Friedrich Austerlitz: Der Parteitag des Parteiprogramms

N.N. [Friedrich Austerlitz]: Der Parteitag des Parteiprogramms (1926)

Der Parteitag ist geschlossen. Er ist beendet worden in Begeisterung und Ergriffenheit. Die Ver­trauensmänner des deutschösterreicchischen Proletariats sind auseinandergegangen im Bewußtsein, daß das ein ganz außergewöhnlicher Parteitag, ein Parteitag von ganz außerordentlicher Bedeutung gewesen ist.

Denn dieser Parteitag hat uns unser neues Parteiprogramm geschaffen, das Programm, das fortan als das Linzer Programm in der Geschichte unserer Partei leben und wirken wird — wirken als die Richtschnur der Erziehung unserer Jugend, wirken als das geistige Band, das die Hunderttausende unserer Parteigenossen zu enger Gemeinschaft des Denkens, Wollens, Handelns verknüpft, wirken als der Weg­weiser zu den großen, begeisternden Zukunftszielen des Sozialismus, die kleinen Kämpfe unseres Alltags einordnend dem geschichtlichen Ringen der Arbeiterklasse der Welt um eine neue Menschheit.

Aus ernstem, schwerem Ringen um die großen Gegenstände des Sozialismus ist unser neues Pro­gramm hervorgegangen. Aber der Parteitag hat das Ringen der Meinungen geführt zur Einheitlichkeit des Wollens. Er hat den ursprünglichen Entwurf unseres neuen Parteiprogramms an vielen Stellen wesentlich abgeändert. In dieser neuen Fassung ist das neue Programm einstimmig, ist es von allen in heller Begeisterung beschlossen worden.

Es ist, wie Otto Bauer sagte, ein gut demo­kratisches und doch zugleich ein gut revolutionäres Programm, das wir uns gegeben haben. Klar, unzweideutig sagt dieses Programm: Wir wollen mit den Mitteln der Demo­kratie die Macht erobern; wir wollen, wenn erst die Macht unser ist, unter voller Aufrechterhaltung der demokratischen Verantwortung der Regierung vor der Volksmehrheit, unter voller Wahrung der demokratischen Freiheitsrechte die Macht ausüben. Aber so demokratisch unser Wollen, so revolutionär bleibt unsere Bereitschaft. Wir wissen: wir werden mit den Mitteln der Demo­kratie die Macht nur erobern können, wenn wir wehrhaft genug bleiben, die Demokratie ver­teidigen zu können. Wir wissen: wir werden die er­oberte Staatsmacht nur dann zum Aufbau des Sozialismus gebrauchen können, wenn wir die Kraft haben werden, jede gewaltsame Auflehnung der Bourgeoisie gegen die Staatsmacht des Proletariats gewaltsam niederzuwerfen. Entschlossen, den Weg der Demokratie zu gehen, aber auch bereit, uns mit revolutionärer Tatkraft zu wehren, wenn es die Bourgeoisie wagen sollte, uns den Kampfboden der Demokratie, uns dereinst das Machtwerkzeug der von uns eroberten Demokratie zu sprengen, so führen wir den Kampf um die Herrschaft des Proletariats in der Republik — die Klassenherrschaft des Prole­tariats, die selbst uns nur das Mittel ist, die Kapitalsherrschaft über die Produktionsmittel zu überwinden, die Scheidung der Gesellschaft in Kapitalisten und Besitzlose, in Reiche und Arme auf­zuheben und damit erst die wahre, die soziale Demo­kratie zu begründen, in der es keine Klassen mehr, also auch keine Klassenherrschaft mehr geben wird.

Und so wie der Parteitag in dieser Frage, alten Streit beendend, alle geeinigt hat zu klarer Bewußtheit des Weges und des Zieles, so sind auch all die andern Streitfragen in voller Einheit beantwortet worden. So hat der Beschluß des Parteitages unsere Stellung zur Religion und Kirche viel glück­licher als der ursprüngliche Entwurf umschrieben. So hat er klar ausgesprochen, daß wir dort, wo die Sach­walter der Arbeiterklasse Betriebe leiten, nicht etwa das Streikrecht wegdekretieren, sondern durch plan­mäßigen Ausbau der Betriebsdemokratie, der Mitbestimmung und Mitverwaltung der Arbeiter und Angestellten dieser Betriebe sie allmählich zu einer sozialistischer Solidarität entsprechenden Einstellung zu ihrem Betrieb, zu den Notwendigkeiten sozialistischen Aufbaues entsprechender friedlicher Schlichtung von //Konflikten in ihren Betrieben führen und erziehen wollen. So hat der Parteitag vor allem das Kapitel des Programms, das von der Internationale handelt, wesentlich verbessert und ausgebaut; sein Beschluß über unsere Stellung zum Völkerbund vor allem wird wohl dazu beitragen, auch außerhalb Österreichs die noch schwankenden Urteile der sozia­listischen Parteien über die Stellung des internationalen Proletariats zum Völkerbund zu klären. Über alle diese Lösungen strittiger Probleme, die der Parteitag im Streite der Meinungen schließlich durch ein­stimmigen Beschluß geklärt hat, werden wir oft, sehr oft noch sprechen müssen.

Denn nun ist, was die Sozialdemokratie in unserer Geschichtsepoche ist und will, in gemeinverständlicher Sprache programmatisch zusammengefaßt. Nun wird es gelten, die Gedankengänge unseres neuen Programms zu den Massen zu tragen, die Massen mit diesen Gedanken vertraut zu machen, die Massen so zu erfüllen mit dem Bewußtsein der großen geschichtlichen Weltaufgabe des Sozialismus!

Der Parteitag hat, wie in jedem Jahre, auch heuer notwendige Gegenwartsarbeit geleistet. Er hat unser Organisationsstatut, die Verfassung der Partei, ausgebaut. Er hat unsere Kampfparolen ausgegeben für den Kampf des Tages. Er hat unseren Entschluß bekräftigt, die Regierung und die bürgerliche Mehrheit vor die Wahl zu stellen: Endlich die Alters- und Invaliditätsversicherung oder sofort Auflösung des Parlaments! Er hat gegenüber der Flut der Beschimpfungen und Verleumdungen, die Rene­gaten und Erpresser im Dienste der kapitalistischen Parteien gegen uns schleudern, den angegriffenen Genossen das Vertrauen der Vertreter unserer ganzen Parteigenossenschaft aus­gedrückt. Aber so wichtig und notwendig alle diese Tagesarbeit war, die wichtigste Leistung des Partei­tages war darum doch nicht die Arbeit für den Tag, sondern die Arbeit für die Zukunft: die Schaffung des Parteiprogramms als der Richtschnur der Erziehung der Generation, die die Macht zu erkämpfen, den sozialistischen Ausbau zu beginnen haben wird, ihrer Erziehung zu klarer Erkenntnis des Zieles, zu verantwortungsbewußter Wahl der Mittel, zu dem ehernen Machtwillen und dem faustischen Kulturwillen, die allein das große Ziel erkämpfen, erreichen können.

 In: Arbeiter-Zeitung, 4.11.1926, S. 1-2.