e.f.[ischer]: Das Dritte Reich braucht Lakaien. Die Parade der Überläufer. (1933)

Der deutsche Nationalfascismus ist bisher mit dem Blutmythos ausgekommen. Messer, Revolver, Uniform, Fememord waren die Elemente, aus denen er sich zusammensetzte; alles Geistige galt als undeutsch und hassenswert. Es gab zwar eine Naziliteratur; aber diese Literatur begnügte sich mit Knüttelversen, die ebenso programmatisch wie leichtverständlich waren: mit den schönen Totschlagzeilen: „Schlagt tot den Walter Rathenau, die gottverfluchte Judensau!“ oder „Wir schlagen alle Polen tot und schmieren sie aufs Butterbrot!“ oder „Wenn das Judenblut vom Messer spritzt, marschiert sichs doppelt gut!“ war der künstlerische Bedarf gedeckt Alles andre war vaterlandslose Asphaltliteratur, Luxus für Untermenschen, die Thomas und Heinrich Mann den Männern der braunen Spelunken vorzogen und Gerhart Hauptmann für ein größeres deutsches Ereignis hielten als Herrn Adolf Hitler. Trotzdem rochen einige Literaten die kommende Konjunktur: der Jude Arnold Bronner und der halbvergessene Modeschriftsteller Hans Heinz Ewers machten sich an die neue Partei heran und offerierten ihr erstklassigen Blutmythos, garniert mit Kolportage und Leichengift. Arnold Bronner lieferte einige Romane, in denen en gros gemordet und gefoltert, geschossen und geschändet wurde, Hans Heinz Ewers schaltete seine Phantasie von koketten Kadavern, im Liebesrausch verwesenden Mumien, widerwärtig mondänen Vampyren und „schleimig weichen bläulich bleichen Wasserleichen“ auf die Helden des Dritten Reiches um und die Wiedergeburt des wurzelechten, herzerhebenden deutschen Schrifttums hatte begonnen. Aber bis zur Machtergreifung blieben die beiden allein; der einzige wahrhaft begabte, seine Kollegen gewaltig überragende Schriftsteller des Nationalsozialismus, Ernst v. Salomon, trat aus der Doppelreihe und bekannte sich zum Kommunismus.

Es kam die Machtergreifung. Es kam der Abscheu aller Kulturvölker gegen die deutsche Barbarei. Es kam das Bedürfnis der Diktatoren nach geistigen Ornamenten. Auf Leichenhügeln sollte ein Dichterfrühling grünen, das Horst-Wessel-Lied sollte in Symphonien eingebettet, Deutschlands Totenmaske mit bunten Farben bemalt werden. Der Reichspropagandaleiter Göbbels unternahm es, das Blut, das von den Messern spritzte, mit ästhetischem Tee zu verdünnen, den Blutmythos nicht nur stubenrein, sondern auch salonfähig zu machen, die Kommißstiefel der SA. mit Smoking und Abendkleid zu kombinieren. Göbbels lud zum Tee – die Schriftsteller, die Musiker, die Maler und die Mimen hatten zu wählen: Geist oder Macht, Charakter oder Konjunktur, tapfere Isolierung oder feige Gleichschaltung.

Sie haben gewählt. Die Männer sind ins Exil, die Kreaturen zum Tee gegangen. Die Scheidung der Geister hat sich vollzogen: nicht nur für heute, sondern für alle Zukunft Vielleicht war diese Reinigung notwendig; vielleicht ist es gut, daß alles Verschwommene nun verschwindet alles Halbe zu ganzem Bekenntnis oder zu ganzer Erbärmlichkeit gezwungen wird. Alle, die vor der Macht erschauern, vor dem Erfolg niederknien, mögen zu Hitler und Göbbels überlaufen; man wird sie nach Gebühr belohnen und nach Gebühr verachten. Man wird ihre Bücher drucken, ihre Stücke aufführen, ihre Dienste bezahlen; man wird ihnen Futter geben und wird sie als Prachtexemplare geistiger Haustiere prämiieren. Die andern aber wird man verfolgen, verfemen, ausstoßen; sie werden den Geist wie ein Schicksal und nicht wie einen Smoking tragen. Wer vor solchem Schicksal erschrickt, wer nicht in stolzer und bitterer Freiheit bestehen, sondern in die warmen Löcher der Macht hineinkriechen will, möge sich beeilen; das Dritte Reich braucht Lakaien. Die Zukunft braucht Rebellen.

Sie haben sich beeilt. Sie haben nur bis zum Tag der Machtergreifung gewartet, bis zu dem Tag, an dem sie durch den Übertritt alles zu gewinnen und nichts zu verlieren hatten. Vorher haben sie sich neutral verhalten, die Dichter und die Denker jeder Konjunktur haben sie sich ein wenig abseits gestellt, zuerst schüchtern das Volkstum oder die Ordnung oder den lieben Gott entdeckt, je nachdem, noch unverbindlich, zu nichts verpflichtend, sich weder bei den Hakenkreuzlern etwas verderbend noch bei den Katholiken etwas verschüttend noch bei den Demokraten alles verscherzend. Dann aber waren sie da, dann haben sie beteuert: „Wir wollten ja schon längst… Wir konnten nur nicht, wie wir wollten… Jetzt wollen wir, wie wir können…“ Es muß für den Zyniker Göbbels eine göttliche Komödie sein, diese Parade der Überläufer!

In der »Literarischen Welt«, einer Zeitschrift, die einen guten Namen zu verlieren hatte, werden die Herrschaften feilgeboten. Jahrelang war der jüdische Kritiker Willy Haas der Herausgeber der »Literarischen Welt«. Er war, nehmt alles nur in allem, ein linker Demokrat – bis die Sache brenzlich wurde; dann wollte er seine Zeitschrift gleichschalten. Aber was den Herren bei Mosse und bei Ullstein gelang, von links und rechts verachtet, national erhaben zu sein, ist dem Herausgeber der »Literarischen Welt« mißlungen. Die Nazi haben seine plötzliche Bekehrung seine überraschende Bejahung der fascistischen »Revolution« mit einem Fußtritt beantwortet und einen nordischen Edelmenschen namens Eberhard Meckel an seine Stelle gesetzt Dieser Meckel hat sich an Schriftsteller, die offenbar darauf warteten, herangemacht und sie um Geleitsprüche gebeten. Die Überläufer stellen sich vor.

Voran schreitet Herr Max Barthel mit einem Gedicht in dem es heißt: „Wurzeln will ich, wachsen will ich, Raum will ich haben…“ Sie haben ihm Raum gegeben in der »Literarischen Welt«, sie werden ihn wurzeln und wachsen lassen – und hinter seinem Rücken ausspucken. Dieser Max Barthel, kaum ein Talent, gewiß kein Charakter, war einer der Mitbegründer der Kommunistischen Jugendinternationale; damals war auch manch andrer Kommunist. Später ist Herr Barthel Sozialdemokrat geworden – bis der Fascismus die Republik zertrümmerte. Abermals zog der Parteidichter seine Konsequenzen, fest entschlossen, Parteidichter zu bleiben, Literat mit Pensionsberechtigung; er blieb Parteidichter, er hat nicht seinen Beruf, er hat nur seine Partei gewechselt. Hunderte, die ihn „Genosse“ nannten, werden gemartert und ermordet, werden gefangen und gefoltert, Herr Barthel aber dichtet in der »Literarischen Welt«: „Und ich bin ein seliger Stamm, der seinen Wipfel entfaltet.“ Aus dem Blut der« Genossen, aus den Leichen der Erschlagenen saugt das Barthel-Bäumchen wipfelentfaltende Seligkeit. Keiner der andern, die zum Fascismus übergelaufen sind, kann sich mit Herrn Barthel vergleichen, denn keiner ist unmittelbar aus der Arbeiterbewegung ausgesprungen, um sich von der Konterrevolution aushalten zu lassen; allen andern möge psychologische Verteidigung zugebilligt werden, für den Barthel gibt es keine Verteidigung Für ihn gibt es nur Ekel.

In der Reihe der andern findet man manche Begabung: den kultivierten Aestheten Rudolf G. Binding, den katholischen Hofmannsthal-Schüler Max Mell, den wahrhaften Heimatdichter Hermann Stehr. Zu ihnen gesellen sich neben vielen Nullen Billinger, Weinheber, Bruno Brehm, Talente, die von der Sozialdemokratie gefördert wurden, als noch niemand von ihnen wußte, um sich nun den neuen Machthabern anzuvertrauen. Mancher von ihnen mag sich gutgläubig zur fascistischen Barbarei bekennen –, obwohl ihr Bekenntnis fatal mit der Machtergreifung der Hakenkreuzler zusammentrifft; die psychologische Untersuchung ihrer Motive mag lehrreich und nützlich sein, in Zeiten der Entscheidung muß man auf Psychologie verzichten. Die Gleichschaltung der Billinger und der Mell mag nicht so grauslich wirken wie etwa die Kapitulation des Zeichners Gulbransson, der seit Jahrzehnten im »Simplizissimus« einen erquickenden Krieg gegen all das führte, was heute durch Hitler verkörpert wird, um nun plötzlich die Front zu wechseln »und nicht mehr den Ungeist, sondern sich selbst zu zeichnen, aber für solche Nuancen ist heute nicht die Zeit. Wer sich heute zu jener Macht bekennt, die eine beispiellose Hetzjagd auf Wehrlose veranstaltet, die hunderte abschlachtet und zehntausende zu langsamem Tod verurteilt, die den Geist nur duldet, wenn er kuscht, und ihn austreibt, wenn er sich seine Freiheit nicht rauben läßt, wer sich heute zu jener Macht bekennt, die gegen die deutsche Nation den Haß der Welt und den Abscheu aller Völker heraufbeschwört, wird zum intellektuellen Henkersknecht und weder Unwissenheit noch Schwäche, weder Gutgläubigkeit noch Suggestion können ihn entschuldigen. Begabung ist nicht mildernd sondern erschwerend; Talent ist heute nicht Privatangelegenheit, sondern eine Verpflichtung, Geist nicht ein Spielzeug, sondern eine furchtbare Verantwortung.

Das ist keine Predigt an die Intellektuellen. Sie mögen den Geist an die Macht verraten. Aber sie mögen auch wissen, was das bedeutet. Das Ehrenzeichen der Henker wird sie für alle Zukunft zeichnen. Der Erfolg des Tages wird zum Brandmal der Weltgeschichte. Ihr Name wird in aller Munde sein – und ihre Leistung in allen Wunden der Erniedrigten und Beleidigten. Sie werden Geld verdienen – und werden nur verlieren, was keinen Marktpreis hat: die Achtung der Menschen, die das Deutschland von übermorgen sind.

Das wird sie nicht stören, die Überläufer: wir aber wissen, woran wir sind. An die erfolgreiche Arbeiterbewegung haben sich viele herangemacht, die sich nun an die erfolgreiche Konterrevolution heranmachen; es ist gut, daß sie abfallen. Es hat sich zu viel Halbes, Schwaches, Bedingtes an uns geheftet: wir brauchen die Ganzen, die Starken, die Unbedingten. Wir brauchen die Menschen, die jetzt, da wir nichts zu bieten haben als den Stolz der Verfolgten und den Trotz der Geächteten, unsere Freunde, unsere Gefährten, unsere Genossen sind; es war zuviel Rauch um unsere Flamme, zuviel Flugsand um unsere Felsen – jetzt brennt die Flamme kein, jetzt ragen die Felsen steil. Die jetzt mit uns sind, sind die Zukunft.

Unser Haß mag heute nicht schrecklich, unsere Liebe nicht nützlich sein – aber unser Haß und unsere Liebe wird alles überdauern, was heute die Stirn der Überläufer mit blutbeflecktem Lorbeer krönt.

In: Arbeiter-Zeitung, 30.4.1933, S. 4.

Isaak Grünberg: Ein jüdisch europäischer Roman. Der Sohn des verlorenen Sohnes. (1937)

Von Soma Morgenstern.

Einen jüdischen Roman gibt es seit einigen Jahrzehnten. In der jiddischen Literatur hat ihn Mendele Mocher-S[e]forim geschaffen, in dessen Werken die jüdische Welt des Ostens von innen heraus gestaltet ist, sehr ur­wüchsig, aber nicht leicht zugänglich, nicht einmal für den Westjuden, geschweige denn für den Nichtjuden. Mendele war der „Großvater“ der jiddischen Literatur. Der „Enkel“, Scha­lom Asch, flirtet bereits energisch mit dem Westen. Er ist ein weitgereister Mann, viele Beziehungen verbinden ihn mit der europäischen, der Weltkultur. Aber das Wesentliche im Schaffen des „Enkels“ ist ostjüdisch. Der Westen, den dieser Schriftsteller erst als Mann erfahren hat, durchdringt nicht die tiefsten Schichten seines Werkes. Der jüdische Roman westjüdischer Autoren gestaltet eine peri­pherische, im wesentlichen nicht mehr jüdische Welt. Auch ein Buch wie Joseph Roths Hiob ist mehr künstlich, künstlerisch wiederbelebtes, als lebendiges Judentum.

Seit dem Erscheinen von Soma Morgensterns Der Sohn des verlorenen Sohns gibt es den echten jüdischen und zugleich europäischen Roman. Eine ost-westliche Syn­these ist in diesem Buch künstlerische Wirk­lichkeit geworden. Es ist kein Zufall, daß die­ser jüdische Roman ein österreichischer Ro­man ist. Mendele hat mit den jüdischen Massen Rußlands gelebt, Schalom Asch ist mit einem Sprung aus dem Osten in den Westen gelangt, Roth hat den Osten früh verlassen, er ist für ihn eher Sehnsucht nach dem Land der Kind­heit als bewußtes Erlebnis. Morgenstern ist zugleich Jude und Europäer. Das alte Österreich hat bis in den galizischen und Bukowinaer Osten gereicht, in dem die Juden noch in traditionsgesicherter Wirklichkeit gelebt haben. Es war für diese Juden eine natürliche Brücke nach dem Westen. Von dem großen Ziel Wien hat die Sehnsucht aller östlichen österreichischen Jugend geträumt. Kindheit und frühe Jugend hat Morgenstern in jener geschlossenen jüdischen Gemeinschaft verlebt. ln dem stärksten Eindrücken zugänglichen

Jünglingsalter ist er nach Wien gekommen, das ihm, geistig und seelisch, zur zweiten Heimat wurde. Von der alten Heimat des Kindes und Knaben zur neuen, der des Jünglings und Mannes, spannt sich der Bogen des Romanes, in dem einem Dichter die Gestaltung eines epischen Kunstwerkes, eines echten und be­deutenden jüdischen Romans in deutscher Sprache gelungen ist.

Morgenstern war vor dem Erscheinen seines Romanes durch seine in der „Frankfurter Zei­tung“ (deren Wiener Feuilletonkorrespondent er war) erschienenen Arbeiten als sehr kulti­vierter Schriftsteller bekannt. In manchen Par­tien des Buches, besonders in den Schilderungen Wiens findet man den Meister blendender, geistvoller Pointierung wieder, den Europäer mit umfassender Kultur, als den man Morgen­stern gekannt hatte. Überrascht lernt man aber nun einem Dichter kennen, der besonders in den Teilern des Buches, die im Osten spielen, eine epische Geschlossenheit erreicht, die an die großen russischen Erzähler erinnert. Und dieser Volljude schreibt ein Deutsch, das in seiner Reinheit, seiner Musikalität und seinem inneren Schwung hoch über dem Durchschnitt der üblichen deutschen Literatur steht.

Der verlorene Sohn ist einer jener jungen Juden, die zu Ende des vorigen und zu Beginn unseres Jahrhunderts nach Wien gekom­men sind und hier, geblendet von der westlichen Kultur, abtrünnig wurden. Sein Sohn, der Held von Morgensterne Roman, besinnt sich wieder auf die alten Zusammenhänge. Hat sich der Vater taufen lassen, so will der Sohn wieder zum Judentum. Am Ende des Buches kehrt der junge Alfred mit seinem Onkel, dem frommen Welwel, in den Osten zurück. Ob die innere Rückkehr gelingen wird, und wie sie sich vollzieht, wird uns der Dichter in einem weiteren Buch erzählen. Er hat uns auf diese Entwicklung neugierig gemacht, denn wir sind im Laufe der Erzählung mit den geschilderten Personen vertraut geworden und wir haben einige von ihnen ins Herz geschlossen.

Einen Dorfjuden wie den Verwalter Jankel Christjampoler, haben wir bisher nicht gekannt: eine starke und originelle Schöpfung. Von einer Gestalt, wie dem gütigen und frommen Welwel Mohilewski mit seiner innigen Sicherheit und Tiefe zerfallen tausend verzerrte Vorstellungen von Juden und Judentum als Ausgeburten kranker oder verbrecherischer Hirne. Neben diesen östlichen Figuren stehen andere aus Wien, wie die des liebenswerten Ministerialrats Frankl oder die mit freundlicher Ironie gezeichnete Frau Fritzi. Morgen­stern weiß nicht nur so andersgeartete Men­schen mit gleicher Meisterschaft darzustellen, er baut auch grundverschiedene Geschehnisse, wie einen „Kongreß gesetzestreuer Ju­den“ und ein Mozart-Konzert im erzbischöf­lichen Palais mit der gleichen sicheren Kunst des meisterlichen Erzählers auf.

Am mächtigsten ergreifen in dem Buch die Schilderungen aus dem Osten. So reife, land­schaftliche Gestaltungen, wie die der Fahrt durch die weiten östlichen Felder, sind in der zeitgenössischen Literatur kaum zu finden. Die Geschichte von dem Weißkleefeld, die Irrfahrt in einem Schneesturm und die tiefe, legendenhafte Erzählung von Rabbi Abba sind Schöpfungen eines reifen und begnadeten Dichters.

Wer die jüdische Welt des Ostens kennt, erlebt beim Lesen von Morgensterns Buch ergreifende Erinnerungen seiner Kindheit wieder. Der Westjude und der Nichtjude aber wird von diesem Buch eine hinreißende, künst­lerische Gestaltung jüdischen Lebens finden, dessen Wirklichkeit and Sinn ihm hier in be­strickender Art erhellt wird.

In: Die Stimme. Jüdische Zeitung (Wien), 15. 1. 1937, S. 4.

Zygmunt F. Finkelstein: Vom sterbenden Chassidismus. (1922)

(Anläßlich einer Neuausgabe des Romans ›Das pojlische Jingele von Lienietzki‹[1]

             Dieser Roman war einst ein Lehrmeister von Millionen. Es war der vollendetste Ausklang des sterbenden Chassidismus und dessen rücksichtslos entschleiertes Angesicht. Von der ganzen Flut der Romane und Erzählungen, die von den Mit- und Nachläufern Mendeles geschaffen wurden, ist es wohl das einzige Werk, welches noch heute durch den Hauch sprudelnden Lebens und herzerquickender Heiterkeit unvermindert fortwirkt. Freilich ist dieser Umstand auf das Kulturhistorische dieses Romans zurückzuführen. Es ist das urwüchsige chassidische Leben, welches in fabelhafter Plastik mit dem Geschick eines Judenjungen an der Wende von Jahrhunderten verwoben wird und durch das überlegene Lächeln eines Philosophen zur geschichtlichen Tragik emporwächst. Der Cheder, die Klaus, Jeschiwah und Talmud-Thora – all die Marksteine des jüdischen Leidensweges eines jungen Chassids , erstehen hier in schillernder Pracht eines glänzenden Epikers und über all das Romanhafte erhebt sich eine bunte, eigenartige Gemeinschaft, die durch eine unendliche Unzulänglichkeit des allmächtigen Zaddik zum Zerrbild jüdischen Geisteslebens herabgedrückt wird. Novellistische Kleinmalerei eröffnet eine berückende Fülle kulturhistorischer Probleme und durch den unwüchsigen Humor einer Künstlerseele zittert der Entsetzensschrei eines Geschlechts von Gotterwählten, die im Morast des Lebens versinken.  

                                                                                 *

Die idealisierende Art westjüdischen Literatentums verwirrt die Begriffe über den Chassidismus. Das Poetische überwuchert das Historische und durch einen falsch angebrachten Idealismus, der nur ein Ausdruck schöpferischer Unzulänglichkeit ist, wird die Lehre Balschemtows und seiner Jünger ins Abstrakte verzerrt, während die Wirkungen der chassidischen Lehre beinahe ausschließlich dem Alltag galten und im Alltag lediglich zu Blüte und Verfall gelangten. Nicht die chassidische Lehre, sondern das chassidische Leben scheint das Primäre zu sein und nicht eine Lehre schuf die chassidische Gemeinschaft, sondern überragende Persönlichkeiten, die mit wuchtiger Kraft die Menge um sich scharten und jeder Gemeinde einen oft grund­verschiedenen- Charakter aufdrückten.

Es sind keineswegs Sektengebilde, die im Laufe von Jahrhunderten entstanden, sondern reale Veranke­rungen gemeinsamer Lebensbedingungen und Anschau­ungen, rings um eine zentrale Persönlichkeit, die aus einer Menge herauswuchsen und dann automatisch diese Menge zu einem Eigengebilde mit einem erblichen Zaddik schmiedeten. So gab es Heilige und Charlatane, Seelenfänger und Weltweise, Parasiten und Schöpfer. Je nach Geschlecht, Individualität und Bedarf und keineswegs je nach hergebrachter Lehre und Dogma.

*

Im Pojlischen Jingele erstarrt der blutwarme Alltag einer chassidischen Gemeinde zu einem monu­mentalen Gemälde von bleibendem Wert. Das chassi­dische Leben in einem polnisch-russischen Städtchen erblüht hier in tausend Farben und eine leichte, spöt­telnde Art umweht dieses ganze Lebe mit einem Hauch leiser Melancholie.

Freilich ist es eine Gemeinde an der Wende zweier Epochen und zweier Geschlechter, die dem Verfall ent­gegengeht. Einerseits ist es die Haskalah, die um die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts das chassi­dische Leben zu unterwühlen begann, andererseits der

stolze Rabbinismus, der die Chassidim mit wütendem Haß zu ersticken sucht.

Während bisher die chassidische Gemeinde eine abgeschlossene Welt für sich darstellte, brach durch Gordon, Mane und Lebensohn eine mächtige Kulturwelle ins jüdische Leben herein, die die Uni­versalität des jüdischen Geisteslebens wiederherzustellen und die Tradition von Jahrtausenden mit dem Geist der Neuzeit zu verbinden suchte.

Das Geschlecht der Chassidim blieb auf dem Scheidewege stehen. Das Phantom zaddikischer Gottähnlichkeit zerfloß in nichts und die Enge des chassi­dischen Alltags lastete plötzlich zentnerschwer auf den Gemütern einer betörten und um die Realität des Lebens

betrogenen Jugend. Die einen rissen sich gewaltsam los, die anderen fluchten und fügten sich dem unentrinn­baren Schicksal.

Eine Zeit mächtiger Gärung, die eine aufblühende hebräische Dichtung befruchtete und aus der eine jüdische Volksliteratur beinahe unvermittelt hervorblühte. Während die erste mit prophetischem Pathos das Ganze des Volkes zu erfassen versuchte, riß die aus den

Tiefen der Volksmasse hervorströmende jüdische Literatur alle Schranken der Tradition nieder und ent­schleierte rücksichtslos die Fäulnis des jüdischen Volkslebens. Schon der erste Roman Mendeles setzte sich mit kühnem Schwung über die Autorität jüdischer Gemeindeführer hinweg und Linietzkis ebenbürtiges Werk wehte wie ein Sturmhauch über die chassidischen Gaukelspieler hinweg und entblößte rück­sichtslos ein Zerrbild geschichtlicher Verkümmerung.

Der riesige Erfolg dieses Romans zeugt von seiner Bedeutung. Er zerschlug unwillkürlich Heiligtümer, indem er ihr wahres Antlitz aufdeckte. Er zeigte den Chassid als willenloses Werkzeug eines Zaddiks und zeigte den Zaddik als zehrenden Schmarotzer an der

jüdischen Volksseele.

Er enthüllte die unerhörte Marter einer Jugend, die verwüstet und öde nach neuem Leben lechzte, und zer­pflückte den chassidischen Alltag in Atome von Genuß­sucht, Hohlheit, Laster und Heuchelei. Der zaddikische Volksführer wird zum drolligen Rattenfänger und seine aufgeblähte Gottesvermittlerei zum Gaukelspiel menschlichen Wahns.

Besaß noch die chassidische Gemeinschaft eines Balschemtow und seiner unmittelbaren Jünger den Schöpferdrang einer Erneuerung jüdischen Volkstums, so entartet hier die Einstellung des jüdischen Alltags in den Bereich göttlicher Inbrunst zu einer lächerlichen und umso gefährlicheren Tragikomödie hohler Selbstverherrlichung.

Der Zaddik, der verzückt die Augen stets gegen den Himmel rollt, indessen er gierig irdische Güter zu­sammenscharrt, wird hier vom Führer zum Nutznießer einer religiösen Patronanz herabgedrückt. Seine In­brunst wird zur List und seine Macht zum Phantom einer unwissenden Menge. Tausende Menschen strömen jahraus, jahrein in die Residenz des Zaddik, Existenzen werden geopfert, ein erschreckendes Elend frißt des Volkes Kräfte auf, damit nur der Zaddik in Saus und Braus seine >Sudoth< halte: und während seine gut bezahlten Ratschläge für die Menge in allen Lebenslagen als göttliche Gebote gelten, frönt der pompöse Volksgötze tausend geheimen Lastern, die ans Verbrecherische grenzen.

Es ist der Niederbruch eines göttlichen Gedankens und ein Niedergang einer chassidischen Gemeinschaft, die Linietzki mit leiser, eindringlicher Satire, die voll verhaltener Tränen ist, dahinmalt.

Mit prächtiger Plastik ersteht hier das bunte Ge­wühl einer chassidischen Kleinstadt mit all ihren Sorgen und Qualen, Kömödien und Tragödien. Der Dichter durchblickte seine Zeit, und da er am eigenen Leibe den Fluch der chassidischen Enge erlebte; brauchte er nur

wahrheitsgetreu zu schildern, um das Gespinst von Jahrhunderten von einem ganzen Geschlecht abzuschütteln. Und hier liegt Linietzkis geschichtliche Sendung: sein Roman war eine soziale Tat, die vielleicht das Pathos der ganzen maskilischen Literatur aufwiegt…

                                                                                 *

Es ist ein Meiserwerk und das einzige, welches Linietzki geschaffen hat. Man erkennt wohl auf den ersten Blick, daß es mit Herzblut geschrieben ist. Aus einer chassidischen Gemeinschaft hervorgegangen schrieb er seine eigene Lebensgeschichte, indem er den Werdegang des polnischen Jingels schilderte. Von der Wiege bis zur Reife. Und mit der Reife kam die Ent­scheidung. Diese wird jedoch in diesem Roman nur angedeutet. Das Leben dichtete sie hinzu. Es war ein Kampf der unsteten Hast und des ewigen Ringens ums Judentum. Linietzki hat die Brücke vom Chassidismus zum realen Leben zerschlagen, doch jetzt erst begann der eigentliche Kampf.

So ward Linietzki der erste Chassid, der zum Maskil heranreifte – und wohl der erste Maskil, der zu Ende seines Lebens eine Synthese fand zwischen Aufklärung und Tradition, die im nationalen Gedanken mündete. Im Jahre 1839 in Podolien geboren und 1920 in Odessa gestorben, durchkostete er das gewaltige Ringen dreier Generationen ums neue Judentum. Als er sein Meisterwerk schrieb, glotzte ihn die Fratze eines verzerrten Mystizismus an; der unter dem Deckmantel religiöser Inbrunst das jüdische Leben zerwühlte — und als er dahinging, da erstrahlte in hellem Glanze die Idee der jüdischen Wiedergeburt.

*

Das pojlische Jingele ist vielleicht der einzige volle, abgerundete Roma in der jüdischen Literatur. Ein Roman, der einen vollendeten Querschnitt einer Epoche darstellt. Während Mendeles Taxe, Wunschfingerle und die schier unendliche Zahl ihrer Nachahmungen eigentlich nur lose zusammenhängende Fragmente darstellen, die nur äußerlich zu einem Roman zusammengefügt werden, ist Linietzkis Pojlischer Jingele wie aus einem Wurf gegossen. Eine Autobiographie, die folgerichtig aufgebaut, von der Wiege eines Menschen an sein Schicksal in scharfen Zügen meißelt. Es sind keine Individualitäten, die hier zu  Trägern der Geschicke werden, es ist kein Menschenbildner, der mit epischer Gestaltungskraft Menschenwesen aus der Eingebung schafft, es ist die Masse glattweg, die hier zum Leben erwacht, und die vielen Kleinkrämer, Schnorrer, Gelehrte, Schwärmer und Parasiten und obendrein der Zaddik erscheinen wie Marionetten, die halb in Romantik, halb in Narretei ihr Leben dahindämmern und in der Beleuchtung eines satirischen Meisterwerkes zum Niederschlag einer ganzen Epoche emporwachsen. Bei Mendele mag die Satire nur die Zwiespältigkeit des jüdischen Daseins hervorkehren, bei Linietzki ballt sich die Vielfältigkeit einer sterbenden närrischen Welt zur Tragik eines ganzen Volkes.

In: Wiener Morgenzeitung, 23.4.1922, S. 3-4.


[1] Kwall-Verlag, Wien 1922; mit einer Vorrede von M. Silburg (Orig. FN)

Albert Ehrenstein: Vom deutschen Adel jüdischer Nation. (1923)

             Jahrhundertelang hat man es den Juden übel genommen, daß sie sich auf die Abfassung des Alten Testaments beschränkten und, als ein neuer Messias kam, altgläubig genug, ihn nicht erkannten. Neuerdings haben sich die Dinge gewandelt und man wirft ihnen im Semi-Kürschner nichts öfter vor, als daß sie sehr gewandt seien, das Neue zuerst eindringend zu erfassen. Sie begnügten sich nicht mit dem gelben Fleck, waren vordringlich genug, mit einem Platz an der Sonne lieber vorlieb zu nehmen. Seit nun gar Heine und Börne von Verlegern der Klassikerausgaben mit jenem Heiligenschein versehen wurden, der wie Goldschnitt aussieht, hat die Emanzipation der Juden zu Zuständen geführt, die dem Professor Adolf Barteles und seinesgleichen den Vorsatz einflößten, die meisten Insassen der Literaturkataloge unbesehen im Semigotha einzuäschern. Wenn es einem Unbefangenen auch schwer fällt, dieses Gebot der christlichen Nächstenliebe zu befolgen, scheint doch eine kritische Betrachtung der Position, die das Judentum innerhalb der modernen deutschen Literatur einnimmt, längst an der Zeit zu sein.

             Das Ghetto war eine deutsche Vorstadt mehr, in seiner Sprache: dem Jiddischen, sich mehr Reste des Mittelhochdeutschen konserviert, als in irgendeinem anderen deutschen Dialekt. Man muß es Europa hoch anrechnen, daß es endlich auf das Ghetto verzichtete: dort war die Judenschaft der Entgüterung und Pogromen jeder Art am leichtesten erreichbar. Von diesen Schranken befreit, kannte ihre Anpassungsfähigkeit keine Grenzen; da jedes Volk das andere haßt – mit jenen Anstandspausen, die von Augenblicks-Ententen, das heißt: gemeinsamen Geschäften herbeigeführt werden – ließ sich das deutsche Volk von den Assimilanten auf die Dauer nicht täuschen und setzte der nie allzu üppigen Freiheit seiner freigelassenen Knechte jenen nationalistischen Antisemitismus entgegen, der in seiner Gegenwirkung zu einer geistigen Europaflucht und Selbstbehauptung führte; es gibt nämlich auch Juden, die ostentativ zum Judentum übertreten: diese nennt man Zionisten. All dies[e] chauvinistische Erscheinungen, die umso drolliger sind, als es wohl eine deutsche Sprache, aber blutwenig Germanen gibt, und ein gewiegter Anthropologe unter den deutschsprechenden Juden eben so viel Rassen finden könnte, wie unter den deutschen: slawisch-germanisch-keltischen Wirtsvölkern. Der jüdische Habitus entspricht meist dem der mittelländischen Rasse, jener italisch-berberischen Mischrasse, die sich unter dem Vorwand, Römer und Karthager zu sein, bekanntlich so kannibalisch-kannibalisch zerfleischte. Man spricht so häufig von einer Konstanz der jüdischen Rasse, hervorgerufen von Diaspora, Ghetto, Inzucht und der religiösen Ausschließlichkeit des auserwählten Volkes. Mir scheint die somatische Einheitlichkeit weniger evident, wie die der Geistesrichtung. Jahrtausende einförmiger Erziehung, die Räubergeschichten des Alten Testaments spitzfindig beleuchtet vom Talmud, geistige Speisevorschriften, streng wie die Speisekarte des Proletariats im Krieg, schufen die Uniform, die noch nicht ganz gesprengt ist, eine historische Kontinuität, die sich noch mit keiner Erlösung und Ruhe beschwichtigt hat.

             Was vor den europäischen Revolutionen sich im Ghetto als Wunderrabbiner, Talmudjünger und Irrlehrer aneinander aufgerieben hätte, offenbart sich nun seit einem Jahrhundert immer wieder als radikale Kunst. Aber was ist, was bleibt radikale Kunst? In ihrer Art souveräne Geister, wie Börne und Heine, entgingen nicht dem gelben Fleck des Klassikers; die nach 1890 mit Freud hochkamen: Schnitzler, Hofmannsthal, Beer-Hofmann – die jüdische Kritik Wiens und Berlins warf ihnen so lange perverse Erotik vor, bis ihnen der unausbleibliche Schutzkarton der Gesamtausgaben wie eine Mandarinenmütze der allgemeinen Hochachtung aufs kahlere Haupt gestülpt wird. Geister höheren Ranges: Peter Altenberg und Else Lasker-Schüler, noch immer dem Publikum und seiner marktgängigen Roman- und Dramenware siriusfern – auch diese makellosen Kinder des großen Geistes werden anläßlich eines dreißigjährigen Todestages gegen Monatsraten erhältliche Klassiker sein. Das befremdend Neue, das ihr Schicksal war, wird nie veralten – wie immer, wenn der Radikalismus der Form einem Genie des Inhalts, des Herzens dient.

             Man hat viel von einer Verjudung der neuesten deutschen Literatur gesprochen. Es wäre schwer, Namen zu nennen. Die nationalistische Reaktion hat in Deutschland so sehr überhand genommen, daß mich ein Schriftsteller, dem ich öffentlich jüdisches Blut zuerkennen würde, recht wohl verklagen kann: Betriebsstörung, geschäftliche Schädigung usw. Ich kann also nur von mir – victrix causa dis placuit, victa Catoni – direkt behaupten, daß ich durch den nie neukatholisch korrigierten Zufall der Geburt Jude bin. Die Deckfärbung, die manche Exisraeliten in der opportunen Religion der Umwelt suchen, ist an sich weder löblich noch tadelnswert: man müßte die Motive des Übertritts zum herrschenden Islam kennen, ehe man einem Sabbatai Zewi Apostatentum vorwirft – wenn auch gewöhnlich jedes Renegatentum eher von Mode, Streberei, Feigheit diktiert wird als von tiefer Überzeugung. Auch jene Konterimitation, die vielleicht manchem Zionismus zugrunde liegt: der plötzliche Anschluß religiöse indifferenter, bestenfalls patheistisch-eklektischer Literaten an das Judentum, läßt die Frage nach der Ursache laut werden und den Zweifel, ob da nicht am Ende ein Schlaukopf im Gefühl seiner eigenen Schwäche, die an sich zu keiner prominenten Stellung führen könnte, eine ganze Partei in seinen Dienst gestellt hat? Jedenfalls haben meines Erachtens Zionisten unrecht, sich an der „Überfremdung“ der deutschen Literatur zu beteiligen; sie wären konsequenter, wenn sie ihre Schriften jiddisch oder hebräisch abfaßten.

             Der qualitativ und quantitativ hohe Anteil, den das Judentum am deutschen Geistesleben hat, ist leicht erklärt. Ein Volk, dem durch viele Jahrhunderte das Wort, die Schrift heilig war, seit zweitausend Jahren in einer politischen Depression lebend, auf die Bibel und deren mystische und sophistische Kommentare als einzige Geistesquelle zurückgeworfen, vor jedem Studierenden Achtung hegend wie nur noch die Chinesen – ein solches Volk, durch Neigung, Erziehung und Zwang lange abgedrängt von allen militärischen, politischen Berufen und Staatsanstellungen, mußte in der Kunst die fast einzige Möglichkeit erblicken, sich gegen allen Rassenhaß, über Myriaden Hemmnisse und Erschwerungen hinweg, ehrenvoll Geltung zu schaffen. Die kritische Begabung, talmudher vererbt, trieb sie in die Redaktion; es ist kein Zufall, daß beste Kritiker und Essayisten Deutschlands und Österreichs jüdischer Herkunft sind, wenn auch die oft überhebliche Verehrung, die sie hauptsächlich und exklusiv ihren eigenen // Geistesprodukten weihen, dem Nachgeborenen unkritisch scheinen wird.

             Daß jüdischen Rezensenten jüdischen Künstlern in parteiischer Weise weitergeholfen hätten, könnte man nicht behaupten. Die Nörgelsucht des unproduktiven jüdischen Kritikasters, sein gegen Glücklichere oder Fruchtbarere gerichtete Selbstzerfleischungsbetrieb feiert nie sadistischere Orgien, als wenn er auf scheinbar Gleichrassige stößt, die und deren Schwächen er besser zu erkennen und kennen meint. Vpn Cliquewesen kann also in dieser Hinsicht keine Rede sein.

             Unter dem großen Außendruck ward jedenfalls in den deutsch-jüdischen Dichtern des neunzehnten Jahrhunderts ein Absehen von der rauhen Wirklichkeit, eine romantische Weltflucht, eine Verklärung des Irdischen heraufbeschworen, wie sie der Diens am Wort bei Phantasten ohne Weltbesitz zeugen mußte.

             Allerdings könnte man ebenso gut behaupten – von Grimmelshausen, Gotthelf, Keller, Reuter, Raimund und Nestroy abgesehen – habe kein deutscher Klassiker Werke geschaffen, realistisch genug, daß man aus ihnen ihr Milieu, ihre Zeit, ihre Gesellschaft wahrheitsgetreu rekonstruieren könnte. Seit Klopstock krankt die deutsche Dichtung am ästherischen Nebel, den die Grkrönten auf Jambenwolken durchfahren; frei von dieser falschen Idealisierung sind nur die vier Großmeister des realistischen Dialekts und ihre lebenden Enkel.

             Nicht nur im Gedicht, im Drama, in erzählender und kritischer Prosa haben deutsche Juden Unverwelkliches geleistet, auch als Übersetzer und gewaltige Mittler haben sie ihren Mann gestellt, ihre Dankespflicht getan: So nenne ich die Namen Landauer, Werfel, Brod, Buber.

             Viele wähnen, der Zionismus, die politisch-sportliche „Erstarkung“ und Abberration des Judentums würde sich wie die jüdische Dichtung überhaupt im palästinensischen Ghetto mit Wohlleben und Landbesitz verflüchtigen.

             Aber die Welt ist nun nach dem Krieg, der uns in alle Abgründe der Menschheit schauen ließ, so beschaffen, daß ich alle Ruhmesblätter, die arischen oder semitischen Zeitgenossen auf den Kopf fallen, für hinfällig halte gegenüber den schwachen Klängen einer anderen Zukunftsmusik, die ich zu hören glaube. Dieser Erde kann nicht die Dichtung weiterhelfen, nicht das dem großen Volke leider immer noch unverständliche Wort. Roentgen, Ehrlich, Einstein wiegt ein Dutzend Sonettklassiker auf. Wer der Syphillis, der Tuberkulose, dem sozialen Unrecht ein Ende bereiten wird, durch ein Serum, Antitoxine, Maschinen das tausendfach beschnittene Leben gesünder, angenehmer, glücklicher gestaltet, hat mehr Anrecht auf den Dank der Menschheit als ein Schock prämierter Dramenbauer oder Romanbonzen aus Judäa oder Germanistan. Dichtung ist letztlich Krankenkost, ein Opium, ein Haschisch, dessen eine leidende, schmerzbetäubte Bevölkerung bedarf.

             In aller jüdischen Dichtung finde ich ein Plus an Moral und Ethik, oft sorgfältig verborgen hinter einer übertrieben-zynisch witzelnden Maske. Der Stamm der alten Propheten lebt noch. Die Bibel ist nur ein Fragment. Altes und Neues Testament sehnen sich nach einer Ergänzung, nach einem tröstlichen Ende. Ich weiß, daß der große Führer, der kommende Messias nur ein Jude oder Slawe sein kann: Ein Asiate, ein Mensch aus dem ewig Ewiges zeugenden Osten.

In: Der Tag, 20.11.1923, S. 4-5.

[N.N./Anitta Müller]: Die jüdische Frau und die Politik

             Die nächsten Tage sind zukunftsschwer. Sie tragen die Entscheidung in ihrem Schoße über Wert und Stellung der Parteien im neuen Staate. Dem Bilde im kleinen gesellt sich das Bild im großen; auf der Friedenskonferenz wird die Entscheidung fallen über Wert und Stellung der Völker.

             Jüdische Frauen, wenn ihr mit dem bangen und ehrfurchtsvollen Gefühle, wie es uns vor großen, historischen Momenten überkommt, daran denkt, habt ihr bedacht, daß diese Tage und Wochen auch die Entscheidung über Wert und Stellung eures Volkes endlich bringen müssen? – Welches ist die Stellung des jüdischen Volkes im modernen Staatenbilde? Es wird als Volkseinheit geleugnet, wo man dem Volkstume Rechte zubilligen müßte; es wird als gesonderte Volkseinheit ausgerufen, wo immer man es mit Haß und Verfolgung bedroht.

             An dem Wahlfieber dieser Tage nimmt zum ersten Male auch die Frau teil. Die Parteien umwerben sie, Plakate locken sie, Flugzettel schreien ihr Programme entgegen, laden sie zu Versammlungen. Es gilt, Volksvertreter zu wählen, welche über Wohl und Wehe, Leben und Größe, Rechte und Pflichten der Völker entscheiden sollen. Jede Partei zählt auf ihre Frauen. Auch das jüdische Volk zählt auf den Ernst und die bewußte Mithilfe seiner Frauen.

             Die große Masse der Frauen ist politisch unreif. Sie hat sich erst seit viel zu kurzer Zeit mit den Fragen der Politik beschäftigt und steht darum fast ratlos vor einem Chaos, wo sich die Lager spalten, wo gleiche oder ähnliche Programme von mehreren Parteien auf einmal aufgestellt werden. Die jüdische Frau ist ihrer ganzen Wesensart nach zur leidenschaftlichen Teilnahme an der Politik geeignet. Sie hat einen lebhaften, beweglichen Geist, ist fähig, Ideale zu empfinden und sich ihrer Verwirklichung zu widmen. Die jüdischen Frauen wirken in allen Parteien, sie sind begeisterte Sozialdemokratinnen, Kommunistinnen, Demokratinnen. Die große Masse der jüdischen Frauen steht hinter den Führerinnen und ist verwirrt, denn auch sie zeigen keine einheitliche Richtung, keine Hingabe an die eine und einzige Sache. Und doch ist gerade für die jüdische Frau der Weg offen und klar. Die Plakate brauchen sie nicht zu locken, das Studium der verschiedenen Programme braucht ihnen kein Kopfzerbrechen zu verursachen; die jüdische Frau gehört ihrem Volke, sie hat nur für ihr Volk zu arbeiten und zu wählen.

             Auch die jüdischnationale Partei stellt Kandidaten in den Wahlkampf. Für das jüdische Volk bedeutet der Ausfall des Wahlkampfes die Entscheidung über seine Existenz und seine Lebensmöglichkeiten auf viele Jahre hinaus. Jude sein, heißt immer und überall in der Minderheit sein. Bisher haben die Minderheiten von der Gnade der Majoritäten gelebt. Die Friedenskonferenz aber will für das Selbstbestimmungsrecht für volle Freiheit auch der Minderheiten eintreten. Endlich aber muß auch die endlose unerträgliche Unterdrückung des jüdischen Volkes zur Sprache kommen, und zwar in einer würdigen Form, die sicher ist, daß alle Klagen und Beschwerden auch Gehör finden. Blutige Pogrome, Antisemitismus, der Berufe verrammelt, Existenzen untergräbt, das ist Lohn und Dank für ein Volk, dessen Angehörige in treuer Kulturarbeit jedem Lande gedient, das sie aufgenommen. Die Vertreter eines starken seiner selbst bewußten Volkes, werden überall gehört werden müssen. In der ersten Nationalversammlung Deutschösterreichs werden Entscheidungen fallen, die von weittragender Bedeutung für das Leben der Juden in diesem Land sein werden. Von der Anzahl der Stimmen, welche die jüdischnationalen Kandidaten erhalten, wird es abhängen, ob in der Schicksalsstunde des jüdischen Volkes Männer seines Blutes, Männer, die von bewußter Liebe und Hingabe zu ihm erfüllt sind, die Entscheidungen werden mitbestimmen dürfen.

             Jede Stimme kann ausschlaggebend sein. Deshalb muß jeder jüdische Mann, jede jüdische Frau in diesen Tagen sich ihrer nationalen Pflicht voll bewußt sein. Besonders an die Frauen wenden wir uns. Frauen sind die Trägerinnen des Gefühles. Der nationale Gedanke faßt nirgends so fest und tief Wurzel wie im Herzen der Frau. Wenn sich beim Manne im steten Daseinskampfe, in steter Berührung mit volksfremden Elementen das nationale Gefühl mindert oder doch in den Hintergrund gedrängt wird, in der Frau erhält sich, still behütet, das Bewußtsein der Volkszugehörigkeit wie ein Heiligtum. In ihm spricht sich die Liebe zu den Ahnen aus und die Zärtlichkeit für ihre Kinder und Enkel. Wir jüdischen Frauen, die wir mit sittlichem Ernste und gläubigen Herzen jüdisch wirken und jüdisch leben wollen, stehen zu unserem Volke in einer Art Pflichtverhältnis. Das Volk braucht uns heute und wir werden seinen Ruf aus der Not nicht ungehört verhallen lassen. Das kleine Volk, das überall verstreute, das, gedrängt und verfolgt, sich von Tag zu Tag seines Lebens wehrt, muß voll und ganz auf seine Angehörigen, auch auf seine Frauen rechnen können.

             Das jüdische Volk erwartet, daß alle jüdischen Männer und Frauen für die von ihm aufgestellten Kandidaten stimmen werden. Beim heutigen Wahlkampfe dürfen nicht allgemeine Schlagworte gelten, nicht nur Welt- oder Klassenfragen: für den jüdischen Mann, für die jüdische Frau gilt es vor allem das Interesse und der Fortbestand des jüdischen Volkes.

             Jüdische Frauen, die Entscheidungsstunde für das jüdische Volk soll beweisen, daß ihr euch als lebende Glieder eures Volkes, als Trägerinnen des jüdischen Nationalismus fühlt. Er ist kein engherziger Nationalismus, wir er nur zu oft als Deckmantel der Unduldsamkeit dient, er ist ein Nationalismus der Liebe und der Gerechtigkeit, aber auch der Notwehr. Arbeitet für die Ehre und das Ansehen eures Volkes, für das Glück und die Zukunft eurer Kinder:

             Gebet eure Stimmen den Kandidaten der Jüdischnationalen Partei!

In: Wiener Morgenzeitung, 2.2.1919, S. 7.

Else Ehrlich: Brot setzt sich in Bildung um (1926)

Das ist das Tröstliche an der Gründung der Arbeiterhochschule, daß sie, da die sozialdemo­kratische Partei die Hammerbrotwerke nicht mehr halten konnte, die Riesensumme, die ihr der Verkauf brachte, dazu verwendete, jenen, denen sie nun nicht mehr das Brot des Lebens reichen kann, das geistige Brot zu bieten, das so manchem nicht minder nottut, wie jener Bissen, den er sich oft vom Munde abspart, um dieses zu erlangen.

In dieser Gründung ist ein neuer Zug zu bemerken, der sie über den Geist der Parteien hebt, der endlich einmal einigen intelligenten und künstlerisch veranlagten Menschen gestattet hat, ein Werk nach ihren eigenen Ideen, nach ihren eigenen Plänen, ohne Begutachtung durch Kommissionen und Behörden zu entwerfen und zu verwirklichen, ein Werk, das vorläufig nur auf zehn Jahre gedacht — für diese Zeitspanne wurde das Maria Theresien-Schlössel in der Sickenberggasse von der Gemeinde Wien in Miete genommen —, doch Ewigkeitsaspekte zeigt. Das alte Schlössel, dessen großer Festsaal — der Vorlesungssaal —, der mit Fresken von Altamonte geschmückt ist, das infolgedessen unter Denkmalschutz steht und keinen Privaten zur Wohnung überlassen werden kann, ist erst vor einem Jahr in den Be­sitz der Gemeinde Wien übergegangen. Anfang November aber erst begann der Direktor der Arbeiterhochschule, Josef Luitpold Stern, mit dem Umbau nach den Plänen des Architek­ten George Karau. Aus einem wüsten Durcheinander entstand in wenigen Wochen ein schmuckes Heim, dessen Aula drei großzügige Fresken von Rudolf Otto Schatz schmücken, das in seinen, ohne jeden Pomp und doch nicht als Armeleut-Wohnung eingerichte­ten Schlafsälen und dem gediegenen Speise­saal und Studienraum zweiunddreißig Menschen beiderlei Geschlechtes geistige und körper­liche Nahrung und Wohnung zuträgt.

Jeder Lehrgang umfaßt sechs Monate. Zehn der Teilnehmer werden von der Gewerkschaftskommission, zwanzig von der Partei aus­gewählt. Es sind darunter fast durchaus Arbeiter, die direkt aus den Betrieben kommen und nach vollendetem Lehrgang wieder in diese zurückgehen. Unter den zweiunddreißig Hörern sind sechs Mädchen und Frauen; sie allesamt genießen diese Ausbildung auf Kosten des Ver­eines Arbeiterhochschule, und jenen, die ver­heiratet sind, wird von eben dieser Stelle jene Summe zur Verfügung gestellt, deren ihre Familie zum Leben bedarf.

Um halb 7 Uhr morgens geht das Tage­werk an. Von 7 bis 8 Uhr wird in der Aula geturnt, dann kommt das Frühstück. Von ¼ 9 bis 12 Uhr sind, mit einer viertelstündigen Pause für das zweite Frühstück, Vorlesungen, um ½ 1 Uhr ist Mittagszeit. Bis 5 Uhr beschäftigen sich die Hörer mit der Verarbeitung und Wiederholung des Stoffes, wobei ihnen eine reiche Studienbibliothek zur Verfügung steht. Um sich diese Wiederholung und Verdauung zu erleichtern, sind die Hörer in sechs Arbeitsgemeinschaften geteilt, die den Lehr­stoff gemeinsam erarbeiten. Von 5 bis 6 Uhr ist Seminar, um ¾ 7 Uhr Nachtmahl; dann kann jeder tun, wonach sein Sinn steht. Die Gemeinsamkeit hat sich aber so rasch herausgebildet, daß in diesen Tagen schon siebzehn von den zweiunddreißig sich zu gemeinsamem Theaterbesuch einten, während das Gros der anderen sich daheim zu Musikstudium und Lek­türe gesellte. Jeder Hörer bat das Recht von Samstag bis Sonntag auf Urlaub zu gehen.

Der Lehrplan umfaßt Sozialpolitik und Arbeiterrecht, Schutztechnik und Genossenschaftswesen, Gewerberecht und gewerkschaft­liche Wissenschaften, Gesetzeskunde Einfüh­rung in die Hauptabschnitte der Rechtskunde, Familien- und Erbrecht —, kurz gesagt: wir sehen eine staatswissenschaftliche Fakultät ent­stehen. Der nachmittägige Seminarunterricht umfaßt ein volkswirtschaftliches und statistisches, ein journalistisches und rhetorisches Seminar.

Als Lehrer werden vorzugsweise Sozialisten gewählt, gewollt und gesucht, die gleichzeitig Forscher und Praktiker sind, also praktische Ge­lehrte, Männer, die in der Wissenschaft und der Parteibewegung vollkommen verankert sind. So liest Renner Staatslehre, Otto Bauer Nationalökonomie, Max Adler Ge­schichte der Ideen des Sozialismus, Doktor Palla über soziale Politik. Kunfy, Volkssekretär in Ungarn zur Zeit der Kommune, liest europäische Geschichte ab 1789, und Universitätsprofessor Otto Neurath deutsche Wirtschaftsgeschichte bis 1789. Der Präsident des Nationalrates Eldersch macht die Hörer, mit dem Versicherungswesen vertraut, Arnold Eisler liest über Rechtskunde. Die einzige Frau, die sich lehrend an der Arbeiterhoch­schule betätigt, ist Frau Helene Bauer, die Gattin Otto Bauers, die das wirtschaftlich-statistische Seminar leitet.

Neben der Pflege des Verstandes wird aber auch Wert auf Charakterschulung und Gemüts­bildung gelegt. Die erstere zu erreichen, ist die Anstalt in die Hand der Schüler gelegt, selbst verständlich unter Kontrolle des Vereines. Das bedeutet für die Hörer keine Belastung, da ihnen Hilfskräfte zur Verfügung stehen; die Entwicklung der Solidarität läßt sie über die kleinen Mehrarbeiten, die ja dem Arbeiter durchaus vertraut sind, mit Freuden hinweggehen. Die Schulung des Gemütes wird durch Veranstaltung von künstlerischen Abenden, durch den Versuch, Sprech- und Gesangschöre zu schaffen und durch gemeinsamen Besuch von künstlerisch hochwertigen Veranstaltungen ge­fördert.

Der Verein Arbeiterhochschule hat es aber auch verstanden, einen Direktor an die Spitze der Volksuniversität zu setzen, der aus dem Volke hervorgegangen, in dessen Interessen ver­ankert, mit Leib und Seele seit seinem fünf­zehnten Lebensjahre mitten im Parteileben steht, der nicht nur als Staatswissenschaftler Bücher von dauerndem Werte geschaffen, son­dern der auch künstlerisch über das gewöhnliche Maß weit hervorragt. Josef Luitpold Stern, der erst seit Anfang November wieder in Wien weilt, wird in den nächsten Wochen Soziale Balladen, mit Holzschnitten von Rudolf Schatz, erscheinen lasten, die das erste bibliophile Werk sein werden, das zu einem ganz unglaublich billigen Preis, zirka fünf Schilling, erscheinen wird.

Er ist es auch, der den wunderhübschen Gruß erdacht hat, der das Freimaurerzeichen der Zusammengehörigkeit der Hörer dokumen­tiert. „Freundschaft!“ sagt mir mit gewinnendem Lächeln die junge Hörerin, die aus dem Bureau des Stadtschulrates zur Weiterbildung auf der Arbeiterhochschule gewählt wurde, da sie mir die Hand reicht, und „Freundschaft“ sagen im vertrauenden Ton die jungen Arbeiterhörer, die mich zum Ab­schied in die Aula begleiten.

In: Der Tag, 24.1.1926, S. 8.

Otto Abeles: Das Jiddische Theater in Wien. Aufklärendes über die „Freie Jüdische Bühne“ (1924)

             In einem Hinterhaus der dunkelsten Leopoldstadt begann vor vier Jahren die „Freie Jüdische Volksbühne“ ihre Tätigkeit. Baratow entschloß sich dort, vom russischen zum jiddischen Theater überzugehen. Jarno erkannte Eigenart, Kraft und künstlerische Bedeutung dieser Vorstellungen und öffnete dem Ensemble seine Bühnen. Und Liebstoeckl, sehr bewegt nach der ersten Begegnung mit diesem Wiener jiddischen Theater – und sehr erstaunt über die Zrrückhalteung (heraus damit: Verschämtheit) israelitischer Fachkollegen – schrieb in seinem Referat: „Wess Herd dies auch war, hier durft‘ ich rasten“

                                                                                 *

             Ich nehme das schöne Wort auf. Inzwischen hat man ja in Wien auch die Abende der „Wilnaer“ und jüngst erst die des New Yorker jiddischen Künstler-Theaters genossen und es ist angebracht, einiges über das Idiom zu sagen, das an diesem Herde gesprochen wird. Über die Menschen, denen dieser Herd Heimat ist. Über die Wärme, die er spendet. Über die Geistigkeit, die seine Flamme nährt.

                                                                                 *

             Jiddisch ist die Sprache von rund zehn Millionen und sie ist vom Kai-Jargon ungefähr so weit entfernt, wie etwa die grammatikalisch einwandfreie Freitags-Predigt eines preußischen Reformrabbiners vom wesenhaften Deutsch entfernt ist.

             Kai-Jargon: das ist im besten Falle butterweiche, jämmerliche, um Mitleid bettelnde Sentimentalität – wie bezeichnend, daß sich just das Wort „nebbich“ hier erhalten hat – im schlechtesten (häufigsten) Falle aber zynischer Fatalismus, dem Selbstbeschmutzung eine erheiternde Angelegenheit ist.

                                                                                 *

             „Jiddisch“, das ist ungebrochene Kraft der Empfindungen (himmelweit entfernt von degenerierter Sentimentalität), Inbrunst, Leidenschaft, Freude, rasender Schmerz, Humor – hohes Lebensgefühl. Es sind nicht nur Beispiele für die Prägnanz der Sprache, sondern weit mehr für die Wesenheit ostjüdischer Menschen, die ich jetzt anführe. Ausdruck für sehr dunkle verzweifelte Lebenslage ist das Wörtchen: „nischt gitt“, für freudigste Dankesbezeigung das Wörtchen: „a Dank“.

                                                                                 *

             Die Menschen, in deren Bürgerwohnungen, Massenquartieren, Spelunken, Schnapsbuden, Kellerlöchern dieser Herd steht, kommen ausnahmsweise von der Börse und niemals aus Kaffeehäusern, Nachtlokalen, Redaktionsstuben und von Turfplätzen heim. Sie sind Fuhrleute und Fischer, Schnapsbrenner und Kleinkrämer, Landwirte und Schänker, Talmudisten und Spielleute; sie sind Mystiker oder Zuhälter, hungernde Idealisten oder gemästete Plusmacher, Arbeiter oder Ausbeuter, Höhenmenschen von reinster Gesinnung oder gehaute Gauner – kurz, sie sind das Volk. Sie wohnen im „Städt“ beisammen oder in einsamen Gehöften, die sie nicht trennen können. Sie sind einander verbunden in grausamsten Gefahren, bedroht: von Folternot der nächsten Stunde, aber auch in herrlicher höchstlebendiger Heiterkeit. Sie kennen einander bis zurück ins dritte oder vierte Geschlecht beim Vornamen. Ihre Stuben sind von köstlichen Volksliedern und ergreifenden, frommen Weisen durchzogen, von hundert wesenhaften Mythen und Legenden überrankt, vom Glanz der Feiertagskerzen wunderbar erhellt.

             Unter dem schmutzigen Kaftan schlägt ein Herz, unter dem speckigen, niemals gelüfteten Käppchen sinniert ein ewig junger, ein heißer Geist, und wenn sie bei ihrem Herd sitzen, diese Menschen mit dem unfreien Gang und dem runden Rücken oder jene anderen mit dem vierschrötigen muskulösen Körper, der auch bei schwerster Arbeit in Urvätertracht gezwängt bleibt – dann heimliche Schönheit auf.

                                                                                 *

             Höchstes Gut dieser Menschen – auch ihre Sprache zeugt dafür – ist die Lebensbejahung, die naive, trotz aller Bedrängnis ungebrochen fortwirkende, heilige Freude am Dasein. Eine Greisin, die alle ihre Angehörigen als geschlachtete Pogromopfer in der ukrainischen Erde zurückgelassen hatte, sagte mir: „Ich habe so viel mitgemacht, daß ich es verdiente, doppelt so lang zu leben…“

             Wer ostjüdischen Menschentum nahe kommen will, hat sich zunächst den Unterschied zwischen Kultur und Zivilisation klar zu machen. Bekanntlich ist nur für letztere der Seifenverbrauch ein Gradmesser. Dem Judentum fernstehende Menschen, wie Richard Dehmel und Herbert Eulenberg, haben die Wesenheit des Ostjudentums erkannt und es ist Zeit, daß der Westjude die selbstmörderische Unkenntnis des östlichen Judentums abbaut. Der Westjude könnte hier – man verzeihe das pathetische Wort – den Weg zu den Müttern finden.

                                                                                 *

             Spiegel des Ostjudentums, Bild seines bunten, naiven Volkswesens, Zeugnis der überraschenden Lebendigkeit und Lebenskraft seiner Menschen ist das Jiddische Theater. Gemeinschaftsgefühl, blutrote Leidenschaft, Weißglut der Ekstase, Liebseligkeit, naive Gläubigkeit, grübelnder Geist, der mit Gott hadert, vor allem aber die unbedingte Bejahung des Lebens, als der herrlichsten Gabe des Himmels, die zu wahren und zu lieben ist, so lange noch ein Atemzug die Brust hebt – dies alles ist hier sinnfällig im künstlerischen Gleichnis gezeigt.

In: Die Bühne, H. 2 (1924), S. 28.

O.M. Fontana: Werden der Dichtung. Versuch einer Selbstanalyse (1929)

Die neuere, wieder aus Spezialfertigkeiten und Einzelwissen zu einer geistigen Zusammenfassung strebende Medizin hat für das rätselhaft Bestimmende und Beharrende im Menschen den Ausdruck: Tiefenperson gefunden. Was macht nun den Dichter? Daß diese Tiefenperson, die im sogenannt normalen Menschen taubstumm bleibt, im Dichter zu hören und zu reden vermag. Wie diese Tiefenperson wird und ist, ergibt sich aus der Konstitution des Individuums und ist aus ihr wissenschaftlich eindeutig abzuleiten. Aber unableitbar, ein Geheimnis – warum die Tiefenperson in jenem taubstumm bleibt, in diesem hört und spricht. Auch so: ich (oder mir lieber: ein anderer) vermag zu sagen, aus welchen Lebensvorgängen heraus, kurz: wie ich dichte und in welcher Weise dieses Gedichtete dem

Ganzen meiner Person entspricht. Aber warum ich dichte, gerade ich in der Reihe meiner Ahnen – wer kann das sagen, besonders im Westen der Kultur, wo jeder glaubt, glauben muß, mit ihm beginne das Leben neu.

Soviel über die Gründe des Dichtens, über sein Geheimnis. Seinen Erscheinungen läßt sich mehr und auch mehr an der Oberfläche Liegen­des abgewinnen. Etwa die Frage: was ist zuerst beim Dichten da – das Gesicht eines Menschen oder seine Seele? Ich kann darauf nur ant­worten: je nachdem, einmal ist es dieses, das andere Mal jenes. Ein Gesicht, dem ich begegne, vermag mich zu verstören und tagelang zu be­schäftigen. Es geht in mir unter, um in neuer Form, mir unbewußt, wieder zu erstehen. So entstand mein Roman Erweckung. Begegnung eines Verlorenen war seine erste Keimzelle. Einen seelischen, einen geistigen Inhalt bis an sein Ende durchzugehen – ich weiß weniges, was für mich verlockender ist. So wurde der Roman, an dem ich jetzt arbeite und der Weiter leben heißt. Er wurde aus der Erkenntnis und dem Durchdenken jener Situation und jenes Lebens­inhalts, die mich und meine Gefährten des Schick­sals bestimmten und bestimmen: unsere Jugend und unser Mannestum.

Wie aber Darstellung immer Gestalt werden muß – das ist der Kampf des Dichters. Ein langer zäher Krieg, in dem große Siege oder Durchbrüche sehr selten sind, in dem es um ein kleines Grabenstück Welt oder Mensch geht. Ich möchte sagen: an seinen inneren Niederlagen wächst der Dichter. Er wird von ihnen nicht er­drückt, er muß sie überwinden. Das gibt ihm Kraft der Erneuerung, das ist seine Wintererde. Dichter ohne diese Inneren Niederlagen gehören jenem Jungentypus an, in dem der Frühlingssaft dichtet und der mit 35 Jahren vertrocknet, erledigt ist.

Wie einer Gestalt, einer Vision, einer Er­kenntnis Welt zuwächst, wie sich dieses Absolute der Tiefenperson mit der Vielfalt der Er­scheinungen mengt, die wir beglückt Leben nennen – das ist das Erlebnis des Dichters. Und auch: wie das von ihm Gedichtete Eigenleben gewinnt, wie sein fiktiver Mensch irgendwohin zu gehen beginnt, wo ihn der Dichter überrascht wiederfindet, und wie eine Idee sich zu ihrer letzten Konsequenz durchringt und den Dichter mit sich reißt. Das sind Dinge, die der Dichter mit sich selbst auszutragen hat, die den Betrachter nicht küm­mern, die aber über Glück oder Unglück, über Gelingen oder Mißlingen eines Werkes ent­scheiden.

Der Kampf des Dichters geht nach zwei Fronten, nach einer geistig inhaltlichen und nach einer formalen. Das Gehörte und Geschaute muß nicht nur Leben bekommen, es muß auch die Grenzen des Lebens erhalten, in denen es jenseits des Chaos, der Anarchie sich erfüllen kann. Ich glaube nicht, was sehr viele und sehr anerkannte Dichter glauben, es gebe feste Formen, in die alles gegossen werden könne. Es genüge zum Bei­spiel in der Epik bei A zu beginnen, um in der Reihe des Alphabets notwendig Z zu erreichen. Ich glaube, daß jedes Leben anders ist und daß darum jeder Roman, jede Geschichte anders sein muß. Ein Baumblatt ist ein Baumblatt, aber jedes ist anders gewachsen. Von innen her. Auch die Form einer Dichtung kann nur vom Inhalt her bestimmt sein. Ich habe darum in meiner

Erweckung dem Aufbrechen verhärteten Menschenseins die knappe große Sinnbildlichkeit

zu geben versucht, die jener ewige innere Vorgang beansprucht. Ich habe in dem Roman von der Insel Elephantine (Katastrophe am Nil) eine Gesellschaft innerhalb ihres Zusammenbruchs an­schauen wollen und sie darum in eine flackernde, nervöse Bilderfolge gestellt. Ich habe in dem Roman Gefangene der Erde den Weg eines Menschen, der den der Menschheit wiederholt, den Weg von der Schönheit des Barbarentums über den Zwiespalt der Zivilisation bis zur Schönheit seelischer Menschhaftigkeit durchschreiten wollen. Wie konnte ich den anders erzählen, als indem ich di« Stationen dieses Wegs, die Unbefriedigung, das Sucherische bis zur letzten Mündung immer wieder und in vielen Spielarten sichtbar machte!

Wann ist eine Dichtung fertig? Ich glaube: nie. Wie die Erde, die Welt, der Mensch ja auch nie fertig ist. Nur die schlechte Dichtung ist fertig. Der Schöpfung fehlt immer der i-Punkt. (Der Wahn, ihn setzen zu können, macht alles Menschenwerk so glückhaft und tragisch zugleich.) Die Schöpfung ist niemals und nirgendwo Kalli­graphie. Die Dichtung sollte es auch nie sein wollen. Wenigstens ich hüte mich davor. Ich glaube: die Dichtung, die wirklich Dichtung ist, bleibt immer im feurig flüssigen Zustand. Nur das erhält sie am Leben, nur das läßt die späte­ren Zeiten zu ihr wiederkehren und, sich in ihr spiegelnd, sich selber wiederfinden. Darum ist nicht der Staub der Bibliotheken, nicht die Literaturkritik oder Professorengeschichte, nicht die Klassikerausgabe jüngstes Gericht des Dichters und der Dichtung, sondern nur das Leben selber, das der Dichter, so er einer ist, immer will und

bis an seinen Grund erlebt. Nichts scheint mir lächerlicher als der Versuch, für „gesammelte

Werke“ zu schreiben.

Ich liebe die Zeit, weil ich in ihr schwebe wie eine winzige Mücke im Licht. Ich liebe die ewigen Dinge, weil sie allein dem Menschen die Kraft zum Höchsten geben: zu lieben. Im Ersten und im Letzten glaube ich, nicht das Individuelle macht den Dichter groß und gültig, sondern das Anonyme.

In: Wiener Allgemeine Zeitung, 16.4.1929, S. 5.

Otto Neurath: Weltanschauung und Marxismus. (1931)

Ist der Marxismus selbst eine Weltanschauung (stützt er sich auf eine ganz bestimmte Philosophie) oder ist er mit deren Lehren verschiedener philosophischer Systeme vereinbar?

Diese Frage setzt stillschweigend voraus, daß es neben wissenschaftlichen Aussagen noch andere sinnvolle gäbe, die mit ihnen sinnvoll verknüpft werden können, die „philosophischen“ oder „weltanschaulichen“. Diese Annahme ist falsch. Es gibt neben der Wissenschaft keine sinnvollen Sätze philosophischer Systeme. Der Marxismus ist als Wissenschaft weder auf eine bestimmte philosophische Grundlegung angewiesen noch hat es einen Sinn, zu fragen, ob er mit verschiedenen Weltanschauungen vereinbar ist.

Es ist insbesondere dem „Wiener Kreis“ um Schlick und Carnap zu verdanken, daß der Nachweis erbracht wurde, man könne nur Scheinsätze neben den Sätzen der Wissenschaft formulieren. Ohne diesen Nachweis hier im einzelnen zu führen, seien seine Grundgedanken kurz dargelegt. 

Unter Wissenschaft wird hier ein System von Formulierungen verstanden, das uns die Möglichkeit gibt, Voraussagen über bestimmte Vorgänge zu machen. 

Nur solche Voraussagen werden zugelassen, von denen man angeben kann, wie sie bestätigt oder widerlegt werden können. Sagen wir zum Beispiel schönes Wetter voraus, so müssen wir angeben können, was für Kontrollaussagen der Wetterwarten einlaufen müßten, damit die Voraussage als bestätigt gelten soll. 

Um zu den Voraussagen zu gelangen, werden die vorhandenen Beobachtungsaussagen gesammelt, Aussagen über Regen und Temperatur, über Luftdruck und // Feuchtigkeit, bis man über Gesetze verfügt (Vorgang der Induktion), die uns die Möglichkeiten geben, durch geeignete Verknüpfungen von Korrelationen Voraussagen zu machen, die dann durch Kontrollaussagen (in A hat es geregnet, in B war Sonne usw.) überprüft werden. […]

Nicht immer kann man über Einzelvorgänge Voraussagen machen, manchmal nur über Gruppen von Vorgängen. Man kann etwa mit genügender Genauigkeit die Sterblichkeit einer Bevölkerung im nächsten Jahr voraussagen, nicht aber, ob ein bestimmter Mensch im nächsten Jahre sterben wird (Statistische Voraussagen).

Die wissenschaftliche Sprache wird so eingerichtet, daß die Beobachtungsaussagen durch Aussagen über eine einheitliche Ordnung ersetzt werden können. In allen wissenschaftlichen Aussagen wird angegeben, wann und wo sich etwas ereignet, wobei die Aussagen eines Blinden, der taub ist, eines Tauben, der blind ist, den gleichen Wortlaut haben. An die Stelle der Worte „periodisch auftretendes Hell und Dunkel“ und der den gleichen Vorgang beschreibenden Worte: „periodisch auftretendes Laut und Leise“ (wenn zum Beispiel ein Blinder mit Hilfe eines Telephons und einer Selenzelle Lichtvorgänge wahrnimmt) tritt eine gemeinsame Formulierung, in der die periodische Schwingung mit ihren sonstigen Eigenschaften ausgedrückt wird; so wie man etwa von einem „Würfel“ spricht, gleichgültig, ob man ein Sehender oder ein Tastender ist. Diese gemeinsame Sprache, die allen Sinnen, allen Menschen gleich gerecht wird, ist die Einheitssprache der Wissenschaft; ist „intersubjektiv“ und „intersensual“.

Am vollkommensten ist diese Sprache in der Physik ausgebildet worden. Sie für alle Disziplinen auszubauen, ist Aufgabe des Physikalismus. Er begründet die Einheitswissenschaft mit ihrem Schatz von Gesetzen, die alle so formuliert werden, das jedes mit jedem kombiniert werden kann. Will man zum Beispiel voraussagen, wie sich ein Volksstamm bei Gewitter benehmen werde, so muß man ebenso die Gesetze des Gewitters wie der Soziologie kennen. Es gibt zwar Gesetze einzelner Wissenschaften, die man aus der Einheitswissenschaft herausschneiden kann, man kann aber nicht jede Voraussage einer bestimmten Wissenschaft zuweisen. 

Die physikalische Einheitssprache der Einheitswissenschaft bemüht man sich so aufzubauen, daß Scheinsätze von vornherein ausgeschlossen werden. Eine Rechenmaschine läßt nicht zu, daß man Rot mit fünf multipliziert oder die Tugend aufs Quadrat erhebt. Aber unsere Sprache erlaubt, daß man von einem „Nachbar ohne Nachbar“ spricht, von einem „Sohn, der nie Vater oder Mutter gehabt“. Daß das sinnleere Begriffe sind, sieht man freilich leicht ein, Aber viele Menschen hängen an Begriffen, wie: „Kategorischer Imperativ“, und sehen nicht ohne weiteres ein, daß das eine sinnleere Wortverbindung ist. […] Eine gut gebaute wissenschaftliche Sprache verfügt über eine Syntax, die Scheinsätze, zum Beispiel über das „Nichts, das nichtet“ (Heidegger), von vornherein unmöglich macht. 

Die Ausschaltung der Scheinsätze ist sehr wichtig. Aber die dann noch übrigbleibenden Aussagen, die grundsätzlich durch Beobachtungs-// aussagen kontrolliert werden können, können noch immer falsch sein! Die gesamten Sätze primitiver Magie zum Beispiel sind irdisch, durchaus durch Beobachtungsaussagen kontrollierbar, und doch sind nur wenige davon in unserem Wissenschaftssystem wiederzufinden. Das gleiche gilt von astrologischen und anderen Behauptungen. Es bedarf ganz anderer Mittel, um zu zeigen, daß eine durch Beobachtungsaussagen grundsätzlich kontrollierbare Behauptung nicht zutrifft.

[… 450]

Beschreibt man das Verhalten des Einzelmenschen im Individualbehaviorismus, so beschreibt der Sozialbehaviorismus in der empirischen Soziologie das Verhalten von Gruppen, die miteinander durch Reize verbunden sind. Menschengruppen werden ebenso wie Ameisenhaufen untersucht. Metaphysiker, wie Sombart, möchten freilich die Lehre von den Menschenhaufen in eine grundsätzlich andere Wissenschaftskategorie wie die Lehre von

den Ameisenhaufen verweisen, weil es bei den Menschengruppen ein „Verstehen“ gebe. Es läßt sich zeigen, daß alles, was damit gemeint sein kann, sich auf räumlich-zeitliche Ordnung zurückführen läßt, so daß der Monismus des Physikalismus ungebrochen ist.

[…]

Für die empirische Soziologie ist zum Beispiel die Lehre vom Staat eine Lehre von Soldaten, Richtern, Bürgern, Bauern usw. mit ihren Telephonen, Straßen, Häusern, Gefängnissen, Gesetzbüchern usw. Die Nationalökonomie ist eine Lehre von den Beziehungen zwischen Gesellschaftsordnung und Lebenslagenverteilung.

Der Marxismus ist in diesem Sinne empirische Soziologie. Wer als Marxist nach Korrelationen zwischen den einzelnen soziologischen Vorgängen sucht, bedarf keiner philosophischen Grundlegung. Man mache Voraussagen über das Eintreten von Krisen, Revolutionen, Kriegen, über die Lebenslagenverhältnisse einzelner Klassen! Die marxistische Einstellung zeigt sich darin, welche Korrelationen angenommen werden. Man hebt gewisse Vorgänge als „Überbau“ hervor und stellt fest, wie ihr Auftreten mit bestimmten Vorgängen der Produktionsordnung „Unterbau“ zusammenhängt. Der Marxist wird ganz besonders darauf achten, alle wissenschaftlichen Formulierungen, also auch die eigenen, als Überbau in Abhängigkeit vom Unterbau zu sehen, das heißt, er wird erwarten, daß gewisse Theorien erst dann auftreten, wenn soziale Umwälzungen im Gange sind. Er wird daher von der Umgestaltung der Gesellschaftsordnung Änderung der theoretischen Aussagen erhoffen.

Andererseits ist die Theorie als physikalistisches Gebilde nicht nur Symptom für bestimmte Änderungen der Lebensordnung, sondern selbst ein Faktor dieser Umgestaltung. So ändert man durch Verbreitung bestimmter Lehren die Ordnung, und schafft so neue Grundlagen für den Ausbau der Theorie. So ist im Marxismus Theorie und Praxis— beides als räumlich-zeitliches Gebilde— aufs engste miteinander verbunden. Die bürgerliche Lehre vom „neutralen“ Gelehrten, der „von außen her“ den Ablauf der Ereignisse studiere, fällt damit weg.

Es ist bemerkenswert, daß Marx und Engels, auch darin ihrer Zeit weit vorauseilend, die vielfach metaphysisch gefärbte Sprache ihrer Umgebung dazu verwendeten, um zu modernen Wendungen vorzustoßen, die vielfach geradezu an den Behaviorismus heranführen. (Deutsche Ideologie): „Die Phrasen vom Bewußtsein hören auf. Die selbständige Philosophie verliert mit der Darstellung der Wirklichkeit ihr Existenzmedium. Der »Geist« hat von vornherein den Fluch an sich, mit der Materie »behaftet« zu sein, die hier in der Form von bewegten Luftschichten, Tönen, kurz, der Sprache, auftritt. Die Sprache ist das praktische auch für andere, also auch für mich selbst existierende wirkliche Bewußtsein.“

Wer die Traditionen des Empirismus hochhält und sich daran erinnert, daß die Materialisten die hier angedeutete Lehre vorbereiteten, wird sie als „Materialismus“ bezeichnen. Wer sich davor scheut, weil die Kirche den Materialismus verfemte, das Bürgertum ihn verachtet, oder wer sich davor scheut, weil die älteren Materialisten, am Mechanismus festhaltend, nicht ohne gelegentliche metaphysische Exkurse einen Standpunkt vertraten, der gerade der beschwingten geschichtlichen Auffassung des Marxismus Hemmungen bereitete, wird die neutralere Bezeichnung „Physikalismus“ vorziehen.

Marxismus als Wissenschaft macht sinnvolle Voraussagen und enthält sich aller Scheinsätze, er hat daher weder positiv noch negativ mit den Scheinsätzen der Philosophen etwas zu tun, mögen sie wie immer formuliert sein. Um den historischen Anschluß zu gewinnen, mag die Beschäftigung mit philosophischen Lehrmeinungen sehr nützlich sein, aber wenn man einmal unter diesem Gesichtspunkt sich weltanschaulichen Studien zuwendet, ist die Erforschung der Theologie wichtiger, weil sie historisch großen Einfluß ausgeübt hat und ausübt und weil die gesamte idealistische Philosophie abgeschwächte Theologie ist.

Diese völlige Trennung von Marxismus und Weltanschauung sagt aber noch gar nichts darüber, wie sich ein Marxist, der in der Arbeiterbewegung wirkt, nun zu konkreten Vertretern weltanschaulicher Scheinsätze innerhalb der Arbeiterbewegung zu verhalten hat, wie zu den Vertretern der Weltanschauungen außerhalb der Bewegung. Die Arbeiterbewegung faßt Menschen gleicher Klasseneinstellung zusammen. Sie ist darauf aus, bestimmtes klassenkämpferisches Verhalten wichtig zu nehmen, und ist an sich weltanschaulichen Einzelneigungen gegenüber eher tolerant. Es ist geradezu ein Element bürgerlicher Taktik, die weltanschaulichen Unterschiede innerhalb der Arbeiterklasse zu betonen, um so die Klassenfront zu sprengen. Anders freilich steht die Sache, wenn die religiöse Gemeinschaft gleichzeitig politische, antiproletarische Gemeinschaft ist. Aber auch dann sind die marxistisch geschulten Freidenker nicht der unmarxistischen Anschauung, daß durch Aufklärung allzuviel zu erreichen sei, sie begnügen sich vielmehr meist damit, die Glaubenslosen zu sammeln und nur zu verhindern, daß die Kinder wieder von Jugend an einer sehr oft antiproletarisch verwerteten religiösen Erziehung ausgesetzt sind. Auch die idealistischen Philosophen treten vielfach, wenn auch unbewußt, als Werkzeuge antiproletarischer Mächte auf und können zu einer Bekämpfung im Interesse proletarischer Entfaltung herausfordern.

Innerhalb der Arbeiterpädagogik kann die Toleranz gegenüber idealistischer Philosophie manchmal dazu führen, daß die Jugend bürgerlicher‘ Ideologie näher gebracht wird, als durch die Zeitumstände ohnehin geschieht. Aber das sind Einzelprobleme, deren Beantwortung durch die Situation des Klassenkampfes bedingt ist, nicht aber durch die theoretische Einsicht, daß der Marxismus als Wissenschaft mit Weltanschauung weder positiv noch negativ irgend etwas zu tun hat.

In: Der Kampf 10 (1931), S. 447-451.

Stefan Zweig: Reise nach Rußland (1928)

Stefan Zweig hat auf Einladung der russischen Regierung an den Tolstoi-Feierlichkeiten teilgenommen. In dem nachfolgenden Artikel beginnt er mit der Schilderung seiner Eindrücke.

Salzburg, 18. Oktober.

Redliche Vorbemerkung.

Welche Reise innerhalb unserer näheren Welt wäre heute auch nur annähernd so interessant, bezaubernd, belehrend und aufregend als jene nach Rußland? Während unser Europa, und besonders die Hauptstädte, dem unaufhaltsam zeitgemäßen Prozeß wechselseitiger Anformung und Verähnlichung unterliegen, bleibt Rußland völlig vergleichslos. Nicht nur das Auge, nicht nur der ästhetische Sinn wird von dieser urtümlichen Architektonik, dieser neuen Volkswesenheit in unablässiger Überraschtheit ergriffen, auch die geistigen Dinge formen sich hier anders, aus anderen Vergangenheiten in eine besondere Zukunft hinein. Die wichtigsten Fragen gesellschaftlich-geistiger Struktur drängen sich an jeder Straßenecke, in jedem Gespräch. In jeder Begegnung unabweisbar auf, ununterbrochen fühlt man sich beschäftigt, interessiert, angeregt und zwischen Begeisterung und Zweifel, zwischen Staunen und Bedenken leidenschaftlich angerufen.

So voll ballt sich jede Stunde mit Weltstoff und Denkstoff, daß es leicht wäre, über zehn Tage Rußland ein Buch zu schreiben.

Das haben nun in den letzten Jahren ein paar Dutzend europäische Schriftsteller getan; ich persönlich beneide sie um ihren Mut. Denn klug oder töricht, lügnerisch oder wahr, vorsichtig oder apodiktisch, alle diese Bücher haben doch eine fatale Ähnlichkeit mit jenen amerikanischen Reportagen, die nach zwei Wochen Cook-Rundfahrten sich ein Buch über Europa erlauben. Wer der russischen Sprache nicht mächtig ist, nur die Hauptstädte Moskau und Leningrad, bloß also in die beiden Pupillen des russischen Riesenleibes gesehen, wer außerdem die neue revolutionäre Ordnung mit den zaristischen Zuständen nicht aus früherer Erfahrung zu vergleichen vermag, sollte, meine ich, lieber redlicherweise verzichten auf Prophezeiung wie auf pathetische Entdeckungen. Er darf nur Impressionen geben, farbig und flüchtig wie sie waren, ohne jeden anderen Wert und Anspruch als den gerade in bezug auf Rußland heute wichtigsten: nicht zu übertreiben, nicht zu entstellen und vor allem nicht zu lügen.

Grenze.

In Niegoroloie erste russische Erde. Spät abends, so dunkel schon, daß man den berühmten roten Bahnhof mit der Überschrift »Proletarier aller Länder vereinigt euch« nicht mehr wahrnehmen kann. Aber auch die so pittoresk und fradiavolesk von romanhaften Reisevorgängern geschilderten Rotgardisten, grimmig bis an die Zähne bewaffnet, kann ich mit bestem Willen nicht erblicken, einzig ein paar klug aussehende, durchaus freundlich Uniformierte, ohne Gewehr und blinkende Waffe. Die Holzgrenzhalle wie alle anderen, nur da statt der Potentaten die Bilder Lenins, Engels, Marx’ und einiger anderer Führer photographisch von den Wänden blicken. Die Revision exakt, genau und geschwind, mit aller erdenklichen Höflichkeit: schon beim ersten Schritt auf die russische Erde spürt man, wieviel Lüge und Übertreiblichkeit man noch totzutreten hat. Nichts ereignet sich härter, strenger, militärischer als an einer anderen Grenze; ohne jeden brüsken Übergang steht man plötzlich in einer neuen Welt. Aber doch, ein erster Eindruck gräbt sich sofort ein, einer jener ersten Eindrücke, wie sie so oft eine erst später bewußt erkannte Situation divinatorisch umfassen. Wir sind im ganzen vielleicht dreißig oder vierzig Personen, die heute die Grenze Rußlands überschreiten, die Hälfte davon bloß Durch-// reisende, «“Japaner, Chinesen, Amerikaner, die ohne Aufenthalt mit der mandschurischen Bahn nach Hause sausen; das gibt mathematisch einen Rest von etwa fünfzehn bis zwanzig Personen, die mit diesem Zuge wirklich nur nach Rußland reisen. Dieser Zug wieder ist der einzige im Tage, der von London, Paris, Berlin, Wien, von er Schweiz, aus ganz Europa nach dem Herzen Rußlands, nach seiner Hauptstadt Moskau zielt. Unbewußt erinnert man sich an die letzten Grenzen, die man passierte, erinnert sich, wieviele Tausende und Zehntsausende jeden Tag in unsere winzigen Länderchen einreisen, indes hier zwanzig Personen im ganzen ein Riesenreich, einen Kontinent beschreiten Zwei oder drei geradeströmende Eisenbahnadern verbinden im ganzen Rußland mit unserer europäischen Welt, und jede dieser pocht nur matt und zaghaft. Da erinnert man sich an die Grenzübergänge zur Zeit des Krieges, wo auch nur ein siebenmal gesiebtes Häuschen die unsichtbare Linie von Staat zu Staat überschritt, und begreift instinktiv etwas von der augenbliklichen Situation: Rußland ist eine umschlossene Festung ein wirtschaftliches Kriegsgebiet, durch eine Art Kontinentalsperre, ähnlich jener, die Napoleon über England verhängte, von unserer anders eingestellten Welt abgeschlossen. Man hat eine unsichtbare Mauer überschritten, sobald man die hundert Schritt vom Eingang zum Ausgang zwischen diesen beiden Türen getan. 

Umstellung ins Russische.

Noch ehe sich der Zug in Bewegung setzt, Moskau entgegen, erinnert mich ein freundlicher Mitreisender, daß man die Uhr jetzt umstellen müsse, um eine Stunde, von westeuropäischer auf osteuropäische Zeit. Aber dieser rasche Handgriff, diese winzige Schraubendrehung, bald wird man es merken, reicht beiweitem nicht aus. Nicht nur auf dem Zifferblatt muß man die Stunde umstellen, sondern sein ganzes Gefühl von Raum und Zeit, sobald man nach Rußland kommt. Denn innerhalb dieser Dimensionen wirkt sich alles in anderen Maßen und Gewichten aus. Die Zeit wird von der Grenze ab einen rapiden Kurssturz des Wertes erfahren, und ebenso das Distanzgefühl. Hier zählt man die Kilometer nach tausend statt nach hundert, eine Fahrt von zwölf Stunden gilt als Exkursion, eine Reise von drei Tagen und drei Nächten als verhältnismäßig gering. Zeit ist hier Kupfermünze, die keiner spart und sammelt. Eine Stunde Verspätung bei einer Verabredung gilt noch als Höflichkeit, ein Gespräch von vier Stunden als kurze Plauderei, eine öffentliche Rede von anderthalb Stunden als kurze Ansprache.

Aber 24 Stunden in Rußland, und die innere Anpassungsfähigkeit wird sich daran gewöhnt haben. Man wird sich sich schon nicht wundern mehr, daß ein Bekannter von Tiflis drei Tage und drei Nächte herfährt, um einem die Hand zu schütteln, acht Tage später wird man mit gleicher Gelassenheit und Selbstverständlichkeit wegen der Kleinigkeit von 14 Stunden Bahnfahrt selbst einen solchen »Besuch« machen, und sich s allen Ernstes überlegen, ob man nicht wegen der bloß sechs Tage und sechs Nächte doch in den Kaukasus fahren sollte.

Die Zeit hat hier ein anderes Maß, der Raum hat hier ein anderes Maß. Wie in Rubeln und Kopeken, lernt man hier rasch mit diesen neuen Werten rechnen, man lernt Warten und sich selber Verspäten, Zeit versäumen ohne zu murren, und unbewußt kommt man damit dem Geheimnis der Geschichte und des russischen Wesens nahe. Denn die Gefahr und das Genie dieses Volkes liegt vor allem in seinem ungeheuerlichen Wartenkönnen in der uns unfaßbaren Geduld, die so weit ist wie das russische Land. Diese Geduld hat die Zeiten überdauert, sie hat Napoleon besiegt und die zaristische Autorität, sie wirkt auch jetzt noch als der mächtigste und tragende Pfeiler in der neuen sozialen Architektur dieser Welt. Denn kein europäisches Volk hätte zu ertragen vermocht, was dieses seit tausend Jahren leidensgewohnte und beinahe leidensfreudige an Schicksal erduldet; fünf Jahre Krieg, dann zwei, drei Revolutionen, dann blutige Bürgerkriege von Norden, von Süden, von Ost und West gleichzeitig sich hinwälzend über jede Stadt und jedes Dorf, schließlich noch die entsetzliche Hungersnot, die Wohnungsnot, die wirtschaftliche Absperrung, die Umschaltung der Vermögen— eine Summe des Leidens und Martyriums, vor der unser Gefühl ehrfürchtig sich beugen muß. All dies hat Rußland einzig nur überstehen können durch diese, seine einzige Energie in der Passivität, durch das Mysterium einer unbeschränkten Leidensfähigkeit, durch das gleichzeitig ironische und heroische »Nitschewo« (»Es macht nichts«), durch diese zähe, stumme und im Tiefsten gläubige Geduld, seine eigentliche und unvergleichliche Kraft.

Moskau: Straße vom Bahnhof her.

Kaum aus dem Zuge nach zwei Nächten und einem Tage, ein heißer, erster, neugieriger Blick durch das klirrende Wagenfenster auf die Straße hin. Überall Drängen und Geschwirr, überfülltes, heftiges, vehementes Leben: es sind plötzlich zu viele Menschen in die neue Hauptstadt gegossen worden und ihre Häuser, ihre Plätze, ihre Straßen quellen und kochen über von dieser stürmischen Bewegtheit. Über die stolperigen Pflaster flirren flink die Iswotschiks mit ihren Wägelchen und struppig-süßen Bauernpferdchen Trambahnen sausen blitzschnell mit schwarz angehängten Menschentrauben an der Plattform, dem Strom der Fußgänger stellen sich wie auf einem Jahrmarkt überall kleine Holzbuden entgegen, mitten im Trubel bieten hingekauerte Weiber gemächlich ihre Äpfel, Melonen und Kleinzeug zum Verkauf. All das schwirrt, drängt, stößt mit einer in Rußland gar nicht erwarteten Flinkheit und Eile durcheinander.

Dennoch aber, trotz dieser herrlichen Vitalität, wirkt etwas in dieser Straße nicht voll lebhaft mit. Etwas Düsteres, Graues, Schattenhaftes mengt sich ein und dieser Schatten kommt von den Häusern Die stehen über diesem verwirrend phantastischen Treiben irgendwie alt und zermürbt, mit Runzeln und zerfalteten Wangen, mit blinden und beschmutzten Augenlichtern; man erinnert sich an Wien 1919. Der Putz ist von den Fassaden gefallen, den Fensterkreuzen fehlt Farbe und Frische, den Portalen Festigkeit und Glanz. Es war noch keine Zeit, kein Geld da, sie alle zu verjüngen und aufzufrischen, man hat sie  vergessen, darum blicken sie derart mürrisch und verjährt. Und dann – was so besonders eindrucksvoll wirkt: während die Straße rauscht, redet, sprudelt, spricht, stehen die Häuser stumm. In den anderen Großstädten gestikulieren, schreien, blitzen die Kaufladen in die Straße hinein, sie türmen lockende Farbspiele, werfen Fangschlingen der Reklame aus, um den Vorübergehenden zu fassen, ihn für einen Augenblick vor den phantastisch bunten Spiegelscheiben festzuhalten. Hier schatten die Laden stumm; ganz still, ohne kunstvolle

Türmung, ohne Hilfe eines raffinierten Auslagenarrangeurs legen sie ihre paar bescheidenen Dinge (denn keine Luxusware ist hier verstattet) unter die mißmutigen Fensterscheiben. Sie müssen nicht streiten miteinander, nicht ringen und nicht wettkämpfen, die Kaufladen von nebenan und gegenüber, denn sie gehören doch, die einen und die andern, demselben

Besitzer, dem Staat, und die notwendigen Dinge brauchen nicht Käufer suchen, sie werden selber gesucht; nur das Überflüssige, der Luxus, das eigentlich nicht Gebrauchte, ,,Le superflu“, wie die französische Revolution es nannte, muß sich ausbieten, muß dem Vorübergehenden nachlaufen und ihn am Rockärmel fassen; das wahrhaft Notwendige (und anderes gibt es nicht in Moskau) braucht keinen Appell und keine Fanfaren.

Das gibt der Moskauer Straße (und allen andern in Rußland) einen so eigenartigen und schichsalshaften Ernst, daß ihre Häuser stumm sind und zurückhaltend, eigentlich nur dunkle, hohe, graue Steindämme, zwischen denen die Menschen fluten. Ankündigungen sind selten, selten auch Plakate Und was in roten Schriftzügen breitgerändert über Hallen und Bahnhöfen steht, ruft nicht Raffinements aus, Parfüms und Luxusautomobile, Lebensspielwerk, sondern ist amtliches Aufforderungsplakat der Regierung zur Erhöhung der Produktion, Aufruf, nicht zur Verschwendung sondern zur Zucht und Zusammenhang. Wieder spürt man hier, wie schon im ersten Augenblick, den entschlossenen Willen, eine Idee zu verteidigen, die ernste, zusammengeballte Energie, streng und stark auch ins Wirtschaftliche gewandt. Sie ist nicht ästhetisch schön, die Straße von Moskau, wie die pointillistisch glitzernden, farbensprühenden, lichtverschwendenden Asphaltbahnen unserer euroäischen Städte, abler sie ist lebensvoller, dramatischer und irgendwie schicksalhaft.

(Weitere Artikel folgen)

In: Neue Freie Presse, 21.10.1928, S. 1-2.