Otto Groß: Orientierung der Geistigen (1919)

             Unmeßbar allgemein ist das dunkle und drängende Ahnen, erstickend beschränkt das klare Begreifen der Urgründe und Erfüllung des großen Geschehens, das kommen soll. Die schönste neue Erscheinung, die im Bereich extremst gerichteter revolutionärer Gruppierung erblüht, das fortan unverlierbare Erleben tiefsten Einssein und nicht mehr lösbare Waffenbrüderschaft der Proletarier und der Geistigen, ist auch das erste Zeichen bewußtseinsnäheren Erkennens der ewig menschlichen Motive der Revolution. Wo immer geistige Menschen heute noch abseits geblieben sind, wird man sich überzeugen können, daß ihnen jede Kenntnis von anderen Bestrebungen fehlt. Fast jeder Hinweis auf den Welt und Leben umfassenden Horizont der wirklichen Perspektive des Kommunismus – von deren Reichtum zu erfahren ihnen in der Tat nur in geringem Maße Gelegenheit geboten wird – vermag hier Wandlung zu schaffen.

             Verbindender und trennender als Rasse, Geschlecht, Kultur und Klasse ist der typische Gegensatz zwischen dem revolutionären und dem konservativen Menschen, sagt Grete Fantl.[1]

             Das elementare Prinzip in der menschlichen Seele, dessen quantitative individuelle Verschiedenheit, dessen // Ausreichen und Versagen also die Menschen in diese beiden Kategorien trennt und einteilt, dieses im höchsten Sinne Wert und Wesen bestimmende Prinzip ist die Widerstandskraft des einzelnen Menschen, besonders des Menschen im Zustande der Entwicklung, gegen die Suggestionen von außen her, gegen die aufgedrängten Gefühle, Werturteile und Normen: die Selbsterhaltungskraft des angeborenen Menschentums, das an der eigenen Individualität wie an der Freude und dem impulsiven Ja zu allem Individuellen in allen anderen ringsum, am unbeschränkten eigenen Sein wie an der unbeschränkten Liebe festhält und seinen Widerstand der Vergewaltigung entgegensetzt wie der Verführung, dem ewigen und ringsgeschlossenen Druck zur Anpassung an die Anderen…

[…]

             Die freie grenzenlose Entwicklung des Menschentums, der Liebe und des Geistes setzt eine Ordnung der Welt voraus, welche in Allem und Jedem tödlich ist für die Angepaßten an jene andere Ordnung, // welche bis jetzt die herrschende ist und immer und überall tödlich war für Menschentum, Liebe und Geist… Es ist darum stets und ausnahmslos Lüge von vornherein, was immer gesprochen wird von allmählichem Übergang und Ausgleichung der Interessen, von Mäßigung und Vergleich – Lüge ist Alles und Jedes, in dem ein einziges gemeinsames Interesse des Revolutionären und des Angepaßten als existierend oder auch nur möglich vorausgesetzt wird.

             Was jeweils die Vermittlungspolitik erreichen kann, das ist allein ein Kompromiß von Interessen von absolut nur wirtschaftlicher Natur – mit ewiger Erhaltung des Unzulänglichen sogar auf diesem Gebiete selbst, mit definitivem Verzicht auf alle Werte des Lebens außer dem abgrenzbaren der reinen Zahl… Hier ist der Boden, auf welchem die Revolutionen sich auflösen, in Verhandlungen zwischen den Parteien, hinter welchen kein Unterschied steht von Mensch und Mensch: Verhandlungen zwischen verschieden Situierten, ohne Voraussetzung überhaupt mehr von verschiedenen seelischen Typen und deren verschiedenen Ansprüchen auf das Sein. –

             Noch nie hat eine kämpfende Partei sich einen Namen gegeben, so sehr als Ausdruck eines seelischen Typus geprägt und das gemeinsam psychologische Moment in allen ihren schöpferischen Charakteren bezeichnend, als der der »Höchstes fordenden« – das ist Derer ohne Kompromiß.

             In Jedem, dem der Kommunismus innere Berufung ist, wirkt ein lebendiger, ursprungnaher, von einer Jugendzeit der Menschheit her im besten Blut noch fortgeerbter Urgeist: ein unmittelbares Wissen vom Unterschied zwischen Mensch und Mensch: ein selbstverständliches dort ewig heimatlos und hier zu Hause Sein, dort losgelöst und hier ins Leben eingegliedert vom dominierenden Element im eigenen Innersten, der revolutionären Menschheitseele, die jedem Menschen solcher Art den Dienst des unbe-//schränkten großen Lebens zur Schicksalsbestimmung macht: ein reflektorisches Sich-Distanzieren von Allem Angepaßten, der Anpassung and das Inferiore, an Macht und Unterwerfung, Besitz, Gewohnheit, Tradition und Sittefähigen.

             Deswegen ist uns nichts so wesensinnerlich cerhaßt, erscheint uns keine je noch aufgestellte Politik so furchtbar korrumpierend und gefährlich als diese heutige des Kompromißes, dieser realpolitische Sozialismus der Vielzuvielen, der für das Proletariat und die Bourgeoisie mit einander den Boden gemeinsamer Anpassung herzustellen erraten hat – gemeinsamer Anpassung an den Geist des Bisherigen, um den Preis materieller Auskommensmöglichkeiten ein Mithinüberschleppen alles Wesentlichen aus der alten Ordnung: mit reduziertem Flügelschlag nun auch der kapitalistischen Ideen ein Realisieren von Durchschnittsmassen in Allem und Jedem, aber basiert wie früher auf die Selbstverständlichkeit von Macht und Vormacht zwischen Allen, um jeden Einzelnen herum die endlose Einsamkeit.

             Es ist diese Demokratie des »letzten Menschen«, die Nietzsche prophetisch vorhergesagt hat und vor welcher die Diktatur des Proletariats die Zukunft des Menschengeschlechtes erretten soll.

             Das Endziel alles Kommunismus ist ein Zustand, in welchem Niemand irgend eine Vormacht politischer, ökonomischer, autoritativer Natur über Irgendeinen erhalten kann. Wir wissen, daß es niemals eine Ordnung geben kann, die etwa garantierte, daß nur der seelisch Höhere über den niedriger Organisierten Macht bekäme; und würde eine solche Ordnung je gefunden, so brächte sie die Korruption der hohen Seelen… Allein die völlige Unmöglichkeit jedweder Vormacht Irgendeines über Irgendeinen gewährt die Sicherheit, daß nie ein Mensch, in dem der freie schöpferische Urgeist lebt, sich Elementen zweiten Ranges beugen muß. //

             Wir wollen die Macht den Machtlosen geben, den Räten der Armen, damit die Macht wieder ohne Sünde werde, ein Kollektivgefühl der Menschen miteinander und unpersönlicher Besitz des unpersönlichen Gesellschaftskörpers.

             Bis einst die Menschen noch einmal beginnen, als Ausdruck eines schrankenlosen Einander-Verstehens und ihrer Freude aneinander einen Turm in den Himmel hinauf zu bauen.

             Erst dieser Bau wird dann den Namen tragen dürfen: Kultur

In: Sowjet. Kommunistische Monatsschrift, Nr. 5, Nov. 1919, S. 1-5


[1] [Orig. FN] Neue Rundschau, Berlin, 1919/3.

Joseph Roth: Das Jahr der Erneuerung (1918)

                Mit Geklirr und Geschepper verzieht sich dieses Jahr in die Annalen der Geschichte: mit seinem Zipfel schleppt es eine Menge metallener Straßentafeln nach. Als das Jahr einzog, gab man ihm eine Erkennungsmarke: das Jahr der Erneuerung. Aus den Tiefen heraus wollte sich der Mensch der Revolution erneuert haben. Er tat sein schwarzgelbes Portepee ab und wickelte um das Bajonett, das er behielt, ein rotweißes. Dann fiel er auf die Knie und sang beim Hochamt der Demobilisierung sein: De Befundis. Der Fortschritt setzte sich in die Automobile der Generalstäbler und in die Equipagen des Hofes. Autos und Equipagen entführten den Fortschritt. Das weibliche Geschlecht rückte aus der Kategorie der „Hilfskraft“ in die Region der Gleichberechtigung empor und durfte durch Versammlungsbesuch und Stimmabgabe bei den Wahlen in die Nationalversammlung seine politische Überzeugungslosigkeit ebenso geltend machen wie der Mann. Der „Umsturz“ hatte sich so vollzogen, als ob er durch einen Erlaß des Chefs für Ersatzwesens fürsorglich vorgeregelt worden wäre. Er stürzte eigentlich gar nichts: der Thron verfiel wie eine morsche Sitzbank in einem vernachlässigten Park; die Monarchie löste sich auf wie ein Zuckerwürfel im Wasserglase. Als kein Kaiser mehr da war, entdeckte man die Republik. Da man nicht mehr loyal sein konnte, wurde man revolutionär.

Dennoch war die Revolution eine Notwendigkeit. Die Geschichte ging schon lange schwanger mit der Revolution. Hinter den Goldtressen des Byzantinismus stank die Verderbtheit. Kulissen aus Phrasen und Lakaien verbargen den Dreck, der sich durch Jahrhunderte im Augiasstall des „Hofes“ aufgehäuft hatte. Die Revolution mußte geboren werden. Aber da stolperte die Geschichte über die Drahthindernisse des Weltkrieges. Durch die Erschütterung geschah die Frühgeburt der Revolution.

Diese, ein frühgeborenes Kind, muß in Wärmestuben und Kliniken mühsam aufgepäppelt werden. Denn wir, wir, das erbärmlichste Geschlecht, haben sie gezeugt. Jedes Geschlecht hat die Revolution, die es verdient. Die unserige, schwach, engbrüstig, kam in die Kinderklinik der Koalition. Und selbst das wäre noch nicht einmal so schlecht. Aber wir haben in jener Klinik keine Ärzte. Und die Revolution stirbt zwar nicht, aber sie lebt auch nicht, sie ist ein gutes österreichisches Kind und „wurschtelt sich fort“.

                                               *

Erneuerung! Erneuerung! Wo, frage ich, seht ihr Erneuerung? Ist das Erneuerung, wenn die Burgmusik um die Mittagsstunde statt zur Burg, zum Staatsamt für Heerwesen zieht? Wenn ein Minister Staatssekretär heißt? Wenn der Briefträger nicht „Diener“ mehr, sondern „Unterbeamter“ ist? Reißt ihm doch die Knechtseligkeit aus seiner armen, gemarterten Brust und er mag heißen wie er will, er wird kein Diener sein! Gebt dem armseligen Hirn des Staatssekretärs Weitsichtigkeit und Vernunft und laßt ihn nur Minister heißen! Laßt ab vom öden Geschepper der militärischen Tschinellen, laßt Beethoven spielen und verwendet eure Janitscharenkapelle zu Türstehern in Kunsttempfeln! Aber die Kesselpauke ist mächtiger als der Fiedelbogen. Im Lärm und Gepolter der Gosse, der ihr dient, geht die Stimme der Kultur verloren, der ihr zu dienen vorgebet!

Erneuerung! Ist der Befundmensch in Euch schon verloren gegangen? Ihr habt keine Furcht mehr vor dem General? Ihr steht nicht mehr beim Rapport? Ihr seid die Befreier vom Militarismus? Ihr prediget Menschenrechte?

Oh, der Streit um die Auslieferung von Kun und Levien, Fremdenrazzien und Abreisendmachungen, sind das die Erfolge Eurer Predigten über Menschenrechte? Militarismus der Geister, ist er nicht schändlicher, als der der Leiber? Habt Ihr keine Angst vor dem Arbeiterrat? Steht Ihr nicht täglich beim Rapport vor der Partei?

                                                           *

Es ist keine Erneuerung, so lange nicht Einkehr ist! Wir müssen uns befreien vom Schwert des Militarismus, das über uns hängt. Die Waffe hat Gewalt gewonnen über die Faust. Werfen wir sie weg, die Waffe. Der Polizist hat seinen Helm abgelegt, aber Polizei ist noch da. Den Bösen sind wir los, die Bösen sind geblieben. Der Zweck heiligt nicht die Mittel! Die Mittel profanieren den Zweck!

So ist es denn kein Jahr der Erneuerung gewesen. Höchstens ein Jahr der Neuerungen. Gerngroß hat seine weiße Woche. Der Kramladen der Geschichte hat zuweilen sein Jahr der Novitäten.

In: Der neue Tag, 12. 11.1919, S. 3.

N.N.: Die Organisation der Volkswehr (1918)

                Von morgen Montag angefangen werden in allen Wiener Kasernen Werbekanzleien eröffnet, um die Anmeldungen zum freiwilligen Eintritt in die Volkswehr entgegenzunehmen.

            Wer seinen Eintritt anmeldet, ist aller anderen Verpflichtungen innerhalb seines bisherigen Truppenkörpers entbunden und rückt sofort in die ihm von der Werbekanzlei bezeichnete Dislokationen ein.

            Die Angehörigen der freiwillig Eintretenden bleiben in Bezug ihrer Unterstützungen; auch ihre eigenen durch den Besitz von Tapferkeitsmedaillen erworbenen Rechte und Bezüge bleiben gesichert.

            Nach vollzogener Demobilisierung kann jeder freiwillig in die Volkswehr eingetretene Soldat wieder aus der Körperschaft austreten. Solange die Demobilisierung nicht vollzogen ist, gilt die eingegangene Verpflichtung für die Dauer von drei Monaten und kann dann wieder erneuert werden.

            Für die Aufnahme können nur körperlich rüstige Männer in Betracht kommen. Die in der Volkswehr tätigen Bürgersoldaten erhalten ohne Unterschied des Chargengrades sechs Kronen tägliche Löhnung und auskömmliche Menage, bestehend aus Frühstück, Mittagsmahl und Nachtmahl. Chargen, die als Schwarmführer oder Zugsführer Unteroffiziersdienst leisten, erhalten eine Zulage von einer Krone.

            Die Volkswehr wird sich in Bataillone zu je drei Zügen gliedern. Die Dienstführung bei den Unterabteilungen wird von den Soldatenräten überwacht und gegen jede Willkür gesichert werden. Dienstlichen Befehlen muß natürlich unbedingter Gehorsam geleistet werden. Befehle aber, die Vorgesetzte augenscheinlich in ihrem privaten Interesse erteilen, sollen dem Soldatenrat als Beschwerde gemeldet werden. Es wird dafür gesorgt, daß die ganze Dienstordnung bei der freiwilligen Volkswehr auf eine demokratische Grundlage gestellt wird, die jede Ausschreitung und Willkür der Befehlsgewalt ausschaltet, aber andererseits gute Disziplin verbürgt, die sich vor allem auf das Solidaritäts- und Pflichtgefühl aller freiwilligen Volkswehrmänner zu gründen haben wird.

Die Präsidenten des Deutschösterreichischen Staatsrates

                        Dinghofer                              Hauser                                                Seitz

In: Arbeiter-Zeitung, 3.11.1918, S. 1.

In: Neue Freie Presse, 3.11.1918, S. 5.

In: Deutsches Volksblatt, 3.11.1918, S. 6.

N.N.: [O. Bauer]: Rätediktatur oder Demokratie.

(Teil 4) Der Weg der Demokratie.

            Die Revolution hat der deutschösterreichischen Arbeiterschaft die demokratische Republik, die Selbstregierung des Volkes im Staate, im Lande und in der Gemeinde gebracht und damit ihre Macht wesentlich erweitert. Aber der große politische Sieg konnte das wirtschaftliche Elend nicht bannen. Unsere Lebensmittelvorräte sind erschöpft; wir leben nur von den allzu kargen Zuschüben der Entente. Die Zufuhr der ausländischen Kohle, auf die wir angewiesen sind, stockt; daher ist unser Eisenbahnverkehr gedrosselt, unsere Fabriken können infolge des Mangels ausländischer Rohstoffe und Kohlen nicht arbeiten; Hunderttausende sind arbeitslos. Die Kriegskosten sind mit Milliarden Banknoten, die in den Umlauf gepreßt wurden, gezahlt worden; dadurch sind unsere Geldzeichen entwertet, die Preise steigen ins Unerhörte, die leeren Staatskassen und die Krise der Industrie machen es unmöglich, Löhne und Gehalte in gleichem Ausmaß zu erhöhen. Die Entente verweigert uns immer noch den Frieden, die Rückkehr unserer Gefangenen, die freie Einfuhr von Rohstoffen und Lebensmitteln. An all dem kann keine Regierung etwas ändern, Aber die Massen, die hungern und leiden wie nie zuvor, sind verzweifelt und erbittert. Die Leidenschaft, durch die Not entfesselt, droht über besonnene Erwägung zu obsiegen. Das Vorbild Rußlands und Ungarns lockt Tausende. Die Bourgeoisie sieht, daß die Versuchung zu neuer Revolution, zur Proklamierung der Rätediktatur die Massen lockt, Die Bourgeoisie zittert davor, daß die Massen der Versuchung erliegt, So klammert sich die Bourgeoisie jetzt selbst an die Demokratie, gegen die sie sich vor wenigen Monaten noch mit Händen und Füßen gewehrt, die sie nur unter unwiderstehlichem Zwange hingenommen hat. Die Bourgeoisie sucht die Demokratie zu retten, indem sie den arbeitenden Volksmassen ihre Fruchtbarkeit beweist. So ist die Bourgeoisie unter dem Drucke der Furcht vor der Rätediktatur zu weit größeren Zugeständnissen bereit, als sie sonst bei gleichen Machtverhältnissen bereit wäre. Ist die Macht des Proletariats zunächst vergrößert worden durch den Sieg der Demokratie, so wird sie jetzt neuerlich vergrößert dadurch, daß die Bourgeoisie die Demokratie bedroht sieht durch die Werbekraft des Gedankens der Rätediktatur.

            So können wir heute im Rahmen der demokratischen Republik ohne neuen gewaltsamen Umsturz sehr viel durchsetzen. Wir können die alten monarchischen, feudalen und militaristischen Institutionen von der Wurzel aus ausrotten. Wir können durch eine Reihe mutiger Reformen das Unterrichtswesen neu gestalten, um für die Erziehung einer selbstbewußten, denkenden, mutigen Generation die Grundlagen zu schaffen. Wir können das Arbeiterrecht und die Arbeiterversicherung unvergleichlich schneller und unvergleichlich großzügiger, als es jemals zuvor möglich war, ausbauen. Wir können die ersten Schritte auf dem Wege zur Sozialisierung der Industrie und des Bergbaues, der Forstwirtschaft und des Handels zurücklegen. Wir können durch eine energische Vermögensbesteuerung das Volk von dem Tribut an die Staatsgläubiger befreien. All das ist heute möglich auf der Grundlage der Demokratie. Und all das ist im Zuge, im Werden. Die Demokratie wird diese Aufgaben erfüllen, wenn ihr nur Zeit zur Erfüllung dieser Aufgaben gelassen wird.

            Aber freilich, all das genügt den breiten Massen des Proletariats nicht mehr. Aufgewühlt durch das furchtbare Erlebnis des Krieges, aufgerüttelt durch die Stürme der Revolution in Rußland, in Deutschland, in Ungarn, fordert das Proletariat die volle Macht, die Alleinherrschaft. Sie kann es freilich in // der deutschösterreichischen Nationalversammlung nicht erlangen, denn in ihr halten die Kräfte der klerikalen Bauernschaft und der sozialistischen Arbeiterschaft einander das Gleichgewicht. Aber müssen wir darum die Demokratie aufgeben? Gibt es nicht auch auf demokratischer Grundlage einen Weg zur Macht?

            Im Staate ist die Macht der Arbeiter begrenzt durch die Macht der Bauern. Anders in lokalen Selbstverwaltungskörpern. In der Nationalversammlung haben wir nicht die Mehrheit; aber in der Gemeindevertretung von Wien, im Landtag von Niederösterreich, in den zu schaffenden Kreisvertretungen des Viertels unter dem Wienerwald oder des obersteirischen Kreises kann die Arbeiterschaft unschwer die Mehrheit erringen. Und wenn nun all diesen Selbstverwaltungskörpern eine breite Autonomie zugewiesen, wenn ihnen insbesondere auch das Recht zur Enteignung und Sozialisierung dazu geeigneter Betriebe zugestanden wird, dann kann die Herrschaft über die lokalen Selbstverwaltungskörper zur gewaltigsten Machtquelle des Proletariats werden. Im Staate sind die Bauern zu zahlreich, als daß die Arbeiterschaft allein herrschen könnte; in den Großstädten und Industriebezirken aber ist die Arbeiterschaft die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, da kann sie auf demokratische Weise, durch den Stimmzettel, die Herrschaft in den lokalen Vertretungskörpern erringen und die Autonomie der Gemeinden und Kreise kann so zu einem wichtigen Herrschaftsmittel des Proletariats werden. Darum brauchen wir vor allem eine demokratische Lokalverwaltung mit breiten Kompetenzen.

            Andererseits aber brauchen wir den Anschluß an das Deutsche Reich. Denn wie immer sich die Klassenkämpfe des reichsdeutschen Proletariats vorübergehend gestalten, schließlich sind in der großen deutschen Republik die Voraussetzungen für die Herrschaft des Proletariats doch unvergleichlich günstiger als in unserem kleinen, industriell viel weniger entwickelten Deutschösterreich. Dort bildet die Arbeiterklasse einen viel größeren, die Bauernschaft einen viel kleineren Teil der Bevölkerung als hier. In Deutschland wird das Proletariat die Herrschaft erobern; also wird auch Deutschösterreich unter proletarischer Herrschaft stehen, sobald es ein Teil des Deutschen Reiches wird.

            Unser deutschösterreichischer Staat ist ein Notgebilde, zu vorübergehender Leistung bestimmt. Wenn es erst in dem großen Deutschland aufgegangen sein wird, dann werden unserer Nationalversammlung keine wichtigen Aufgaben mehr bleiben. Das Schwergewicht der Gesetzgebung und der Verwaltung wird dann fallen einerseits an das Reich, andererseits an die lokalen Selbstverwaltungskörper, an Gemeinden, Kreise und Länder. Im Reiche aber kann die Arbeiterschaft auf demokratischem Wege die Herrschaft erlangen und in den Stadtgemeinden und industriellen Kreisen wird sie mit demokratischen Mitteln die Herrschaft erobern. So können wir ohne Rätediktatur, mit den Mitteln der Demokratie die Macht gewinnen.

            Die Rätediktatur würde in Deutschösterreich keineswegs die Diktatur des Proletariats bedeuten; denn die Arbeiterräte müßten mit den Bauernräten die Macht teilen. Die Rätediktatur würde aber bei den heutigen Verhältnissen neuen Krieg gegen die Entente, die Gefahr einer Besetzung unseres Landes durch fremde Heere, die vollständige Einstellung der Lebensmittel- und Kohlenzufuhr, die ungeheuerlichste Steigerung des Massenelends bedeuten und in einer Hungerkatastrophe enden, aus der es keinen anderen Ausweg mehr gäbe als die Konterrevolution. Es gibt einen anderen, sichereren und schmerzloseren Weg zur Macht. Das ist der Weg der Demokratie. Wenn wir uns einerseits dem großen roten Deutschland eingliedern und andererseits in Gemeinden und Kreisen starke Burgen roter Herrschaft schaffen, führen wir das Proletariat auf sichererem Weg zur Macht.

In: Arbeiter-Zeitung, 28.3.1919, S. 1-2.

 [Parteivorstand]: Genossen und Genossinnen! (1919)

Einige tausend Arbeitslose und Heimkehrer haben gestern eine Demonstration veranstaltet, die damit ge­endet hat, daß Menschen, die ebenso Proletarier sind wie die Demonstranten selbst, getötet und verwundet worden sind, daß Volkseigentum in Brand gesteckt worden ist.

Wir kennen die Not der Arbeitslosen und be­greifen ihre Erregung. Wir kennen das Elend der Heimkehrer und begreifen ihre Erbitterung. Aber gewalttätige Demonstrationen sind nicht das Mittel, Not und Elend zu lindern.

Was soll durch Gewalttätigkeiten erreicht werden? Will die Arbeiterschaft das gegenwärtige Regierungssystem ändern, so bedarf es dazu nicht der Gewalt. Unsere Genossen in der Regierung werden ihr auf­reibendes und sorgenvolles Amt keine Stunde länger behalten, als die Arbeiterschaft es will. In der Stunde, in der die Mehrheit eurer von euch selbst gewählten Vertrauensmänner beschließt, daß unsere Genossen aus der Regierung scheiden sollen, werden sie das selbst­verständlich tun. Die deutschösterreichische Arbeiterschaft hat es also selbst in der Hand, durch ihren bloßen Beschluß, ohne jede Gewaltanwendung das Regierungssystem zu ändern. Aber freilich, nur der Gesamtheit der organisierten Arbeiterschaft steht dieses Recht zu! Ein paar tausend Demonstranten haben nicht das Recht, ihren Willen der Gesamtheit der organisierten Arbeiterschaft gewaltsam aufzuzwingen!

Was heute geschehen ist, ist also sinnlos! Aber mehr als das! Es ist zugleich höchst gefährlich! Längst schon ruft die Bourgeoisie nach der Besetzung Deutschösterreichs durch Truppen der Entente! Unter dem Schutze der Bajonette der Entente möchte sie ihre Herrschaft wieder aufrichten! Bisher haben wir diese Gefahr abgewehrt, indem wir die Vertreter der Entente überzeugt haben, daß Deutschösterreich, trotz dem furchtbaren Massenelend, aus eigener Kraft Ruhe und Ordnung aufrecht erhalten kann! Daß wir das wirklich können, hat auch der heutige Tag bewiesen: Mit musterhafter Disziplin hat unsere Volkswehr die Ordnung wiederhergestellt, sobald sie auf den Schauplatz der Demonstration gerufen wurde. Aber trotzdem ist die Gefahr groß. Die Entente will sich die Verkehrswege von Italien zu ihren tschechischen und polnischen Bundesgenossen nicht stören lassen; wenn sie befürchten wird, daß unser Land zum Schauplatz größerer Unruhen werden könnte, dann droht uns die Gefahr, daß Wien und unsere anderen großen Industriegebiete von Ententetruppen besetzt werden. Dann würde die Gegenrevolution triumphieren! Unsere Hoffnungen für die Zukunft wären bedroht, das schon Errungene wäre gefährdet!

Es ist unsere Pflicht, Genossen und Genossinnen, eine solche Katastrophe zu verhindern! Klärt eure Arbeitsbrüder und Arbeitsschwestern darüber auf, daß Gewalttätigkeiten und Unruhen uns fremde Truppen ins Land bringen und damit alles, was wir schon errungen haben, in Gefahr bringen, alles, worauf wir hoffen, gefährden können! Klärt die ganze Arbeiterschaft darüber auf, daß jeder, der heute durch sinn- und zwecklose Gewalttätigkeit die republikanische Ordnung stört und die proletarische Disziplin verletzt, nur den alten Mächten hilft, unter dem Schutze fremder Waffen ihre Herrschaft wieder aufzurichten!

Genossen und Genossinnen! Wir brauchen revolutionären Mut und revolutionäre Tatkraft! Aber wir brauchen auch — heute dringender denn je! — Besonnenheit, Einsicht und Selbstzucht!

Der Parteivorstand der deutschösterreichischen Sozialdemokratie.

In: Arbeiter-Zeitung, 18.4.1919, S. 1.

N.N.: Die Gründung des deutschösterreichischen Soldatenrates (1918)

            Gestern abend fand in den Drehersälen die konstituierende Versammlung des zu schaffenden Soldatenrates für Deutschösterreich statt, die einen überaus stürmischen Verlauf nahm und schließlich infolge der turbulenten Szenen vorzeitig endete, ohne daß es zur eigentlichen Konstituierung und zur Verlesung der bereits vorbereiteten Resolution gekommen wäre. In der Versammlung machten sich im Verlaufe der Reden unter den Soldaten Gegensätze bemerkbar, die stellenweise hart aufeinanderprallten und zu Auseinandersetzungen führten, welche die geordnete Fortführung der Versammlung unmöglich machten. Panikartig wurde die Situation, als plötzlich während der Rede eines Soldaten aus dem Saale der – wie sich herausstellte – unbegründete Ruf ertönte: „Vor dem Kriegsministerium wird geschossen!“ Minutenlang dauerten der ungeheure Lärm und die fast unbeschreibliche Aufregung, die dieser Ruf auslöste. Nur mit Mühe gelang es den Ordnern, die Ruhe unter den Soldaten, von denen ein großer Teil sofort zum Kriegsministerium ziehen wollte, wiederherzustellen und den Rednern Gehör zu verschaffen.

            Schon lange vor Beginn der Versammlung, der für 6 Uhr angesagt war, war der große Hof vor dem Riesensaale von Offizieren und Mannschaftspersonen dicht besetzt, und als der Saal geöffnet wurde, herrschte geradezu beängstigendes Gedränge. Es mochten sich ungefähr 3000 Soldaten eingefunden haben, die den Saal und die Seitengänge bis auf das letzte Plätzchen füllten.

            Namens des gegründeten provisorischen Soldatenrates eröffnete Zugsführer Gabriel vom Deutschmeisterregiment, der schon gestern vor dem Kriegsministerium eine leidenschaftliche Ansprache gehalten hatte, die Versammlung mit einer stellenweise von minutenlangem Beifall unterbrochenen Rede. Er entbot allen Kameraden, die herbeigeeilt waren, nun an dem Bau des neuen Deutschösterreich werktätig Hand anzulegen, den Brudergruß und sagte unter anderem: Das alte Österreich hat ein Ende gefunden. Wir sind nun ein Volk, deutsch an Leib und Seele, deutsch und treu bis ins Grab (lebhafter Beifall). Niemand vermag uns zu knechten, niemand soll uns das Recht nehmen, das Recht der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Arbeiter, Soldaten, Bürger und Bauern, reichen wir uns die Hände und seien wir einig, was immer auch kommen mag. Wir wollen fortan in Eintracht und Brüderlichkeit zusammenleben, und so lange wir leben, soll nie mehr so schreckliches Unheil unsre Heimat treffen, wie in diesem Kriege, An einem denkwürdigen Tage, dem Geburtstage unserer Freiheit, wurde der Soldatenrat gegründet. Er soll euer Berater sein, eine Institution, die auch eure Rechte geben soll, sie soll euch aber auch schützen, diplomatisch nach außen und nach innen. Ihr kennt alle den „Verbrecher“, der sich für uns geopfert hat, diesem Manne sind wir unseren Dank schuldig, so lange wir leben. (Die Versammlung brach in minutenlang andauernde Hochrufe auf Friedrich Adler aus.) Diesem Manne müssen wir den ersten Platz an der Sonne verschaffen. (Stürmischer Beifall.)

            Ein Trainsoldat erstattete Bericht über die bisherige Tätigkeit des vorbereiteten Soldatenratskomitees und kündigte an, daß am Freitag in allen Wiener Kasernen Soldatenversammlungen abgehalten werden, um Delegierte zu wählen, die dann den eigentlichen Soldatenrat zu bilden hätten. „Wir müssen,“ sagte er, „die Zustimmung der ganzen Wiener Garnison haben, und dann wird es unsre wichtigste Aufgabe sein, die Disziplin zu halten, die wir als Soldaten gelernt haben, und Institutionen bringen, die die Ruhe und Ordnung in unsrer Heimat verbürgen. Wir müssen die blutige Umwandlung vermeiden, Plünderungen um jeden Preis hintanhalten![1] Wir haben erst jetzt erfahren, wofür wir Krieg geführt haben, für Preistreiber und Kriegswucherer haben wir uns nicht geopfert. Fritz Adler, den Sie hier gefeiert haben, will, wie uns mitgeteilt wird, nicht begnadigt werden. Er will nicht das Gefängnis verlassen als Begnadigter, er will vor ein Schwurgericht kommen, das ihn freispricht oder verurteilt. Was jetzt not tut, ist, die Anarchie und die blutige Revolution von unsern hartgeprüften Brüdern um jeden Preis fernzuhalten.“

            Der nächste Redner Oberleutnant Berger entwickelte das Programm der sofort zu schaffenden Nationalgarde und forderte alle selbstdisziplinierten Kameraden ohne Unterschied ihres Parteibekenntnisses auf, sich zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Ruhe zur Verfügung zu stellen. Er teilte mit, daß in allen Bezirken Wiens Werbebureaux für diese Garde errichtet werden, das Zentralbureau sei bereits im 4. Bezirk, Mittersteig Nr. 15, errichtet, das Stadtbureau befindet sich Singerstraße Nr. 8. „Helfet uns, Kameraden,“ schloß er seinen Appell, „die Ruhe und Ordnung aufrechterhalten, damit wir einem gedeihlichen Frieden entgegengehen!“

            Der nächste Redner, ein Infanterist, verlangte die Immunität des Soldatenrates.

            Stürmischen Beifall fanden die Ausführungen eines Rittmeisters vom Schützenregiment in Stockerau, der es als wichtigste Aufgabe der zu schaffenden Garde bezeichnet, die Ordnung aufrechtzuerhalten und den Lebensmitteltransport zu sichern. Wir müssen uns bewußt sein, daß hinter uns unsre Frauen und Kinder stehen, die genug gelitten haben.

In: Neues Wiener Tagblatt, 1.11.1918, S. 8.


[1] Diese Passagen aus der Rede des namentlich unbekannten Trainsoldaten spiegelt die ideologisch ungewöhnliche Gesinnungslage jener frühen Protagonisten, die ungeachtet ihres revolutionären Elans und Selbstverständnisses zugleich die sozialdemokratische Linie des geordneten Umsturzes bzw. Übergangs in eine demokratische und sozialistische Republik zu unterstützen trachteten. 

N.N. [Leitartikel]: Ein blutiger Sonntag in Wien.

Verhängnisvolle Folgen der kommunistischen Massenversammlung.

Das Land in Gefahr.

Zwölf Tote und achtundsechzig Ver­wundete hat der gestrige Tag in Wien gekostet — wenn nicht die traurigen Ziffern sich noch erhöhen. Wer selbst in diesen bluterfüllten Zeiten den Gedanken der Heiligkeit des Menschen­lebens hochhält, kann nur mit Grauen bei der Vorstellung verweilen, daß so viele Menschen­leben durch Umtriebe vernichtet wurden, die dem Wesen unsrer Stadt völlig fremd sind, von der erdrückenden Mehrheit der Bevölkerung, auch des Proletariats, abgelehnt werden und, wie nunmehr nachgewiesen ist, im größten Stile von den Budapester Ge­walthabern inszeniert und finanziert worden sind. Aber damit ist das Maß des Unheils nicht erschöpft: die Unruhe und Erregung müssen durch derartige Vorfälle verschärft, die Arbeitsfreudigkeit noch weiter gemindert, die allgemeine Not gesteigert und das Miß­trauen des Auslandes gegen unsre Zustände vermehrt werden, und das alles zu einer Zeit, wo unsre Friedensdelegation in Paris den verzweifelten Kampf gegen das Diktat übermütiger und übelberatener Sieger führt und den Versuch unternehmen muß, die geplante grausame Verstümmelung unsres Landes wenigstens einigermaßen zu mildern.

Mit dem gestrigen Tage ist das Maß voll geworden. Diese Blutopfer schreien zum Him­mel. Ist nicht genug gemordet worden in diesen viereinhalb Jahren? Sollen wir noch das allerbitterste Leid mitmachen, den grausamsten aller Kriege, den Bürgerkrieg? Was nützt es heute, Untersuchungen über den berüchtigten ersten Schuß anzustellen? Es dürfen eben nicht Situationen geschaffen werden, in denen die Gewehre von selbst losgehen. In der Wiener Bevölkerung herrscht heute das Gefühl, daß es so nicht weitergeht. Allen Ernstes wird die Frage aufgeworfen, ob wir ein Staats­wesen sind mit ordentlicher Staatsgewalt oder ein haltloses und gestaltloses Etwas, worin Chaos und Anarchie herrschen. Jeder­mann würdigt vollauf die außerordentlichen Schwierigkeiten, denen die Regierung gegenübersteht, und ein herostratisches Beginnen wäre es, ihr durch übelwollende Kritik oder faktiöse Opposition die ohnehin genug ernste Lage zu erschweren. Allein beim besten Willen läßt sich der Eindruck nicht verwischen, daß mit mehr Klarheit des Wollens und Festigkeit des Auftretens das gestrige Unglück zu verhüten gewesen wäre. Die Regierung hatte in der Nacht vom Samstag zum Sonntag bereits das Verbot der für Sonntag einberufenen kommunistischen Versammlung verfügt, und sie war vollauf berechtigt, es zu tun, denn die kommunistische Veranstaltung diente hochverräterischen Zwecken: es sollte ein gewalt­samer Umsturz der Verfassung vorbereitet oder herbeigeführt, die  Nationalversammlung beiseite geschoben, der in den Wahlen legal geäußerte Volkswille vergewaltigt und die Diktatur der Räterepublik ausgerufen werden. Gleichwohl wurde die Verfügung des Verbotes rasch wieder zurückgenommen, und so konnte das Verhängnis seinen Lauf nehmen. Auch späterhin wurde ein Beweis von Schwäche gegeben, indem eine Anzahl verhafteter Kommunistenführer und Anhänger der Bewegung auf Drängen einer kommunistischen Abordnung freigelassen wurde, obwohl die hochverräterischen Ziele der sonntägigen Veranstaltung und der ganzen kommunistischen Umtriebe von ihren Urhebern selbst gar nichtgeleugnet werden.

Allein jetzt ist nicht die Stunde für ver­spätete Rekriminationen, jetzt handelt sich’s darum, was geschehen soll, um weiteres, noch schlimmeres Unglück zu verhüten, das uns schlechthin den Untergang bringen könnte. Die Regierung ist durch den tragischen Vor­fall über das Maß der Gefahr unterrichtet. Dieser Erkenntnis muß die Zielsicherheit und Festigkeit ihrer Maßnahmen entsprechen. Was sie vor allem braucht, ist eine durchaus verläß­liche Wehrmacht. Jede Stunde erbringt aufs neue den Beweis, daß in dieser Zeit ein Staatswesen ohne starke Exekutivgewalt einem auf sturmgepeitschtem Meere hin und her geschleuderten Nachen gleicht, dem jeder Augenblick den Untergang bringen kann. In Deutschland hat man das erkannt; Noske ist gewiß alles eher, denn ein altpreußischer Militarist, aber er ist ein echter Deutscher, der weiß, was Ordnung, Disziplin und Gesetzesachtung für ein Land bedeuten. Ist unsre Volkswehr eine verläßliche Stütze der Exekutivgewalt— und das bisherige Ver­halten des größten Teiles der Volkswehr läßt dies erhoffen —, dann um so besser; sollten einzelne Teile der Volkswehr ins Wanken ge­raten, dann gilt es, für vertrauenswürdigen Ersatz zu sorgen und, wenn nötig, neue Kaders zu schaffen; Kräfte dafür sind genug vor­handen. Daß eine verläßliche Wehrmacht das Werkzeug einer Reaktion von rechts werden könnte, ist nicht zu besorgen; kein ernst zu nehmender Mensch denkt hierzulande an eine Gegenrevolution von rechts, die das Land in ein Meer von Blut und Elend stürzen müßte. Nur dann könnte die Gegenrevolution eine Gefahr werden, wenn sich hier chaotische Zu­stände dauernd einnisten und die weitesten Volkskreise in ihrer Verzweiflung schließlich nur mehr im Säbelregime die Rettung erblicken würden. Wie die Dinge heute liegen, droht die Gefahr des Umsturzes von links, nicht von rechts.

Das Organ der deutschösterreichischen Sozialdemokratie hat gestern in aufsehenerregenden Mitteilungen die längst ver­breitete Annahme bekräftigt, daß die kommunistischen Unruhen in Wien von der Budapester Räteregierung mit ungeheueren Geldmitteln gemacht werden und daß die ungarische Gesandtschaft in Wien der Mittelpunkt der Bestechungsaktionen sonach der Mittelpunkt einer Ver­schwörung gegen die innere Ruhe Deutschösterreichs ist. Unsre Regierung darf nunmehr nicht länger Vogel Strauß spielen, sie muß unverzüglich die sorgfältigsten Nachforschungen anstellen, ob diese Angaben den Tatsachen entsprechen, und durch die Teil­nahme von Politikern aller Parteien muß die Bürgschaft dafür geschaffen werden, daß die Untersuchung wirklich mit dem Zwecke strengster Wahrheitserforschung erfolgt. Wenn, woran kaum zu zweifeln ist, die Mitteilungen den Tatsachen entsprechen, dann obliegt der Regierung die Pflicht, unverzüglich die diplo­matischen Beziehungen zu den Budapester Ge­walthabern abzubrechen und die Gesandt­schaft der Budapester Usurpa­toren des Landes zu verweisen.

Das Vorbild ist gegeben: Als sich seinerzeit herausstellte, daß der Gesandte der russischen Sowjetregierung in Berlin, Joffé, sein Amt zu dem Zwecke angetreten hatte, um den bolschewistischen Umsturz in Deutschland herbeizuführen, wurde ihm über Nacht der Laufpaß gegeben. Es wäre der Gipfel der Un­entschlossenheit, wenn unsre Regierung tatenlos dulden würde, daß die diplomatische Ver­tretung eines fremden Staates ihre völkerrechtliche Vorzugsstellung in unerhörter Weise mißbraucht, um unser Land in den Abgrund des Verderbens zu stürzen. Was die Budapester Gewalthaber zunächst wollen, ist ja klar: Sie wollen für die vielen Millionen, die sie in Wien investiert haben, endlich auch Leistungen sehen. Zu Hause sind sie von den schwersten Kalamitäten bedrängt, da ihr Phantasiegeld weder von den Arbeitern noch von den Bauen: angenommen wird. Sie brauchen Geld von höherem Ansehen, das heißt die Noten der Österreichisch-ungarischen Bank, und dazu soll ihnen ein Wiener Putsch, soll ihnen die Besetzung und Ausplünderung der Banken, der Postsparkasse, der Notenbank und der Staatskassen dienen. Das Verlangen nach Ausweisung der ungarischen Gesandt­schaft wird von unsrer Bevölkerung mit solchem Nachdrucke und solcher Beharrlichkeit erhoben werden, daß sich die Regierung ihm nicht wird entziehen können.

Die sozialdemokratische Partei Deutschösterreichs, unsre eigentlich regierende Macht, hat in letzter Stunde erkannt, daß es sich nicht nur um die Existenz der Republik Deutschösterreich, sondern auch um die der Partei handelt. Endlich, wenn auch spät, hat sie eine festere Sprache gegenüber dem kom­munistischen Umstürze gefunden. In der Tat wäre die Partei verloren, wenn das bisher vielfach wahrnehmbare Hin- und Her­schwanken zwischen Demokratie und Diktatur weiter anhielte. Die politische Geschichte aller Länder und Zeiten beweist, daß jede Partei mit dem System des schwächlichen Lavierens und des halben Entgegenkommens an die radikalsten Strömungen nur sich selbst das Grab gräbt, denn sie ermuntert damit die­jenigen, die die Herrschaft an sich reißen wollen, macht weite Volkskreise unsicher und bereitet die Gemüter für die Aufnahme des geistigen Giftes vor. Auch für die Sozial­demokratie sind die Tage der Zweideutig­keiten und der Halbschlächtigkeit vorbei. Es geht nicht weiter an, den Gedanken der Rätediktatur nicht grundsätzlich abzulehnen, sondern nur die Taktik und die Wahl des Zeitpunktes als verfehlt zu bezeichnen. In Weimar hat man es anders gehalten. Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie hat den Ver­kündern der Diktatur des Proletariats ein un­bedingtes, weithin hallendes Nein zugerufen // und aufs neue das Banner der Demokratie entfaltet, das in der Herrschaft des gesetzlich geäußerten Willens des Gesamtvolkes. Das ist eine klare, bestimmte und jedenfalls die aus­sichtsreichste Politik in einer Zeit der Verwirrung und der planmäßigen Umtriebe. Aber nicht nur die sozialdemokratische, auch die bürgerlichen Parteien müssen wissen, was das Gebot dieser Stunde ist; das teilnahmslose Abseitsstehen und halb schadenfrohe Gewährenlassen vermehrt nur das Unheil. Wir brauchen ein rasches, kräftiges, entschlossenes Zusammenwirken aller Ordnungsparteien, der sozial­demokratischen und der bürgerlichen, mit der Regierung. Die Nationalversammlung muß unverzüglich zusammentreten. Das Land ist in Gefahr.

In: Neues Wiener Tagblatt, 16.6.1919, S. 1-2.

Georg Bittner: Die „Wiener Rote Garde“. Eine Gründung der Prager Kaffeehausliteraten (1918)

                Herr Egon Erwin Kisch, gebürtig aus Prag – nicht umsonst bisher das „Schmockkästchen“ Böhmens genannt – vor dem Kriege Feuilletonist des „Berliner Tageblattes“, Verfasser des mehr pornographischen als erotischen Romans Der Mädchenhirt, rückte zu Beginn des Krieges ein, war ein tapferer und guter Soldat (wie man dem jungen Manne denn überhaupt zubilligen muß, daß er in allem, was er tut, durchaus ehrlich, wenn auch vielleicht etwas unklare Absichten hat) und wurde nach längerem Frontdienste als Oberleutnant dem Kriegspressequartier zugeteilt. Hier scheint nun Herr Kisch von einem Drange erfaßt worden zu sein, der beim Literaten begreiflich ist und in diesem Falle nur deshalb sehr getadelt werden muß, weil Herr Kisch beschloß, diesem Drange in seiner Eigenschaft als Offizier und, wie er behauptet, Sozialrevolutionär zu frönen. Herr Kisch liest nämlich seinen Namen außerordentlich gern in der Zeitung. Bei der Gründung der „Roten Garde“ lagen ihm sicherlich alle selbstischen und gar unlauteren Absichten ferne und er folgte damit nur dem unklaren und phantastischen Drange seiner jugendlichen Literatenphantasie. Im Kriegspressequartier, das in der letzten Zeit zum Zwecke der Abfassung patriotischer Propagandaschriften eine Reihe von jüngeren federgewandten Leuten an sich gezogen hat, fand nun Kisch einige Gesinnungsgenossen, die ihn bei den Vorarbeiten und bei der Propaganda für die „Rote Garde“ unterstützten.

            Da ist vor allem Herr Franz Werfel, Sohn eines Kommerzialrates, auch aus Prag, auch Sozialrevolutionär, auch Literat. Während des Krieges hielt er sich längere Zeit auf Kosten des österreichisch-ungarischen Armeeoberkommandos in der Schweiz auf, um dort österreichische Propaganda zu betreiben. Jetzt ist er, wie gesagt, Revolutionär, und wenn er es auch schon damals war, als er in der Schweiz auf militärische Kosten lebte, dürfte man ihm billig den Vorwurf machen, daß er dieser Art der militärischen Dienstleistung jede andere hätte vorziehen müssen. Gewiß hätte ihn niemand davon abgehalten.

            Damit ist aber die Runde der geistigen Väter der Wiener „Roten Garde“ noch nicht vollkommen geschildert. Zu ihnen gehörte auch der ebenfalls im k.u.k. Kriegspressequartier eingeteilte Schriftsteller Franz Blei. Er gehörte in seiner Jugend ganz kurze Zeit der sozialdemokratischen Partei an. In den langen Jahren, die seither verflossen sind, hat er mannigfache Wandlungen durchgemacht. Unter anderem gab er eine pornographische Zeitschrift Der Amethyst heraus. Zu Beginn des Krieges gründete er in Berlin mit dem Gelde eines dortigen Finanzmannes eine Zeitschrift Der Kleiderkasten, welche die Abschaffung der Pariser Mode propagierte, und sich natürlich heftig gegen alles wagte, was nicht deutsch war bis ins Mark. Dieser deutschnationalen Periode des Herrn Franz Blei folgte eine katholische, als er zum Militärdienst nach Wien eingezogen wurde. Er kam hier in die Umgebung eines bekannten Finanzmannes, als dessen Sekretär er längere Zeit lebte und der ihm auch, obwohl selbst keineswegs katholisch, die finanziellen Mittel zur Gründung der katholischen Zeitschrift Summa zur Verfügung stellte. Nebenbei wirkte die ganze Familie Bleis eine Zeitlang auf ärarische // Kosten bei den Aufnahmen für einen militärischen Propagandafilm mit.

            Der vierte in diesem Bunde ist Herr Kühtreiber, der sich in seiner Eigenschaft als expressionistischer Maler und Schriftsteller Paris von Gütersloh nennt.  

            Das Werk dieser einigermaßen gemischten Gesellschaft ist also die Wiener „Rote Garde“, die, wie aus dem Berichte der Arbeiter-Zeitung hervorging, am Tage der Proklamierung der Republik die Schießerei vor dem Parlament verschuldet hat. Daß sie in dieser Form gegründet werden konnte, muß als ein schwerer Fehler der sozialdemokratischen Parteileitung bezeichnet werden. Dieser wurde wiederholt und nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß Oberleutnant Kisch, wenn auch von bestem Willen beseelt, doch sicherlich nicht die Persönlichkeit sei, der man es zutrauen dürfe, daß sie im gegebenen Falle eine Schar radikalst gesinnter Männer in der Hand behalten werde. Kurze Zeit lang schien man darum in der Parteileitung der Bildung der „Roten Garde“ auch ablehnend gegenüber zu stehen, von der einzig richtigen Ansicht ausgehend, daß eine derartige Institution innerhalb einer Volkswehr überflüssig sei. Leider ließ man sich dann aber von der Versicherung der besonnenen Elemente, die auch in der „Roten Garde“ sicherlich in nicht geringer Zahl vertreten sind, es handle sich nur um die Bildung eines Musterbataillons, überreden. Der Unterstaatssekretär Dr. Deutsch glaubte dieser Versicherung leider so sehr, daß er der „Roten Garde“ am kritischen Tage sogar die Bewachung des Parlaments überantwortete. Natürlich bekamen dort rasch, wie immer, die unklaren und unbesonnenen Elemente die Oberhand, die glaubten, sich mit einem Handstreich der Herrschaft über die gesamte übrige Bevölkerung bemächtigen zu können.

            Es ist kein Zweifel, daß die sozialdemokratische Parteileitung das, was sich vor dem Parlament und im Redaktionsgebäude der „Neuen Freie Presse“ zugetragen hat, auf das Entschiedenste mißbilligt. Schon deshalb, weil es ja unser aller gemeinsame Pflicht ist, die Umgestaltung des Staates in Ruhe und aus eigener Kraft zu vollziehen und den Ententetruppen keinerlei Anlaß zur Besetzung Wiens zu bieten. Man darf aber die Wahrung solch ungeheurer Staatsinteressen nicht den Fähigkeiten einiger unklarer oder nicht vertrauenswürdiger Köpfe aus der Kaffeehausliteratur überlassen. Dessen dürfte sich die sozialdemokratische Parteileitung bewußt geworden sein und wird jetzt hoffentlich nicht daran zweifeln, wie sie gegen die literarische „Rote Garde“ vorzugehen hat.

In: Neues 8-Uhr-Blatt, 16.11.1918, S. 1-2.

Max Ermers: Monarchische und republikanische Kunstpolitik (1925)

            „Ja, aber was die Kunstpflege und das Kunstverständnis anlangt, da muß wohl auch jeder Republikaner zugeben, daß die Monarchie uns weit voraus war.“ So hört man nicht selten Menschen sprechen, die zwar schon im Herzen vollwertige Republikaner geworden, immer aber noch vom Glanz der höfischen Feste, vom Reichtum der kaiserlichen Sammlungen, von der Pracht der Spanischen Reitschule, von den Galavorstellungen in Oper und Burgtheater, von den reichen Dotierungen durch die kaiserliche Schatulle träumen. Sie sprechen dann vom Mäzenatentum der alten Aristokratie, von den Sammlungen des Fürsten Liechtenstein, von den Galerien Lanckoronski, Czernin, Harrach, Schönborn, von Wleceks Prachtburg Kreuzentein, von der Miniaturensammlung der Bourgoings, von der Albertina und von den mehr oder weniger reichen Sammlungen des Bürgertum, das, wie überall, auch im Aufspeichern von Bildern, Skulpturen, Miniaturen, Waffen, Keramiken mit einem hohen Adel wetteiferte. Gewiß, und das kann niemand leugnen, auch das 19. Jahrhundert und das Zeitalter Kaiser Franz Josefs I., an das die sehnsüchtig zurückblickenden Lobredner zumeist denken, hat seine Kunstgeschichte gehabt, hat seine Talente hervorgebracht. Gewiß, Monarchie und Aristokratie wußten sich ihrer manchmal zu bedienen. Quantitativ vielleicht sogar ausgiebiger, denn irgendwann. Aber die Kunst dieser Zeit, soweit sie in höfische Dienste treten kann, war von jener tiefinnerlichen Funktion, die sie Jahrtausende ausüben durfte, zu einer ganz äußerlichen dekorativen Angelegenheit herabgesunken, gerade gut genug, um der alternden Monarchie und der absterbenden Klasse der Feudalität die Blößen zu decken und den Abstand zum aufsteigenden Bürgertum noch einigermaßen zu wahren.

            In Wirklichkeit aber fehlte den oberen Hundert und Tausend jene Sicherheit des Spürsinns in der Wahl der Künstler, die der Epoche äußeren Glanz verleihen durften, und das unterscheidet sie gründlich von ihren Vorläufern in den vorigen Jahrhunderten. An die Stelle von Versailles und Schönbrunn, die noch voll des echten Glanzes, treten die romantischen Kitschburgen von Neuschwanstein und Laxenburg. An Stelle der Hofmaler Raffael, Holbei, Dürer und Rubens treten die Hof- und Fürstenmaler Anton v. Werner, Winterhalter, Blaas und Angeli, Gerade bei uns in Österreich hat dieser äußere Kunstprunk die größten Verwüstungen angerichtet und es ist interessant, wie sich, auch ohne den Niedergang der Monarchie, d.h., vor ihr und innerhalb ihrer Anhängerschaft, das Urteil über jene Kunstpolitik geändert hat, die noch zu Lebzeiten ihre begeisterten Soldschreiber hatte. Von der Ringstraße, seinerzeit als Glanzstück der franziscojosefinischen Kunstpolitik angesehen, schweigt man gern still. Die Städtebauer wissen, daß sie eine verfehlte Prunk- und Auffahrtstraße war, die Architekten betrachten sie mit Recht als ein kunsthistorisches Raritätenkabinett, in dem sich die vier „Baubarone“, wie jene Zeit bezeichnenderweise Ferstel, Schmidt, Hansen und Hasenauer nennt, griechisch-gotisch-renaissancisch austoben durften. Dabei hat diese Epoche, trotz ungeheurer Geldmittel aus dem Stadterweiterungsfonds, nicht einmal die moralische Kraft gehabt, ihre Projekte auszuführen. Votivplatz, Museumsplatz, Heldenplatz sind als Plätze Torsi geblieben.

An Stelle wirklicher Museen, die die Schätze der Vergangenheit bergen und sichtbar machen konnten, hat man uns Prunkpaläste hingestellt, bei denen die monumentalen Treppenhäuser die Hauptsache waren. Für diese Treppenpracht riß man den Canovaschen Theseus aus dem Tempel, mobilisierte Makart und Munkacsy für Deckenmalereien, die ihnen nicht zur Ehre gereichen. Ob die Museumsräume brauchbar seien, diese Frage stand an dritter Stelle— mit welcher Kon­sequenz. das weiß man. Gerade über dieses Kapitel monarchischer Kunstpolitik sollte man einmal die jüngste Schrift des Grafen Lanckoronski vornehmen, um zu wissen, wie selbst ergebene Anhänger des monarchischen Re­gimes über dessen Kunstpolitik denken. Das Maria- Theresien- Denkmal zwischen den Museen setzte dieser Kunstpflege die Krone auf. Fast noch schlimmer ist dann alles, was im neuen Burgtrakt geleistet wurde, vor dessen Vollendung uns ein glückliches Schicksal bewahrt hat. Aber die Riesensummen des Stadterweiterungsfonds wurden für diesen Riesenkitsch vertan, ohne daß auch nur ein Berufener die Stimme zu erheben gewagt hätte. Den würdigen Schlußstein dieser Bautätigkeit bildete dann das Kriegsministerium. «Nicht anders erging es der Malerei. Von der gestrichenen Pension des Realisten Waldmüller bis. zur von Franz Ferdinand gestrichenen Professur Egger-Lienz („weil nach Anblick solcher Bilder niemand mehr einrücken würde“) führt ein direkter Weg. Nur die Schlachtenmaler hatten ihre gute Zeit.

Und was Franz Josef selbst, dieser ansonsten so liebenswürdige Ausstellungseröffner, von seinen Bilderjagden heimbrachte, war niemals geeignet, die Kunst zu fordern. Unvergeßlich seine entrüstete Abwendung von Segantinis Bild: Zwei Mütter. Der unglück­liche Maler hatte es gewagt, die Kuh, die gekalbt hatte, und die arme Häuslerin als Mütter nebeneinander zu stellen. Und nun gar erst die Bildhauerei.

Von den großen österreichischen Plastikern wurde keiner herangezogen. Von Metzner bis Mestrovic— blieben sie ohne Aufträge. An allen Denkmälern darf sich nur die Mittelmäßigkeit und Untermittelmäßigkeit breit machen. Und das Kunstgewerbe? Einmal kam einer an der Jahrhundertwende, der die Gesundung versuchte. Der Hofrat Scala. Ein Erzherzog hat ihn hinausintrigiert und unser Kunsthandwerk krankt noch heute an seiner Hinausintrigierung.

Nein und nochmals nein. Es war keine Heldenepoche höfischer Kunstpflege, die Habsburgerzeit des 19. Jahrhunderts. Die großen Sammlungen des Adels, Erbgut aus früherer Zeit, blieben für das große Publikum ohne Zugänglichkeit und ohne Bedeutung, das Bürgertum kopierte schlecht und recht die Sammelpolitik der Aristokraten, indem es kaufte und verkaufte, im übrigen aber den leeren Prunkwahn der Monarchie nach­zuahmen suchte. Das Wiener Rathaus und der berühmte Makartsche Festzug sind die ungewollte bürgerliche Parodie der großen Vorbilder. Das große Volk ging leer aus. An keinem einzigen Punkte setzte die Monarchie die breiten Massen mit der lebendigen, taufrisch sprudelnden Kunst ihrer Zeit in lebendigen Kontakt. Diese existierte für den Monarchen nicht, er wußte nichts von ihr, und wenn ja, dann war sie für ihn „Rinnsteinkunst“. Soweit die Kunstpflege oder — wie man eigentlich sagen müßte der Kunstbetrieb und die Kunstausnützung in der Monarchie. Und nun zur Republik.

„Was würden Sie für dis Kunst tun, wenn Sie in Ihrem Lande Minister der schönen Künste wären?“ fragte man einmal Ferruccio Busoni. „Ich würde die Wasserkräfte aus­bauen“ war die lakonische Antwort. Diese Einstellung zum Kunst- und Massenerziehungsproblem ist für eine ganze Reihe von Päda­gogen und Künstlern charakteristisch. Alles, was einer künstlichen Überfütterung des großen Publikums mit billigen Symphoniekonzerten, mit Musteroperettenaufführungen, mit Museumsführungen, Verpflanzung moder­ner Kunstwerke in proletarische Elendswohnungen, kunstgeschichtliche Vorträge und dergleichen ähnlich sieht, erscheint ihnen verfehlt und gefährlich. Die Gesundung des Gesamtzustandes eines Volkes und insbesondre seiner Wirtschaftsverhältnisse erscheint ihnen als der einzig mögliche Weg, um an Stelle eines künstlerischen Firnisses zu einer wahrhaft künstlerischen Durchdringung der Volks­massen zu kommen. Kein Zweifel, der Weg, der gleichzeitig der Weg zur sozialen Republik ist, ist ein guter, und irgend einmal wird er schon zum Ziele führen. Aber wer hat genügend Geduld, ihn zu gehen? Wer genügend Gemütsruhe, die Häßlichkeiten, die teils als Verfalls­erscheinungen des alternden Europa, teils als Amerikanisierungserscheinungen unseres Kontinents täglich auf uns einströmen, zu ertragen? Schließlich: der.Kunstminister kann nicht alleSorge dem Volkswirtschaftsminister über­lassen.

Gewiß: eine große republikanische Kunst­epoche, die das ganze Leben der Gemeinschaft und der einzelnen bis ins tägliche Leben künst­lerisch verklärt, kann nicht mit Rezepten irgend welcher Art verwirklicht werden. Dazu bedarf es jener großen künstlerischen Individualitäten, die wie in einem Brennpunkt das ganze Leid und die ganze Sehnsucht ihrer Zeit in sich konzentrieren und durch die Fülle hinreißender Werke die Gefolgschaft der Nation erzwingen. Ein Zeitalter Phidias oder Michelangelos kann nicht aus dem Boden gestampft werden.

Was aber geschaffen werden kann, das sind die äußeren Vorbedingungen. Solange die Menschen in schmutzigen Städten, in elender Luft und an trüben Flüssen leben, meinte ein­mal Englands großer Kunstreformator, John Ruskin, solange sind alle Bestrebungen, ihr ästhetisches Niveau zu heben, illusorisch. Er hätte noch weitergehen können in seiner prophetischen Verkündigung. Solange die Menschen in ihren sonnenlosen, überfüllten, schlecht gereinigten mit Urvätergerümpel angestopften Wohnungen leben werden, ist jede Kunsterziehung unmöglich. Solange unsere Kinder in den monotonen Zwangsgefäng­nissen unserer Schulräume ihre disziplinier­ten und bewegungslosen Jahre absitzen müssen, Arbeitslosigkeit und Daseinssorge um die Familie ihr Gleichgewicht erschüttert, so­lange sie sich einem ungewissen Alter der Ver­armung entgegenschreiten sehen, solange sind sie für Kunstgenüsse unzugänglich… es sei denn, das Kunstwerk spiegle ihre eigene Not,ihre Probleme, ihre Leiden, ihre Hoffnungen wider… In diesem Falle stürzen sie dann meistens von der Skylla in die Charybdis, erleben statt Kunst und Dichtung politische Karikatur und gereimte Leitartikel. Wie gering der erzieherische Wert der Kunst ganz allgemein veranschlagt wird, in Europa und Amerika, das zeigt sich am besten daran, daß eigentlich kein einziges Land, mit der halben Ausnahme von Rußland, systematische Kunstpolitik treibt, ja an sie kaum denkt. Kunststellen aller Parteien und Kunstwarte der Gebietskörperschaften tauchen zwar allerorten auf, ober von keinem hat man schon ein systematisches Programm erblickt.

Man verhütet das Allerschlimmste und wurschtelt im Traditionellen fort. Alle Städte des alten und des neuen Kontinents wachsen mit rasender Schnelligkeit. Aber hat man davon gehört, daß ihr Wachstum durch irgend welche künstlerischen Prinzipien planvoll nach bestimmten kunsterzieherischen Zielen diri­giert werde? Ohne Übertreibung darf man sagen, daß man das kunsterzieherische Wollen einer Stadt von ihrem Generalregulierungsplan mit seinen Straßenführungen, Platz­gestaltungen, lichten, schmutzlosen Gartenvororten, Grünflächen, Sonnenbädern, Strandbädern, Kindersiedlungen usw. ablesen könne. Aber welche Stadt hat sich schon zu solchem planvollen Zukunftswollen aufgerafft? Wohnreform ist der zweite Pfeiler einer vorbereitenden Kunsterziehung, die heute schon einsetzen kann. Aber welche Stadt, welches Land hat seine Wohnungspolitik auf äußere Schönheit der Architektur, auf innere Schön­heit der Bequemlichkeit, der guten Brauchbarkeit, der Gesundheit, des sinnvollen, erzieheri­schen Mobiliars, der zwangsläufigen Sauberkeit abgestellt? Welche Stadt ergänzt ihre Wohnungspolitik durch schön gebaute, geschmackvolle Erholungsheime und Klubhäuser, die die Kraft-, Zeit- und Geldvergeudung der Wirtsstuben völlig paralysieren? In Letchworth und Welwyn, die aus dem jungfräulichen Ackerboden gestampft wurden, kann man solche Heime finden, aber sonst…? Die sinnvolle Schule ist der dritte Pfeiler der Kunstvorbereitung. Die neue Methode, die die Kinder Hand anlegen läßt an alles, was lern­bar ist, die in Ton und Buntpapier und Pastell arbeiten läßt, ist gewiß ein guter Anfang. Aber so lange nicht die gesamte Jugend durch die gewaltigen Revolutionen der sinnerwecken­ den, aktivierenden Montessori-Schulen und freien Schulgemeinden hindurchgegangen ist, ist sie für künstlerische Erlebnisse nur höchst primitiv vorbereitet. Mit der Jugend muß be­gonnen werden, wenn das Alter schon nicht mehr zu retten ist, diese tiefste Erkenntnis aller Kunsterziehungspolitik müßte an der Spitze jedes Kunsterziehungsprogramms zu lesen sein.

Körperliche Entfaltung— der vierte Grundpfeiler: Hier haben die Franzosen, die Schweizer und Amerikaner schon alles vor­bereitet, was geeignet ist, durch harmonische Entfaltung zu neuer Werteinschätzung des sich fühlenden menschlichen Körpers zu kommen. Unsere Körper sind durch Schulbank, Bureau und Werkstätte verkümmert und nur mehr aus Antikensammlung und Gipsmuseum ersehen wir ahnend entschwundene Möglichkeiten. In der harmonischen Körper­kultur bereitet sich eine neue künstlerische Revolution der Menschheit vor, die der Malerei, der Plastik, dem Drama, dem Tanz und dem öffentlichen Fest unerhörte Entwicklungen sichert. Wir aber drillen noch an tausend Orten die Weisheiten des Turnvaters Jahn. Für Schulreform und Kinderfreunde eröffnen sich hier außerordentlich« Perspek­tiven der Kunsterziehung, denen wir mit unseren wenigen Arbeiterstrand- und Sonnenbädern nur sparsam vorgetastet haben. Soweit die Vorbereitung unserer Sinne, unserer Körper, unserer Seelen, deren wir heute schon fähig sind.

Und vollends muß man sich darüber ins Klare kommen, daß unsere heutigen Scheidun­gen im Kunstschulwesen völlig veraltet sind. Eine Künstlergeneration wächst auf der Aka­demie heran, die dem Kunstleben unserer Ge­neration völlig entfremdet ist, und Rettung ist hier nur durch einen Zusammenschluß der niedrigen und hohen Kunstschulen, des Kunst­gewerbes und der reinen Künste in eine ein­heitliche Erziehungsanstalt möglich. Dem Museumsbetrieb, der gewöhnlich mit Führungen, Umhängungen, Sonderausstellungen ins Zentrum der Kunsterziehung der Republik ge­stellt wird, gebührt lange nicht diese Aufmerksamkeit. Gewiß, was vorhanden ist, soll konserviert und zugänglich sein, auch erweitert werden. Ein Museum für Antiken, für Plasti­ken, für Naturvölkerkunst, für die städtischen Sammlungen und vor allem für die schaffende Gegenwart werden wir auf die Länge der Zeit nicht entbehren wollen. Aber, immer müssen wir uns vor Augen halten, daß Museumsbetrieb Wissenschaft ist und das musealisierte Kunstobjekt sich niemals an Wirksamkeit mit den Werken vergleichen kann, die an lebendigen Orten zeitgemäßen Seins und Erlebens aus­genommen werden. Hier klaffen Welten.

Wie Dichtung und Theater, Musik und Kino helfen können, das Leben der Massen künst­lerisch zu durchdringen, mögen Berufenere sagen. Das meiste, was auf diesem Gebiete unternommen wurde, erscheint als tastender Versuch, der fehlschlug. Republikanische Kunstpolitik großen Stils, die diese gewaltigen Kräfte nicht als bloßen dekorativen Aufputz eines Volkes gelten lassen will, sondern als Mittel der Erhöhung des individuellen und gemeinschaftlichen Lebens, ja als Mittel, die fehlende innere Gemeinschaft von Mensch zu Mensch, von Volk zu Volk erst zu schaffen, republikanische Kunstpolitik, wird diesen großen soziologischen Funktionen ihren rechten Platz anweisen. Alles, was heute auf diesem Gebiete versucht wird, ist gutgemeinter Dilettantismus und Mißverständnis.

Unsere Sehnsucht aber geht dahin, daß es gerade unserer Stadt mit ihrer alten Kultur und ihrem politischen Fortschritt vergönnt sein möge, auch für das neue Verständnis, das einer republikanischen Kunstpolitik gegenüber überall in Europa wird einsetzen müssen, die Vorbedingungen zu schaffen.

In: Der Tag, 25.12.1925, S. 28-29.

N.N. [Otto Bauer]: Die Weltrevolution. (1919)

4. Die historische Funktion des Bolschewismus.

Die Kommunisten betrachten die Rätediktatur nicht als eine vorübergehende Phase, sondern als die abschließende, endgültige Form der Weltrevolution. Die Rätediktatur werde die Bourgeoisie „erdrosseln“, alles Privateigentum an Produktionsmitteln aufheben, die Spaltung der Gesellschaft in besitzende und besitzlose Klassen aufheben, die sozialistische Gesellschaftsordnung aufrichten, und sobald dieses Werk getan sei, werde der Staat überhaupt absterben, da es einer öffentlichen Gewalt nicht mehr bedürfe, sobald es keine unterdrückten und keine unterdrückenden Klassen mehr gibt. Die Rätediktatur, in einem Lande aufgerichtet, führt die Rätediktatur in den anderen Ländern durch die Macht ihres Beispiels herbei; nach wenigen Jahren werde der Kapitalismus in aller Welt überwunden sein. 

Daß in allen besiegten Ländern starke Tendenzen zur Diktatur des Proletariats ganz unvermeidlich entstehen, unterliegt keinem Zweifel; ob aber die Diktatur des Proletariats wirklich jene Wirkungen herbeizuführen vermag, die die Kommunisten von ihr erhoffen, ist eine ganz andere Frage. Die Geschichte aller Revolutionen zeigt, daß sehr oft die objektiven historischen Wirkungen der Revolution ganz andere sind als die subjektiven Vorstellungen, Absichten und Hoffnungen ihrer Urheber und Träger. 

Der Versuch des Proletariats, seine Alleinherrschaft aufzurichten und sich alle anderen Klassen zu unterwerfen, führt zunächst den Bürgerkrieg herbei. Selbst in Rußland kann sich die kommunistische Diktatur nur in ständigem blutigen Kriege gegen die konterrevolutionären Klassen erhalten; dieser Krieg gegen die Kornikow und Kaledin, die Denikin und Koltschak dauert nun schon mehr als anderthalb Jahre und sein Ende ist nicht abzusehen. Greift der Bolschewismus auf Mitteleuropa über, so wird er hier einen noch viel gewaltigeren, noch viel blutigeren Bürgerkrieg zu bestehen haben:  denn hier würde ihm eine viel breitere, zahlreichere, widerstandsfähigere Bourgeosie und vor allem eine viel selbstbewußtere, viel besser organisierte und viel konservativere Bauernschaft gegenüberstehen als in Rußland. Der Bürgerkrieg zerstört aber die Produktivkräfte des Landes, er macht den Wiederaufbau der Industrie, die Wiederherstellung der Verkehrsmittel, die Wiederbelebung der Landwirtschaft unmöglich. Er bereitet dem Aufbau der Organisation des Proletarierstaates und der Organisierung der sozialistischen Produktion unüberwindliche Schwierigkeiten. Infolge der Desorganisation, die die Folge des Bürgerkrieges überhaupt und der passiven Resistenz der Bauernschaft im besonderen ist, ist die Rätediktatur nicht imstande, die Großstädte zu ernähren; selbst Moskau, das doch die Hauptstadt des größten und fruchtbarsten Agrargebietes Europas ist, hungert, selbst Budapest, die Hauptstadt der getreide- und viehreichen ungarischen Ebene, ist heute schlechter versorgt als Wien. Und aus denselben Gründen stockt in den Sowjetrepubliken auch die industrielle Produktion; infolge der Unmöglichkeit, die Zufuhr von Roh- und Hilfsstoffen zu organisieren, stehen in Rußland die meisten Fabriken still und die Arbeiter sind teils in die Bauerndörfer zurückgekehrt, teils in die Rote Armee eingetreten. 

Trotzdem kann sich die Rätediktatur behaupten, wo sie aus den Erzeugnissen des eigenen Landes wenigstens notdürftig den dringendsten Bedarf an Lebensmitteln und Rohstoffen zu decken vermag. Ganz andere Schwierigkeiten würden ihr in Ländern erwachsen, die, wie Deutschland und Deutschösterreich, die Zufuhr von Lebensmitteln und Rohstoffen aus überseeischen Ländern nicht entbehren können. Wenn wir unsere Bevölkerung ernähren, unsere Fabriken und Eisenbahnen betreiben wollen, müssen wir Getreide, Fett, Fleisch aus überseeischen Ländern, Kohle aus der Tschecho-Slowakei und aus Polen, Rohstoffe aus aller Welt einführen. Und alle diese Waren können wir nur auf Kredit bekommen; denn da wir vorerst nichts auszuführen vermögen, können wir die einzuführenden Waren nicht bezahlen. Kredit aber können wir nur von den Ländern bekommen, die allein nach Kriege kapitalstark geblieben sind; vor allem also von England und von Amerika. Die englischen und die amerikanischen Kapitalisten werden aber keinem Lande Kredit gewähren, das ihnen nicht die notwendigen Sicherheiten zu bieten vermag. Sie werden nicht einem Lande kreditieren, in dem der Bürgerkrieg wütet. Sie werden nicht einem Land Kredit gewähren, das heute durch dieses, morgen durch jenes Dekret das Privateigentum aufhebt und die privaten Rechtsansprüche für nichtig erklärt. Die Räterepublik, unfähig, den Kredit der weltbeherrschenden kapitalistischen Länder zu erlangen, ist damit auch unfähig, ihre Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, ihre Industrie  mit Rohstoffen zu versorgen. Die Folge ist gesteigertes Massenelend, verschärfte Hungersnot, fortschreitende Desorganisation des ganzen Wirtschaftslebens. 

Selbst im besten Falle also, selbst wenn die kapitalistischen Länder nicht zu offener Feindseligkeit gegen die Proletarierdiktatur übergehen, sondern ihr nur den Kredit verweigern, für den sie den Kapitalisten keine hinreichende Sicherheit zu bieten vermag, selbst in diesem Falle muß die Räterepublik in unüberwindliche Schwierigkeiten geraten, die ihr der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung schier unmöglich machen müssen. Aber alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß es dabei nicht sein Bewenden haben wird, daß die kapitalistischen Weltmächte vielmehr gegen jede Räterepublik zum offenen Angriff übergehen werden, ganz so wie sie es gegen Rußland und gegen Ungarn getan haben. Denn die kapitalistischen Mächte fühlen durch die Existenz jeder Räterepublik ihre Interessen bedroht. Die besiegten Länder sind Schuldner der Sieger; ihr Staatsbankerott, ihre Einstellung der Schuldenzahlungen, ihre Expropriation des Privateigentums bedeutet daher den Versuch, den Siegern den geschuldeten Tribut zu verweigern. Die Rätediktatur in den besiegten Ländern bringt durch ihr Beispiel auch die kapitalistische Ordnung in den benachbarten kleineren Ländern in Gefahr, die die Sieger als ihre Vasallenstaaten aufgerichtet, als ihre wirtschaftlichen Interessenssphären und als Stützpunkte ihrer politischen Macht geschaffen haben: in Polen, in der Tschecho-Slowakei, in Jugoslawien und Rumänien. Und die Verbreitung der Proletarierdiktatur vom Osten nach dem Westen über immer weitere Teile Europas erschüttert schließlich auch die kapitalistische Ordnung in Italien, in Frankreich, in Belgien und gefährdet damit jene ungezählten Milliarden, die die angelsächsischen Länder diesen ihren Verbündeten geborgt haben. So widerstreitet die bloße Existenz der Räterepubliken den stärksten Interessen der herrschenden Klassen der weltbeherrschenden Staaten; deshalb suchen sie die Räterepubliken durch Blockaden zu erwürgen, durch materielle Unterstützung der Konterrevolutionäre niederzuwerfen. Der unvermeidliche Zusammenstoß zwischen den kapitalistischen Weltmächten und den proletarischen Räterepubliken treibt allerdings die soziale Entwicklung in den noch kapitalistischen Ländern weiter: denn die englische Arbeiterschaft ist erbittert über den Feldzug der englischen Herrenklassen gegen die Räterepubliken und die englische Bourgeoisie muß sie daher durch Zugeständnisse zu gewinnen, durch Beschleunigung der Demokratisierung und Sozialisierung in England selbst zu beruhigen und zu besänftigen suchen. Aber andererseits wird die Not der Räterepubliken durch den Angriff von außen furchtbar verschärft; und wenn auch große Agrarländer wie Rußland, die vom Ausland relativ unabhängig  und von außen her schwer angreifbar [gesperrt gedr.] sind, sich des Angriffs der kapitalistischen Mächte zu erwehren vermögen, so müßten Industrieländer wie Deutschland und Deutschösterreich, die amerikanischen Lebensmittel und Rohstoffe, amerikanischen und englischen Kredit, amerikanischen und englischen Schiffsraum nicht entbehren können, diesem Angriff bald und unvermeidlich erliegen. 

Die Verwüstung der Volkswirtschaft durch den Bürgerkrieg im Innern, die Verweigerung der Kredit- und Rohstoffhilfe durch das kapitalistische Ausland, schließlich gar der feindliche Angriff kapitalistischer ausländischer Mächte machen es den Räterepubliken unmöglich, die wirtschaftliche Lage der Arbeitermassen zu verbessern. Der Begeisterung der Arbeitermassen für die Diktatur des Proletariats folgt daher sehr bald die bittere Enttäuschung, die sich gegen die Rätediktatur, gegen ihre unvermeidlichen Begleiterscheinungen, wie den Terror, wie die Aufhebung des Streikrechtes, der Preß- und Versammlungsfreiheit, wie der Rekrutierung zur Roten //Armee, kehrt. Die Diktatur des Proletariats führt schließlich zur Auflehnung des Proletariats gegen die Diktatoren. In Rußland stand im Oktober 1917, in Ungarn im März 1919 sicher das ganze Proletariat hinter der Diktatur: heute sind da wie dort unzweifelhaft schon breite proletarische Schichten in Gegensatz gegen die Räterepublik geraten und der Terror der Diktatoren richtet sich nicht nur mehr gegen die Bourgeoisie und Bauernschaft, sondern auch gegen die opponierenden Schichten des Proletariats. Von außen bedrängt, im Innern von der Bourgeoisie und der Bauernschaft leidenschaftlich bekämpft, schließlich auch von immer breiteren Schichten des darbenden, hungernden, kriegsmüden Proletariats verlassen, verwandelt sich die Diktatur des Proletariats in eine reine Militärdiktatur, die sich auf nichts mehr stützt als auf die Bajonette der durch eiserne Disziplin zusammengehaltenen, durch wirtschaftliche Begünstigungen befestigten Roten Armee. Aber die alte Wahrheit, daß man auf Bajonetten nicht sitzen könne, gilt auch für Räterepubliken. Sobald das Proletariat von den Wirkungen der Diktatur enttäuscht ist und sich gegen die verschärfte Hungersnot und den erneuten Krieg auflehnt, ist die Rätediktatur verloren und die Militärdiktatur der Roten Armee wird abgelöst von der Militärdiktatur der Konterrevolution.  

Auch die Kommunisten wissen sehr wohl, daß die Rätediktatur scheitern muß, wenn sie auf die besiegten Länder beschränkt bleibt. Aber sie glauben, daß die Diktatur in den besiegten Ländern sehr bald die Revolution in den Ländern der Sieger auslösen werde, und darauf stützen sie ihre Hoffnungen. Diese Hoffnung ist trügerisch. Selbst wenn die soziale Revolution wirklich über die besiegten Länder hinaus greifen, selbst wenn sie auch Frankreich und Italien erfassen, auf dem ganzen europäischen Festland triumphieren sollte, selbst dann wäre der Kommunismus nicht gerettet. Denn alle wirtschaftliche Macht ist jetzt in den angelsächsischen Ländern, in England und Amerika, konzentriert; diese Länder allein verfügen über die Rohstoffe, über die Lebensmittel und über den Schiffsraum, die das ganze Festland braucht, und gerade in diesen Ländern fehlen die Voraussetzungen der Revolution. Die soziale Revolution der besiegten, der ohnmächtigen und abhängigen Länder scheitert unvermeidlich an der ungebrochenen Macht des Kapitals in den Ländern, die den Sieg errungen haben und die Welt beherrschen. 

Aber wenn die Diktatur des Proletariats in dem großen Prozeß der Weltrevolution nur eine vorübergehende Phase ist, so ist sie darum doch keine bedeutungslose Phase. Der Krieg hat die Gesellschaft mit ungeheuren Schulden belastet; über den realen Produktivkräften, die den Reichtum der Gesellschaft erzeugen, ist ein ungeheures Gebäude papierener Rechtstitel getürmt. Wo dieser Ueberbau so drückend geworden ist, daß er mit den gesetzlichen Mitteln der Demokratie nicht mehr abgetragen werden kann, dort wird der Bolschewismus unvermeidlich. Er vernichtet alle die papierenen Rechtstitel und zerreißt alle die papierenen Schuldverpflichtungen. Und wenn dann sein Herrschaftssystem wieder zusammenbricht, dann lebt nicht wieder auf, was er zerstört hat. Die Gesellschaft, von der Last jener unerträglichen Schuldverpflichtungen, die der Krieg ihr zurückgelassen hat, befreit, kann nach dem verheerenden und vernichtenden, aber auch reinigenden Sturme darangehen, ihr Wirtschaftsleben von neuem aufzubauen. Der Bolschewismus ist nicht imstande, die sozialistische Gesellschaft aufzubauen; aber wenn einem Lande unerträgliche Last aufgebürdet wird, die dem Wiederaufbau im Wege steht, dann kann er der eiserne Besen sein, der die Last hinwegfegt und dadurch den künftigen Wiederaufbau erst ermöglicht.

Der Bolschewismus ist ein Nachfahre des Jakobinertums vor 1793. Als die Jakobiner die Macht eroberten, glaubten sie durch den Terror des Pariser arbeitenden Volkes eine ewige Gesellschaft der Freiheit und Gleichheit aufrichten und durch ihr Beispiel alle Länder zur Nachahmung zwingen zu können. Darin haben sie sich getäuscht. Die Jakobiner haben kein tausendjähriges Reich der Freiheit und Gleichheit aufzurichten vermocht, und ihr Beispiel ist von den anderen Ländern nicht nachgeahmt worden. Aber wenn die Jakobiner nicht das erreicht haben, was sie zu erreichen hofften, so hat ihre Herrschaft doch anderes erreicht, wovon nichts ahnten: ihre Schreckensherrschaft hat nach Marxens berühmten Worte mit eisernem Besen alle Ueberbleibsel der feudalen Gesellschaftsordnung hinweggefegt und dadurch die Basis geschaffen, auf der nach ihrem Sturze das neue kapitalistische Frankreich aufgebaut worden ist. So wird auch der Bolschewismus nicht das erreichen, was er zu erreichen wähnt; er wird nicht das tausendjährige Reich einer kommunistischen aufzubauen vermögen. Aber wo unerträgliches Kriegsergebnis und unerträgliche Friedensbedingungen der Gesellschaft ein Erbe hinterlassen, das sie zu erdrücken droht, dort wird seine vorübergehende Herrschaft dieses Erbe hinwegfegen, um den Boden zu reinigen, auf dem erst nach seinem Zusammenbruch in planmäßiger demokratischer Arbeit die neue soziale Ordnung wird aufgebaut werden können. 

In: Arbeiter-Zeitung, 28.6.1919, S. 1-2.

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