e[rnst] f[ischer]: Sprechchor und Drama

Alle, die das Problem des Theaters, des Dramas, der Bühnenkunst prüfen, konstatieren seit Jahren in sämtlichen europäischen Ländern die Krise des Schauspiels. Immer wieder ist es vor allem das eine, dessen Mangel schmerzlich empfunden wird: der unmittelbare Kontakt mit dem Publikum. Einst Megaphon religiöser Erlebnisse, später Tribüne herrschender oder revoltierender Klassen, ist das Theater ein Luxuslokal geworden, in dem zusammengewürfelte Massen sich unterhalten wollen. Einerseits erstarrte das klassische Drama in tönender Langeweile, Anlaß zu Festprologen und billigen Phrasen, andererseits waren Autoren und Regisseure gezwungen, durch Effekte lärmender oder sentimentaler Art die Nerven des Publikums zu dem neuen Werke zu verführen. Zwischen  dem zahlenden Publikum und der Bühne klaffte ein Raum, der nur durch die Sensation überbrückt werden konnte.  Dichtung, Inszenierung, Erfolg waren Zufälle ohne tiefere kulturelle Bedeutung, ohne lebendige Bindung mit der Zeit. Man konnte immer auch anders. –

             Das Theater der letzten Jahrzehnte war das Theater des altgewordenen Bürgertums, des Bürgertums, das die Klassiker zu Zitatenonkeln entfärbte und sich bei Operetten von ihnen erholte, des Bürgertums, dem die Werte Schillers zur Konvention und Extravaganzen der Kunst zum Bedürfnisse geworden waren, des Bürgertums, das aus der Wirklichkeit in die Romantik floh. Der Naturalismus war der letzte große und einheitliche Versuch, aus verstaubten Kulissen das schwindende Leben zu retten, der Naturalismus, der zugunsten der von den bürgerlichen Epigonen mit Limonade vergifteten Wahrheit auf Stil und Symbol verzichtete und sich daher sehr bald in innere Widersprüche verwickelte, an denen er starb. Dann kamen die teils genialen, teils schwachsinnigen Experimente des einzelnen, auf eigene Faust eine neue Form des Dramas zu finden. Von den gewaltigen Experimenten Strindbergs und Wedekinds bis zu den blutlosen Konstruktionen der Expressionisten oder den Kunststücken Pirandellos wirken nur ein gemeinsames Wissen, ein gemeinsamer Wille in den Dramatikern des interessant verwesenden Bürgertums: „Die alten Formen sind tot, wir müssen neue finden.“

             Es ist charakteristisch für die Zeit der triumphierenden Technik, daß die Regisseure (vor allem die russischen) die Möglichkeiten einer Theatererneuerung viel deutlicher witterten als die Dramatiker, daß die Inszenierung die Voraussetzungen für Kunstwerke schuf, mit denen die Zeit schwanger geht, ohne sie gebären zu wollen. Der Regisseur riß die Herrschaft an sich und wurde zum eigentlichen Schöpfer und Dichter, ohne daß aus der wundervollen Maschinerie ein Gott sich erhob. Aber die Bühnenzauberer unserer Tage, die Meister des Lichtes, der Farbe und der Dynamik, haben Urkräfte des Theaters entfesselt: Sie haben die von Pedanten vertriebene Lust am Spiel zurückgerufen und sie haben künstlerisch das zwanzigste Jahrhundert entdeckt. Das alles gilt freilich nur für die Inszenierung, nicht aber für die Unterwerfung der Darsteller unter einen bestimmten Stil.

             Das Proletariat war von diesen Ereignissen ausgeschlossen, das Theater war eine Angelegenheit der bürgerlichen Gesellschaft – und weil es das war, konnte es nicht mit strotzendem Leben erfüllt werden. Die sterbende Klasse war nicht mehr fähig, kulturproduktiv in die Zukunft zu zeugen. Nun aber erleben wir etwas seltsam Erschütterndes: Während das Bürgertum die technischen Voraussetzungen für eine neue Bühnenkunst improvisierte und das Theater technisch revolutionierte, begann im Proletariat die neue Form des Dramas organisch sich zu entfalten. Kulturelemente werden nicht am Schreibtisch erklügelt, sie wachsen langsam in tausend Herzen und sind auf einmal da.  Und so entstand an vielen Orten zugleich, aus der Schöpfersehnsucht der proletarischen Jugend geboren, der Sprechchor. In namenloser Gemeinschaft, wie es an den Maschinen steht, wie es gegen die Ordnung der Dinge sich aufbäumt, wie es zu schicksalsverkitteter Solidarität sich bekennt, schafft sich das Proletariat seine Kunst. Der Sohn, die Tochter aus bürgerlichen Familie imitieren, wenn sie sich künstlerisch betätigen, den übelsten Typus des bürgerlichen Kunstbetriebes, den Star, der junge Proletarier, die junge Proletarierin symbolisieren in ihrem Verlangen nach künstlerischem Ausdruck das Schicksal der Klasse, der sie angehören, den Dienst an anonymem, an kollektivem, an gemeinsamem Werk. Kunst und Leben sind eins in diesem Tun und das ist entscheidend, jede Kultur entsteht aus dieser Einheit von Kunst und Leben, jede Kultur zerbröckelt, wenn diese Einheit sich auflöst.

             Ich halte den Sprechchor in der Tat für die Urform eines neuen Dramas, wie einst der griechische Chor, wie einst der Chor der ersten Kirchenspiele es war. Und wer vor einigen Tagen im Opernhaus den Sprechchor der sozialistischen Arbeiterjugend sah und hörte, wer die wundervolle Kraft und Erschütterung, die von der Sinfonie ihrer Stimmen und der Reinheit ihres Spieles ausging, erlebte, der wird meinen Glauben und meine Hoffnung teilen. Man könnte vielleicht einwenden: Was soll ein gelungenes Experiment beweisen? Nun, was ursprünglich nur als Experiment gedacht war, wurde zum wesentlichen Ereignis. Es handelt sich nicht so sehr um den Effekt, den man mit einem sorgfältig geschulten Sprechchor erzielen kann, es handelt sich vor allem darum, daß das Publikum wieder mitspielt, daß die Menschheit der Zukunft, die Arbeiterschaft, die bisher im bürgerlichen Theater nur ein geduldeter Gast war, sich selber auf der Bühne erleben kann, und zwar nicht nur inhaltlich (das war schon bei manchen naturalistischen Dramen, man denke nur an „Die Weber“, der „Fall“), sondern auch in seiner ureigenen Form, in der unisono empfindenden und hanselnden Masse.

             Das Drama der Zeit, die Großstadt, die Arbeiterbewegung, die Revolution, mußten stets in die Formelemente des bürgerlich-individualistischen Dramas übertragen werden, damit man es überhaupt darstellen konnte – und an diesem inneren Widerspruch kranken alle revolutionären Bühnendichtungen unserer Tage. Es war wohl möglich, eine Massenaktion äußerliche richtig, in photographischer Natürlichkeit, auf die Bühne zu projizieren, aber die innere Wirklichkeit, das geheimnisvolle Fluidum der Masse mußte geopfert werden. Und da es im Drama vor allem um innere Erlebnisse geht, waren die großen, die mythischen, die göttlichen Dinge des zwanzigsten Jahrhunderts von der Bühne so gut wie verbannt und die erotischen und pathologischen Konflikte des untergehenden Bürgertums beherrschten das Repertoire. Eine Wiedergeburt der Tragödie aus dem proletarischen Sprechchor würde die Dichter zur Überwindung der kleinlichen Psychologie, der medizinischen Spässe, der überspitzten Gehirnschweinerein, würde sie zu Form und Größe erziehen.

             Das heißt natürlich nicht, daß morgen oder übermorgen das neue Drama blank und gepanzert vor uns hintreten wird; aber alle Dramatiker, die unter dem Zwiespalte der Bühnenkunst leiden und um den künstlerischen Ausdruck der Zeit ringen, werden bald zu dem Sprechchor der Arbeiterschaft in die Schule gehen und hier aufatmend, mitten unter Maschinen und Konstruktionen, etwas organisch Bewachsenes, herrlich Lebendiges entdecken, etwas das nur darauf wartet, einem Werke dienen zu dürfen. Die Möglichkeiten sind euch gegeben, und das Zeit, die Techniker der Inszenierung und das Proletariat haben alles für euch getan, ihr müßt nur hineingreifen in diese beginnende Welt und aus ihr ein dramatisches Gleichnis formen. Denn nicht aus euren einsamen Experimenten, nur aus dem Wesen einer neuen Gemeinschaft wird eine neue Kultur und mit ihr ein neues Drama sich bilden. Und tausendmal lebendiger und ergreifender als alle eure persönlichen Konflikte und Probleme ist der Sprechchor, den die Arbeiterjugend sich geschaffen hat.

In: Arbeiterwille, Graz, 18.10.1925, S. 5-6.1

  1. Der Text ist auch abgedruckt bei: Ernst Fischer: Neue Kunst und neue Menschen. Literarische und essayistische Texte aus seinen Grazer Jahren (1918-1927). Hg. von Jürgen Egyptien. Graz: Clio 2016, 219-223.

Franz Theodor Csokor: Die neue dramatische Form. (Die Wandlung und ihre Gründe)

             Unleugbar erweist sich bei einer entwicklungsgeschichtlichen Untersuchung sämtlicher Kunstformen die des Dramas als die bis in die jüngste Zeit konservativste. Wohl brachten veränderte kulturelle, philosophische und sozialpolitische Anschauungen  Abwechslung in die dramatischen Themen, doch neben einer ethisch und ästhetisch die Schaubühne als moralische Anstalt konstant fixierende Auffassung ist auch die äußere Konstruktion der Tragödie – Akteinteilung und die Behandlung des Konfliktes nach Schürzung, Steigerung, Höhe und Lösung – seit dem hellenischen Theater fast unverändert geblieben. Auf dieses Schema hat beinahe jede dramatische Kunst sowie sie über den Boden des rein Monologischen und Monodramatischen hinauswuchs, zurückgegriffen und sich daraus ein Baugesetz geschaffen, das zum Axiom für alle die Bühne belangenden Werke erhoben wurde und in ihnen ebenso beim pathetischen Stildrama wie in der Lokalposse nachweisbar ist.

             Die Zerrissenheit unserer Epoche, die in dem großen Krieg äußerlich sinnfällig wurde, als Gezeichnete vorfühlend, wichen die nachnaturalistischen Dichter von dieser, angesichts großer menschlicher (nicht bürgerlicher) Probleme bereits irgendwie unzulänglich gewordenen Tradition. Die tieferen Gründe, die sie dazu vermochten, seien später ausgeführt. Unsere Eingangsbetrachtung will erst die Tatsache feststellen, ehe sie sich an ihre Erklärung wagt. Und eine solche in der Geschichte dieser Kunst völlig frische Tatsache besteht in dem unleugbaren, sich stets stärker straffenden Bestreben um eine Neuorientierung der dramatischen Form, dem parallel eine des Inhalts läuft, die moralische und schönheitsrichterliche An-//sprüche des Zuschauers, ja diesen selbst, ihrer Absicht hintantsetzt. Zum erstenmal in der Geschichte des Dramas geht es gleichzeitig um Form und Inhalt, aus der richtigen Erkenntnis, daß neue Themen zu ihrer restlosen Bewältigung eine besondere ihnen adäquate Technik erfordern. Mag auch vieles der nun bereits seit einem Jahrzehnt darauf zielenden Versuche in gehirnintuitiven Spekulationen steckengeblieben sein, mag oft genug die überklare Bewußtheit der Adepten das Dichterische, das immer nurn aus einer ahnenden Dumpfheit quillt, verätzen, so wird dennoch aus diesen konstruktiven Gebläsen endlich geklärt und schlackenfrei das Drama unserer Zeit strahlen, sobald die Kraft eines Genies in der Synthese wirksam alle jene mehr oder weniger gelungenen Einzelexperimente intuitiv erfaßt und zu einer neuen formgewaltigen Schöpfung vereinigt. Seien Vorläufer freilich haben die kunstgeschichtlich seit alters so undankbare und dabei wichtige Aufgabe, Gerätschaft und Material zu bereiten, daraus sodann unter der Hand des Auserwählten das Meiserwerk entsteht. Während ihres Schaffens durch ihr noch nicht geklärtes neues Wollen aller Gespött, wird ihnen nicht einmal dann Gerechtigkeit, wenn das durch sie angeregte Werk der Zeit seine Erfüllung fand: denn der Glanz des Vollendeten verdunkelt ihre einsamen Beginne.

             „Werk der Zeit“ – diese Bezeichnung könnte zum Widerspruch reizen, zu einem empirisch wohl berechtigten Einwurf. Wirkt denn das große Kunstwerk jeder Epoche nicht stets zeitlos bis auf gelegentliche unwesentliche Chronismen? Stehen seine Maße nach äußeren und inneren Regeln nicht ganz unverrückbar da, als könnten sie gar nicht anders beschaffen sein, so jenseits des Gesetzes der Schwere, wie aus sich selber gewachsen? Kennzeichnet sich nicht eine scheinbare Mühelosigkeit, der man nirgendwo die Qualen der Geburt anmerkt? Gewiß! Aber einzig durch ihre Genesis sind diese ‚klassischen‘ Werke vorbildlich, keineswegs jedoch als schematische Vorlagen, Raster oder Stanzen: denn auch sie zeugten einzig die Kunstgesinnung ihrer eigenen Epoche, nicht die einer vorhergegangenen, zeugten sie als sublimsten und intensivsten Ausdruck ihrer geistigen Haltung, als Abbild ihrer Zeit und deren Querschnitt und Spitzenwirkung in allen Lebensbelangen. Daher das Dramenrezept Shakespeares zu ergründen wie es beispielsweise // Otto Ludwig unternahm, nicht minder eitel bleibt, wie jeder Versuch, auf welchem Kunstgebiete immer, im Geist einer vergangenen Aera zu schaffen. Solchen Rückfühlungen fehlt notwendigerweise der unwägbare Kunstgeist jener ersehnten Zeit im selben Grade wie der Acker religiöser, kultureller und politischer Voraussetzungen, dem er entsprang. Am anschaulichsten wird das in der dem Drama wesensverwandten Architektur, wo sich kein historischer Stil mit Reißbrett und Zirkel erneuern läßt. Man denke da bloß an das Mysterium der Gotik und die kläglichen Purifikations- und neugotischen Arbeiten des neunzehnten Jahrhunderts. Derlei Experimente vermögen stets nur Addition, niemals aber Synthese zu werden, weil das Werk jeder Epoche bereits keimhaft den Auftrieb zur nächsten in sich trägt.

             Dennoch blieb die eingangs konstatierte Unfehlbarkeitserklärung der Antike gleichwie in der eben berufenen Architektur bis in die jüngste Vergangenheit aufrecht, bei einer Verlegung der Wirkungsstrahlen der sie erfüllenden Werke von dem in der Antike bezielten Nervenzentrums des Zuhörens auf sein naives Gefühlsleben und einer dadurch bedingten innerlichen Verweichlichung gegenüber der Tragödie des klassischen Altertums. Gelegenheit zu dieser keineswegs rapid und nur ruckweise vollzogenen neuen Einstellung war immer dann erhöht gegeben, wenn sich das Drama gleichzeitig einer rationalistischen Weltanschauung näherte, gewissermaßen verengt wurde lediglich auf die Äußerungen des Individuums, nicht aber auf deren Genesis in ihm, während der große mystische Motor, der jedes Einzelgeschick und seinen taktischen Zusammenhange mit der Gesamtheit regelt, als wissenschaftlich nicht nachweisbar ausgeschaltet hat. Der Mikrokosmos der bürgerlichen Sozietät, den man sich dann zumeist als Stoffgebiet wählte, enthält zwar auch jene Elemente, die die Schauer des griechischen Dramas, sein „phobos kai eleos“ (Furcht und Mitleid), auszulösen vermöchten, doch viel versteckter und gebrochener; und hatte das Drama der Alten in seiner Versandung zu dem Togawurf der Haupt- und Staatsaktionen geführt, so verfiel man auf der Gegenseite in seelische Kostümstücke, die traurige, nicht aber tragische Ereignisse gestalteten, indem sie sich bloß mit der Feststellung der Endresultate bourgeoiser Affekte begnügten, jedoch ihren Ent-//stehungsursachen und ihrer Problematik nicht nachsannen. Das Los des Oedipus konnte grausig wirken, nie aber sentimental; hingegen verleite die bürgerliche Kleinwelt als dramatischer Vorwurf häufig zu einer umgekehrten Betrachtung. Gerade jene Epoche, die der dramatischen Richtung unserer Zeit – präziser formuliert: dem gefühlsmäßigen Gesamtkunstwillen der Gegenwart auf dem Gebiete des Dramas – vorausging, bietet ein treffliches Beispiel dafür. Und hiermit kommen wir auf die inneren Gründe zu sprechen, die zu jener bereits erwähnten entschiedenen Wandlung in der so konservativen dramatischen Kunstgesinnung führten, zu der radikalen Abkehr der nach naturalistischen Generation von einer seit Jahrtausenden scheinbar unverändert gebliebenen und selbst durch den impressionistischen Sturm und Drang nicht erschütterten Form.

             Diese Gründe liegen in dem kontinuierlichen, durch die Geschichte aller Künste stets wieder fühlbaren Einfluß der zweifachen Einstellungsmöglichkeiten des Menschen zum Kosmos: als dessen irdisch begrenzter eingebildeter Gott oder als machtloser Diener einer darin geahnten höheren Kraft, gleichviel, ob er in ihr ein metaphysisches Wesen oder die erhabene Gleichgültigkeit des Chaos erblickte. In einer derartigen Duplizität des Empfindens, die man allgemein als die des Realismus und des Idealismus determinieren könnte, lösen sich diese beiden Komponenten, jede zugleich schöpferisch wie auch ästhetisch kritisch wirksam, im Willen des Individuums zum geistigen Wert beständig und stets vertiefter ab: sie erzeugen damit jenen Wechselstrom, der zum wichtigsten Antrieb jeder Kunstentwicklung wird. Der Vorgang darin vollzieht sich immer gleich. Durch selbständige Denkkraft und deren praktische Ergebnisse hat sich das Individuum zu einer seiner Ansicht nach dominierenden Stellung gegenüber der Natur aufgeschwungen, logischerweise bleibt in solchen Epochen seine Kunstsprache im Eindruckmäßigen und Realen fixiert mit einem Trieb darüber hinaus, einem metaphysischen Impressionismus, den diese Kunstform bei ihrer letzten Wiederkehr übrigens nicht voll erreicht hat. Beim Aufbau des Dramas drückt sich solche Weltanschauung in einer von harmonischer Gesetzmäßigkeit gezügelten und geschlossenen Tektonik aus, deren höchste zum Kunstdogma // erhobene Vollendung die hellenischen Klassiker erreichten. Verdorrt solcher Wille vor dem ihm mit naturgeschichtlicher Konsequenz folgenden Bewußtwerden irdischer Problematik, so wird Vergeistigung und damit Verewigung der vorher als unkritische Eindrücke gewonnenen Erkenntnisse durch Verankerungen im Gedanklichen erstrebt, das seinerseits Grundlage für tiefere gestaltende Vision bereiten soll, als es die aus dem unmittelbaren Eindruck geborene gewesen war. Die formale Gestaltung eines aus solchem Geiste empfangenen Kunstwerkes entwickelt sich entsprechenderweise ungebunden, in freier Szenenfolge, die einzig von dem Diktat eines tunlichst restlosen Ausdrucks der bezielten Idee durchflutet wird. Immer mehr erringt der Mensch die äußere Herrschaft über die Schöpfung, in stets gewaltigere Katastrophen stürzt er dadurch und sucht doch fort aufs neue Zentralisierung in sich. Dem Wunder der Technik folgt das Wunder des Geistes: Ewiger Kreislauf, dessen produktive Äußerungen bald zentripetalen (Realismus), bald zentrifugalen (Idealismus) Charakter in steigend bereichertem Grade tragen. Bei Eintritt des zwanzigsten Jahrhunderts war die dadurch bedingte Spannung ganz besonders stark gewesen. Der Mensch des Materialismus, der seine Welträtsel erraten und seine Himmel durch die Forscherarbeit des eigenen Hirnes entgöttert gewähnt, hatte sich als Kunstausdruck den Naturalismus geschaffen. Bald darnach aber, wie schon an der vorhergegangenen Jahrhundertwende nach der Epoche der Aufklärung, an die Schwelle des großen „ignorabimus“ gelangt und in dumpfer Ahnung des dahinter dräuenden Chaos, der bereits ab und zu voll schreckhafter Dämonie über seine einsinkenden Selbstherrlichkeitsgemäuer schlug, begann er, unsicher geworden, einen Stabilitätspunkt jenseits dieser Erde zu suchen, darauf er, der vermeintliche Herr der Schöpfung, der sich urplötzlich als sinnlos geschleuderten Lehmkloß empfand, zur Rast für das eigene Werk, für die eigenen Gedanken gelangen konnte. Keinerlei Halt mehr bot ihm die Tatsachenwelt; aus ihr und aus ihr vertrieben, griff er in Wolken. Und während eine fälschlich als Kultur gemeldete Mechanisierung und Maschinisierung seiner Zeit, jene Entwertung und Vernichtung aller Menschenrechte und Menschenwürde vorbereitete, deren schamrote Zeugen wir durch Jahre waren, mußte// er sich, entfremdet sämtlichen Vorlagen, aus einer ihm jählings gespenstisch anmutenden Umwelt mit Hilfe seines Hirnes ein außerirdisches Gerüst errichten, auf dem er seine Gestalten schaffen oder die seiner Brüder im Geiste betrachten konnte.

In: Die neue Schaubühne. H.2/3, Feb. 1921 (Dresden), S. 27-32.

Neon  [= Robert Ehrenzweig]: Agitationstheater

             Dem Bürgertum stehen in seinem Kampf um die geistige Beherrschung der Massen zwei wichtige Bundesgenossen zur Seite: die reaktionäre Kunst und der reaktionäre Kitsch. Es sind gefährliche Feinde des sich befreienden Proletariats: die Kunst, weil sie über jede Kritik erhaben zu sein scheint, der Kitsch, weil er unter jeder Kritik ist. Die Kunst, weil man die Bindung an die bürgerliche Klasse nicht erkannt, deren Ausdruck sie ist, der Kitsch erkennt, die durch ihn vollzogen wird. Reaktionäre Kunst und Kitsch des Bürgertums beeinflussen das Gefühlsleben der Massen und ihre geistige Stellungnahme. Sie nehmen Besitz von ihren Nerven, betäuben ihr Denken, verfälschen ihre Instinkte, wirken auf Lachmuskeln und Tränendrüsen – im Dienste der Bourgeoisie. Es sind hinterhältige Feinde: sie verstehen es, sich in proletarische Veranstaltungen einzuschleichen, machen sich als verlogene, reaktionäre Filme breit, als Revuen und Operette, die den Militarismus, die k. k. „gute alte Zeit“ und überhaupt die ganze bürgerliche Gesellschaftsordnung verherrlichen.

             Das erste Gebot bei der Veranstaltung proletarischer Feier ist: nur politisch einwandfreie Werke dürfen geboten werden. Es darf nicht zugelassen werden, daß der Proletariat, der den schweren Kampf gegen die wirtschaftliche und politische Ausbeutung führt, in seinem Vergnügen der geistigen Ausbeutung durch das Bürgertum bedenkenlos ausgeliefert wird. Es gibt eine nicht unbedeutende Anzahl bürgerlicher Kunstwerke, die revolutionären, zumindest politisch neutralen Inhaltes und dem Empfindungsleben des Proletariers nahe sind. Diese gehören in das Programm proletarischer Veranstaltungen – wohlgemerkt, nur dann, wenn sie nicht zu schwierig sind. Sind sie jedoch nicht allgemein verständlich, so muß sogar vor ihrer Aufnahme gewarnt werden; nicht erfaßt, würden sie das proletarische Publikum nur langweilen und abschrecken und erst recht zu reaktionären Kitsch drängen.

             Die Zahl sozialistischer Kunstwerke ist leider noch gering und ein nicht unbeträchtlicher Teil derselben ist der Gefühlswelt des Proletariats fremd. Wie soll nun das Programm proletarischer Veranstaltungen bestritten werden, wenn die geeigneten Werke bürgerlicher und sozialistischer Künstler nicht ausreichen?

             Das Agitationstheater ist ein Versuch, dieses Problem wenigstens teilweise zu lösen. Welche unerschöpfliche Möglichkeiten gibt es, die Bühne unserem großen Kampf einzuordnen: Wirrwarr und Folgerichtigkeit der Wirklichkeit im Rampenlicht vorüberziehen zu lassen, Kontraste des Lebens mit photographischer Treue wiederzugeben, zu übersteigern, zu karikieren, alle die Erbärmlichkeiten und Niederträchtigkeiten der Gesellschaft, in die hineingeborenen zu sein wir die Ehre haben, in dem Gelächter der Satire auflösen! Welche Aufgabe, den Mut und den Kampfeswillen der Genossen zu stärken, die Schwankenden mitzureißen, die Uninteressierten zu gewinnen! Was geht denn den Proletarier die Erbschaft an, die dem schönen Leutnant Harry allabendlich nach dem Tode seines Olmützer Onkels die Hand der blonden Mia und damit der Revue das erwartete glückliche Ende bringt? Das Denken, die Probleme des Arbeiters gehören in das Theater, das der Arbeiter besucht! Es ist menschlich verständlich, daß  der Proletarier sich nach der bunten Fabelwelt der bürgerlichen Revue sehnt, in der die drückende Last des Alltags sich löst im leichten Dahinschweben schöner Frauen, im Feuerwerk der Erotik, in der die Träume Seifenblasen sind, die schimmern und nicht zerplatzen, in der allen Wünschen goldene Erfüllung winkt, in der die nackten Beine der Girls die Tretmühle des Lebens vergessen machen und das häßliche Gestern und das häßliche Morgen versinken – weil sich am Schlusse alles glücklich findet. Es ist eine Welt der rosigen Klassenharmonie, der gutmütigen Menschen, über den Kulissen schwebt Versöhnung und im Wortschatz der Revue kommt das Wort „Ausbeutung“ nicht vor. Und das ist die Gefahr der bürgerlichen Revue und Operette (denn sie sollen hier keiner ästhetischen, sondern einer politischen Kritik unterzogen werden): sie täuscht über Klassengegensätze hinweg, schläfert das Klassenbewußtsein ein und wird so, bewußt oder unbewußt, Machtinstrument des Bürgertums, Mittel zur Festigung der bürgerlichen Ideologie.

             Das Leben des Proletariers, die Ideenwelt des Sozialismus – reich genug sind sie an Problemen, Tragödien und Freuden, an Sehnsüchten und Enttäuschungen und starkem Willen, daß daraus dramatischer Stoff in Überfluß geschöpft werden kann. So kann die Bühne dem Proletariat erobert werden, kann Waffe in der Hand des Arbeiters sein, mit Pathos und Satire ihre Macht auf die Geister ausüben. Das Agitationstheater ist nicht gezwungen, Illusionen aus dem Nichts zu zaubern, es wirkt durch die Unmittelbarkeit des Bühnengeschehens, durch die Stoffnähe und die Einheit der Gesinnung, die Spieler und Publikum verbinden, aufpeitschen, bis zur Ekstase erregen, daß die Grenzen zwischen Bühne und Zuschauerraum schwinden, daß Spiel und Wirklichkeit eines werden und die Seelen zusammenschlagen in den Flammen des Erlebnisses. So rissen die großen Spiele der französischen Revolution die Massen mit, so entflammte das revolutionäre Theater Meyerholds das russische Proletariat, so wirken die „Politischen Kabaretts“ und politischen Wanderbühnen in Rußland, Deutschland, Österreich. Da muß nicht viel gedichtet werden; die Weltgeschichte selbst ist Autor, eine Zeitung wird im Handumdrehen zum Politischen Kabarett, das Tagesereignis zur Stehgreifszene und Dilettanten reißen das Publikum zu unerhörtem Gelächter und zu tobender Begeisterung mit. Und wie das Agitationstheater seinen Stoff der Weltgeschichte entnimmt, so greift es selbst in die Weltgeschichte ein: in kleinem gestaltend, ist es ein Teil der größten Geistesbewegung, Dienerin der größten Idee der Menschheit, des Sozialismus.

             Ob das „Kunst“ ist? Das Agitationstheater will nicht ästhetisch gewertet werden. Es will nicht Kunst sein! Es will Leben sein, Teil des Lebens des Proletariats, Waffe in seinem Befreiungskampf.

In: Sozialistische Veranstaltungsgruppe (Hg.): Das Politische Kabarett, Wien 1929, S. 2-4.

Fritz Rosenfeld: Der visuelle Mensch

            Die Verbindung des Individuums mit der Umwelt, des einzelnen mit der Gesamtheit, stellen der Gehör- und der Gesichtssinn her, die an Bedeutung die anderen Sinne bei weitem überflügeln. Schon von Natur aus sind diese zwei Sinne nicht bei allen Menschen gleich stark ausgebildet; bei dem einen, dem visuellen Typus; ist der Gesichtssinn stärker, bei dem anderen, dem akustischen, der Gehörsinn. Aber das gegenseitige Verhältnis dieser Sinne unterliegt auch Verschiebungen, die in den geistigen und seelischen Eigenschaften der Menschen einer Epoche ihren Ursprung haben. Ob wir die Vorgänge in der Umwelt vorzugsweise durch das Auge oder vorzugsweise durch das Ohr aufnehmen, macht nicht nur einen Unterschied in der Aufnahmeart, sondern auch einen Unterschied im aufgenommenen Stoff aus. Je nach dem nun, ob der Mensch einer Zeit den Erlebnisstoff sucht, den ihm das Ohr mitteilt, oder den, den er durch das Auge empfängt, wird er den einen oder den anderen Sinn stärker ausbilden. Aus der Art, wie der Mensch die Umwelt in sich aufzunehmen trachtet, läßt sich also auf seine geistige und seelische Beschaffenheit schließen.

             Jeder Mensch kann es an sich selber erproben, daß der Weg vom Auge zum Gehirn kürzer ist, als der vom Gehör zum Gehirn. Gesehenes wird leichter begriffen als Gehörtes. Daher verwendet man zur Unterstützung des Gehöreindrucks bei Vorträgen und in Büchern Bilder (das Lesen ist eigentlich, obgleich äußerlich ein optischer, im Kern dich ein akustischer Vorgang; das gelesene Wort wird in Töne umgesetzt.) Diese Bilder sind Illustrationen, und illustrieren heißt nichts anderes als erleuchten, erhellen – ein Dunkel aufhellen, das das gesprochene oder gelesene Wort immer noch in der Vorstellungswelt des Hörers oder Lesers hinterlassen hat. Das Bild, der optische Eindruck wirkt unmittelbar, auf dem Umweg über den Vorstellungsapparat, der die Worte, die Töne erst in Vorstellungswerte, also in innerlich Sichtbares umwandelt. Um diesen Prozeß der Verwandlung zu erleichtern, unterstützt man den Gehörsinn durch den Gesichtssinn. Der wenig phantasiereiche Mensch wird vielleicht aus all den Beschreibungen und Charakterzügen, die er im Laufe eines langen Romans vom Helden oder der Heldin bekommt, sich diese noch nicht vorstellen können, das heißt, er wird sie noch nicht bildhaft-plastisch innerlich zu schauen vermögen. Da kommt ihm das Bild zu Hilfe. Es gibt ihm die Gestalt in ihren genauen körperlichen Umrissen. Nun muß er sie auf der Bühne seiner Phantasie nur die Bewegungen ausführen lassen, die die jeweilige Situation des Romans erfordert. Sieht er nun dramatisiert auf der Bühne oder verfilmt im Kino, so fällt die Vorstellungsarbeit fort. Sein Gehirn arbeitet viel weniger, es nimmt leichter auf und muß den aufgenommenen Stoff nicht erst umwandeln. Statt eines Vorstellungsinhalts, den ihm das Wort bot wie einen Extrakt, der erst aufgelöst werden muß, wird ihm das fertige Bild geboten. Wo das Gehör nur eine Anregung gab, die der eine besser, der andere schlechter zu verarbeiten vermochte, bietet das Gesicht bereits die Wirklichkeit (die scheinbare Wirklichkeit des Bühnengeschehens oder des Vorganges auf der Leinwand); wo das ungreifbare, abstrakte Wort stand, steht die greifbare Körperlichkeit. (In diesem Sinne ist auch die in die Fläche projizierte ehemalige Körperlichkeit des Filmbildes „greifbar“.)

             Daraus ergibt sich, daß eine Zeit, die phantasiereich ist, sich mit der Anregung der Vorstellung, mit dem bloßen Vorstellungsinhalt, im Wort komprimiert, wird begnügen können, eine phantasiearme aber das vollendete Bild fordern wird. Der visuelle Mensch, der Mensch des optischen Eindrucks, ist also der phantasieärmere. Die phantasiearme, die phantasietötende Zeit der großen naturwissenschaftlichen Entdeckungen gebar die naturalistische Kunst; sie schuf Bilder, die die Wirklichkeit so genau kopieren, daß der Beschauer sie ohne Gedankenarbeit aufnehmen konnte; sie schuf Romane, die so wirklichkeitstreu waren, daß der Phantasie des Lesers kein Spielraum blieb; sie schuf auf dem Theater Situationen, die nicht mehr ergänzungsfähig sein wollten (denn alle Phantasie ist letzten Endes die Ergänzung eines kleineren oder größeren Teils zum Ganzen). Sie bot eben das fertige Bild; auch dort, wo die naturalistische Kunst zu dem phantasiearmen Menschen ihrer Zeit durch das Wort allein sprach, schilderte sie so breit, daß die Deutlichkeit ihrer Beschreibung den Mangel an ausgestaltender Phantasie wettmachte. Erst der Expressionismus, in einer Zeit entstanden, die Verinnerlichung erstrebte, wenn auch nicht erreichte, konnte sich wieder mit den Andeutungen, die der Ergänzung durch die Phantasie bedürfen, begnügen. Hier gab es Wortbrocken, die nur abrißartig und flüchtig Hauptpunkte skizzierten, Farbflecken, die nur anregten, Bildteilchen, die durch die Phantasie ausgestaltet werden mußten. Die Kunst setzte wieder Phantasie voraus. Weil diese Phantasie aber nicht mehr da war und die Menschheit einfach nicht mehr die Fähigkeit hatte, die Bruchstücke des expressionistischen Kunstwerks, das Ausdruck eines innerlichen, also sinnlich nicht wahrnehmbaren, visuell nicht erfaßbaren Erlebnisses sein wollte, mit Hilfe der Phantasie zu seinem Gebilde durchzugestalten, als das sie ursprünglich bestanden (bevor die „geballt“ wurden!), deshalb starb der Expressionismus so schnell ab und machte realistischeren Kunstbestrebungen Platz.

             Der optische Eindruck, der dem primitiven, visuellen Menschen das Abbild der Welt vermittelt, ist aber nicht nur klarer, sondern auch oberflächlicher. Dem Wort gilt die Fläche nicht, nur die Tiefe; es kennt keine Hindernisse des Raumes, es dringt in die verborgensten Fältchen des Dinges und macht sie dem Menschen durch das Medium der vorstellenden Phantasie sichtbar. Das Auge sieht aber nur die Oberfläche. Und auf dem Weg, der vom Ohr des akustischen Menschen zum Gehirn führt, entsteht jene höhere Wirkung des Eindrucks, die auf dem kürzeren Weg, der vom Auge des visuellen Menschen zum Gehirn zurückgelegt werden muß, viel seltener ist: der Gedanke. Phantasiearme Zeiten sind die Zeiten der großen Schaustellungen, der so oft als „roh“ verschrienen Schaulust; phantasiereiche, weniger realistisch eingestellte die der Musik und des literarischen Sprechtheaters. Und es ist nicht so falsch, wenn man das Ausarten des Theaters in bloße Schaudarbietungen als eine Verflachung bezeichnet. Sind sie doch die höchste Erfüllung des visuellen, also des phantasiearmen und weniger denkfreudigen Menschen, dessen Verbindung mit der Umwelt durch den Gesichtssinn hergestellt wird, durch den er nur das Abbild der Oberfläche, des in übertragenem Sinn „Flachen“ empfängt!

             Zwischen Oberflächlichkeit und Phantasielosigkeit besteht also eine unterirdische Verbindung, die ziemlich eng zu sein scheint. Wie sehr der visuelle Mensch oberflächlich und phantasielos ist, erweist der Vergleich zwischen Roman und Film. Im Roman kann zum Beispiel ein Kapitel mit dem Entschluß des Helden enden, nach Amerika zu fahren. Das nächste Kapitel zeigt ihn bereits in Amerika. Von der Ueberfahrt muß kein Wort berichtet werden. Die Phantasie des Lesers kann einen großen Sprung über den Ozean machen, oder sich die Ueberfahrt so breit ausmalen, als sie nur mag. Für den visuellen, phantasielosen Menschen des Films wäre dieser Sprung eine empfindliche Lücke. Der Film muß den Helden bei der Abfahrt im europäischen Ausgangshafen darstellen, muß zumindest ein Bild bringen, das den Helden während der Ueberfahrt zeigt, und eins, wie er in Amerika ans Land steigt. Die Phantasie arbeitet beim visuellen Menschen nicht. Er muß die Umwelt in fertigen Bildern empfangen. Diese Bilder aber sind meist äußerlich. Nur den allergrößten Künstlern und Regisseuren gelingt es, in einer stummen Geste dem visuellen Menschen das mitzuteilen, was dem akustischen das Wort mitteilt. Denn diese Erscheinung ist immer Gestalt, ist geformt, das Wort kann schleierhafte Andeutung, spukhafter Aufblitz, leiseste Anregung sein.

             Und der akustische Mensch ist der persönlichere. Wenn man in Worten vor hundert Menschen einen Vorgang beschreibt, so werden hundert Vorstellungen entstehen, die im Grundzug wohl gleich, in den Einzelheiten aber sehr verschiedenartig ausfallen werden. Wenn man aber hundert Menschen ein Bild zeigt, so werden sie allesamt denselben Eindruck haben. Dieser Eindruck kommt der Wirklichkeit viel näher als der durch das Ohr empfangene. Der unpersönliche visuelle Mensch ist eben der realistischere!

             Unsere Zeit, realistisch und phantastisch, mußte vorwiegend visuell eingestellt sein. Sie hat ihre Kunst im Kino, sie hat das Sprechtheater, das Theater des Gehörseindrucks und des Gedankens unterdrückt zugunsten der Schaubühne, der Revue und der Ausstattungsoperette. Das müde Gehirn des in der Hast des Alltags zermürbten Gegenwartsmenschen verlangt nach der leicht verdaulichen Kost des Auges und weist die schwerer verdauliche Kost des Ohrs meist zurück. Wo die Kunst der Revue und der Operette noch durchs Ohr wirkt, dort ist es durch den leichten Witz und die sehr leichte Musik, durch eine Musik, von der ja immer behauptet wird, daß sie „leicht ins Ohr geht“. Auge und Ohr sind wie zwei Schalen einer Wage. Wenn die eine in die Höhe steigt, muß die andere fallen. Wenn die visuelle Kunst die Ueberhand gewinnt, muß die akustische zurückweichen. Eine Zeit ohne Lyrik ist eine Zeit des Kinos; eine Zeit ohne Musik eine Zeit des Fußballs, eine Zeit ohne Drama eine Zeit des Automobilrennens. In der Not und Hast der Zeit sucht der Mensch die leichte (und auch schnellere) Aufnahmeart des Auges, die ihm die müheloseste Unterhaltung und Entspannung bringt. Ruhigeren und verinnerlichten Zeiten bleibt die Kunst der inneren Schau, der Phantasie vorbehalten, die nur der leisten Anregung durch den akustischen Eindruck bedarf.

             Kaum aber hat diese visuell eingestellte Zeit ihren Höhepunkt erreicht, ersteht ihr schon der große Gegner, der sie vernichten kann: das Radio. Das Radio kann vielleicht dem visuellen Menschen des Films, der Revue und des Sportschauspiels ein Gegengewicht bieten und die Wagschalen wieder auf die gleiche Höhe bringen. Das Radio gibt wieder nur die Anregungen durch das Gehör, die der Phantasie zur Ausgestaltung dargeboten werden. Am Radio wird es sich schließlich erweisen, ob der visuelle Mensch der Gegenwart noch ein Restchen Phantasie hat oder nicht. Wenn er sie hat, wird das Radio als Kunstdarbietungsmittel eine ungeheure Rolle spielen; hat es sie nicht, dann war es nur das letzte Aufzucken der Gegenkräfte, die sich noch einmal sammelten, bevor sie dem visuellen Menschen das Feld einräumten. Dem phantasie- und illusionslosen, dem realistischen, oberflächlichen und unpersönlichen, in einer komplizierten Welt der höchsten technischen Errungenschaften wieder primitiven visuellen Menschen.

In: Arbeiter-Zeitung, 16.5.1926, S. 21.

Otto Bauer: Die deutschösterreichische Republik.

             In den vier Tagen vom 28. bis zum 31. Oktober hatte sich die Auflösung der Habsburgermonarchie vollendet. In diesen vier Tagen war die Armee an der Front zusammengebrochen, hatten sich die neuen nationalen Regierungen im Hinterlande der Regierungsgewalt bemächtigt. Es war eine nationale und eine demokratische Revolution, was sich da vollzog: statt der Dynastie, ihrer ‚übernationalen‘ Bürokratie, Generalität und Diplomatie übernahmen in Deutschösterreich wie in Tschechien, in Galizien wie im südslawischen Gebiet nationale Volksregierungen, aus den Wortführern der Parteien des Bürgertums, der Bauernschaft und der Arbeiterschaft zusammengesetzt, die Regierungsgewalt. Aber der Zusammenbruch der alten Mächte entfesselte zugleich auch die bisher von der Gewalt niedergehaltenen Arbeitermassen. In den täglichen stürmischen Soldatendemonstrationen, die in Wien mit der großen Massenkundgebung am 30. Oktober begonnen hatten, kündigte sich an, daß die national-demokratische Revolution zugleich  auch die soziale Revolution weckte, der Übergang der Regierungsgewalt von der Dynastie  auf die Völker zugleich auch den Klassenkampf innerhalb des Volkes, die Verschiebung der Machtverhältnisse  zwischen den Klassen innerhalb der Nation einleitete. Die Entfaltung dieses dreifachen revolutionären Prozesses der demokratischen, der nationalen und der sozialen Revolution ist die Geschichte des entstehenden deutschösterreichischen Staates vom 30. Oktober bis zum 12. November.

             Am 30. Oktober hatte die Provisorische Nationalversammlung den Staatsrat beauftragt, die Regierungsgewalt in Deutschösterreich zu übernehmen, und eine deutschösterreichische Regierung einzusetzen. Deutschösterreich war damit, ebenso wie alle anderen entstehenden Nationalstaaten in diesen Tagen, vor das Problem der Regierungsbildung gestellt. Es handelte sich nicht, wie sonst bei Regierungsbildungen, um den Übergang einer bestehenden Staatsgewalt aus den Händen einer Machtgruppe in die einer anderen, sondern um die Schaffung neuer Staaten, um die Organisierung noch nicht bestehender Staatsgewalten. Die Regierungen, die da gebildet wurden, verfügten zunächst über keinerlei materielle Machtmittel, weder über den Verwaltungsapparat noch über eine Militärmacht; sie konnten sich nur durch ihre moralische Autorität durchsetzen, nur durch ihre moralische Autorität sich die Verwaltungsmaschinerie der zerfallenden Monarchie unterordnen und sich eine nationale Wehrmacht schaffen. Sollte die moralische Autorität der neuen Regierung groß genug sein, diese Aufgabe zu bewältigen, sollte sie sich in der Großstadt wie im Dorfe, in den Industriegebieten wie im Landvolk, in den Ämtern wie in den Kasernen durchsetzen, dann mußten die neuen Regierungen aus Vertrauensmännern aller Volksschichten zusammengesetzt werden. So erklärt es sich, daß die neuen Regierungen in all den neuen Nationalstaaten damals aus den Vertretern aller großen politischen Parteien der sich konstituierenden Nationen zusammengesetzt werden mußten. Daß ‚Bürger,// Bauern und Arbeiter‘ gemeinsam die neue Regierung bilden mußten, war das Schlagwort jener Tage.

             Auch der deutschösterreichische Staat war im Grunde aus einem Contrat social, einem staatsbegründenden Vertrage der durch die politischen Parteien vertretenen Klassen des deutschösterreichischen Volkes hervorgegangen. Die Gesamtheit der deutschösterreichischen Abgeordneten hatte sich auf Grund von Vereinbarungen zwischen den Parteien als Provisorische Nationalversammlung proklamiert. Nur diese Gesamtheit konnte jetzt die Regierungsgewalt übernehmen. Der von der Provisorischen Nationalversammlung nach dem Verhältniswahlrecht gewählte, also aus Vertretern aller Parteien zusammengesetzte Staatsrat bildete die eigentliche Regierung. Nur als seine Beauftragten übernahmen die vom Staatsrat ernannten Staatssekretäre die Leitung der einzelnen Staatsämter; nicht ihnen, sondern dem Staatsrat selbst teilte die provisorische Verfassung vom 30. Oktober die Verordnungsgewalt zu. Wie der Staatsrat selbst aus allen in der Provisorischen Nationalversammlung vertretenen Parteien zusammengesetzt war, so wurden auch die von ihm bestellten Staatssekretäre allen Parteien entnommen. […] Dr. Karl Renner wurde zum Leiter der Kanzlei des Staatsrates bestellt. Dem christlichsozialen Staatssekretär für Inneres gaben wir Sozialdemokraten Otto Glöckel, dem deutschnationalen Staatssekretär für Heerwesen den Sozialdemokraten Dr. Julius Deutsch als Unterstaatssekretäre bei. Erst die Ereignisse der folgenden Tage, die die nationale Revolution zur sozialen vorwärtstrieben, verstärkten unser Gewicht in der Regierung. Erst sie machten den Leiter der Staatskanzlei zum Staatskanzler. Erst sie ließen in den beiden wichtigsten Staatsämtern, im Staatsamt des Innern, das über die innere Verwaltung, über Polizei und Gendarmerie verfügte, und im Staatsamt für Heerwesen, das die Demobilisierung zu leiten und eine neue Wehrmacht aufzustellen hatte, die bürgerlichen Staatssekretäre weit hinter die sozialdemokratischen Unterstaatssekretäre zurücktreten. Es war eine Machtverschiebung, die sich durch die Ereignisse selbst vollzog, in der sich der Fortgang der Revolution ausdrückte.

             Aus dem Krieg entstanden, ist die soziale Revolution nicht so sehr von der Fabrik als vielmehr von der Kaserne ausgegangen. Als an der Massenkundgebung des 30. Oktober auch Soldaten und Offiziere in großer Zahl teilnahmen; als an diesem Tage auf den Soldatenklappen die roten, auf den Offizierskappen die schwarzrotgoldenen Kokarden aufzutauchen begannen;// als am Abend des 30. Oktober Soldatenhaufen den Offizieren auf der Straße die Rosetten mit den kaiserlichen Initialen von den Kappen rissen, war es klar, daß die militärische Disziplin in den Wiener Kasernen vollends zusammengebrochen war.  Die furchtbare Allmacht, die die militärische Organisation im Kriege dem Offizierskorps gegeben hatte, schlug mit einem Schlage in völlige Ohnmacht um; vierjährige Unterdrückung der Menschenwürde des Soldaten rächte sich nun in wild aufloderndem Haß des Mannes gegen den Offizier. Wo bisher der stumme Gehorsam gewaltet hatte, setzte nun die elementare, instinktive, anarchische revolutionäre Bewegung ein. Soldatenhaufen, von Heimkehrern aus Rußland geführt, versammelten sich nächst der Roßauer Kaserne und berauschten sich an wilden Reden. Sie versuchten die Bildung einer „Roten Garde“, sie zogen bewaffnet durch die Stadt, sie „expropriierten“ Kraftwagen und „beschlagnahmten“ Lebensmittelvorräte. Die Offiziere selbst wurden von der Bewegung erfaßt, Reserveoffiziere aus den Reihen der Intelligenz beteiligten sich, von der Revolutionsromantik des Bolschewismus mitgerissen, an der Bildung der Roten Garde, während sich deutschnationale Offiziere im Parlamentsgebäude als „Soldatenräte“ auftaten. Die überwiegende Mehrheit der Soldaten aber packte unwiderstehlicher Drang, nach Hause, zu Weib und Kind zurückzukehren. Die slawischen Soldaten eilten ungeordnet nach Hause, sobald sie von der Bildung der Nationalstaaten in ihrer Heimat erfuhren; ihr Beispiel verbreitete die Desertionsbewegung sofort auch auf die deutschen Soldaten. Niemand tat mehr Dienst, die Kader lichteten sich, die Wachen liefen davon, die wichtigsten Depots und Magazine waren unbewacht. Kriegsverwilderung, Hunger, Verbrechertum nützten diese Selbstauflösung der Garnisonen aus: Plünderungen begannen begannen […] Nur die Aufstellung einer neuen bewaffneten Macht konnte die volle Anarchie verhindern.

             Der Staatsrat versuchte zunächst die Reste der Garnisonen der alten Armee in seinen Dienst zu stellen. Sie wurden auf die provisorische Verfassung beeidigt. Und da die Wiederherstellung der Autorität der Offiziere zunächst aussichtslos erschien, forderte der Staatsrat selbst die Mannschaften auf, Soldatenräte aus ihrer Mitte zu wählen, die Ordnung und Disziplin in den Kasernen herstellen sollten. Aber diese ersten Bemühungen blieben erfolglos. Die Soldaten leisteten den Eid und liefen dennoch auseinander, zu Weib und Kind. Die Reservisten bei den Fahnen zurückzuhalten war unmöglich. Es gab nur einen Ausweg: gegen Sold Freiwillige anzuwerben und aus ihnen eine neue Wehrmacht zu formieren. So ordnete der Staatsrat am 3. November, dem Tage des Abschlusses des// Waffenstillstandes, die Werbung für die Volkswehr an.

In: Otto Bauer: Die österreichische Revolution. Wien 1923, S. 95-97.

N.N. [Leitartikel]: Austromarxismus.

„Austromarxismus.“ Das ist seit einiger Zeit ein Lieblingsschlagwort im bürgerlichen Sprachgebrauch. „Austromarxismus“ – das ist in ihrem Munde so eine ganz besonders bösartige Spielart des Sozialismus. Und ob der „Austromarxismus“ auf dem Parteitag endgültig begraben worden ist oder auf allen Linien gesiegt hat, darüber kann man in der bürgerlichen Presse jetzt die allermannigfaltigsten und aller allepossierlichsten Ansichten lesen. Wäre es nicht doch an der Zeit, einmal den Herren, die von Geschichte und Wesen des Sozialismus nichts, aber schon gar nichts wissen, zu erzählen, was denn das eigentlich war und ist: der Austromarxismus?

Wir haben das Wort ein paar Jahre vor dem Krieg zum erstenmal aus dem Munde eines amerikanischen Sozialisten, L. Boudins, gehört; es hat sich dann ziemlich schnell eingebürgert. Als „Austromarxisten“ bezeichnete man damals eine Gruppe jüngerer, wissenschaftlich tätiger österreichischer Genossen: Max Adler, Karl Renner, Rudolf Hilferding, Gustav Eckstein, Otto Bauer, Friedrich Adler waren die bekanntesten unter ihnen. Was sie vereinte, war nicht etwa eine besondere politische Richtung, sondern die Besonderheit ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Sie waren alle herangewachsen in einer Zeit, in der Männer wie Stammler, Windelbrand, Rickert den Marxismus mit philosophischen Argumenten bekämpften; so hatten diese Genossen das Bedürfnis, sich mit den modernen philosophischen Strömungen auseinanderzusetzen. Waren Marx und Engels von Hegel, die späteren Marxisten vom Materialismus ausgegangen, so sind die jüngeren „Austromarxisten“ teils von Kant, teils von Mach her gekommen. Anderseits haben sich diese jüngeren „Austromarxisten“ an österreichischen Hochschulen mit der sogenannten österreichischen Schule der Nationalökonomie auseinandersetzen müssen; auch diese Auseinandersetzung hat die Methode und Struktur ihres Denkens beeinflußt. Und schließlich haben sie alle im alten, von den Nationalitätenkämpfen erschütterten Österreich es lernen müssen, die marxistische Geschichtsauffassung auf komplizierte, aller oberflächlichen, schematischen Anwendung der Marxschen Methode spottenden Erscheinungen anzuwenden. So entwickelte sich hier eine engere Geistesgemeinschaft innerhalb der Marxschen Schule, die man eben, um sich einerseits von der älteren, vor allem durch Kautsky, Mehring, Cunow vertretenen Marxistengeneration, anderseits von den gleichaltrigen Marxistenschulen der anderen Länder, der russischen vor allem und der holländischen, die sich beide unter wesentlich andern geistigen Einflüssen entwickelten, zu unterscheiden, die „Austromarxisten“ genannt hat. Man muß sich dieses Ursprungs des Begriffs des Austromarxismus erinnern, um die ganze Komik zu begreifen, die darin liegt, wenn jeder Berglhuber jetzt den Austromarxismus vernichtet.

Krieg und Revolution haben freilich die „austromarxistische“ Schule aufgelöst: in den Diskussionen der Kriegs- und Nachkriegszeit standen die Männer, die dieser Schule angehört hatten, innerhalb des internationalen Sozialismus in verschiedenen, oft entgegengesetzten Lagern. Das Wort „Austromarxismus“ bekam infolgedessen eine andre Bedeutung. Unsere Gegner gewöhnten sich ganz einfach, die österreichischen Sozialdemokraten „Austromarxisten“ zu schimpfen. Das war natürlich Unfug, der Unfug von Unwissenden, die eine politische Partei mit einer wissenschaftlichen Richtung verwechseln. Aber gerade die Hetze unserer Gegner gegen den „Austromarxismus“ hat das Wort manchen unserer Genossen lieb gemacht; so haben sich denn manche unserer jüngeren Genossen gewöhnt, das Wort Austromarxismus zu verwenden zur Bezeichnung jener theoretischen Auffassungen der großen Streitfragen des internationalen Sozialismus der Nachkriegszeit, die sich in der österreichischen Sozialdemokratie nach dem Kriege allmählich entwickelt und in dem Linzer Programm ihre Zusammenfassung, ihre Formulierung gefunden haben. Worin besteht, wenn man // das Wort in diesem Sinne gebraucht, die Besonderheit des „Austromarxismus“?

Der österreichischen Sozialdemokratie ist es gelungen, in all den Stürmen der Nachkriegszeit ihre Einheit zu bewahren, während die Arbeiterparteien der meisten andern Länder gespalten worden sind. Daß uns das gelungen ist, verdanken wir der Gunst besonderer Umstände. Die besondere Ohnmacht Oesterreichs, die besondere Abhängigkeit unserer Volkswirtschaft vom Ausland haben es den österreichischen Arbeitern in der Sturmzeit der Revolution besonders anschaulich gemacht, daß der Versuch einer Diktatur hierzulande nur mit einer Katastrophe enden könnte. Und die furchtbare Erfahrung Ungarns hat den österreichischen Arbeitern gezeigt, in welche Katastrophe der Kommunismus auch sie hineingezerrt hätte. Aber haben vor allem die wirtschaftlichen Tatsachen und die Lehren der Geschichte die österreichische Arbeiterschaft gegen die kommunistischen Spaltungsversuche immunisiert, so hat zur Abwehr des Kommunismus auch die geistige Erbschaft unserer Partei wesentlich beigetragen. Viktor Adler, der in den achtziger Jahren die Radikalen und die Gemäßigten zusammengeführt hat zu einer Partei, Viktor Adler, der zwei Jahrzehnte lang mitten im Toben der nationalen Kämpfe deutsche und tschechische, polnische und ukrainische, slowenische und italienische Sozialdemokraten zusammenzuhalten verstand in einer Gesamtpartei, er hat uns den Willen, ja den Fanatismus der Einheit, er hat uns die große Kunst überliefert, die verschiedensten Schichten der Arbeiterklasse doch in lebendiger Einheit zu erhalten. Und diese Einheit bestimmt nun die geistige Besonderheit unserer Partei innerhalb der Internationale.

Otto Bauer hat es auf dem Parteitag formuliert: Wo die Arbeiterschaft gespalten ist, dort verkörpert die eine Arbeiterpartei die nüchterne Realpolitik des Tages, die andere den revolutionären Willen zum letzten Ziel. Nur wo die Spaltung vermieden wird, nur dort bleiben nüchterne Realpolitik und revolutionärer Enthusiasmus in einem Geist vereinigt. Die Synthese beider – das ist das Linzer Programm, das ist, wenn man es so nennen will, der „Austromarxismus“. Er ist das Produkt der Einheit: denn daß sich die Arbeiter nicht haben spalten lassen, das allein erklärt die geistige Besonderheit unserer Partei gegenüber den sozialdemokratischen Parteien andrer Länder. Und er ist zugleich die geistige Kraft, die die Einheit erhält: denn daß wir hier die Fähigkeit realistischer Anpassung jedes Tageskampfes an die Besonderheiten des Ortes und der Stunde mit der festen Ausrichtung aller Teilkämpfe auf das große Ziel der Machteroberung der Arbeiterklasse und damit auf das begeisternde Ziel des Sozialismus zu vereinigen vermochten, diese Synthese des realistischen Sinnes der Arbeiterbewegung mit dem idealistischen Schwung des Sozialismus schützt uns vor der Spaltung. Produkt der Einheit und Kraft der Erhaltung der Einheit, ist der „Austromarxismus“ von heute nichts andres als die Ideologie der Einheit der Arbeiterbewegung!

Das fühlen unsere Gegner instinktiv. Und darum sind sie wütend. Oh, wie gern sie es doch hätten, wenn auch hierzulande sich die Arbeiter durch Spaltung schwächten! Am liebsten möchten die Bourgeois hier die Kommunisten subventionieren! Aber das fühlen auch die Arbeiter: die Einheit, die Einheit zu erhalten, das ist das Wichtigste! Und darum hat der Parteitag1 wahrhaftig mit dem Austromarxismus nicht gebrochen. Koalition? Abrüstung? Das sind am Ende taktische Fragen. Der Parteitag hat festgestellt, daß heute zu beidem die Voraussetzungen fehlen. Er hat aber der Zukunft nicht vorgegriffen: hat es nicht abgelehnt, diese Fragen von neuem zu prüfen, wenn unsere Gegner eine neue Situation schaffen sollten. Aber all das sind taktische Einzelfragen, Fragen der Zweckmäßigkeit, die man beantworten mag nach der Notwendigkeit der jeweiligen Stunde. All das rührt nicht an das Wesen. An das Wesen wird aber nicht gerührt! Daß wir alle jederzeit eine Politik machen müssen, die  alle Schichten der Arbeiterklasse zusammenhält; daß wir die Einheit, das höchste Gut, nur erhalten können, wenn wir mit dem nüchternen Realismus den revolutionären Enthusiasmus zu paaren wissen – das ist mehr als Taktik, das ist das Prinzip des Klassenkampfes, das Prinzip von Linz, das Prinzip des Austromarxismus. Wer die Beifallsstürme gehört hat, mi denen der Parteitag, der ganze Parteitag, die Notwendigkeiten der Einheit über alle taktischen Sondererfordernisse gestellt hat, der weiß: die Ideologie der Einheit, das geistige Band, das uns alle vereint, das bleibt unverrückbar, unzerreißbar!

In: Arbeiter-Zeitung, 3.11.1927, S. 1-2.

  1. 29.- 30. 10. In Wien (Arbeiterheim Favoriten) vgl.: AZ, 30.10.1927, S.1-9 : http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=aze&datum=19271030&seite=1&zoom=33

Adolf Loos: Vorwort zu: Richtlinien für ein Kunstamt. Wien 1919

Der staat hat sich zu entscheiden, ob er den künstlern helfen will oder der kunst.

In der monarchie war der herrscher der schutzherr der kunst. In der republik ist es das volk.

Solange der monarch, immer gegen die anschauungen des volkes kämpfend, ängstlich besorgt, seine pflicht dem geiste gegenüber zu erfüllen, sich dem willen des künstlers unterwarf, solange er in seinen rechten, die ihm das volk verlieh, seine pflicht dem universum gegenüber erkannte und erfüllte, war er am platze. Er hatte abzutreten, als er die sünde beging, die nicht vergeben werden kann: die sünde wider den heiligen geist. Und wenn er sich auch nur der unterlassungssünde schuldig gemacht hätte.

Seine erbschaft tritt ein neuer herrscher an, das volk. Der heilige geist offenbart sich der menschheit als der große mensch. Keiner nation gehört er an, sondern der ganzen menschheit. Er ist der führer, der wissende, der weise, der wegweiser für kommende geschlechter. Ihm, den die vorsehung immer wieder materialisiert, dem sie einen menschlichen körper verleiht, hat die menschheit den weg zu verdanken, den sie, immer gegen ihren willen, bis heute gemacht hat und noch machen wird; ihm hat sie zu verdanken, daß er sie aus den höhlen der vorzeit in geordnete wohnsitze geführt hat, aus dumpfem triebleben zu freiem denken. Ihm verdankt sie, daß der himmel blau ist und töne das menschenherz bewegen können, daß liebe mehr ist als ein trieb zur vermehrung, und daß der mensch staunend des gestirnten himmels über ihm und des moralischen gesetzes in ihm gewahr wird.

Ein ungeheures verantwortungsgefühl muß nun das volk packen: wie ist die sünde wider den heiligen geist zu vermeiden? Denn diese ist unsühnbar, und keine noch so tätige reue könnte die schmach tilgen, wenn man den geist oder seine inkarnation, van Beethoven, gehindert hätte, die neunte symphonie zu schreiben. Der gedanke, der damit der menschheit geschenkt wurde, hätte in dieser form ihr nie mehr gegeben werden können. Auch der zeitpunkt ist entscheidend. Damals, und nur damals, brauchte die menschheit zu ihrer fortentwicklung diese töne.

Dieser zum menschen materialisierte geist, der uns sprechen, hören und sehen gelehrt hat, der geist, der uns zunge, auge und ohr gebildet hat, er ist es, der unseren körper baut. Er hat uns fühlen gelehrt und unsere seele im wandel der jahrtausende immer neu umgebildet, reicher gemacht und zur aufnahme der dinge in uns, neben uns und über uns befähigt.

Der mensch stellt sich dem heiligen geiste, dem sanctus spiritus, dem schaffenden geiste, dem creator spiritus, feindlich entgegen. Er wünscht ruhe. Glücklich lebt er in der gesicherten position, die ihm die großen der vorzeit bereitet haben. Daß er weiter soll, daß er seinen endlich erreichten, gesicherten platz verlassen soll, bereitet ihm unbehagen, und daher haßt er den künstlermenschen, der ihm die liebgewordenen anschauungen durch neue verdrängen will. Der widerstand, den die menschheit ihren führenden geistern entgegensetzt, wird um so stärker sein, je größer die kluft ist, die zwischen volk und künstler, zwischen dem zeitgenossen und dem künstlermenschen sich auftut.

Die zeitgenossen des künstlers gehören verschiedenen perioden an. In der gewesenen monarchie verteilten sich die einwohner auf die letzten tausend jahre. Im neuen Österreich verteilen sich die menschen auf die letzten drei jahrhunderte. Sprechen diese zustände bloß für eine änderung aus ökonomischen gründen, so gebietet es der geist dem staate, dem künstlermenschen jene umgebung zu schaffen, die ihm die geringsten widerstände entgegensetzt. Die geringsten widerstände werden ihm menschen entgegensetzen, die nicht nur leiblich, sondern auch geistig seine zeitgenossen sind: menschen aus dem zwanzigsten jahrhundert.

Der staat hat daher die pflicht, das volk dem künstler möglichst nahezubringen.

Eine andere art der kunstfürsorge kann der staat nicht leisten. Keinem sterblichen ist es gegeben, den künstlermenschen, der mit uns lebt, zu erkennen. Der einzelne darf sich irren – dem staate müßte ein irrtum als sünde wider den heiligen geist angerechnet werden. Der einzelne ist nur sich selbst verantwortlich – der staat ist, dank der autorität, die er sich anmaßt, der menschheit gegenüber verantwortlich. Der einzelne kann den unterstützen, den er für den künstlermenschen hält, der staat aber würde bei einem irrtum dem ihm unbekannten genius ein martyrium bereiten. Denn eines nur lähmt dessen schaffenskraft: die bevorzugung des nichtkünstlers durch die autorität und das ihr folgende triumphgeheul der urteilslosen menge, in dem die stimme des künstlers erstickt. Gleiches recht, oder, wenn man will, gleiches unrecht für alle!

Zit. nach: A. Loos: Sämtliche Schriften in zwei Bänden. Hg. von Franz Glück. Wien: Herold 1962, S. 352-354 unter dem Titel Der staat und die kunst. Online verfügbar hier.

David Josef Bach: Die Kunst und der neue Staat.

             Inmitten der Katastrophe, die unser ganzes Dasein bedroht, gibt es noch immer Theaterkrisen! Die Hoftheater sind’s, die uns jeden Tag eine Nachricht bescheren. Nur die eine nicht, die einzige, die Wert und Sinn hätte, die nämlich, daß – endlich – Ordnung, die neue Ordnung auch hier eingezogen sei. Krisen, das ist die Unruhe eines Gebildes, das niemandem, kaum sich selber gehört, eines Gebildes, das, des Zusammenhanges mit seinem Ursprung, dem Bewußtsein einer ganzen Nation, längst beraubt, aus seinem Scheindasein die Berechtigung zu täuschenden Lebensäußerungen schöpfen will. So entstehen ‚Krisen‘, diese Nichtigkeiten eines Nichts. Also hatten wir just diese Woche eine Krise im Burgtheater. Eine vielköpfige Direktion, oder welchen Namen immer das Ungetüm hatte, war natürlich von Haus aus ein Unsinn. Er wird jetzt nicht sinnreicher, daß Herr Heine, wie die letzte Meldung sagt, ‚Leiter‘ des Burgtheaters, Hermann Bahr ‚erster Dramaturg‘ und Herr Robert Michel ‚Burgtheaterreferent‘ in der Generalintendanz wird. Eine Generalintendanz gibt es noch immer!

             Wir haben schon vor langer Zeit auseinandergesetzt, welch einzigen Zweck solch eine Intendanz haben könnte: die Umwandlung der Hoftheater in Nationaltheater verwaltungsrechtlich vorzubereiten. Wir erneuern heute die Forderung, die Hoftheater in Nationalbühnen zu verwandeln. Das ist keine Laune, kein ästhetischer Einfall, sondern das gehört einfach zu den kulturellen Lebensbedingungen des deutschen Volkes in Österreich. Zu dieser Umwandlung bedarf es jetzt keiner vorgesetzten Behörde mehr, es genügt der Wille des Volkes, ausgedrückt durch einen Entschluß des Staatsrates. O, es gewiß, es gibt dabei staatsrechtliche und finanzielle Fragen aller Art zu regeln. Aber zuerst komme die Tat und nachher die Regelung, die Abrechnung. Wenn es möglich war, unser Leib und Gut zu beschlagnahmen, zu verkaufen, zu verschenken, zu verraten, gegen ‚nachträgliche Abrechnungen‘, so muß es möglich und erlaubt sein, künstlerische Werke zu beschlagnahmen, um sie vor dem Untergang zu schützen, um ihnen erst neue Daseinsberechtigung als Gemeingut der Nation zu verleihen. Die materielle Tatsache muß geschaffen werden, um die wichtigere, die Einverleibung in das Bewußtsein des Volksganzen, sich vollziehen lassen zu können. An sich genügt jene durchaus nicht. Ein Theater zum Nationaltheater erklären, ist leicht; es dieser Aufgabe anzupassen, schwer, und keinesfalls die Sache jener, die bisher die Hoftheater verwüstet haben wie etwa dieser gegenwärtig Operndirektor, der aus der Hofoper ein internationales Kurtheater von der Art, nicht vom Range und schon gar nicht vom Erfolg etwa des Theaters in Monaco zu machen bestrebt war; das Wunder wäre ja auch gewesen, wenn nicht das Theater darüber gestorben wäre…

             Aber es sind nicht die Hoftheater allein, die augenblicklich in Betracht kommen. Ungeheure Werte, die dem Volke gehören und gehören müssen, sind in den öffentlichen Sammlungen, in Museen, in Bibliotheken angehäuft. Sie zu schützen, sie nutzbar, wirksam, lebendig zu machen ist die nicht zu unterschätzende Sorge des neuen Staates. Der Weg dafür ist klar, und er muß betreten werden. Ohne Zaudern und ohne Empfindsamkeit.

In: Arbeiter-Zeitung, 5.11.1918, S. 7.

Richard von Schaukal: Zuchtlose Jugend und ihre Schriftstellerei

Man liest immer wieder in jüdischen Blättern, daß eine neue Jugend entstanden sei, die sich insbesondere mit dem überkommenen Verhältnis der Kinder zu den Eltern auf ihre zeitgemäße Weise auseinandersetze. Selbstbewusst, um nicht zu sagen aufdringlich, verkündigt denn auch, von den Schriftleitungen dazu aufgefordert, der und jener Vertreter dieser ›neuen Jugend‹, meist irgendein achtzehnjähriger Verfasser eines der trotz Misserfolgen im einzelnen stets als Gattung beliebten brünstigen ›Entwicklungstheaterstücke‹, seine höchst unliebsamen Anschauungen über die Ansprüche seiner Altersgenossen auf unbedingte Freiheit usw. Es melden sich dann auch unterweilen die nichts weniger als ehrwürdigen Erzeuger jener wortreichen Verfechter des Umsturzes ihrerseits in denselben Blättern zu Wort – in den illustrierten erotischen Magazinen1 fügt der rührige Verlag die willkommenen Bildnisse von Vater und Sohn  bei – und orakeln resigniert über den Umschwung der Zeiten und die auf dem Gebiete des sogenannten Familienlebens bevorstehenden sensationellen Ereignisse. 

Ob derlei Ergüsse ihren Lesern ebenso ekelhaft sind, wie dem, der wider Willen darauf stößt und nicht umhin kann, einen angewiderten Blick in diese ›Dokumente der Zeit‹ zu tun, ist zweifelhaft, vielmehr kaum anzunehmen, jedenfalls, wenn nicht gleichgültig, doch insofern nicht eben belangvoll als ›Leser‹ solcher ›Literatur‹ ihren Geschmack mit sich selbst abmachen mögen; aber was einmal mit aller Entschiedenheit gesagt werden muß, ist, daß in dieser ganzen Diskussion zwischen ›neuer Jugend‹ und zurechtgewiesener, aber einsichtig-verzichtender Elternschaft sich nur ein Kapitel von privater Armseligkeit [gesperrt gedr. im Orig.] zu maßgebender Bedeutung aufspielt. Mögen die Familien, um die es sich hier handelt – sie sind alle irgendwie mit der herrschenden jüdischen Literatur unauflöslich verwoben – ihre Erfahrungen als Heilsbotschaft oder unentrinnbares Gesetz des Fortschrittes verkünden: es gibt anderswo immer noch wohlgeborene und wohlerzogene Kinder bis fünfundzwanzig und mehr Jahren, die nicht im entferntesten jenen Radaumachern gleichen, sondern bei aller Begabung, allem Scharfsinn, aller Urteilsfähigkeit im Verhältnis zu ihren achtbaren Eltern die uralte kindermäßige Zucht und Sitte als ein selbstverständliches Gut schöner und reiner Seelen in Liebe und Selbstachtung hegen und pflegen und hüten werden, solange es die Klasse – nicht Generation – der unmündigen Kinoschauspieler und Nackttänzerinnen, die freilich eine schmachvolle Last für die mühsam um ihr Dasein kämpfende ›alte‹ Gesellschaft bedeuten, nicht dazu gebracht haben wird, daß die Venus vulgoviva als Staatsgöttin verehrt werden muß.

In: Schönere Zukunft, Nr. 50, 19.9.1926, S. 1230.


  1. Vermutlich eine Anspielung auf Hugo Bettauers Wochenschrift Er und Sie. Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik.

N.N. (= Franz Anderle): Radiofreiheit

Über Nacht, wie das bei allem, was mit Radio zusammenhängt, schon zu sein pflegt, hat  unsere politische Einstellung zu ihm eine Wandlung erfahren: Seit ein paar Tagen stehen wir in Österreich im Vorstadium

des Kampfes um die Radiodemokratie,

eines Kampfes, der überall ausgefochten werden muß und der bei uns scharf zu werden verspricht.

Unser Standpunkt in diesem Kampfe ist bald gewählt: wir treten aus allgemeinen und aus besonderen Gründen als Menschen, als Österreicher und als Radiobeflissene

für die Radiodemokratie

ein. Wir wollen unsere besten Kräfte im Kampfe für sie einsetzen, denn wir wissen, daß hier Entscheidendes auf dem Spiel steht.

            Es wäre zu wenig gesagt, wenn man den Kampf für Radiofreiheit einen Teilkampf im großen Kampfe für Preßfreiheit nennen wollte. So verhalten sich die Dinge nicht. Der Kampf für Preßfreiheit, der sein Heldenzeitalter und seine Helden, seine Opfer und seine Verräter gehabt hat, war eine der Formen, in denen sich der Auftrieb, der Selbstbefreiungswille des Bürgertums bestätigt hatte. Er war eine typische Erscheinung des XIX. Jahrhunderts, die diesem ihren Stempel aufgedrückt hatte. Der Kampf um die Radiofreiheit ist echtestes XX. Jahrhundert [gesp. im Orig.], untrennbar von diesem und nur in dessen Rahmen verständlich. Es handelt sich vor allem um ein wesentlich

technisches Problem.

Das war die Preßfreiheit ja auch, ebenso wie auch die Radiofreiheit ihrerseits neben dem technischen Moment auch ein nicht zu übersehendes Machtmoment enthält. Aber das Verhältnis dieser beiden Momente verschiebt sich bei dem Problem der Radiofreiheit entscheidend zugunsten der technischen. Es handelt sich, wie bei allem, was mit Radio nur im entferntesten zusammenhängt, auch hier um ein Problem sui generis, das nach den eigenen Voraussetzungen betrachtet werden will.

Über das Ideal sind wir uns ja klar und hoffentlich sind wir darin mit den meisten unserer Leser einig:

Der ideale Zustand wäre der, daß jeder mit jedem auf dem Radiowege frei und ungehindert verkehren kann.

Ebenso klar müssen wir uns aber darüber sein, daß dieser Zustand heute unerreichbar ist. Heute liegen die Dinge vielmehr so, daß

wenn jeder frei funken könnte, unweigerlich ein Chaos entstehen müsste. 

Das Chaos im Äther ist gewiß nicht das, was wir wünschen. Wir wünschen vielmehr das Chaos zu organisieren, wir wünschen aus dem Chaos einen Kosmos zu machen.

Radio dürfe nicht das Monopol einzelner, auch nicht das Monopol einer Partei werden.

Gewiß: Radio muß allen gehören. Aber wie es einrichten, daß diese Erfindung, deren Wesen das Monopolisiertwerden auszuschließen scheint, wirklich allen ohne Unterschied zugute komme? Es ist schwer, hier einen umfassenden, praktischen, befriedigenden positiven Vorschlag zu erhalten.

            Es ist nun einmal so, daß einer praktischen Radiodemokratie im oben definierten utopischen Sinne von vornherein

natürliche Schranken

gezogen sind. Die hauptsächlichste liegt vielleicht nicht einmal in der Natur der Hertzschen Welle, sondern in der Beschaffenheit der menschlichen Seele hinsichtlich ihrer          Aufnahmefähigkeit  für das gesprochene Wort,

eine Tätigkeit, die nicht unbeschränkt ist. Wenn Mannigfaltigkeit der Preßprodukte, wenn eine Vielzahl der Zeitungen wesentlich für die praktische Wirkung der Preßfreiheit ist, so kann das aus dem Wesen der Radiofreiheit schon deshalb nicht als Forderung abgeleitet werden, weil man beim Hören schneller ermüdet als beim Lesen, weil man gedruckte Zeitungen durcheinander lesen, aber

            gesprochene Zeitungen nicht durcheinander hören kann,

zumindest heute noch nicht. Die Regelung des Radiowesens auf eine immerhin mögliche Anpassung unserer Sinnesorgane einzustellen, hätte aber keinen Sinn.

            Aus diesem Sachverhalte geht für die Radiozeitung eigentlich eine überraschende Forderung hervor:

Sie sollte eine kurze, gedrängte, sich auf die möglichst gewissenhafte Meldung der Tatsachen beschränkende Zeitung sein: so objektiv wie keine der gedruckten Zeitungen ist.

Objektivität und Tatsachenfülle scheint uns der eigentliche Stil der Radiozeitung zu sein.

            Aber wir sehen voraus, daß diese Objektivität, so ehrlich sie auch angestrebt werden sollte, immer angezweifelt werden wird (und auch die Zweifler werden möglicherweise ehrlich sein), namentlich, wenn die Herausgeber jener objektiven Zeitung, der Radiozeitung, im Zusammenhang mit irgendeiner Partei, mit irgendeiner Richtung gebracht werden können. Ob diese Frage überhaupt zu denjenigen gehört, die der Radiogesetzgeber einmal gerecht wird lösen können, lassen wir dahingestellt.

[…]

Wer aber soll ordnend, gebietend, verbietend, strafend eingreifen? Wir glauben doch: der Staat. Die anderen Lösungen dürfen wir für den Augenblick außer Acht lassen. Nun gut also, der Staat. Aber welcher Staat?

In: Radiowelt, H. 3, 23.3.1924, S. 1.