David Josef Bach: Die Dreigroschenoper im Raimundtheater (1929)

David Josef Bach: Die Dreigroschenoper im Raimundtheater

Kommentiert von Julia Danielczyk und Johannes A. Löcker.

Das Raimundtheater1 ist gestern der Schauplatz eines theatergeschichtlichen und musikhistorischen Ereignisses gewesen. Daß uns Berlin darin vorangegangen ist, wird man, wie die Dinge liegen, wohl schon als selbstverständlich empfinden; aber wir wollen froh sein, daß die „Dreigroschenoper“ nun doch auch nach Wien gekommen ist. Dieses Werk ist es, mit dem nach mannigfachen Vorbereitungen und Experimenten ein neues Kapitel in der Geschichte des Theaters anhebt.

Es mag musikalisch wie dichterisch anspruchsvollere Werke geben, pomphaftere, tiefsinnigere, von dem Unverständnis der Gegenwart in das Verständnis der Zukunft sich flüchtende Werke; aber keines, das so entschlossen wie die „Dreigroschenoper“ sich an die Bedürfnisse der Gegenwart wendet und bei allem Bruch mit der Vergangenheit, bei aller Verwurzelung in der Gegenwart, Neues, Zukünftiges aufbaut. Die Zukunft der Oper als Kunstform ist fraglich geworden. […]

Die „Dreigroschenoper“ erklärt sich selbst mit eigenen Worten: „Sie werden heute Abend eine Oper für Bettler sehen. Weil diese Oper so prunkvoll gedacht war, wie nur Bettler sie erträumen, und weil sie doch so billig sein sollte, daß Bettler sie bezahlen können, heißt sie „Die Dreigroschenoper“.“ […] Die „Dreigroschenoper“ nun stellt das Singspiel unserer Zeit dar. Das Lumpenproletarische, in dem sich seine Handlung bewegt, ist nichts als eine Möglichkeit, sich den Problemen unserer Zeit, den Tatsachen des sozialen Lebens zuzuwenden. Daß solche Stücke geschrieben werden, in Dichtung und Musik, beweist, daß die Künstler der neuen Generation, ganz gleichgültig, ob sie politisch denken, sich den sozialen Problemen nähern, die unsere Zeit erfüllen, sich mit ihnen auf irgendeine Art abfinden müssen. […] auf der Bühne ist keine armselige Wirklichkeit vorgetäuscht, sondern die Wahrheit der Empfindungen, die sich aus einem bestimmten Milieu ergeben, im Guten wie im Bösen, in der Liebe wie in ihrer Käuflichkeit, im Heldenhaften einer Räuberromantik , im Bewußtsein des Unrechts, das an den armen Leuten geübt wird und das sie mit Ungesetzlichkeit vergelten, in dem Bewußtsein ihrer Unterwerfung unter das Gesetz der Reichen und Mächtigen , dem sie ausgesetzt sind, und in ihrer kindlichen Hoffnung auf ein glückliches Ende: „Damit das Publikum sehe, daß wenigstens in der Oper Gnade vor Recht gehe“, heißt es am Schluß. Und so kommt mit der unwahrscheinlichsten und darum doch nicht weniger erwarteten Gnade ein nicht minder unwahrscheinliches, künstlerisch aber sehr begründetes Opernfinale.

Die Handlung so geführt, daß sie jedesmal im rechten Augenblick in Musik mündet. Schon durch diese Form ist der Widerspruch zwischen Text und Musik beseitigt, der dem Opernstil so leicht anhaftet. Ueberdies entspricht auch die Musik, für sich allein betrachtet, den Bedürfnissen einer neuen Zeit. Keineswegs etwa im Aestethischen oder nur in diesem. Der Komponist Kurt Weill2 ist schon mit mehreren modernen Orchesterwerken und mehreren kleineren Opern hervorgetreten, die man, fast selbstverständlich, in Wien gar nicht kennt. Aber in der „Dreigroschenoper“ sind die Ergebnisse moderner Kompositionsweise geradezu popularisiert. Diese soziale Musik, die sich der rhythmischen Formen und der instrumentalen Möglichkeiten der Jazzmusik bedient, wird von jedermann verstanden werden und die Schlager dieser „Dreigroschenoper“ werden bald und ebenso gesungen und gespielt werden wie so viele Nummern aus Operetten und Revuen. Die „Dreigroschenoper“ ist kein Ersatz dafür; sie bringt nicht einen neuen Operettenstil, sondern sie bringt die Möglichkeit eines neuen musikalischen Stiles für Theaterzwecke. Sie wendet sich an ein Publikum, dem die große Oper bisher aus wirtschaftlichen Gründen ebenso verschollen war wie aus den Gründen, die im Ursprung dieser höfischen Kunst liegen. Wenn das Publikum nicht in die Oper geht, ins musikalische Theater kann es gehen. Die „Dreigroschenoper“ sprengt ein Tor und verschafft jedermann Zugang zu neuer Musik. An ihr werden sich viele Tausende erfreuen, ohne lange darüber nachzudenken, wodurch sich diese Musik von andrer unterscheidet. Sie werden ihre lebendige Frische, ihre echte, unserer Zeit entsprechende Volkstümlichkeit empfinden und sich ihr gerne hingeben.

Durch die Aufführung der „Dreigroschenoper“ im Raimund-Theater ist Direktor Beer3 zu seinen ersten ruhmreichen Bestrebungen, das Neue zu bringen, die er später gelegentlich immer wieder erneuerte, mit Begeisterung und Erfolg zurückgekehrt. Die von Karlheinz Martin4 geleitete Aufführung ist der Wichtigkeit des theatergeschichtlichen Ereignisses würdig. Alfred Kunz5 hat die Bühnenbilder so entworfen, daß sie den Erfordernissen des Werkes selbst und den Einfällen des Regisseurs vollkommen entsprechen. Unter den Darstellern steht Harald Paulsen6 als Räuberheld obenan. Er ist nicht nur Tänzer und Sänger, er ist ein bedeutender Darsteller wie unter anderem seine Szene im Käfig, vor der Hinrichtung beweist. […] Der Erfolg wird noch steigen, wenn die richtigen Leute das Haus füllen, die Jedermann.

In: Arbeiter-Zeitung, 10.3.1929, S. 5-6.


  1. Das Raimundtheater (Wallgasse 18–20, 1060 Wien) wurde am 28. 11. 1893 eröffnet. Es war der erste Theaterneubau nach der Stadterweiterung im Jahr 1890. Adam Müller-Guttenbrunn leitete die Bühne von 1893–1896, Ernst Gettke führte sie von 1896–1907, Siegmund Lautenburg und Karl Rosenbaum im Jahr 1907, es folgten Wilhelm Karczag und Karl Wallner bis 1920. Im Herbst 1921 hatte das Haus einen neuen Pächter und Direktor: Rudolf Beer. Er machte aus dem Operettentheater eine renommierte literarische Bühne. Sein Konzept beinhaltete drei Schwerpunkte: zeitgenössische Literatur, moderne Klassik und Unterhaltungsstücke. Ab 1924 leitete Beer sowohl das Raimundtheater als auch das Deutsche Volkstheater. Dies eröffnete Möglichkeiten alternativer Programmgestaltung und Austausch des Ensembles. 1926 trat Hubert Marischka der Direktion Beer bei. Das zwischenzeitliche Engagement von Ferdinand Exl (Leiter und Besitzer der Exl-Bühne in Innsbruck) als künstlerischer Leiter erwies sich als Fehlschlag, da sein bäuerlich-volkstümliches Programm vom Wiener Publikum eher im Sommer angenommen wurde. 

    Als eines der bedeutendsten Ereignisse unter der Direktion von Beer gilt die österreichische Erstaufführung von Bertolt Brechts „Die Dreigroschenoper“. Harald Paulsen war als Macheath (Mackie Messer), Kurt von Lessen als Peachum, Julius Brandt als Tiger Brown, Pepi Kramer-Glöcker als Frau Peachum, Barbara Hohenberg als Polly, Elisabeth Markus als Lucy, Thea Braun-Fernwald als Seeräuber Jenny sowie Alexander Marich, Karl Ehmann und Karl Skraup als Bandenmitglieder zu sehen. Für das Bühnenbild sorgte Alfred Kunz, das Jazzorchester leitete Norbert Gingold, für die Regie verantwortlich zeichnete Karl Heinz Martin.

    „Die Dreigroschenoper“ wurde von der Presse mit Hugo von Hofmannsthals „Jedermann“ verglichen, das 1920 bei den Salzburger Festspielen seine österreichische Erstaufführung (UA 1911 in Berlin) erlebte. Die „Probleme des Daseins“, wie Felix Salten schreibt, sind in keinen anderen Stücken so gut angesprochen wie in „Jedermann“ und der „Dreigroschenoper“. Im „Berliner Börsenkurier“ heißt es anlässlich der österreichischen Erstaufführung: „Die Triebe, von denen die Figuren bewegt werden, sind so zeitlos menschlich wie etwa das Leben und Sterben des ‚reichen Mannes‘ in Hofmannsthals ‚Jedermann‘. Beer hat mit dieser Aufführung seine Position und die seines Theaters weitgehend gefestigt.“ Felix Salten rezensierte in der „Neuen Freien Presse“ am 10. März 1929: „Man hat ein Werk vor sich, das von Tradition und alter Herkunft getragen wird, das mit Menschlichem und Allzumenschlichem anspricht, das nach Heute und Morgen riecht, das von Talent und Jugend umwittert ist. Dieses Werk den Wienern in einer so guten Aufführung gezeigt zu haben, war jedenfalls Pflicht, war vielleicht sogar ein Wagnis, aber es bleibt unter allen Umständen ein Verdienst“.

  2. Kurt Weill (* 2.3.1900 Dessau – 3.4.1950 New York). 1927 begann die Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht, 1928 verfassten sie zusammen „Die Dreigroschenoper“. Sein ab 1927 entwickelter sogenannter „Songstil“ prägte „Die Dreigroschenoper“.
  3. Rudolf Beer (*21.8.1885 Graz – + 9.5.1938 Wien). Beer war Schauspieler, Regisseur und Theaterdirektor. Er leitete 1918–21 das Brünner Stadttheater, 1921–24 pachtete er das Raimundtheater und 1924–32 das Deutsche Volkstheater in Wien. Unter Rudolf Beer war das Volkstheater mit dem Raimundtheater fusioniert, der Spielplan war stark an den Berliner Bühnen orientiert. Zu Beers wichtigsten Regisseuren zählte Karl Heinz Martin. Beer lud viele Ensembles zu Gastspielen ein, darunter das Moskauer Kammertheater unter Alexander Tairoff oder Stars mit eigenen Ensembles wie Fritz Kortner oder Paul Wegener. Beer förderte moderne, progressive Literatur, besonders Luigi Pirandello, von dem 1926 „Heinrich IV.“ mit Alexander Moissi gespielt wurde. Moissi spielte auch den Hamlet im Frack in einer zeitgenössische Shakespeare-Deutung, einem der seltenen Klassiker in der Direktion Beer. 1929 verkörperte Moissi hier seinen legendäre Jedermann, den er bei den Salzburger Festspielen unter Max Reinhardt dargestellt hatte. Dramaturg an Beers Haus war der Autor Franz Theodor Csokor. Ab 1931 war am Volkstheater auch eine Schauspielschule angegliedert, Karl Paryla und Paula Wessely, die dem Ensemble einige Jahre angehörte (Wendla in Wedekinds „Frühlings Erwachen“, 1928) studierten hier. Karl Heinz Martin inszenierte 1929 Bertolt Brechts „Die Dreigroschenoper“ mit großem Erfolg, 1930 Molnárs „Liliom“ in einer Berliner Fassung. Eine Sensation war das Auftreten Emil Jannings in Gerhart HauptmannsDer Biberpelz“ (1930) und „Fuhrmann Henschel“ (1931). 1932 wurde Beer kurzfristig als Nachfolger Max Reinhardts ans Deutsche Theater Berlin berufen, seine Tätigkeit fand aber infolge der Machtergreifung Hitlers schon 1933 ihr Ende und er kehrte nach Wien zurück. 1932 erhielt er den Berufstitel Professor. 1933–38 leitete Beer das Theater „Scala“ in Wien. In dieser Zeit war er auch Präsident des Verbandes österreichischer Theaterdirektoren. 1938 wurde Beer nach dem ‚Anschluss’ Österreichs während einer Vorstellung von CalderónsDer Richter von Zalamea“ vom NS-Betriebszellenleiter Erik Frey gemeinsam mit Robert Valberg aus einer Loge gezerrt und schwer misshandelt. Beer nahm sich am 9. Mai 1938 das Leben. Der Regisseur und Direktor des Theaters in der Josefstadt (im Zeitraum 1935–1938) Ernst Lothar (1890–1974) sagte über Rudolf Beer: „Beer ist an keiner Sensation vorbeigegangen, er hat Hamlet in den Smoking und sich selbst den Respekt von hohen Stil an den Hut gesteckt; aber sein Theater war lebendig, hatte Ehrgeiz und Mut.“
  4. Karl Heinz Martin (*6.5.1888 Freiburg im Breisgau – + 13.1.1948 Berlin). Karl Heinz Martin war Regisseur und Theaterleiter. Martin debütierte 1904/05 in Kassel, wechselte dann nach Hannover und Mannheim , wurde 1910/11 Direktor des Komödienhauses in Frankfurt am Main, 1912/13 Oberspielleiter der dortigen Städtischen Bühnen, 1917–1919 war er Oberspielleiter des Thalia-Theaters in Hamburg. 1919 gründete Martin zusammen mit Rudolf Leonhardt in Berlin das erste deklariert proletarische Theater „Die Tribüne“ (wo er die Uraufführung von Ernst Tollers „Die Wandlung“ mit Fritz Kortner übernahm). 1920–22 war er Regisseur an den Reinhardt-Bühnen in Berlin. Martin wurde in den 1920er Jahren als Regisseur expressionistischer Stücke bekannt, er brachte – ähnlich wie Erwin Piscator – Massen auf die Bühne und förderte progressive Dramatik. 1923 gründete er zusammen mit Heinrich George das Berliner Schauspieler-Theater, ab diesem Zeitpunkt inszenierte Martin in Breslau, Salzburg, an verschiedenen Berliner Bühnen sowie am Raimundtheater in Wien, wo er für die Regie von Arnolt Bronnens „Anarchie in Sillian“ (1924) von Frank Wedekinds „Franziska“ (1924) sowie Bertolt Brechts „Die Dreigroschenoper“ (1929) verantwortlich zeichnete. 1929–1932 war Martin Leiter der Berliner Volksbühne, Ende 1932 wurde er zusammen mit Rudolf Beer als Nachfolger zum Direktor seiner Bühnen ernannt. Nach Gastinszenierungen in Wien 1933/34 war Martin vor allem als Filmregisseur tätig, da er als Theaterregisseur Berufsverbot hatte. Ab 1940 konnte er dank befreundeter Intendanten einige Gastinszenierungen gestalten, etwa an den Münchner Kammerspielen Grabbes „Hannibal“ (1940) und Laubes „Die Karlsschüler“ (1941). Am 15. August 1945 eröffnete er das Berliner Hebbel-Theater (dessen Intendant er bis zu seinem Tod bleib) mit Brechts „Die Dreigroschenoper“ wieder und brachte zahlreiche Uraufführungen heraus. Mit seiner Inszenierung von Gorkis „Nachtasyl“, Molnárs „Liliom“ (mit Hans Albers) sowie durch Gastregisseure wie Jürgen Fehling (Sartres „Die Fliegen“) machte er das Hebbel-Theater zu einer der lebendigsten Berliner Bühnen. Wolfgang Langhoff sagte 1948 über Karl Heinz Martin : „Er wußte, daß die Umschichtung und Umerziehung des Publikums die Aufgabe des Theaters von heute ist, und so wurde er nach dem ersten Weltkrieg ein Mann der Volksbühne, ein Mann des Fortschritts, ein rastloser und suchender Regisseur neuer Stücke, neuer dichter, die mit ihrer Zeit verbunden waren. Diese Seite seines Wirkens ist die größte und ihr muß dauernder Wert zugesprochen werden.“
  5. Alfred Kunz (*26.6.1894 Wien –  2.8.1961 Wien). Kunz war Kostüm- und Bühnenbildner. Ab 1918 wirkte er als freischaffender Architekt, ab 1922 als Bühnenbildner und Ausstatter an vielen Wiener Bühnen. Kunz arbeitete auch für den Film und war als Modezeichner einflussreich. 1938–1945 war er künstlerischer Leiter des „Wiener Hauses der Mode“ im Palais Lobkowitz und wesentlich beteiligt an der 1939 erfolgten Umgestaltung der Wiener Frauenakademie in eine Modeschule der Stadt Wien. 1945–1955 leitete er als erster Direktor die wieder gegründete Modeschule, er baute auch die heutige Modesammlung des Wien Museums auf.
  6. Harald (Johannes David) Paulsen (*26.8.1895 Elmshorn/Hamburg – +4.8.1954 Hamburg-Altona). Paulsen war ausgebildeter Tänzer, Regisseur, Schauspieler. Paulsen debütierte 1913 am Hamburger Stadttheater, spielte am Fronttheater Mitau und kam 1919 nach Berlin ans Deutsche Theater. Paulsen, zum damaligen Zeitpunkt vor allem Operettenstar, spielte sowohl in der Uraufführung von Bertolt Brechts „Die Dreigroschenoper“ (am 31.8.1928 am Berliner Theater am Schiffbauerdamm, die Inszenierung wurde 200 Mal gespielt, bis Ende 1932 wurde „Die Dreigroschenoper“ in 18 Sprachen übersetzt und erfuhr mehr als 10 000 Aufführungen in Europa) als auch in der österreichischen Erstaufführung erfolgreich die Rolle des Mackie Messer. 1938 übernahm Paulsen die Intendanz des Theater am Nollendorfplatz in Berlin, wo damals hauptsächlich Operetten aufgeführt wurden. Er führte auch Regie und übernahm Gesangspartien. Bis 1945 leitete er die Bühne, danach wechselte er ans Schauspielhaus Hamburg. Paulsen wirkte in zahlreichen Filmen mit. Von der „Dreigroschenoper“ existieren heute noch Gesangsaufnahmen mit Harald Paulsen.