Raoul Auernheimer: Börsenjugend

Zwei bescheidene Erinnerungen mögen dieser bescheidenen Zeitbetrachtung vorangehen.

Die eine liegt ungefähr fünfzehn Jahre zurück und rankt sich um einen allerdings nicht sehr hoch gewachsenen deutschen Dichter der damaligen Zeit, der zur Aufführung eines seiner Reimlustspiele am Burgtheater nach Wien gekommen war und dem in einer gewählten Gesellschaft zu begegnen ich das Glück hatte. Jener deutsche Dichter war zu jener Zeit kein jungen Mann mehr, er stand vielmehr bereits in den gewissen reiferen Jahren, die man in Nekrologen gern mit einiger Übertreibung als „Vollkraft des Schaffens“ bezeichnet. Sein Schaffen war nicht unbelohnt geblieben, und da nichts umsonst ist, am wenigsten der Gelderwerb, so ist es begreiflich, daß der gefeierte Autor in den Kreisen der damaligen literarischen Jugend mehr für einen Geschäftsmann als für einen im Blauen schwärmenden Poeten galt. Immerhin war ich enttäuscht, als ich sein erstes Wort vernahm, das im Rauchzimmer noch vor dem Nachtmahl fiel. Er stand schweigend abseits, an den Türpfosten gelehnt, und schien, die Augen nach aufwärts gewandt, wie es sich für einen deutschen Dichter gehört, an dem Gespräch keinen Anteil zu nehmen, das mehrere Herren, unter dem Kronleuchter dicht beisammen stehen, über die neue Russenanleihe – ein fernes Wort! – fachkundig führten. Der Dichter gab sich den Anschein, gar nicht zuzuhören, mußte aber doch auf dem Laufenden sein, denn plötzlich trat er unter die Kritiker jener Anleihe und sagte, das ganze Gewicht eines hochangesehenen Namens in die Wagschale werfend: „Und Sie mögen sagen, was Sie wollen, meine Herren: Es ist doch’n Geschäft!“ Die letzten, in unverkennbarem Berliner Tonfall gesprochenen Worte blieben mir in Erinnerung, verschmolzen mit der Persönlichkeit ihres Urhebers, und wann immer ich in der Folge Verse von ihm irgendwo hörte oder las, immer mischte sich in das poetische Reimgeklingel des achtbaren Mannes jener zuerst gehörten Worte fatales Nebengeräusch: “Es ist doch’n Geschäft!“

             Die zweite Erinnerung liegt ungefähr vier Jahre zurück und hat mit Literatur noch viel weniger zu tun. Sie betrifft einen damals halbwüchsigen Gymnasiasten, der, inmitten einer größeren Gesellschaft, in der gleichfalls eifrig finanzielle Fragen erörtert wurden, plötzlich aus sich heraustrat und sein Vertrauen zu einem in Rede stehenden Börsenpapier in einer Weise kundgab, die auf eine längere Erfahrung und gründliche Beschäftigung mit diesem Gegenstande schließen ließ. „Meiner Ansicht nach,“ sagte der Sechszehnjährige mit der ruhigen Bestimmtheit eines Bankdirektors, „haben Reisschäl-Aktien noch immer eine Zukunft. Ich halte das Papier.“

             Die beiden Erinnerungen haben das Gemeinsame, daß sie sich seither verallgemeinert haben. Weder aus Dichtermund noch aus dem Munde unserer aufblühenden Jugend haben Börsenkurse heut noch etwas Überraschendes, am wenigsten aus diesem. Allenfalls wird man es erstaunlich finden, das erste erwachen derartiger Regungen einer finanziellen Pubertät an das verhältnismäßig vorgerückte Alter von sechzehn Jahren gebunden zu sehen. Die heutige Börsenjugend fängt im allgemeinen schon bedeutend früher an; nicht nur, daß ihre frühe geschäftliche Weisheit das Erscheinen der Weisheitszähne nicht abwartet, sie verträgt sich unter Umständen auch recht gut mit dem noch weit kindlicheren Stadium der Milchzähne. Man erzählt mir von einem dreijährigen Zeitkind, dem sein Vater oder Taufpate bei der Geburt ein paar Lire in die Wiege gelegt hat. Der Kurs der Lire hat sich in diesen drei Jahren nicht unerheblich verändert, wie sogar die Erwachsenen bemerkt haben, und so ist es begreiflich, daß der aufgeweckte Sprößling sich bei erwachendem Bewußtsein seines zunehmenden Reichtums bewußt wurde. In jüngster Zeit soll sich dieses Valutakind bereits aus eigenem Antrieb nach dem täglichen Stand der Lire bei Besuchern des Kinderzimmers erkundigt und am Ende auf Grund reiflicher Erwägung, vielleicht mit Rücksicht auf den italienischen Kredit, zum Verkauf seiner kostbaren Lire entschlossen haben. Man kann den kleinen Dreikäsehoch zu dieser hochherzigen Handlungsweise nur beglückwünschen, selbst wenn sie mehr geschäftlichen Erwägungen – etwa einer möglichen Valutaanforderung durch den bösen, bösen Finanzminister? – entsprungen sein sollte. Wenn sie bei den Erwachsenen Nachahmung fände, so wären wir wahrscheinlich fein heraus. Aber die Erwachsenen denken nicht daran. Sie behalten ihre Valuten und spekulieren weiter gegen den Staat, das heißt, auf sein Zugrundegehen. Das gilt ja heut in eingeweihten Kreisen als die sicherste Kapitalanlage. …

             Denn es ist keine Frage, daß das Spiel der Kinder – wenn ich sage Spiel, meine ich natürlich Börsenspiel – in dem Spiel der Erwachsenen seinen, wenn auch nicht gerade moralischen Hintergrund hat. Es ist wie in der „Familie Benoiton“, einem alten Burgtheaterlustspiel, das, wenn man es wieder aufführte, überraschend jung und zeitgemäß wirken dürfte. Dort tritt ein Freier auf, der in eine der Töchter des Börseanerhauses verliebt ist. Er begegnet zunächst ihrem Brüderchen, dem fünfzehnjährigen Fanfan, und er benützt die sich ihm bietende Gelegenheit, um sich über die Sitten der Familie ein wenig zu unterrichten. Wenn dann fünf Minuten später Papa Benoiton nach Hause kommt, weiß der neugierige Freier bereits genug, und wenn Fräulein Benoiton gleich darauf selbst erscheint, so viel, daß er beherzt die Flucht ergreift. Der kleine Fanfan macht Geschäfte, versteht sich, Börsengeschäfte. Er spekuliert in Briefmarken, und zwar à la hausse – „immer à la hausse!“ ruft der Erzeuger dem „auf die Börse“ eilenden Sprößling mahnen nach – und er hat sich in diesem Zusammenhang einen ganz hübschen, räuberischen, kleinen Plan zurechtgelegt, um die „anderen kleinen Börseaner“ hineinzulegen. Der Fischzug, den Fanfan mit einem Konsortium seiner Altersgenossen plant, hat zur Voraussetzung die väterliche Information, daß im Amerikanischen Freiheitskriege – die Zeit der Handlung – die Südstaaten voraussichtlich unterliegen würden. Fanfan macht sich diesen Wink zunutze und kauft heimlich im Verein mit seinem Konsortium alle südamerikanischen Markenzeichen auf, deren es in Bälde keine mehr geben wird und die infolgedessen einer ungeheuren Wertsteigerung entgegengehen. Auf diese einfache Weise hofft Fanfan, reich zu werden, und reich zu sein, ist der einzige Traum dieser jungen Knabenseele, wie seiner heutigen Nachfahren. Er „liebt die reichen Leute“, weil sie, wie er dem Besucher naiv gesteht, „so schöne Wagen, so schöne Wohnungen und Kleider haben“. Sein Ideal ist die väterliche Kasse, eine schwere „eiserne Kasse mit einem Geheimschloß“, und seine größte Kränkung, daß seine Kasse aus Holz ist und nur ein ganz gewöhnliches Schloß hat. … Wenn man an Stelle der unschuldigen Briefmarken in dieser hübschen Szene den Namen irgendeines unserer Spielpapiere setzt und Fanfan um zwei Jahre jünger macht, so hat man ein ziemlich ähnliches Bild unserer heutigen Börsenjugend, ähnlich genug, um darüber zu lachen und vielleicht sogar, um darüber zu weinen. Übrigens ist die erste der beiden dramaturgischen Verbesserungen vielleicht gar nicht einmal unbedingt notwendig. „Man kann mit allem wuchern, auch mit Menschenleben“, sagt Hebbels Herodes. Man kann, wie unsere Philatelisten aus Erfahrung wissen, auch an Briefmarken ein schönes Stück Geld verdienen.

             Im Verlauf der Szene, die uns die Seele des Bürschchens Fanfan entschleiert, entdeckt uns auch der wackere Papa Benoiton die seine, und auch diese Stelle liest sich heute sehr anzüglich. Papa Benoiton seinerseits hat in seiner Jugend keineswegs mit Wertpapierchen gespielt, sondern mit Bleisoldaten und kleinen Kanonen. Aber die schlechten Erfahrungen, die man mit der militärischen Gloire gemacht hat, haben ihm die Grundsätze einer ganz anders gerichteten Erziehung eingegeben. Sie beruht auf einem offen eingestandenen Materialismus. Als Fanfan klein, das heißt, als er noch kleiner war, spielte er mit einer kleinen Wage, einem kleinen Kompaß, einer kleine Geldkasse. Sein Sinnen und Trachten ist auf das Gegenständlich-Nützliche, dem materiellen Genusse Dienliche gerichtet. Diese Einstellung ist am Ende nichts anderes als der natürliche Rückschlag gegenüber der unklaren militärischen Gloire, die Abkehr von den Sünden des Militarismus.

             Ähnlich, wenn auch nicht ganz gleich, liegen die Verhältnisse im heutigen Österreich, und nicht nur in Österreich. Auch wir haben die längste Zeit mit Bleisoldaten gespielt, und es ist am Ende nicht zu verwundern, daß die Kinder wie die Erwachsenen an diesem Spiel gründlich die Lust verloren haben, und, bitter enttäuscht, in die platte Welt der Geschäfte flüchten. Der jetzigen Börsenjugend ging eine Heldenjugend voran, die für unbezahlte und unbezahlbare Ideale glühte und daran verbrannte. Damals in jener heut schon märchenhaft fernen Zeit des kriegerischen Seelenaufschwunges, war das erste Wort, das die von der Mutterbrust abgesetzten kleinen Kinder aussprechen lernten, das Wort „Brotkarte“. Heut ist es das bedeutend ausländischer klingende Wort „Valuta“. Noch früher, vor der Brotkarte, war der erste artikulierte Laut hergebrachter Weise „Papa“. Es war eine noch regelmäßige Welt, die fest gefügt in festen Formen bestand, und es ist begreiflich, daß sie heute vielen als eine ideale Welt erscheint. Allein auch dieses patriarchalische „Papa“-System hat, wie sich gezeigt hat, seine bedenklichen Nachteile. Das patriarchalische System ist das absolutistische und ein schlecht beratener Absolutismus – jeder Absolutismus ist seine Natur nach schlecht beraten, weil er sich nur von Günstlingen, die sich ihm unterwerfen, beraten läßt – hat uns am Ende soweit gebracht. Die Verdienermoral hat jede andere beerbt und die grünste Jugend schwelgt in Börsenkursen, an den sie die Erwachsenen sich begeistern sieht. Die jungen Mädchen haben ihr Bankkonto bei irgendeinem kleinen und manchmal auch jungen Bankier, dessen Adresse die Eltern nicht immer kenn, die Gymnasiasten lesen den Kurszettel unter der Bank, und in die erste Liebeserklärung mischt sich der letzte Tip. Alles gibt, alles nimmt, und alles verdient, wenn auch nur in Kronen – ein Trost, wenn auch nur ein schwacher, für den Moralisten.

             Im übrigen hat es der Moralist in diesem Punkte, wenn er gerecht urteilen will, nicht ganz leicht, schwerer jedenfalls als der alter Macher Sardou, der sich in jenem Stücke über ähnliche Erscheinungen der Aufschwungs- und Gründerzeit einfach lustig machte. Daß die Jugend selbst für diese Ausartung am wenigsten verantwortlich zu mache ist, liegt auf der Hand. Auch hier bestätigt sich die volkstümliche Weisheit von den Jungen, die nur zwitschern, wie die Altern sungen. Die jungen Mädchen, die für ihre laufenden Toilettebedürfnisse ihr Börsenkonto bei dem manchmal nicht ganz ungefährlichen kleinen Bankier sorgen lassen, haben fast immer eine Mutter, die selbst an der Börse spielt, das Valutakind hat meisten einen Valutaonkel, und der Geschäfte machende Gymnasiast, der jederzeit einen guten Börsentip, wenn nicht gar Rohöl oder Gummireifen „an der Hand“ hat, ahmt in neun unter zehn Fällen nur das väterliche Beispiel nach. Aber auch die Väter und Mütter sind nur halb verantwortlich zu machen; die andere größere Hälfte der Verantwortung trifft den Staat, der durch die ständige Geldverschlechterung das Börsenspiel geradezu zu einem Akt der Selbsthilfe und überdies – da man sich auf die Notenpresse verlassen kann – zum ungefährlichsten aller Glücksspiele gemacht hat. Allenfalls kann man den Eltern daraus einen Vorwurf machen, daß sie ihre Hoffnungen und Sorgen etwas zu ungezwungen im Beisein der unmündigen Jugend (wenn es so etwas überhaupt noch gibt) erörtern.  Etwas mehr Zurückhaltung und – Geschmack wäre in dieser Hinsicht den Erwachsenen dringlich zu empfehlen. So wie man sich in Gesellschaft nicht kratzt, sollte man auch nicht fortwährend über Börsenkurse reden, zumindest in jener Gesellschaft, die den Ehrgeiz hat, auch noch etwas anderes zu sein als eine Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaft zur Auswertung des jüngsten Börsentips. In den preußischen Offiziersmessen der Vorkriegszeit entstand die sinnreiche Einrichtung, daß jeder, der nach neun Uhr abends im kameradschaftlichen Beisammensein das Wort „Dienst“ gebrauchte, eine kleine Geldbuße in die Regimentskasse zu entrichte hatte. Eine ähnliche Einführung sollte man auch in Bezug auf Aktien und ähnliche Dinge in unseren Abendgesellschaften treffen – nur dürfte die Buße nicht zu klein sein. Allerdings müßte man nebst dieser Geselligkeitsakte auch noch einige andere Gesetze schaffen: vor allem eines, das die Spekulation in ausländische Valuten, das heißt die Spekulation auf den Zusammenbruch des eigenen Staates, endlich als dasjenige brandmarkt, was sie tatsächlich ist, nämlich ein Verbrechen; (Mit Schreckgesetzen ist leider, wie tausendfache Beispiele der Geschichte zeigen, die Spekulation niemals unterdrückt worden. Anm. d. Red.) und ferner eines, das das wüste Rasen der Notenpressen, diese Affenschande der Besiegten, endlich kategorisch abstellt. Geschähe dies, so würde auch unsere verjobberte Jugend wieder idealistisch werden: sie ist es im Grunde, und man muß ihr nur die Gelegenheit geben, es zu sein.

In: Neue Freie Presse, 9.7.1922, S. 1-3.

Grete Urbanitzky: Berichte aus der Wirklichkeit

             Reportage, eine in Frankreich und Amerika längst anerkannte Kunstgattung, beginnt nun auch bei uns, besonders seit den Bemühungen von Egon Erwin Kisch, ernst genommen zu werden. Man lernt die schwindelhaft aufgemachten Sensationsberichte gewisser Blätter von den Berichten aus der Wirklichkeit zu unterscheiden, die die Erzeugnisse verantwortungsbewußter Journalisten und Schriftsteller sind und dem denkenden Zeitgenossen das wirkliche Leben der Gegenwart in packenden Bildern nahebringen. Darum ist das neue Unternehmen des Verlags „Die Schmiede“, Berlin, sehr zu begrüßen, eine Reihe unter dem Titel „Berichte aus der Wirklichkeit“ herauszubringen. Selbstverständlich ist Egon Erwin Kisch in dieser Sammlung vertreten, der in seinem „Kriminalistischen Reisebuch“ eine Schilderung der Verbrechen aller Zeiten und Länder gibt, die von ihrem Verfasser an ihren Schauplätzen aufgesucht und aufgeklärt wurden. Der Leser erhält durch dieses Buch unmittelbaren Einblick in die romantische und doch sachliche Arbeit des Reporters großen Stils.

             Erschütternd wirkt die von Hans Siemsen herausgegebene Briefreihe „Verbotene Liebe“ – Briefe eines Homosexuellen. Das Wesentliche an diesem Buche, dem Hans Siemsen ein ausgezeichnetes Nachwort über das Problem an sich gibt, ist, daß es den Homosexuellen nicht als einen anderen Menschen zeichnet, sondern erkennen läßt, daß auch diese Liebe dieselben Verwicklungen, dieselbe Tragik und die gleiche Naivität kennt, wie die sogenannte normale. Wüßte man nicht, daß diese Briefe von einem Homosexuellen geschrieben sind, so könnte man das Schicksal dieses Knaben, der unter die Räder eines nur allzu gewöhnlichen Liebesschicksals gerät, als das eines jungen Mädchens ansehen. Leo Lania schildert in „Indeta“ – Die Fabrik der Nachrichten“ ein großes Korrespondenzbureau. Obwohl sich hinter der Indeta keine bestimmte Telegraphenagentur verbirgt, wirft das Buch dennoch scharfe Schlaglichter auf das Wesen und die Organisation des modernen Nachrichtendienstes überhaupt.

             Der französische Dichter Pierre Mac Orlan erzählt in dem Bändchen „Alkoholschmuggler“ von der großzügigen Organisation der Steuerhinterziehung um billigen, für Fabrikationszwecke freigegebenen Spiritus als teuren Alkohol in den Handel zu bringen. Das Buch gewährt einen Einblick in die sehr interessante Welt großzügiger Schiebungen. Als schwächstes Bändchen erscheint mir Eduard Trautners „Gott, Gegenwart und Kokain“, das eine Reihe von Menschen zeichnen will, die dem Giftgenuß verfallen sind und an ihm zugrundegehen. Die Darstellung dringt nicht zum Wesentlichen vor, sondern gibt lediglich Phantasien über das Thema. Wenn aber alle Bändchen der Reihe schwächer wären, so wäre die Berechtigung eines derartigen Versuches, Berichte aus der Wirklichkeit zu geben, allein durch eines aus der Sammlung erwiesen, durch das wundervolle Buch Joseph Roths „Juden auf Wanderschaft“. Wie der Verfasser ausdrücklich betont, wendet es sich nicht „an jene Westeuropäer, die aus der Tatsache, daß sie bei Lift und Wasserklosetts aufgewachsen sind, das Recht ableiten, über rumänische Läuse, galizische Wanzen, russische Flöhe schlechte Witze hervorbringen“. Der Verfasser wendet sich an jene Leser, „vor denen man die Ostjuden nicht zu verteidigen braucht; Leser, die Achtung haben vor Schmerz, menschlicher Größe und vor dem Schmutz, der überall das Leid begleitet: Westeuropäer, die auf ihre sauberen Matratzen nicht stolz sind, die fühlen, daß sie vom Osten viel zu empfangen hätten, und die vielleicht wissen, daß aus Galizien, Rußland, Litauen, Rumänien große Menschen und große Ideen kommen“. Der Westeuropäer pflegt über Bericht über die Wesenheit der Ostjuden mit einem Achselzucken hinwegzugehen, der Ostjude ist für ihn „entdeckt“, und ahnt nicht, welche geheimnisvolle Welt in seiner Nähe ihm noch völlig unerschlossen ist. Was Joseph Roth von der Sehnsucht des Ostjuden nach dem Westen erzählt, von den jüdischen, kleinen Städtchen, von dem Leben der Ostjuden in ihrer Heimat, von den Chassidims, den orthodoxen Juden, die die praktische Idee des Zionismus nicht verstehen können, das rührt tief an unser Herz und enthüllt uns eine fast unbekannte, geheimnisvolle Welt. Besonders interessant ist, was Joseph Roth über die westlichen Ghettos zu erzählen hat, über das Schicksal der Juden in Berlin, Paris, Amsterdam, Marseilles, in Amerika, in Sowjetrußland. Ein bitteres Wort steht in diesem Buche, das Wien nicht zur Ehre gereicht: „Es ist furchtbar schwer, ein Ostjude zu sein; es gibt kein schwereres Los als das eines fremden Ostjuden in Wien.“ Voll Hoffnung blickt der Verfasser nach Sowjetrußland, wo die Judenfrage gesetzlich gelöst wurde: „Jeder muß achtungsvoll zusehen, wie ein Volk befreit wird von der Schmach zu leiden, und ein anderes von der Schmach, zu mißhandeln“.

             Es sei noch bemerkt, daß der Verlag „Die Schmiede“ die Pappbändchen seiner Serie mit dem billigen Preis von 1.80 Mark in den Buchhandel bringt.

In: Der Tag, 8.7. 1927, S. 10.

Klara Mautner: Bildergalerie der Straße

Man spricht sehr viel von Wiener Plakatkunst. Nicht jedem ist es gegeben, die künstlerischen und technischen Werte würdigen zu können, die sie bietet. Aber jeder Mensch mit klarem Blick und gesundem Urteil ist imstande, den moralischen Qualitäten der Plakate, die jetzt unsere Straßen säumen, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Man hastet nur zumeist rasch daran vorüber und nimmt sich nicht die Zeit zu näherer Betrachtung. Das heißt: wir Erwachsenen nehmen sie uns nicht. Die Heranwachsenden, die Schuljugend hat Muße genug, dazu und versäumt es gewiß nicht, die Bildergalerie der Straße liebevoll und sorgsam zu studieren und sich alle die Gemeinheit, Lüsternheit, deutlicher oder minder deutlich vertretene Erotik gründlich zu Gemüte zu führen. An Gelegenheit fehlt es wahrhaftig nicht. Da ist ein Pärchen in engster, absichtlich ungeschickter Tanzverschlingung zu sehen, dort fuchtelt ein ziemlich unbekleidetes Frauenwesen mit den Beinen in der Luft herum, hier streichelt eine Schöne ein Miniaturmännchen auf ihrem Schoß, auf jedem Ballplakat halten Männlein und Weiblein einander eng umschlungen und die Männer haben einen Ausdruck im Gesicht, daß man sich zu einer Ohrfeige veranlaßt fühlte. Natürlich können auch die Kinos in diesem Wettbewerb nicht zurückbleiben, das ist von vornherein einzusehen. Sie tragen ihr redliches Teil dazu bei, die Straßenausstellung für Halbwüchsige anziehend und lehrreich zu gestalten. Daß manche dieser Plakate flott gezeichnet, witzig und elegant sind, soll nicht geleugnet werden. Aber diese künstlerische Qualität (die übrigens beileibe nicht alle auszeichnet), kann mit der Tatsache nicht versöhnen, daß sauber empfindende Frauen – es gibt ja auch das noch in Wien – die Mehrzahl der angebrachten Plakate nicht näher ansehen können, ohne vor Scham und Zorn rot zu werden. Man muß ja durchaus kein Mucker sein, um an den verschiedenen Plakaten für Bälle, Vergnügungsetablissements usw. Anstoß zu nehmen. Dabei kann man dieser Schaustellung auf keine Art entgehen und es gibt auch kein Mittel, Kinder und Halbwüchsige von ihr fernzuhalten.

            Welchen Eindruck es auf die Fremden machen mag, in einer Stadt, die in der ganzen Welt für ihre Hungernden gebettelt hat und weiter bettelt, alle Bretterwände mit Darstellungen wüstesten Lebensgenusses beklebt zu sehen, in der „sterbenden Stadt“ Plakate zu finden, deren sich keine Matrosenkneipe und kein Bordell zu schämen hätte, läßt sich leicht vorstellen. Was hilft es, wenn man noch so nachdrücklich darauf hinweist, daß die arbeitende Bevölkerung Wiens neben dem fidelen Schieberpack im bittersten Elend lebt. – die bunten Bilder sprechen gegen uns. Sie zeugen uns, weil wir sie dulden, weil wir aus Trägheit, Achtlosigkeit, Stumpfheit, diesem offenkundigen Unfug nicht entgegentreten. Die hohe Obrigkeit aber, sorgsame Hüterin unserer Sittsamkeit, die vor keinem Mittel zurückschreckt, eine bedenkliche Theatervorstellung, die zu besuchen wahrhaftig niemand gezwungen ist, findet es ganz selbstverständlich, daß sich an allen Straßenecken schamlose Gemeinheit breitmacht.

In: Wiener Morgenzeitung, 13.03.1921, S. 8.

Klara Mautner: Die den Hungertod sterben. Ein Blick in ein Elendsheim

            In einem Kaffeehaus am Schottenring hat gestern ein Börsenbesucher im Ecartéspiel in der Zeit von sieben bis neun Uhr abends 700.000 Kronen verloren. Sein Nachbar hat im Laufe der letzten acht Tage an Julisüd-Aktien etwa zwei Millionen Kronen eingebüßt. Der dritte Partner, der sich an der Konterminespekulation mit Julisüd beteiligt hat, hat ein Sümmchen von etwa sieben Millionen Kronen eingesteckt.

            Im Hause Straußgasse 15, dem Heime der Altershilfe sind im letzten Jahre vier Personen im Alter von 80 bis 95 Jahren nach akquirierter Knochenerweichung wirklich und buchstäblich den Hungertod gestorben. Und das kam so:

            Es ist wie gesagt das Heim der Altershilfe. Ein altes 80jähriges Fräulein, die vergangene Weihnachten in aller Stille und Diskretion den Abschied vom irdischen Dasein genommen hat.

Sie war die Tochter eines Kaufmannes, stand seit einem Menschenalter allein in der Welt und lebte von den Zinsen eines Vermögens, das uns jetzt winzig erscheint, früher aber ganz ansehnlich war. Lebte recht behaglich und legte namentlich auf bescheidene Tafelfreuden, ein Gläschen „Damenlikör“, ein bißchen feines Backwerk und ihren dreimal heiligen Jausenkaffee viel Gewicht. „Essen und Zeitunglesen“ pflegte sie zu sagen, „das sind ja die einzigen Freuden für uns alle.“ Als der Krieg begann, wurde ihr die Zeitung verleidet. Und schon im zweiten Kriegsjahr mußte sie ihr Kapital angreifen. Dann ging es reißend weiter. Beim Kriegsende war vom Besitz des alten Fräuleins nicht mehr viel übrig. Nun begann das Verkaufen. Mit den feinen Bissen war es natürlich vorbei, aber für etwa zwei Jahre reichte es doch. Dann legte sich die alte Dame hin und starb an der „Wiener Krankheit“, wie der Arzt voll Bitterkeit sagte, am Hunger. Die alte Frau, die sie früher „bedient“ hatte und die auch jetzt noch manchesmal nach ihr sah, die sagte nachher, sie hätte wohl acht Tage lang nichts mehr zu essen gehabt. War sie auch achtzig und der Knochenmann in keinem Fall gar weit – Hungers sterben ist ein harter Tod.

            Andere sind noch nicht so weit. Da ist ein alter Rentner. Welche Vorstellung behaglicher Altersfreuden schließt das Wort nicht in sich! Sie hatten auch ein Menschenleben lang auf die Verheißung hin gespart und gedarbt, gerechnet und entbehrt, die beiden Leutchen. Durch 35 Jahre war der Mann Tag um Tag in die Fabrik gegangen – er war Maschinenbauer – durch 35 Jahre hatte die Frau den Ankauf jedes Bandes und jedes Dekagramm Butter sorgsam dreimal überlegt. Dann hatten sie so viel beisammen, daß sie eine Leibrente von 250 Kronen im Monat kaufen konnten. Für bescheidene Menschen bedeutete das wenn nicht Überfluß, so doch Behagen, Sorgenlosigkeit. Nun müssen die beiden Leute mit diesem Bettel ihr Auslangen finden. Der Mann hat eine schwere Operation hinter sich und ist völlig erwerbsunfähig, die Frau steht in hilfloser Verzweiflung den ins unbegreifliche verzerrten Verhältnissen gegenüber. Sie war immer eine Meisterin der echten Wiener Hausfrauenkunst, des „Einteilens“. Aber hier versagt auch diese Meisterschaft. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, bei diesen Einnahmen auch nur die rationierten Lebensmittel zu kaufen und daß ein Ding der Unmöglichkeit ist, mit diesen rationierten Lebensmitteln satt zu werden, muß wohl nicht erst bewiesen werden. Aber wo steht es denn auch geschrieben, daß zwei Arbeitsveteranen satt werden müssen?

            Für ein altes Fräulein, Tochter eines hohen Staatsbeamten, gesellt sich zum Hunger noch ein weiteres schwieriges Problem. Sie hat bisher trotz ihre 69 Jahre bei Bekannten im Haushalt wacker mitgearbeitet. Nun brauchen die eine jüngere Hilfskraft und die kleine zarte Alte wird nächste Woche obdachlos sein. Von der staatlichen „Gnadengabe“ von 127 Kronen im Monat kann sie die Kosten einer Wohnungsschieberei nicht bezahlen. […]

In: Der Morgen. Wiener Montagblatt, 23.5.1921, S. 3.

 Klara Mautner: Beim Wäscheflicken

Offen gesagt, habe ich niemals zu jenen Patenthausfrauen gehört, die nach einem einzigen Blick auf ein schadhaftes Taschentuch mit unfehlbarer Sicherheit sagen konnten, ob Stopfwolle 120 oder 116t/s das richtige Heilmittel sei und die beim Einsetzen von Flecken „Fäden zogen“, um die Naht nur ja gerade herauszubringen. Aber wenn mir auch die stürmische Begeisterung fehlte, so war das Flicken in der guten alten Zeit doch auch nicht jene kunstlose Beschäftigung, zu der es jetzt geworden ist.

            Schon die Einleitung zur Arbeit ist niederdrückend. Man stellt beim Bügeln der Wäsche mit stiller Befriedigung fest, daß so ziemlich alle Flecken, die man das vorige Mal eingesetzt hat, wieder zerrissen sind. Es gibt zwar reizende Abwechslung dabei. Bei dem einen Wäschestück ist im Fleck selbst ein mächtiger Riß (kein Wunder, war doch besagter Flecke ein alter Hemdärmel), bei dem anderen befindet sich der mächtige Riß nicht nebenan. Eine gewisse sanfte Prüfung des Herrenhemdes ergibt, daß es noch „fast tadellos“ ist. Wenn ich den Rücken einsetzen, die Brust erneuern und den oberen sowie unteren Teil der Aermel frisch geben werden, wozu dann selbstverständlich eine Kragenleiste gehört, so ist es gar nicht ausgeschlossen, daß mein Mann das Prachtstück zwei Tage tragen kann, ohne daß seine Ellbogen fürwitzig ans Licht drängen oder sein Rücken die nähere Bekanntschaft des Rockfutters macht. Ein Ziel, des Schweißes Edlen wert. Also an die Arbeit. Der Fleckerlbinkel, Schatz jeder Hausfrau, trete in die Arena.

            Der Fleckerlbinkel erscheint. Er ist ein Schatten seiner selbst geworden, mager wie ein Kopfarbeiter, ausgeplündert wie die Wiener Kunstsammlungen. Ich wühle in dem rot-weiß gestreiften Polsterüberzug, der selbst eine wehmütige Erinnerung bedeutet, ist er doch der letzte von dem Dutzend der Ueberzüge fürs „Mädchenbett“. Er hatte elf leuchtende Schwestern – sie sind effektvolle Sommerkleider und ein Pyama geworden. Jetzt sind sie verschwunden wie die Hausgehilfin selbst und nur jene stolze Säule blieb. Der Inhalt des Fleckerlbinkels ist in ähnlichem Verhältnis zusammengeschmolzen. Außer ein paar Resten von Wiener Werkstättenkreton, etlichen bunt geblumten Bändern, einem Stück giftgrünen Satins und einer grün-gelb gestreiften Waschseide sind nur winzige Fleckchen der verschiedensten Kleidungsstücke vorhanden. An größeren Flecken gibt es sonst nur noch ausrangierte Wäschestücke, von denen der eine oder der andere Teil noch verwendbar ist. Man nimmt also aus einem Polsterüberzug ein Stück zum Hemdenflicken oder man setzt vom „Stock“ eines Hemdes einen „Spiegel“ ein. Beides ist ganz gleich aussichtsreich – es hält drei Tage. Und nun gar das Stopfen von Taschentüchern, Geschirrtüchern, die nichts als ein einziger Riß sind und nach Pensionierung schreien wie ein Hofrat mit vierzig Dienstjahren! Man weiß wahrhaftig nicht, wo man anfangen soll zu flicken, zu stopfen, zu bessern, denn eigentlich sollte sich von Rechts wegen der Fleck über das ganze Tuch erstrecken.

            Aber es ist auch ganz gleichgültig, wo man anfängt; aus der nächsten Wäsche kommt das Stück ja doch wieder als Invalide. Um so mehr als der Zwirn, den man jetzt um teures Geld kauft, einfach den Anforderungen der Zeit nicht gewachsen ist und jede zweite Naht aufreißt. Knöpfe, die man sorgsam annäht, hüpfen graziös davon, und zwischen Wäschebändchen und dem Zwirn, der sie festhält, herrscht ein edler Wettstreit: Wer der erste sein soll, den Dienst zu kündigen.

            Das aber macht das Wäscheflicken zu einer so trostlosen Beschäftigung, das läßt jede Arbeit zur Heilung der Wäscheschäden als übelste Zeitverschwendung erscheinen. Denn was hilft’s, daß ich die Löcher in den Socken mit „Strickstopf“ kunstgerecht und mühsam ausbessere. Morgen bringt sie mir mein Mann ja doch mit diesem anklagenden Blick und macht mit den Zehen „Bewegung in freier Luft“. Das ist vielleicht für die Zehen sehr erfreulich, für mich aber nicht, denn es bedeutet, daß die neue, sündhaft teure Stopfwolle auch nur eine schöne Illusion und – Papier ist.

            Und wenn ich so zwischen den Wäscheinvaliden sitze, bald dieses bald jenes unentbehrliche Stück in die Hand nehme, mich aber doch nicht zum Flicken entschließen kann, weil ich die Aussichtslosigkeit des Beginnens erkenne, dann überkommt mich das heiße Verlangen, meine gesamte Wäsche zusammenzupacken und – in den Fleckerlpack zu schieben. Denn dort gehört sie von Rechts wegen hin.

In: Neues Wiener Journal, 27.08.1921, S. 13.

Max Winter: Fremdenführung

            Das Ausland wird nicht müde, Wiens Elendsbilder zu schauen. Woche um Woche neue Gäste, die meist aus ernster sozialer Anteilnahme heraus oder wenigstens beseelt von Mitleid und Hilfswillen kommen, um sich durch Augenschein zu überzeugen, wie es bei uns geht oder daß es oft schon nicht mehr geht. Aerzte, Politiker, Schriftsteller, Frauen, Gemeindeverwalter sind es, die zu uns kommen. Bei solchen Wanderungen macht auch der Führer mancherlei Erfahrungen. Immer wieder in das Elend hineinleuchten, es immer wieder sehen – das schärft das Gewissen und läßt einen nicht verzagen, wenn man manchmal auch von Kleinmut gepackt wird, daß es so gar nicht vorwärts gehen will. Es sind schreckliche Bilder, die es da oft zu schauen gibt.

*

            Ein Besuch im „Erbsienhaus“. Das Haus „zum Bienenstock“ in der Schimmelgasse ist noch immer so, wie es vor zehn, wie es vor fünfzehn, vor fünfundzwanzig Jahren war. Immer noch dieselben Menschenkerker vom Parterre durch vier Stockwerke bis unter das Dach. Tür an Tür! Und hinter jeder eine einfenstrige Kammer und jede dieser Kammern die Wohnung für eine Familie. Im Volksmund heißt es „Erbsienhaus“. Dahin begehrte unlängst ein englischer Lord geführt zu werden. Alles, was er vorher an Elend im Lichtental gesehen hatte, fand seine – Anerkennung. Alles erschien ihm so rein. Kein Vergleich mit den Londoner „Slums“, wie die Wohnhöhlen in London-Ost heißen. Nur in die letzte Lichtentaler Behausung war er mit Widerstreben eingetreten, in dieses eine Zimmer, das Koch-, Schlaf-, Speise- und Krankenraum einer siebenköpfigen Familie zugleich ist. Aber außer dem leichten Widerstreben, hier einzutreten, hatte nichts eine stärkere Anteilnahme verraten. Der Lord hatte im englischen Oberhause vordem eine Rede zu Gunsten Wiens gehalten und England aufgerufen, die Bundeshauptstadt Oesterreichs nicht im Stiche zu lassen. Nun wollte er sein Gewissen beruhigen, ob er nicht zu viel über Oesterreichs Elend gesagt hatte. Darauf war wohl seine Zurückhaltung zurückzuführen. „Das alles ist nichts, was wir nicht auch in London hätten.“ Aus seinen Mienen war es auch nun zu lesen, als er aus dieser Wohnung trat, daß er insgeheim so dachte. Fast wäre man versucht gewesen, sich zu entschuldigen, daß das Wiener Elend „nur“ diese Formen zeigt. Da raunte einem aber der Geist böser Erinnerung das Wörtchen: „Erbsienhaus“ zu. In einer Viertelstunde hält der Kraftwagen an der Ecke der Schimmelgasse und der Landstraßer Hauptstraße. Zu rechter Hand im Parterre des Hauses Nr. 17 – eben des Hauses „zum Bienenstock“ – ist Wohnung an Wohnung, völlig licht- und luftlos. Das darum, weil das einzige Fenster jeder dieser Wohnkerkerzellen in einen anderthalb Meter breiten Luftschacht mündet, der das „Erbsienhaus“ von dem Nachbarhaus trennt. Wir klopfen von Tür zu Tür, bis wir ein „Herein“ hören. Dort treten wir ein. „Wir“ ist eigentlich zuviel gesagt. Da der englische Lord diese Wohnhöhle sieht, scheut er sich, einzutreten, und tritt an die Wand des Ganges zurück. Die Kutschersfrau hat gerade Besuch. Eine Alte ist bei ihr und bestätigt jedes Wort der Schwergeplagten, die hier haust. An der linken Wand stehen hintereinander zwei Betten. In jedem liegt ein stöhnendes, fieberndes Kind. Vor den Betten ein Kinderwagen. In diesem das dritte Kind, das jüngste, das Brustkind der braven Mutter. „So lange ich es an der Brust habe, lebt es. Setze ich es ab, wird es mir krank werden und sterben wie die anderen zwei.“ So hatte es die Frau vor einiger Zeit einem anderen Besuche erzählt. Der Tatbestand von heute gibt ihr recht. Die zwei ältesten Kinder sind in dieser Wohnung gestorben. Die zwei nächsten liegen schon fiebernd dahin – nur das fünfte, das Brustkind, ist noch gesund. „In dieser Wohnung ist kein Kind davonzubringen.“ Der Lord hört die furchtbare Anklage. Er ist unruhig und drängt. „Wollen Sie noch andere Wohnungen sehen?“ – „Nein!“ Er drängt an die Luft, auf die Gasse. Mit Mühe ist er noch zu bewegen, einen Blick in den Rattenhof zu werfen, in dessen äußerster Ecke der einzige Hochquellenauslauf für die 216 Wohnungen ist, die in diesem Hause untergebracht sind. Ihm die Aborte zu zeigen – je 25 bis 30 Menschen müssen einen benützen – dazu ist er nicht zu bringen. Nur hinaus! Hinaus! Erst in einiger Entfernung vom Hause bleibt der Gast stehen und fragt: „Ist in diesem Hause nicht Typhus?“

            Jetzt konnte man hoffen, daß der englische Freund das Gefühl hat, daß er im englischen Oberhause nicht zuviel gesagt hat, wenn er von einem außerordentlichen Elend Wiens gesprochen hatte.

*

            Die Großmutter. Ein Schweizer Freund! Auch er wünscht Wiener Slums kennen zu lernen. Ganz anderswo bekommen wir so ein Stück Alt-Wien zu sehen. Erst klettern wir über fünf Stufen einer Eisentreppe, die auf die „Gasse“ mündet und klopfen an die Tür. Niemand meldet sich. Also wieder zurück und auf gut Glück anderswo angeklopft. Es ist nicht nötig. In dem engen Gäßchen sind die beiden Fremden längst bemerkt worden. Eine Tür öffnet sich und in ihrem Rahmen erscheint eine dicke Alte. „Können wir einen Blick in Ihre Wohnung machen?“ Es ist 6 Uhr abends. „Wann’s Ihna net schreck’n,“ sagte die Alte, „und a stinkets Wasser steht aa da in der Kuchl.“ Wir bücken uns, um durch die niedere Tür zu kommen. Eine schmale, ganz schmale Küche. Hinten, ganz hinten der Herd. Ganz im Dunkel. Zwischen der Tür und dem Herd laufen Wäscheleinen, an denen allerlei Gelump hängt. Ein übler Dunst erfüllt den Raum. Zur Linken führt eine Glastür in das Zimmer. Wir treten ein. Gekreisch und Mädelgelächter. Zwei junge Dinger sind in der Stube. Eine läuft zum Fenster. Schlimmste Unordnung. Ein Bett ist da und so etwas wie ein Sofa. Es können auch etliche Kisten sein, über die ein Strohsack geworfen ist. Das eine der Mädeln ist die Enkelin, das andere ein Bettmädel, ein „vazierendes“ Dienstmädchen. Der Schweizer versteht „vagierendes“ und fragt: „Vagabundierendes?“ Abwehrendes Gelächter der Mädchen. Gegenüber in der schmalen Gasse ist eine Kellerwohnung. Die Vorhänge an den Fenstern bewegen sich. Frauenneugierde. Die Enkelin erzählt, daß auch sie jetzt seit einer Woche aussetzen müsse. Sie arbeitet in einer Peitschenfabrik. 600 Kronen sei ihr Lohn. „Wie soll ich da leben? Nicht einmal Schuhe kann ich mir kaufen!“ – „Und da sitzen Sie den ganzen Tag hier? In dieser schlechten Luft?“ Der Schweizer ist ein Sonnenkind. Er kann es nicht begreifen, daß junge Menschenkinder hier ihr Leben zubringen sollen. „Hinaus in die Sonne, viel spazieren gehen!“ predigt er. Die beiden Mädeln lachen. „Allani haßt’s nix. Wir hab’n kann’ Verehrer nit und kane Schuah.“ Die Alte kramt in einem Küchenkastl, das alle ihre Heiligtümer enthält, und endlich zieht sie ein Bild hervor. Sie selber im Sonntagsstaat, zwei fesche Männer auf dem Bilde und ein jüngerer Buckliger. „So hab’n m’r vor’n Krieg ausg’schaut. Da san meine Söhne!“

            „Welcher ist ihr Vater?“ Die Enkelin schweigt. „Ah, Sie sind das Kind einer Tochter der Frau . .“ – „Meine Mutter ist schon tot . . .“ sagt das Mädchen ausweichend.

            Die Alte erzählt eine Geschichte, warum ihr Jüngster einen Höcker hat. Er ist als Kind aus dem Fenster gestürzt. Die beiden gradgliedrigen Söhne waren im Krieg. „So hab’n m’r vor’n Krieg ausg’schaut,“ wiederholt die Alte noch einmal. „Und so schau’n m’r heut aus! Den Fußboden hab’n m’r wegreißen müss’n, sonst hätt’n uns die Ratzen g’fressen. Jetzt leb’n m’r auf’n Lahm. Vor’n Krieg war’n a Massa Ratzen da, so was gibt’s in unsere Häuser heut gar net mehr. Dö san alle g’fressen worden.“ So räsoniert die Alte, dabei etwas übertreibend.

            Als wir gehen, begleitet uns die „Enkelin“ noch auf die Gasse. Sie geht bis zum Brunnen. An den Füßen hat sie Tanzschuhe. Sie hatte drinnen sehr geklagt, daß sie ihre Schuhe seit vierzehn Tagen nicht vom Schuster holen könne, weil sie kein Geld habe. Einige Häuser weiter empfiehlt sich der Schweizer. Der Rückweg führt wieder an dem Gäßchen vorbei.

            „Sie, Herr? Erlauben schon!“ Eine Frau gesellt sich zu. Die Neugierige von vorhin. „Sie war’n jetzt mit an’ andern Herrn bei dera Alten drin? Net wahr? . . .“ – „Ja, was weiter . . .“ – „Na, nix weiter, i man’ nur so, weg’n die Madeln . . .“ – „Was ist’s mit den Mädeln?“ – „Ganz rein is net. Man will nix sag’n, aber man kann sich doch schließlich aa net die Aug’n verbinden. So a schmale Gass’n sieht all’s. Von was leb’n s’ denn, die Madeln? Und dö Burschen, die jeden Abend kommen?!“ – „Burschen, in diese Wohnung, in dieses Rattenloch? Nein, das ist doch nicht möglich.“ – „Dran kann an sie aa nix sein, das laßt si denken. Wer da neingeht . . .“ Ein vielsagendes Achselschupfen. Vielleicht hat die Nachbarin recht. Auch die Wiener Slums, die Wiener Elendsherbergen, haben ihre Geheimnisse.

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            Strohdecken. In Favoriten, Absberggasse, mitten in der „Kreta“, stoßen wir in einer Kellerwohnung auf eine Uebergangsindustrie. Zwei Frauen und ein Mann verwandeln die großen Soldatenwachschuhe aus Stroh in Fußabstreifer. Die Schuhe trennen sie auf, die Abstreifer nähen sie zusammen. Sie erhalten für ein Stück 16 Kronen und 15 bis 18 Decken bringen die drei im Tag fertig. Von der bis zu Manneshöhe feuchten Wohnung bröckelt der Anwurf ab. In der Wohnung nebenan haust ein schon fast verzweifelnder Wehrmann. Seine zweieinhalbtausend Kronen Monatslohn können sein Kind, seine Frau und seine Mutter nicht vor dem schlimmsten Elend schützen. Das Kind ist ewig krank. „In dieser Wohnung kann es nicht anders sein,“ sagt der Wehrmann. „Mein Kind ist ein Opfer dieser Wohnung.“ Die Hausbesorgerin, die uns begleitet hat, verspricht, die erste freiwerdende bessere Wohnung im Hause dieser Familie zu geben. Die Kellerwohnung wird natürlich aber auch dann weitervergeben werden. Den Luxus, solche Mordwohnungen nicht weiterzuvermieten, kann sich Wien nicht leisten, das Wien nach dem so glorreich verlorenen letzten Habsburgerkrieg. Es sind Tausende, die in Wien in solchen entsetzlichen Wohnhöhlen zugrunde gehen – im Lichtental, im „Erbsienhaus“ und anderswo -, Tausende, und Wien ist dagegen machtlos oder doch so gut wie machtlos. Wenn die Fremden solchen Spuren folgen wollen, dann werden sie Bilder mit in ihre Heimat bringen, die sie nicht so bald vergessen werden. Bleiben sie nur auf der Ringstraße – dann wird man im Ausland bald erzählen: Wien ist schon wieder das alte!

In: Arbeiter Zeitung, 01.05.1921, S. 10.

Ludwig Hirschfeld: 10 Uhr vorbei. Zwei Kapitel aus einem Haustorschlüsselroman

Erstes Kapitel.

            Es war im Jahre 1911, an einem jener milden Wiener Herbstabende, die meistens so unangenehm naßkalt sind. […]

Vorletztes Kapitel.

            Seitdem waren zehn Jahre vergangen. Eine neue Zeitrechnung hatte begonnen, bei der niemand auf seine Rechnung kam. Auch das große Zinshaus in der kleinen Seitengasse hatte daran glauben müssen. Es sah jetzt verwahrlost aus, wie jemand, der einst bessere Tage und reinere Wäsche gesehen hat. Aber noch immer war Herr Dolleisch „Portiehr“ und Hausbesorger, freilich nicht mehr so mächtig und gefürchtet, weil ja dieser Zeit gar nichts mehr heilig war, nicht einmal der Hausmeister. Heute, am 1. November, stand ihm ein besonders demütigender Gang bevor. Er mußte die Parteien befragen, ob und in welchem Ausmaße sie von der Beteilung mit Haustorschlüsseln Gebrauch machen wollten. Herrn Dolleisch war dabei zumute, wie einem depossedierten Tyrannen, der zum Hohne selbst seinen Untergebenen die Mitteilung von seiner Entthronung machen muß. Er begann seinen Rundgang im ersten Stock bei den angesehensten Parteien des Hauses – also beim Herrn Hofrat und beim Privatier Obermayer? Nein, lieber Leser, was fällt dir ein. In diesem Kapitel schreiben wir ja schon 1921 und folglich wohnte in der Hofratswohnung seit Jahr und Tag Herr Powondra, der den Greisler längst überwunden hatte, nicht mehr mit Eßwaren, sondern mit Lebensmitteln handelte, natürlich waggonweise, loko, noch lieber transit. Mit einem tiefempfundenen „Küss’ die Hand“, brachte Herr Dolleisch seine Anfrage vor, worauf die gnädige Frau sofort fünf Haustorschlüssel bestellte, davon einen für Fräulein Fanny, die ehemalige Hofratsköchin, die sich mittlerweile zu einer selbstbewußten, großartig frisierten und heftig umworbenen Hausgehilfin entwickelt hatte. Den gleich großen Haustorschlüsselbedarf hatte die gegenüber wohnende Familie des Tailors Aujeszky, denn beide Familien kommen von Drahrereien oft spät nach Hause, natürlich im Auto. Und wie stand es mit Alfred, dem leichtsinnigen jungen Privatbeamten? „Mein lieber Herr Dolleisch,“ achselzuckte er trübe, „die Rendezvous haben sich längst aufgehört, das kann sich ein Privatangestellter nicht leisten. Die Anny hat jetzt einen Generaldirektor und die heutigen Mädeln gehen überhaupt nur mit Schiebern. Ich bin froh, wenn ich mir selber hie und da ein warmes Nachtmahl zahlen kann.“ Schließlich stieg Herr Dolleisch noch zum Hofrat Danzinger und zum Privatier Obermayer hinauf. Die Beiden waren in den letzten Jahren um die Werte heruntergekommen, bis in den vierten Stock hinauf. Bei beiden roch es im Vorzimmer minderbemittelt nach Kohl und Kraut, hingen schäbige Röcke und Hüte an der Wand, beide entschuldigten sich höflich bei Herrn Dolleisch, daß sie keinerlei Verwendung für eigene Haustorschlüssel hätten: „150 Kronen, das kann ich mir nicht leisten. Wir gehen ohnehin nach zehn nicht mehr aus. Zu Hause bleiben ist noch das billigste.“ Was Dolleisch später zu folgender Bemerkung seiner Gattin gegenüber veranlaßte: „Wann mir nur dö zwa Hungerleider schon draußd hätt’n. Der ausg’franzte Hofrat und der Obermayer, der nix hat wie seine paar Netsch, dö san direkt a Schand für a besseres Haus . . . .“ Den ersten Schlüssel erhielt Fräulein Fanny ausgefolgt, die sich in der nächsten Sonntagnacht von einem sehr feinen jungen Mann begleiten und von ihm das Haustor aufsperren ließ. Am anderen Tag konnte man in der Zeitung lesen: „Gestern haben sich wieder 45 Wohnungseinbrüche ereignet.“ (Fortsetzung folgt.)

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            Was zwischen diesen beiden Kapiteln geschieht und wie der Roman ausgeht, davon hat der Verfasser keine Ahnung. Das Manuskript ist ihm nämlich glücklicherweise irgendwie abhanden gekommen, vielleicht auch gestohlen worden, denn er hat schon während des Schreibens den Eindruck gehabt: der Roman kann mir gestohlen werden. Der redliche Dieb wird dringen gebeten, das Manuskript, eine große Menge von gutem Papier, in der Banknotenpresse abzuliefern, denn mehr ist der Roman ohnehin nicht wert.

In: Neue Freie Presse, 06.11.1921, S. 10-11.

Max Winter: Es gibt keine Not mehr in Wien

            So oft man jetzt mit Ausländern in Berührung kommt, äußern sie die allerstärksten Zweifel darüber, daß die Not in Wien noch eine solche wäre, daß wir ihrer nicht aus eigener Kraft Herr werden könnten. „Es gibt keine Not mehr in Wien,“ kann man immer wieder von den Menschen hören, für die der enge Umkreis um die Hotels Bristol, Imperial und Astoria Wien bedeutet – „wenigstens keine Not,“ wie die Wohlwollendsten hinzufügen, „die nicht auch bei uns zu Hause sichtbar wäre“. Gewiß, London und Paris, Mailand und Bern, Amsterdam und Stockholm, Kopenhagen und Christiania haben auch ihre Erscheinungen der Not, aber können mit diesen aus dem Wirken der kapitalistischen Wirtschaftsordnung dort wie überall erfließenden Erscheinungen der Not die besonderen Erscheinungen gleich gewertet werden, die in Wien zu schauen sind? Der Kenner wird diese Frage verneinen und jeder sozial Einsichtige wird ihm recht geben, wenn er selbst die Dinge in der Nähe betrachtet. Wir brauchen nur vom „Bristol“ weg zehn Minuten Straßenbahnfahrt nach Favoriten zu machen und dort ein wenig Umschau zu halten und wir werden Bilder einer Not schauen, die unseren Tagen und unserer Stadt förmlich „eigentümlich“ ist, die sich als Wirkung der Hungerjahre darstellt, die keiner Stadt der Welt so andauernd und so hart auferlegt wurden wie gerade Wien. Die Behauptung einiger englischer Freunde, daß die Not in Wien nicht mehr so hart in Erscheinung trete, gab dieser Tage wieder Anlaß zu solch einer Elendsreise durch Wien.

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Die Mahlzeiten eines tuberkulösen Kindes.

Um den hilfsbereiten Freunden nicht „gestellte“ Bilder zu zeigen, gehen wir in den Tramwayhäusern in Favoriten in die Tuberkulösenfürsorgestelle und erbitten uns dort die Adressen einiger Arbeiterfamilien mit vielen oder wenigen Kindern. Dabei läuft uns ein Kind über den Weg, das wir auch gleich um seine Lebensumstände befragen können. Die Fürsorgeleiterin zeigt uns die Einrichtung der Fürsorgestelle. Zu ihr gehört auch eine „künstliche Höhensonne“, eine Quarzlampe, unter deren gelbem Licht gerade so eine Kleine sitzt, der die Strahlen eben die Drüsen wegzaubern. Einige Minuten später und die kleine Rosa kommt von dem Vorhang hervor, kleidet sich an und stößt dann zu uns, da sie die Fürsorgeleiterin ruft. Der Vater ist tot, die Mutter ist Wäscherin. Außer Hause und im Hause, je nachdem es sich trifft. Wieviel die Mutter verdient, weiß die blasse Kleine nicht; aber was die Mutter mit diesem Verdienst leisten kann, das weiß das nett gekleidete Kind. Am Morgen bekommt die Kleine schwarzen Kaffee und Brot. Malzkaffee natürlich. Milch gibt es keine für dieses tuberkulöse Kind. Das war doch im Frieden ein wenig anders. Da konnte jedes solche Kind Milch haben, so viel es nur vertrug. Vormittags gibt es ein Stück Brot.

            „Und nichts dazu? Keine Butter, keine Marmelade?“ fragt der Wortführer der Engländer, ein Prediger der „Freien Kirche“, die Kleine. „Nein, nur Brot,“ lautet die Antwort der Kleinen. Mittags erhält die Kleine die „amerikanischer Ausspeisung“: Zehn Hektonem oder etwa ein Viertel dessen, was so ein stark unterernährtes, blutarmes Kind brauchen würde. Die Jause ist wie das Frühstück: Schwarzer Kaffee und Brot.

            „Machst du dir die Jause selbst, wenn die Mutter auswärts ist?“ – „Nein, eine Nachbarin wärmt mit den Kaffee auf.“ – „Den macht also die Mutter in der Früh?“ – „Ja!“ – „Und was gibt es abends?“ – „Erdäpfelsuppe oder Knofelsuppe. Brot oder manchmal ein Gemüse oder eine Mehlspeise.“ – „Und am Sonntag?“ – „Da kocht die Mutter zu Hause: eine Mehlspeise oder sonst etwas.“ – „Fleisch?“ – „Fast nie. Hie und da ein Stückerl.“

            „Warst du schon im Ausland?“ – „Ja, voriges Jahr im März in der Schweiz.“ – „Und seither nicht?“ – „Nein, seitdem nicht mehr.“ – „In welche Klasse gehst du?“ – „In die „dritte Bürger“ komme ich jetzt.“ – „Ja, wie alt bist du denn?“ fragen wir verwundert die Kleine, die das Aussehen einer höchstens Zehnjährigen hat, und die Antwort lautet: „Im September werde ich 13 Jahre.“ Wir gewinnen mit der Kleinen so die erste Kandidatin für ein Erholungsheim, das die englischen Freunde gleichsam als einen ersten Pfeiler für die Brücke von Volk zu Volk in Salzburg errichten wollen.

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Der Haushalt eines aufrechten Arbeiters.

            Wir haben eine ganze Reihe von Adressen erhalten. Eine, die nächste, greifen wir heraus. Es ist die eines Arbeiters, der am Ende der Leebgasse wohnt. Sieben Kinder sind da: 19, 18, 16 Jahre die älteren, 13, 9, 8 und 6 Jahre sind die schulpflichtigen alt. Der Vater ist Lackierergehilfe. Die neunzehnjährige Tochter steht in Behandlung der Tuberkulösenfürsorgestelle, die achtzehnjährige, sehr rachitisch, ist in den letzten Jahren „ausgewachsen“ und wird nun vom orthopädischen Spital in der Gassergasse behandelt. Zwei der Kleinen, dreizehn und neun Jahre alt, haben Spitzenkatarrh; beide waren mit Hilfe des städtischen Jugendamtes im letzten Winter in Südtirol. Es ist Samstag vormittag. Wir kommen gerade zurecht, um einen tiefen Blick in den Haushalt eines aufrechten Arbeiters tun zu können. Am Abend vorher hat der Vater seinen Wochenlohn erhalten. Nach Abrechnung der Abzüge für die Krankenkasse (12 Kronen), für die gewerkschaftliche und politische Organisation (5*60 Kronen) und eines Vorschusses von 100 Kronen hat der Vater 814 Kronen nach Hause gebracht und die sechzehnjährige, noch nicht kranke Tochter, die Schachtelmacherin in einer Apotheke ist, 200 Kronen. Zusammen standen der Mutter und Vorsteherin dieses Haushalts genau tausend Kronen zur Verfügung. 14 Kronen behält sich der Ernährer der Familie für seinen Tabak.

            „Und das ganze Geld is scho auf’gangen, seit gestern abend!“ sagt die Frau. – „Die ganzen tausend Kronen? Was haben Sie denn da eingekauft?“ – „Das können Sie genau sehen. Hier sind die Konsumzettel und was ich sonst gekauft habe.“

            Diese Wochenrechnung aufzustellen war nicht ganz so einfach. Wiederholt versagte das Gedächtnis der Frau, was die einzelnen Zahlenansätze auf den Zetteln bedeuteten, wofür sie noch Geld ausgegeben hatte. So gleich bei einer Konsumvereinspost von 12 Kronen, die für 10 Dekagramm Wurst ausgegeben wurden – am Freitag abend. (Jedes Kind bekam eine Scheibe Wurst.) Dazu bemerkt die Frau: „Wir haben oft vierzehn Tage kein Fleisch.“ Die zweiten 12 Kronen für 10 Dekagramm Wurst fallen der Frau auch nicht gleich ein. Sie sind für den Ernährer allein bestimmt. Er erhält den teuren „Leckerbissen“ entweder Samstag mittag oder abends, je nachdem die Mahlzeit aus der Ausspeisung ausfällt.

            „Und was gibt es am Sonntag?“ – „Vorigen Sonntag haben wir Zwetschkenknödel gemacht. Was ich morgen kochen werde, weiß ich noch nicht. „Gefüllte Paprika“ wären gut. Aber der Reis ist so teuer und ein halbes Kilogramm Fleisch brauchen wir noch dazu. Das wird diesmal nicht reichen.“

            Der englische Freund fragt einmal: „Und Ei kaufen Sie keines?“ – „Nein, wir haben eine Henn’. Unsere Klane hat s’ aus Ungarn mitbracht, wie sie vor zwei Jahren dort war. Die legt immer jeden zweiten Tag ein Ei. Sie wird täglich auf die Wiese geführt. Da muß einer aber aufpassen!“

            „Wie viel zahlen Sie Miete?“ Die Familie hat eine aus Zimmer, Kabinett und Küche bestehende Wohnung. – „Neununddreißig Kronen.“ – „Legen Sie in jeder Woche etwas zurück?“ – „Nein, der Zins muß vom letzten Wochenlohn im Monat zahlt werd’n.“ – „Da geht Ihnen dann aber der Betrag für andere Sachen ab?“ – „In so aner Wochen wird halt weniger Margarine kauft. Da müss’n die Kinder das Brot vormittag trocken essen.“ – „Auch die vier Kranken?“ – „Da kann ich leider keinen Unterschied machen. Die anderen sind ja auch nicht stark.“

            „Kaufen Sie kein Obst?“ fragte wieder der englische Pfarrer. – „Sehr wenig. Wenn ich ein Kilogramm kaufe oder zwei, was ist das für so viele Kinder?“

            „Und Käse?“ – „Kann ich gar nicht kaufen. Im Konsumverein haben sie schon oft einen gehabt. Ich habe aber nie einen kaufen können. Immer nur das Notwendigste.“

            „Und Tee?“ – „Nein, den kauf’ ich nie, auch nicht Kaffee. Nur Kakao. Den können die Kinder mit Wasser und bitter trinken, den Kaffee nicht.“

            „Und keine Marmelade?“ – „Nie.“

            „Und keine Butter?“ – „Nie. Dafür kaufe ich jede Woche ein Kilogramm Margarine. Wenn man das eine kauft, kann man das andere nicht kaufen. Für den Kleinen habe ich bisher vom englischen Hilfswerk immer noch Kondensmilch erhalten. Nun ist er aber auch sechs Jahre alt und jetzt ist es aus.“

In: Arbeiter Zeitung, 05.09.1920, S. 6.

Jacques Hannak: „Mutterschaftszwang.“

            In die von Parteileidenschaften, Hunger und Bitternis geschwängerte Atmosphäre unseres Gesellschaftslebens ist ein neues Schlagwort geschleudert worden, das an sich allein schon den Ton der Gehässigkeit zu charakterisieren vermag, mit dem ein jedenfalls sehr ernstes Problem von allgemeiner Kulturbedeutung behandelt wird. Hieß es vordem „Gebärstreik“ und bezeichnete damit immerhin die mehr subjektive, aktive Seite der Frage, so gibt uns das Wort „Mutterschaftszwang“ von vornherein den Begriff passiver, objektiver Einreihung in ein hoffnungsloses System mechanischer Notwendigkeiten.

            So tritt man an ein Problem nicht heran, welches wie nur irgendein ganz großes Problem geeignet sein soll, uns den Sinn alles Lebens zu erschließen. Leidenschaftslose Beharrlichkeit allein kann erwarten, die spröde Materie zu meistern.

            Die Schwierigkeit, vor der wir stehen, ergibt sich daraus, daß sich die Grundtatsachen des volkswirtschaftlichen Lebens mit Grundtatsachen des Seelenlebens kreuzen; der ökonomische Mensch gerät in Widerspruch mit dem psychischen Menschen, das Sein widerstreitet dem Bewußtsein, das Reich der Notwendigkeit fesselt das Reich der Frauen. Es sind zwei Sphären, die sich gegenseitig ausschließen, [der] Fehler der ganzen Betrachtungsweise bestand bisher darin, [von] der einen Schnittfläche auf die andere Sprünge zu machen, um je nach Bedarf, Idee und Erscheinung ineinander krempelnd, eines mit dem anderen „widerlegen“ zu können.

            Der Tatbestand ist: dem Naturgesetz der Fortpflanzung und Vermehrung wird durch nationalökonomische Gesetze Einhalt getan. Da die Natur uns nicht auf die Lust zu verzichten gestattet, so richtet sich die Reagenz des nationalökonomischen Gesetzes nur auf die Folgen der Lust und schränkt nicht die Geschlechtlichkeit, sondern nur die Geburtenziffer ein. Der Klassenstaat aber, der nicht nur seine unterdrückten Klassen wirtschaftlich ausbeutet, sondern sie auch dazu verhalten will, ihm immer neue Generationen für neue Ausbeutung aus ihrer ausgemergelten Kraft heraus zu schaffen, also obendrein noch selber für die Verewigung ihrer Ausbeutung und Knechtschaft zu sorgen, der Klassenstaat, aus dessen Wesen das nationalökonomische Gesetz der Geburtenabnahme erfließt, erzwingt zugleich dem Widersinn eines papiernen Machtgesetzes von gegenteiliger Bedeutung Geltung, wonach die Unvermeidlichkeit des ökonomischen Gesetzes durch Strafsanktionen aufgehoben und beseitigt, das Gesetz mechanischer Kräfte also durch das bloße Menschenwort: „Ich will“ und just nur dadurch und schon dadurch in das Gegenteil gewendet werden soll. Wahrlich, der Kampf Don Quichottes mit den Windmühlen. Aber noch mehr: hier erhält sich uns das absolut Unethische dieses Kampfes, dieses vermessenen Endgegenstemmens individuellen Wollens einer einzelnen herrschenden Menschenklasse gegen die Windmühlen des sozialen Naturgesetzes. Der Klassenstaat ist notwendig als eine Erscheinungsform der Geschichte der Gesellschaft, eine Erscheinungsform, ohne welche sich der Entwicklungsgedanke der menschlichen Kultur historisch gar nicht denken ließe. Der Klassenstaat ist auch nicht eine Erscheinungsform, die sich durch Utopien, Idealisten, Prediger und Menschheitsapostel einfach sofort in die klassenlose Gesellschaft des Sozialismus wegbekehren ließe, sondern er ist auch in dem Sinne eine notwendige Erscheinungsform, als er erst aus sich selbst heraus jene Elemente voll ausreifen lassen muß, die ihn schließlich überwinden und kraft der Entwicklung wie von selber in die erlösende Gesellschaftsordnung der Zukunft hinüberleiten. Nicht also die Existenz des Klassenstaates ist das Unethische, sondern erst jeder Versuch der Verewigung dieser Existenz, jeder Versuch, dem ewigen Werden das absolute Sein des gerade Bestehenden abtrotzen zu wollen. Das Trägheitsgesetz ist das Substantielle des Klassenstaates, und das ist das Unmoralische an ihm, weil es ihn notwendig in Widerspruch und Widersinn treibt und also auch alsbald logisch ins Unrecht setzt.

            Solchen Widerspruch und Widersinn entdecken wir an der Struktur des kapitalistischen Klassenstaates auch in seiner Stellung zum Mutterschaftsproblem. Und zwar noch in einem viel tieferen Sinn als im eben angeführten. Das Problem der Mutterschaft aufstellen, heißt ein anderes Problem, das dem der Mutterschaft zugrunde liegt, vorwegnehmen, und dies andere Problem ist das Problem des Weibes, das Problem der Geschlechter. Das ist so selbstverständlich wie nur irgend etwas. Nicht so selbstverständlich aber ist es der kapitalistischen Produktionsära. Denn diese denkt an die Produktion, nicht an den Produzenten, an die Maschine, nicht an den Menschen, an die Geburt, nicht an die Gebärende, an das Objekt, nicht an das Subjekt. So wird ihr denn auch das Mutterschaftsproblem nur eine quantitative, mechanisch-ökonomische Sorge, nur ein Rechenexempel, nur ein Mittel zum Zweck, und sie hat nur Zeit, sich um [?] umzuschauen, aber nicht um die – Mutter. Daher erfließt ihr die [Qual/Radikal]ität des Mutterschaftsproblems nicht aus dem Verhältnis der Geschlechter, sondern aus dem Verhältnis von Lohn[arbeit] und Kapital. Freilich, die Frage: Mann-Weib ruht mit [Ueber]ewicht nicht auf dem juristischen Boden etwa der Frage, ob [Gleich]stellung oder Ueber- und Unterordnung von Mann und Weib, was schließlich auch noch die kapitalistische Gesellschaftsordnung irgendwie lösen könnte, sondern auf dem ethisch-sozialen Boden der Möglichkeit, Mann und Weib als Mann und Weib, ungetrübt durch wirtschaftliche und soziale Nöten, voll ausleben zu lassen. Das freilich kann uns nur der Sozialismus bringen. Weil aber diese Voraussetzung in der heutigen Gesellschaftsform fehlt und die Frau in gleicher Weise als Weib wie als Mutter nur im Dienste einer bloßen Warefunktion steht, kann die heutige Gesellschaftsform gar nicht grundsätzlich ethisch-kritisch zur Frage der Mutterschaft Stellung nehmen und begnügt sich denn auch mit der konstruktiven Dogmatik einer konventionellen Moral, eines Systems von Pflichten, die dem Beharrungsvermögen der herrschenden Klassen in der heutigen Gesellschaft Rechnung tragen sollen, aber, wie wir ausführten, eben dadurch mit dem Weltgesetz des Werdens in Konflikt geraten und an diesem Widerspruch zerschellen müssen.

            Eine Moral, die für alle Menschen Geltung haben soll, muß einer solchen Gesellschaftsordnung entspringen, die vom Werkzeug wieder auf den Menschen zurückgeht, die nicht mehr den Menschen als Mittel betrachtet, sondern als alleinigen Zweck, die nicht mehr Menschen in den Dienst von anderen Menschen und alle zusammen in den Dienst ihrer eigenen Einrichtungen und Maschinen stellt, sondern die ganze Menschheit zur Herrin ihrer selbst, zur Herrin ihres freien Willens und zum höchsten Selbstzweck erhebt. Erst eine Zeit, in der alle Menschen leben können, wird Zeit haben, sich um das Tiefste des Menschen zu kümmern, um – ihn selbst! Das sind keine Neuigkeiten, sondern alte Erkenntnisse, aber sie erhalten eine neue Beleuchtung unter dem Gesichtspunkt des Geschlechtsproblems.

            Wir können heute nur durch die Empirie und die induktive Methode Kenntnisse über das „Ursein“ des Verhältnisses Mann-Weib zu gewinnen trachten, ohne daß uns der Gegenbeweis der Deduktion zustatten käme. Denn die Geschlechtsbeziehungen werden heute nicht nur von innen heraus durch metaphysische Substanzen geregelt und gelenkt, sondern von außen her durch die Dynamik der sozialen Ordnung entscheidend umgebogen. Das Reich der Notwendigkeit springt ins Reich der Freiheit, und so wird denn Sozialismus schließlich der religiöse Kampf des Metaphysischen im Menschen, zu sich selbst zu gelangen durch die Ueberwindung der sozialen Fesseln. Die Befriedigung der sozialen, ökonomischen Lebensbedürfnisse muß aufhören, Problem zu sein und muß Selbstverständlichkeit werden, damit endlich der Mensch an sich ausschließliches Problem werde.

            Auch die Idee des Erotischen kann erst zu voller Klarheit in einem Zeitalter gelangen, das die materielle Lebenswohlfahrt des Individuums als naturgegeben voraussetzt und nur die kulturelle Wohlfahrt der Menschheit als Aufgabe weist. Heute können wir uns auch hier nur an die Trübungen der Empirie der Klassengesellschaft halten.

            Was scheidet, unabhängig von jeder sozialen Ordnung, Mann und Weib? Wedekind hat das einmal aphoristisch nicht übel ausgedrückt; der ungeheure Vorteil, den das Weib vor dem Manne voraus habe, sei daß es seinen Körper als Tauschobjekt zu Markte tragen könne, sein ungeheurer Nachteil gegenüber dem Manne, daß es gebären müsse. Schärfer und [konziser] noch hat Otto Weininger den Gedanken gefaßt und als das Essentielle und Funktionale des Weiblichen schlechthin Mutterschaft und Dirnentum bezeichnet. Ob das Wesen des Weibes darin erschöpft ist oder ihm noch andere Funktionen zugehören als die der reinen Geschlechtlichkeit, gehört hier nicht zur Debatte. Soviel ist jedenfalls sicher, daß die Mutter und die Dirne zwei ragende Pole weiblichen Seins bedeuten.

            Wenn wir nun das Mütterliche als das Substantielle des Weiblichen erkannt haben, so gelangen wir erst vollends zu der Würdigung des Sprachungeheuers: „Mutterschaftszwang“. Das Weib wird also zu etwas gezwungen, was es, wenn und weil es Weib ist, ohnedies schon sein soll. Das Weib wird „gezwungen“, es selbst zu sein! Wenn es dazu gezwungen werden muß, so müsse offenbar Hindernisse da sein, die ihm die funktionelle Erfüllung seines ureigentlichen Wesens verwehren. Wir haben diese verwehrenden Hindernisse als das nationalökonomische Gesetz der Ausbeutung kennen gelernt. Der Mechanismus eherner Wirtschaftsgesetze, der zwangsläufige Gang der sozialen Entwicklung, die historischen Kategorien der verschiedenen Formen von Klassenherrschaften gebären aus sich heraus die Widerstände gegen die apriorischen Naturbedingungen der menschlichen Existenz, und da auf diese Naturbedingungen doch nicht einfach verzichtet werden kann, müssen sie auf irgendeinem Wege wieder künstlich „eingeführt“ werden. Die organische Geltung der Natur wird durch den Tort einer überlebten ökonomischen Epoche vergewaltigt und darnach durch einen trägen Mechanismus menschlicher, allzu menschlicher Einrichtungen wieder notdürftig zusammengeflickt. Das Funktionale des Weibes, seine Mutterschaft, wird durch den Prozeß des ökonomischen Ausbeuterverhältnisses beeinträchtigt und durch eben denselben Prozeß der Ausbeutung hernach mechanisch mit „Strafgesetzen“ einfach wieder „angeordnet“. Hier ist der Punkt, wo der Sprung aus der einen Schnittfläche in die andere erfolgt, hier entspringt die Verwirrung, die ratlos vor der „Unmoral“ des sich selbst nicht mehr getreuen Weibes und der ewigen Naturgesetzlichkeit mit armseligen papierenen Normen zu Hilfe zu eilen sich vermißt. Die gemarterte Natur aber läßt sich ihren Weg nicht durch Bürokratien und Strafgesetze weisen, sie sammelt sich in den unterirdischen Kanälen der bedrückten, ausgebeuteten, um ihr Naturrecht betrogenen Massen und vollzieht in den sozialen Revolutionen den Prozeß ihrer Selbstbefreiung.

            Daß es ein Wort wie „Mutterschaftszwang“ gibt, spricht schon das Urteil über die Wirtschaftsepoche, in der wir leben. Ein Weib zwingen, Weib zu sein, das hat der Teufel dem Kapitalismus eingegeben. Was aber für die Arbeiterschaft das Entscheidende ist, ist nicht so sehr die Geltung oder Aufhebung eines Gesetzesparagraphen, als vielmehr die Erkenntnis der Unnatur des ganzen geltenden Gesellschaftssystems, in dem jener Paragraph nur eine symptomatische Erscheinung ist. Im einzelnen Paragraphen die Kulturwidrigkeit des Ganzen der bürgerlichen Ordnung erkenne, im täglichen Kampf ums Einzelne sich nicht bloß als Reformer und Verbesserer des Seienden fühlen, sondern darüber hinaus den revolutionären Enthusiasmus empfangen, daß wir berufen sind, der Menschheit den Weg aus dem Naturwidrigen zum Naturgemäßen zu weisen, dazu ist auch die Erörterung der Frage des „Mutterschaftszwanges“ ein willkommener Anlaß. Das Schicksal dieser einen Strafgesetznorm wird nicht viel an dem allgemeinen Schicksal der Arbeiterklasse ändern, aber die Aufhellung des Klassencharakters dieser Norm die Beleuchtung ihrer Kulturwidrigkeit ist von der belehrendsten Wirksamkeit und verdient daher eine nach allen Seiten hin gründliche Betrachtung.

In: Der Kampf (1919), H. 39, S. 843-846.

Else Feldmann: Hof im Allgemeinen Krankenhaus

            Letzte Sonnentage. Wenn man von draußen kommt, von der Straße, von der Welt, fühlt man einen Augenblick die beklemmende Stille. Draußen geht das Leben weiter: man hört die Signale der Straßenbahn und der Autos, den Lärm und die Erregung der Menschen dringen durch das offene Tor herein, Zeitungen werden ausgerufen …

            Hier, auf den Betten unter den Bäumen liegen die Kranken. Vielleicht der letzte Sonnentag!

            Das Laub fällt langsam, zärtlich auf ein todbleiches Gesicht. Eine junge Frau sagt zur Krankenschwester: „Die Natur ist gut, die Natur ist gerecht: im Herbst muß alles sterben, alles geht zugleich zur Ruh. Das Leben der Menschen ist nicht gut, nicht gerecht: die einen müssen dahin, während die andern blühen und leben …“

            Die Schwester gab ihr eine Injektion. –  –  – Das Leben der Menschen ist nicht gut. –

            Eine alte Frau kam mit Blumen. Die Frau war noch gar nicht so alt, sie sah nur so unendlich traurig aus. Einen kleinen Strauß hatte sie in der zitternden Hand, draußen bei der Blumenfrau gekauft; eine ganz dunkelrote Rose, zwei gelbe, zwei rosa und zwei rote Nelken, eine große weiße Aster und ein wenig Farrenkraut; das Ganze war schändlich auf Draht gezogen.

            „Dort liegt Ihre Marie“, rief ihr die Schwester zu. Sie ging zu dem Lager der Marie. Die schrie leise auf. Das war nicht mehr ihr Kind, so mager, so dünn, so bleich, ein ganz kleines bläulichweißes Gesicht; nur die blonden Haare waren noch jung und lebendig. Die Mutter legt die Blumen auf das Bett in die bleichen, papiernen Hände, und sie weint nicht, sie sieht nur immer auf ihr Kind und sagt: „Marie, aber Marie …“

            Zwei Ärzte gehen vorüber in weißen Mänteln, rauchen Zigaretten, plaudern. Auf den Bänken sitzen junge Burschen, Kinder mit amputierten Beinen; die Krücken stehen neben ihnen.

            Der Wagen mit dem Essen fährt die Allee hinauf.

            Der Herr Professor ist im Auto angekommen, begibt sich in seinen Saal. Aus der Ambulanz hört man kurze, durchdringende Schreie. Man sieht durch das offene Fenster Blut und Knochen.

            In der Herzabteilung ist es ruhig, lautlos. Die Kranken liegen unter Decken, das Atmen ist ihre schwerste Arbeit. Ihre Augen sind wie weltentrückt. Wenn Besuch kommt, ein Vater, eine Mutter, ein Sohn, ein Bruder, schweigen sie meist – Reden strengt sie an und die Mutter oder der Vater sagt sogleich: „Sag‘ mir nichts sei nur still.“

            Im Park vor der Augenklinik stehen die armen galizischen Flüchtlinge, mit der schweren ägyptischen Augenkrankheit, dem Trachom. Ein alter Jude, fast blind, steht angelehnt an einem Laternenpfahl. Er ist aus Sadogora und ganz allein. Er trägt einen breiten grünen Schirm; seine Augen sind rettungslos verloren.

            Und noch ein paar aus dem Kriege sind da. Nachzügler. Sie schleppen sich seit Jahren von Spittal zu Spittal. Nimmer können sie genesen. Jetzt, da sie die Sonne sehen, die sie warm anscheint, sind sie übermütig. Sie haben eine Mundharmoniker, einer hat eine Okarina, sie spielen, pfeifen, trällern Lieder und machen das schönste Konzert – aber nur gedämpft – alles ist hier gedämpft, ein Krankenhaus – stille – Kinderlein, still. Wollt ihr lachen, ihr genesenen Soldaten, obgleich ihr starken Schaden genommen habt? Bei dem einen sieht man die Schulter-, bei dem andern die Kopfprothese … Ein Vorübergehender hat ihnen die heutige Zeitung geschenkt. Welch ein Geschenk! Der eine liest lachend vor: „Drohender Eisenbahnerstreik in England.“ Er wirft die Zeitung hin. Alle schauen einem Dienstmädchen nach, das mit ihren Milchkannen dahintänzelt, sich umdreht und lacht.

            „Habt ihr gesehen,“ fragt der eine, „wie sie gelacht hat?“

            „Was willst?“ sagt der mit der Schulterprothese – „wir sind Krüppel.“

            Am sonnigsten Platz, mitten im trockenen Herbstrasen sitzen auf den kleinen Klappsesselchen die Schwangeren. Sie leben hier in den Tag hinein und warten auf die Geburt. Dienstmädchen, ledige Frauen; manche sind hübsch und sorglos, der Leichtsinn der Jugend schaut ihnen aus den Augen. Andere aber wieder sitzen da in Schwermut und Verzweiflung. Eine ist ganz zerknirscht und weint den ganzen Tag. Sie fragt immer, ob kein Brief für sie da sei. Drüben geht das Sterbeglöcklein – die Schwangere seufzt, sie weint. Dunkel ist der Tod – dunkel ist das Leben …

In: Freie Stunden. Beilage zu „Die Frau“, Nr. 10, 1924, S. 1.