Hans Markowitz: Die soziale Bedeutung der Kunst (1927)
Es ist sehr zu begrüßen, daß Hans Tietze das Thema „Sozialismus und moderne Kunst“ im Dezemberheft des „Kampfes“ zur Diskussion gestellt hat. Die Wichtigkeit, die Probleme zu erörtern, die es in sich begreift, wird in der Regel unterschätzt, weil man die Kunst im allgemeinen zwar für einen sehr edlen, aber doch nur für einen Luxus hält. Dabei übersieht man aber, daß sie ihren Zweck durchaus nicht mit der Befriedigung höherer geistiger Bedürfnisse erschöpft, sondern daß sie auch eine sehr wichtige soziale Aufgabe zu erfüllen hat.
Die Menschen sind viel mehr Gefühls- als Verstandsmenschen. Der primitive Mensch ist ganz und gar Gefühlsmensch. Er denkt nicht verstandesmäßig, sondern gefühlsmäßig, nicht logisch, sondern emotional. So setzt er nicht nur Dinge einander gleich, die die gleichen objektiven Merkmale besitzen, sondern auch solche, die nur irgend etwas gemeinsam haben, das ihn interessiert und das die gleichen subjektiven Gefühle in ihm erweckt. Ja, er setzt solche Dinge nicht nur einander gleich, sondern er identifiziert sie geradezu. Er glaubt daher, daß Handlungen, die er an dem einen von zwei von ihm identifizierten Dingen vornimmt, ohne weiteres entsprechende Wirkungen in dem anderen nach sich ziehen. Die Widersprüche zwischen seiner objektiven Erfahrung und seinen subjektiven Vorstellungen stören ihn ebensowenig wie die, die sich daraus ergeben, daß er sich zwei Dinge als eines und doch wieder als zwei Dinge denkt. Der Satz vom Widerspruch, der für das logische Denken unverbrüchliches Gesetz ist, besteht für ihn nicht. Aus dieser Art des Denkens ist zunächst der Analogiezauber hervorgegangen. Aus der Fortbildung und mannigfachen Verknüpfung solcher und ähnlich entstandener Vorstellungen haben sich des weiteren die gesamte Magie und im engsten Zusammenhang mit dieser Ritus, Religion, Sitte und Brauch, kurz alle die Vorstellungskomplexe entwickelt, die für das gesellschaftliche Leben irgendwie von Bedeutung wurden. Darum erscheint dem logisch denkenden Kulturmenschen das Leben der Primitiven oft so ungereimt. Dafür hat es allerdings vor dem des seinen manches andere woraus: es ist vor allem ganz und gar von Kunst durchtränkt und das hat seine Ursache in dem innigen Verhältnis, in dem die Kunst zum emotionalen Denken steht.
Was immer der Ursprung der Kunst gewesen sein mag, jedenfalls war sie von jeher Ausdruck von Gefühlen. Da nun alle Vorstellungen des primitiven Menschen ihren Ursprung in seinen Gefühlen haben, so haben sie von vornherein immer auch ihren Ausdruck in der Kunst gefunden. Aus der gemeinsamen Quelle der Gefühle sind auf der einen Seite die Vorstellungen, auf der anderen ihr künstlerischer Ausdruck in sinnlich sichtbarer Form entsprungen.
Man erblickt die soziale Bedeutung der Kunst gewöhnlich darin, daß sie eines der stärksten Bindemittel der sozialen Gemeinschaft sei. Das soll nicht bestritten werden. Das Kunstwerk bringt nicht nur Gefühle zum Ausdruck, es ist nicht lediglich eine Privatangelegenheit seines Gestalters, sondern dieser gestaltet es immer so, daß die Gefühle, die es zum Ausdruck bringt, in allen anderen wiedererweckt werden. So werden Gestaltende und Aufnehmende zu einer Gefühlsgemeinschaft zusammengeschlossen und die sozialisierende Wirkung einer solchen Gefühlsgemeinschaft darf nicht unterschätzt werden. Allein noch mehr als die auf die Gefühlsgemeinschaft überhaupt, kommt es auf die Art der Gefühle an, die ihr zugrunde liegen. Die Kunst erlangt ihre volle soziale Bedeutung erst dadurch, daß sie Gefühle sozialisiert, die selbst soziale Bedeutung besitzen, daß sie also die Gefühle zum Ausdruck bringt, die bestimmte Formen des gesellschaftlichen Lebens aus sich hervorgebracht haben. Wenn die Eingebornenstämme der brasilianischen Wälder ihre totemistischen Maskentänze aufführen, wobei Tanz und Masken in grotesker Weise und daher um so eindrucksvoller das Totemtier nachahmen, von dem sie abzustammen meinen., so umschlingt Ausführende und Zuschauer nicht nur das Band innigen Gemeinschaftsgefühls, sondern es werden auch den Gefühlen verstärkter Impuls verliehen, die zur Totemvorstellung geführt haben. Hier liegt die soziale Bedeutung der Kunst auf der Hand. Denn auf der Totemvorstellung beruht das gesamte soziale System dieser Stämme.
Die totemistischen Maskentänze der Eingebornen Brasiliens sind nur ein Beispiel für viele. Überall ist es bei primitiven Völkern so, daß die Kunst vor allem sozial bedeutsame Vorstellungen in ihrer mächtig zu den Gefühlen sprechenden Art gestaltet und daß sie damit die Gefühle immer wieder neu belebt und verstärkt, die sich zu jenen Vorstellungen verdichtet haben.
Bei den höheren Kulturvölkern ist es nicht viel anders. Auch bei ihnen kann ein Kunstwerk die Gefühle vieler zu einer Gefühlsgemeinschaft zusammenschweißen. Aber es ist bekannt, daß doch namentlich kompliziertere Kunstwerke individuell sehr verschieden aufgefasst werden und daß die Menschen, selbst wenn sie sich wirklich einmal in einem Gefühl begegnet haben, hinterher doch auseinandergehen, als ob sie einander nichts angingen. Auch bei höheren Kulturvölkern gewinnt daher die sozialisierende Wirkung der Kunst erst dann ihre größte soziale Bedeutung, wenn sie sich auf sozial bedeutsame, in jedem einzelnen bereits latent vorhandene und von dem Kunstwerk neu entfachte Gefühle erstreckt. Da scheinen nun die Dinge bei den höheren Kulturvölkern ungünstiger zu liegen als bei den primitiven Völkern, weil bei ihnen die das soziale Leben regelnden Vorstellungen nicht gefühlsmäßige, sondern rein verstandesmäßige Reaktionen auf die tatsächlichen Verhältnisse zu sein und daher auch keine unmittelbare Beziehung zu den Gefühlen und damit zur Kunst zu haben scheinen. In der Tat spielt die Kunst bei höheren Kulturvölkern nicht ganz dieselbe Rolle wie bei den primitiven Völkern. Das hängt aber mehr damit zusammen, daß das Kulturleben höher entwickelter Völker differenzierter ist und nicht alle Volksgenossen in gleicher Weise an allen seinen verschiedenen Äußerungen tätigen Anteil nehmen, als damit, daß bei ihnen das logische Denken das emotionale verdrängt hätte. Denn ganz hat es dieses keineswegs verdrängt. Vor allem haben sich viele ursprünglich aus emotionalem Denken hervorgegangene Vorstellungen mit größter Zähigkeit durch Jahrtausende hindurch behauptet. Vom Aberglauben, dem letzten Rest magischer Denkweise, soll hier nicht weiter die Rede sein. Er spielt keine erhebliche Rolle mehr und hat jedenfalls seine soziale Bedeutung längst eingebüßt. Dagegen hat die Religion ihre Macht über die Gemüter und damit auch ihre soziale Bedeutung sehr lange aufrechterhalten. Zwar hat man bald den Widerspruch entdeckt, in dem das in ihr verdichtete emotionale Denken zu dem die Erfahrung logisch bearbeitenden Denken steht und hat wiederholt versucht, sie zu rationalisieren; daß der Erfolg stets nur sehr gering war, konnte ihr aber erst im Verlauf von Jahrhunderten merklichen Abbruch tun. Diese Erscheinung läßt sich nicht nur aus der Macht der Überlieferung erklären, sondern hat zweifellos ihren Grund auch darin, daß die Menschen, obwohl sie gelernt haben, logisch zu denken, doch immer noch mehr Gefühlsmenschen geblieben als Verstandesmenschen geworden sind und den Verstand in der Regel nur dort gebrauchen, wo es ihre praktischen Interessen gebieterisch erfordern. Gleichwohl hätten sich die aus verhältnismäßig noch sehr primitiven emotionalem Denken hervorgegangenen religiösen Vorstellungen kaum so lange erhalten können, wenn das gefühlsmäßige Denken nicht wie in den Vorstellungen selbst, so auch in der Kunst seinen unmittelbaren Ausdruck gefunden hätte und ihm nicht durch die Kunst immer wieder neue Impulse zugeführt worden wären. Die innige Verbindung zwischen Religion und Kunst ist eine natürliche Folge ihrer gemeinsamen emotionalen Grundlage. Darum hat es niemals Religionen gegeben, die sich nicht wenigstens künstlerischer Symbole bedient hätten. Die meisten haben sogar den Bilderdienst gepflegt. Ursprünglich geschah das eine wie das andere unbewußt. Später mit bewußter Absicht. Das Christentum hat sich zuerst nur symbolischer Ausdrucksmittel bedient. Es war seinem innersten Wesen nach dem Bilderdienst abgeneigt. Überdies hatte es zu befürchten, daß der Bilderdienst zum heidnischen Götzendienst, gegen den es sich durchzukämpfen hatte, zurückführen werde. Als es aber in die breiteren Massen gedrungen war, brach das Bedürfnis nach unmittelbarem Ausdruck der religiösen Vorstellungen mit urwüchsiger Kraft durch, und an die Stelle der Symbole traten Bildnisse Gottes, Christi, Mariä und den übrigen Heiligen. Im vierten Jahrhundert erfolgte die Reaktion gegen den Bilderdienst. Es begann der Bilderstreit. Sehr schlau hat sich damals Karl der Große, dessen geläutertes religiöses Bewußtsein den Bilderdienst verwarf, der aber aus staatspolitischen Gründen eine rasche Ausbreitung des Christentums in seinen Landen wünschte, aus der Affäre gezogen: er verbot die Bilderverehrung, gestattete aber den Bilderschmuck der Kirchen und Klöster, was auf die theoretische Verdammung, aber praktische Zulassung des Bilderdienstes hinauslief. Die byzantinischen Kaiserinnen, die sich für den Bilderdienst erklärt hatten, mögen als Frauen, bei denen das Gefühlsleben eine noch viel größere Rolle spielt als bei Männern, wirklich aus innerem Bedürfnis für ihn gewesen sein; Karl der Große dagegen hatte zweifellos ein sehr klares Bewußtsein von der großen Bedeutung der Kunst für die Religion, als er ihn praktisch duldete, sonst hätte er sich nicht bemüßigt gefühlt, ihn theoretisch zu verwerfen. Der Bilderdienst hat schließlich auf der ganzen Linie gesiegt. Diesem Sieg verdankt das Christentum die lange Behauptung seiner Machtposition. Jedenfalls ist es heute unmöglich, sich die Macht zu vergegenwärtigen, die die Kirche im Mittelalter und bis tief in die Neuzeit hinein auf die Gemüter ausübte, ohne der Hilfe zu gedenken, die ihr dabei die Kunst geleistet hat.
Aberglaube und Religion sind nicht die einzigen Überbleibsel emotionalen Denkens. Alles Denken selbst der logisch Geschultesten baut sich auch heute noch auf emotionaler Grundlage auf. Alle Verbindungen von Vorstellungen erfolgen zunächst gefühlsmäßig und erst hinterher prüft der logische Verstand diese Verbindungen, scheidet die unannehmbaren aus und gibt den annehmbaren die entsprechende Form. Freilich ist logisch Geschulten das logische Denken so in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie auch gefühlsmäßig niemals so naive Verbindungen vornehmen, wie die sind, die der Religion oder gar der Magie zugrunde liegen; aber oft genug behauptet sich eine immerhin zweifelhafte gefühlsmäßige Verbindung gegenüber dem kritischen Verstand nicht nur ihres Urhebers, sondern auch anderer in ihren Gefühlen ähnlich Disponierter, und einzig und allein daraus erklären sich die oft weitgehenden Meinungsunterschiede in der Wissenschaft.
Ist der gefühlsmäßige Bestandteil des Denkvorganges in der theoretischen Wissenschaft lediglich eine Fehlerquelle, so ist er auf allen praktischen Gebieten natürlich auch eine Fehlerquelle, aber auch eine unentbehrliche Notwendigkeit. Namentlich auf sozialem Gebiete muß alles Denken, wenn es einen Sinn haben soll, von vornherein darauf angelegt sein, zu Handlungen zu führen. Eine Handlung geht aber nur aus einem Wollen hervor, und das Wollen entwickelt sich nicht aus Überlegungen, sondern aus Gefühlen. Überlegungen dienen nur dazu, dem Wollen, das sich aus den Gefühlen entwickelt, den rechten Weg zu weisen. In allen Reaktionen des menschlichen Bewußtseins auf die tatsächlichen Verhältnisse geht also die gefühlsmäßige Reaktion voran, erst hinterher überprüft sie der Verstand und die durch ihn berichtigten Vorstellungen erleuchten schließlich dem sich aus den Gefühlen entwickelnden Wollen die Bahn.
Unter diesen Umständen müßten eigentlich auch bei höheren Völkern die jeweiligen Ideologien ihren unmittelbaren, auf die ihnen zugrunde liegenden Gefühle zurückwirkenden künstlerischen Ausdruck finden. Nun spiegelt sich zwar der Wandel im Fühlen, Denken und Wollen der höheren Völker zweifellos im Wandel ihrer Kunst wider; aber doch tritt die Beziehung dieses Ausdrucks zum sozialen Leben nicht so klar zutage wie bei den niederen Völkern. Das hat seinen Grund darin, daß bei den höheren Völkern immer die überlieferte religiöse Weltanschauung noch lange eine alle beherrschende Rolle spielt und der Wandel in ihrem Fühlen, Denken und Wollen nur im Rahmen dieser zum Ausdruck kommt. Die Entwicklung der höheren Völker spielt sich ferner stets unter mehr oder weniger heftigen Klassenkämpfen ab, und die Kunst ist zu einem Beruf geworden. Nicht die, in deren Fühlen, Denken und Wollen die vorwärtstreibenden Ideen geboren werden, sind auch diejenigen, die berufen sind, sie zum Ausdruck zu bringen, sondern die Künstler. Könnten sich diese vorwärtstreibenden Ideen zu einer alle umfassenden Weltanschauung ausbreiten, so hätte das wenig zu bedeuten. Das können sie aber nicht, weil sie eben Klassenkampfideen sind, und so hängt alles davon ab, inwieweit die Künstler von ihnen ergriffen werden. Nun hängen die Künstler immer von den herrschenden Klassen ab, und die herrschenden Klassen sind gewöhnlich nicht die revolutionären, sondern die konservativen. Die revolutionären Ideen hätten daher wenig Aussicht, ihren künstlerischen Ausdruck zu finden, wenn die Künstler nicht eben deshalb, weil sie Künstler sind, ein sehr feines Gefühl für die revolutionären Zeitideen besäßen. Sie bringen sie zwar infolge ihrer Abhängigkeit von den herrschenden Klassen nur selten in konkreter Gegenständlichkeit zum Ausdruck, aber immer doch in dem, was man den Stil einer Zeit nennt. Bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein bildete bei den Völkern des Abendlandes die Weltanschauung des Christentums den Rahmen, innerhalb dessen sich die vorwärtstreibenden Ideen zur Geltung brachten. In der Kunst zeigt sich das zweifellos auch in einem gewissen Wandel der religiösen Stoffe, die sie vorzüglich behandelte. Vom fünfzehnten Jahrhundert an traten überdies unter dem Einfluß der humanistischen Strömung neben die religiösen Darstellungen immer mehr und mehr solche aus der Mythologie der Alten und andere profane aus dem Leben der jeweiligen Gegenwart gegriffene. Nichtsdestoweniger wäre es unmöglich, die Kunst der Zeiten vom frühesten Mittelalter an bis in die Neuzeit nach den von ihnen dargestellten Gegenständen voneinander zu unterschieden. Romantik, Gotik, Renaissance und Barock bezeichnen nicht bestimmte Darstellungsgegenstände, sondern ein bestimmtes Formgepräge das allen Arten von Gegenständen gegeben wurde. Neben verschiedenartigen Gegenständen wurden in allen diesen Stilen auch immer wieder die gleichen Gegenstände behandelt. So etwa das Madonnenmotiv. Um wie vieles unterscheidet sich aber eine romantische Madonna von einer gotischen, eine Renaissancemadonna von einer Barockmadonna! Im Formengepräge äußert sich vor allem der Stil und damit auch der Geist einer Zeit.
Die kapitalistische Gesellschaft hat in dem Maße, in dem sie selbst zur Macht gelangte, die Macht der religiösen Weltanschauung gebrochen. Aber sie vermochte an die Stelle der alten keine neue, die Gesamtheit der Menschen umfassende Weltanschauung zu setzen. Sie vermochte es um so weniger, als ihre Ideologie nicht nur, wie die Ideologien aller höheren, sich in der Form des Klassenkampfes entwickelnden Völker, bloß die Ideologie einer Klasse ist, sondern auch ihrem ganzen Wesen nach eher geeignet ist, die einzelnen voneinander zu trennen, als sie organisch miteinander zu verbinden. Die mittelalterliche Gesellschaft war trotz aller Klassenkämpfe, die auch sie erschütterten, doch eine organisierte Gesellschaft. Infolgedessen war eine alle umfassende Weltanschauung, in die sich die zeitlichen Ideologien eingliedern konnten, möglich. Überlieferung und Kunst wirken zusammen diese Weltanschauung noch lange zu erhalten, und die Kunst, die ihr Ausdruck verlieh, konnte daher auch noch lange ihre soziale Wirksamkeit entfalten. Sie verlor sie aber, als diese Weltanschauung bedeutungslos geworden war, weil an ihre Stelle keine neue, der sie wieder hätte Ausdruck verleihen können, getreten war. Die Kunst war ganz auf sich selbst gestellt. Der Gedanke des L’art pour l’art, des Selbstzweckes der Kunst, kam auf und wurde schließlich zum Siege geführt. Und das macht es, daß sie heute eben nur mehr als ein zwar edler, aber doch eben nur als ein Luxus angesehen wird.
Allein wie einst die Kirche, so hat heute die kapitalistische Gesellschaft bereits den Höhepunkt ihrer Machtentfaltung überschritten, und das muß wieder zu einem Wendepunkt in dem Verhältnis der Kunst zum sozialen Leben führen. Denn der Sozialismus, der im Begriffe ist, den Kapitalismus zu überwinden, muß um so eher wieder zu einer aller erfüllenden Weltanschauung führen, als er nicht nur auf eine organische Gliederung der Gesellschaft abzielt, sondern letzten Endes die Überwindung aller Klassengegensätze anstrebt. Die sozialistische Weltanschauung wird dieselbe soziale Bedeutung gewinnen, die einst die religiöse besaß. Und wie die religiöse Weltanschauung ihren unbewußten Ausdruck in der Kunst fand, so wird ihn auch die sozialistische finden, und wie die religiöse Kunst verstärkend auf die religiösen Gefühle zurückgewirkt hat, so wird die sozialistische Kunst verstärkend auf die sozialistischen Gefühle zurückwirken. Die Kunst wird ihre uralte und nur vorübergehend verlorengegangene soziale Bedeutung wieder erlangen.
Daß die Kunst dazu berufen ist, im wesentlichen Maße daran mitzuwirken, die sozialistische Weltanschauung in den Gemütern der Menschen zu verankern, wird wohl von wenigen Sozialisten bestritten werden, wohl aber, daß dazu nur die moderne Kunst berufen sein kann. Gibt es doch überzeugte Sozialisten, die meinen, es genüge, in allen politischen und sozialen Fragen fortschrittlich zu sein, in künstlerischen könne man ruhig konservativ sein. Wer dieser Meinung ist, kann sich allerdings auf die Tatsache berufen, daß auch umgekehrt manche Künstler, die in der Kunst Pioniere des Fortschrittes sind, politisch konservativ sind. Allein diese wegen der Abhängigkeit der Künstler von dem besitzenden Bürgertum begreifliche Inkonsequenz rechtfertigt nicht die Inkonsequenz jener Sozialisten. Und es ist nicht nur inkonsequent, sondern sogar ein geradezu eklatanter Widerspruch, den Entwicklungsgedanken in der Kunst zu verneinen, wenn man die Wissenschaft des Sozialismus auf ihn gründet und insbesondere wenn man mit Marx überzeugt ist, daß eine Veränderung der ökonomischen Grundlage der Gesellschaft notwendigerweise eine Veränderung ihrer ideologischen Formen, zu denen nicht nur die Politik, sondern auch die Kunst zu zählen ist, herbeiführen muß. Daß dieser Zusammenhang zwischen fortschrittlicher Politik und moderner Kunst nicht immer recht begriffen wird, ist darauf zurückzuführen, daß man in der Kunst eben mehr auf den Gegenstand der Darstellung achtet als auf die Art seiner Darstellung, mehr darauf was, als darauf wie, gleichgültig was, dargestellt wird und daß man daher nicht die befremdliche moderne Kunst als den ideologischen Reflex der geänderten ökonomischen Grundlage der Gesellschaft ansieht, sondern die gewohnte konservative Kunst, sofern sie nur Gegenstände aus dem Leben und den Kämpfen der Arbeiterklasse darstellt. Es kann hier nur wiederholt werden, daß sich der Geist einer Zeit gewiß auch in bestimmten Gegenständen der Darstellung, daß er sich aber noch viel stärker in dem Formengepräge ausdrückt, das irgendwelchen Gegenständen gegeben wird. Gewiß kommt beispielsweise der Geist der Gotik auch in den religiösen Stoffen, die sie vorzugsweise behandelt, zum Ausdruck, aber dieselben religiösen Vorwürfe sind auch zu anderen Zeiten gestaltet worden, ohne daß die Darstellungen auch nur das geringste mit Gotik zu tun haben, und die Gotik hat auch profane Gegenstände gestaltet und diese Darstellungen atmen denselben Geist wie ihre religiösen. So ist es auch heute. Gewiß äußern sich die vorwärtstreibenden sozialistischen Ideen der Gegenwart auch darin, daß sozialistische Stoffe behandelt werden, aber noch viel mehr in der Art, wie von der modernen Kunst irgendwelche und auch nichtsozialistische Stoffe zur Darstellung gebracht werden, und wenn sozialistische Stoffe in der Art der konservativen Kunst behandelt werden, so hat das weniger mit dem Geiste des Sozialismus zu tun als Darstellungen irgendwelcher und auch nichtsozialistischer Gegenstände in der Art der modernen Kunst. Wie sich der Geist einer Zeit in ihrem Stil manifestiert, und insbesondere der Geist des Sozialismus in der modernen Kunst, das näher auszuführen sei einem besonderen Aufsatz vorbehalten.
In: Der Kampf H. 2/1927, S. 92-96.