die Reibung der Persönlichkeit mit der Welt. Die heutige Zeit aber ist eine Zeit des Debakels der Persönlichkeit. Eine Zeit, die im Zeichen der Feindschaft der Persönlichkeit steht, deren Einflüsse und Strebungen die Persönlichkeit zersetzen, zerstümmeln und negieren, und die selbst dort, wo sie anscheinend die Persönlichkeit sucht und ersehnt, sie in unbewußt elementarer Abneigung verwirft, sobald sie sie findet. Denn alle Prinzipien und Charaktere der heutigen Zeit laufen jener festumschlossenen und eigenrichtigen Erscheinung zuwider, die man Persönlichkeit heißt. Wie durch den großen sozialen Makrokosmos der Welt, so geht parallel durch den inneren Mikrokosmos des Menschen jene tiefe, allgemeine Umsturztendenz, die alles eigenstehende Kunstwerk des Daseins aufheben, egalisieren und auflösen will und alle große Dominante des Lebens in Vielheit zerreißt. So wird auch hier das Königtum jener inneren Wesensprägung, die man Persönlichkeit nennt, als eine überlebte, unmoderne und unzweckmäßige Institution von ihrem Piedestall herabgestürzt, um einer gleichberechtigten Demokratie der Triebe, Sinne und Neigungen Platz zu machen, die bloß von der Vernunft, Zwecknutzen und weitmaschigstem bürgerlichen Ehrbegriffe nachsichtig und schlaff geleitet wird.

             Konjunktur, wie dieser, gleich einer handschweißferttigen Banknote von allen schmutzigen Fingern abgegriffenen Terminus technicus heiß, der heute, über sein zu Recht ihm gehörendes Gebiet des Geschäftslebens weit hinausreichend, schamlos den gemeinsten Betrachtungsgesichtspunkt für alle größten und kleinsten Dinge des Lebens bestimmt – Konjunktur ist heute die Parole der ganzen Welt geworden bis in ihr tiefstes sittliches Wesen hinein. Man stirbt nicht mehr für eine Sache. Man folgt ihr bis zum Höchstkurs empor, schlägt sie los mit Tausendgewinn und dient einer andern. Heute schwindet aller unbedingter Wert in der Welt. Konjunktur ist alles, und die heimliche Kursziffer steht auf der händlerisch gewordenen Menschheit heiligsten Güter. Zweidimensional ist der Mensch von heute geworden. Das Stereoskopische fehlt ihm, das er durch das Tiefmaß der Ethik allein erhält. Ein Flachbild ist er, eine Silhouettengestalt, nach Höhe und Breite nur ausgedehnt, und eine Lüge, eine Illusion, ein Nichts in die Tiefenausdehnung hinein. Charakterlos darum und schicksallos. Denn Schicksal ist dort wo Unbedingtheit ist. Der ganze Mensch ist der Mensch von heut‘, der sich selbst verlacht, aber ohne Genialität. Nicht, weil er über sich selbst steht, sondern weil er nicht einmal zu sich selbst hinanreicht und darum nur Seinsmöglichkeiten in jener inhaltslosen Selbstbezweiflung findet, die das Ingrediens der phantasielos skeptischen Weltanschauung der heutigen Tage ist.

             Aus dem Echtmenschen ist ein Imitationsmensch geworden, eine Art von künstlichem Fälschungsexemplar, ein Homunkulus, der nur die Geste des Lebens tappt. Der anstatt der Tat nur die Gebärde hat, anstatt der Gesinnung das Wort, anstatt des Herzens die Gier der Eitelkeit und anstatt des Blutes das Geld. Ein Popanz, eine Puppe ist dieser allgemein gütige und in Umlauf befindliche Mensch, der keine Schicksalslinie in der Hand trägt, der schicksallos ist, weil ihm die tiefere Identifizierung mit der Welt und mit sich selber abgeht.

In: Wiener Zeitung, 25.8.1920, S. 3.

Alfred Polgar: Wiener Sommer.

Die Börse ist lustlos und die Menschen sind es mit ihr. Sie vermissen nicht nur ihren Besitz, sondern auch den Nervenreiz, den sie auf der schwingenden Schaukel der Kurse empfanden. Und leiden schon die Armen sehr darunter, kein Geld zu haben, so ist das den Reichen ganz unerträglich. Also geht jetzt eine Welle von Verdrossenheit und Lebensfeindschaft durch die Stadt, niemand lacht, niemand freut sich, und in der Oper wird „Schlagobers“ gespielt, von Richard Strauß. Held des Ballets ist ein Knabe, der in der Konditorei zuviel Süßigkeiten ißt, worauf ihm übel wird. Solches läßt sich verstehen. Mir war schon als Kind kein Märchen zuwiderer, als das vom Schlaraffenland: die Vorstellung, sich durch einen Berg von Mus durchzufressen, über alle Maßen peinlich, und Bäume, an denen statt Blättern und Blüten Würste wachsen, schienen mir keine Verzauberung, sondern eine unappetitlichste Entzauberung der Natur. Diese ist sommerlich erwacht. Im Mai war lange Zeit April, dann kam gleich August; Jahreszeiten und Monate gehen, wie Knöpfe und Knopflöcher einer falsch zugeknöpften Weste, nicht recht zusammen, und zu Sylvester wird gewiß was fehlen oder überzählig sein. Einen Lenz gab es heuer nicht, er wurde zwischen Winter und Sommer totgedrückt wie die Mittelparteien in der Politik. Überall siegt der Radikalismus. Nur eine leichte Klang-Modulation unterscheidet ihn von der ridiculus mus, dem bekannten Kind kreißender Berge. Wegen des Auftretens der Bisamratte aber sind die Bäder im Donaustrom noch gesperrt. Leider, denn die Hitze hat Dimensionen angenommen und der Asphalt ist weich und gibt nach wie das Herz des unerbittlichen Vaters im siebenten Akt vieler Kinostücke. Die Kinos machen jetzt auch keine guten Geschäfte, aber immer noch bessere als die Theater, die von den Menschen gemieden werden, als ob in ihnen nicht die Orska oder Frau Werbezirk aufträte, sondern die Bisamratte. Dem Kino kommen im Sommer die besseren Beziehungen zur Natur zugute und das schummrige Dunkel in seinen Hallen, was es, wie vieles andere auch noch, mit der Kirche gemein hat, deren Macht-Erbe es allmählich anzutreten scheint. Wie die Kirche umspannt das Kino die Welt (nebst Himmel und Hölle), sendet seine Missionare in die entlegensten Zonen bewohnter Erde, braucht ein gewisses Quantum Finsternis um zu wirken, gibt den Künsten zu tun, beschäftigt, unter Musik-Begleitung, Gemüt und Phantasie seiner Gemeinde, wirkt Wunder, lehrt, wie die Tugend belohnt und das Laster zu schanden wird, bereichert die Pfaffen, die ihm dienen, spricht in Zeichen und Symbolen, die Menschen jeglichen Idioms verständlich sind, und hat auch schon seinen Evangelisten, den heiligen Balazs Bela, der in dem scharfsinnigen und glänzenden Buch „der sichtbare Mensch“ jene, die guten Willens sind, zum Glauben an die beglückendsten und erlösenden Zauber des Kinos verführt. Es tagte jetzt auch ein Concil zwecks Reform des Films in Wien, bei welcher Gelegenheit der Nibelungen-Film vorgeführt wurde, ein feierlich gedrehtes Hohelied auf körperliche Kraft und den Mangel an Wehleidigkeit und auf den Gott, der Eisen wachsen ließ (allerdings auch dafür sorgte, daß, wie die Geschichte des letzten Jahrzehnts erweist, das Eisen nicht in den Himmel wächst), und auf die altgermanische Sitte, um der Treue willen Untreu zu begehen. Treue im balladesk schönen Sinn des Worts bewährte kürzlich der Wiener Motorführer, der, das ihn der Schlag traf, noch mit letzter Kraft die Handbremse zig und seinen Train zum Stehen brachte. Diesem Braven ward kein Denkmal errichtet, außer im Herzen unseres beliebten Publizisten Bettauer, das als öffentliche Anlage gelten kann. Bettauer ist der Verfasser spannender Zeitungsromane, höchst aktueller Erzählungen, in deren raschen, durch eine Journalspalte gezwängten Fluß alle andern Rubriken der Zeitung sozusagen sich ergießen. Seine Methode, Geschehnisse und Personen des Tages noch warm in den Roman zu übernehmen, ist so neu wie wirkungsvoll, und Bettauer kann auch gar nicht genug des literarischen Garns spinnen, in das ihm das Leben läuft. Fromm und tugendhaft ist er nicht, und wenig Freude hätte an ihm Herr Erich Schlaikjer, ein deutscher Mann, der mich in der „Deutschen Zeitung“ (wegen einer Glosse über das furchtbare Urteil gegen die Kadivec) des Satanismus und der Teilnahme an einer jüdischen Verschwörung zur Vernichtung des deutschen Volkes bezichtigt. Bei Kadermann im Prater, à propos, wird täglich ein ganzer Ochs am Spieß gebraten, für München was Altes, für Wien eine Neuheit. Zur Premiere waren die Vertreter der Presse (kein Druckfehler für: Fresse) geladen, und in den Zeitungen erschienen dann auch, nebst Berichten von bratensaftigster Anschaulichkeit, Bilder, darstellend den Ochsen am Spieß und unter ihm, gleichsam als zarte, abschließende Randleiste, ein anderer Spieß mit Hühnchen, aufgereiht wie Kugeln einer Gebetsschnur. Mich erinnert das Bild des Ochsen, wie er da am Spieß steckt – geköpft, entklaut und ausgeweidet zwar, aber im großen ganzen doch in der Form belassen, die er hatte, da er’s Licht noch sah –, an primitive Darstellungen der Hölle, auf denen zu sehen, wie arme Sünder über loderndem Feuer am Spieß sich drehen. Kein Zweifel: die Erde ist das Tier-Inferno. Da werden sie für Übles, das sie dereinst auf ihrer Tier-Erde getan, bestraft. Wie der Mensch zu den Tieren steht, dafür ist bezeichnend, daß seine Imagination von der Hölle, die auf ihn wartet, in der entsetzlichen Vorstellung gipfelt, er würde dort so behandelt werden, wie er in seiner Welt das Tier behandelt. Jedoch weder bildliche Darstellungen der Hölle noch die Legenden von ihr geben irgendwelchen Grund zur Annahme, daß die Teufel, wenn sie uns am Spieß braten, hiezu die Presse einladen.

In: Das Tage-Buch, H. 22/1924, S. 739-740.