Edwin Rollett: „Traumtheater“ und „Traumstück“ von Karl Kraus

Edwin Rollett: „Traumtheater“ und „Traumstück“ von Karl Kraus (1924)

(Erstaufführung: Neue Wiener Bühne, 29. April.)

Die Feier des 50. Geburtstages von Karl Kraus, die am Dienstag in der Neuen Wiener Bühne vor sich ging, wurde durch eine Rede des Regisseurs Berthold Viertel eröffnet, der Kraus, „den eigensinnigsten Sohn Wiens“, nach Wesen, Art und Charakter schilderte, die Bedeutung Wiens für Schaffen und Entwicklung des Mannes darstellte, der, „indem er in Wien geblieben, weit über Wien hinauswuchs“, und die verschiedenen Wege aufzeigte, auf denen der Norden und der Süden an die Persönlichkeit des Kämpfers und Dichters Kraus

heranzukommen streben: wie dem Berliner die schneidende Verstandesschärfe das gemäße Eingangstor zu seinem inneren Wesen, dem Wiener dagegen die Pointe des Witzes die Brücke zu ihm bildet. Das zu sich selbst geflüchtete Innenleben des Satirikers, dessen Darstellung die Rede gewidmet war, bildet auch den Inhalt der nachfolgenden Stücke, die, wie Viertel sagte, „seinen Schreibtisch auf die Bühne stellen““und die Zuhörer „in einer

Stunde eine Nacht mit dem Dichter erleben lassen“, wie deren ungezählte in seinen Schaffensjahren dahingegangen sind.

Diese abschließenden und überleitenden Sätze der Rede geben die richtige Einstellung zu den beiden Stücken. Traumtheater und Traumstück sind durchaus lyrische Werke, unmittelbare Bekenntnisse, Nachtvisionen, bei denen das direkte und persönliche Mitwirken und Mitleiden des Dichters noch verdeutlicht und veranschaulicht wird durch den

Rahmen, den „Der Dichter“ als dramatis persona beherrscht. Im wörtlichen Sinne steht sein Schreibtisch auf der Bühne, er ist es, der daran sitzt, er, der die Visionen erlebt und an ihnen teilnimmt. Aus dieser Subjektivität aber erwächst ein Typus: der des Kunst- und Lebenverbundenen, des Gestalters und Weltleid Erleidenden. Und das Wort des 

Traumtheaters: „Ich habe zu Einzelgestalten, wie sie im Leben herumlaufen, keine Beziehung“, darf in höherem Sinne über beide Dichtungen gesetzt werden.

„Das Einssein des Weibes und der Schauspielerin, die Übereinstimmung ihrer Verwandlungen, die Bühnenhaftigkeit einer Anmut, die zu jeder Laune ein Gesicht stellt“, die Erkenntnis der „zeitwidrigen Urkraft“ des Weibes, des „Urgesichts der monotonen Vielgestalt und Wechselblicks Naturgewalt“ sind die Probleme der „zarten Gabe“, die Traumtheater heißt. Fünf kleine schlanke Szenen, licht, klar und  spielfreudig, in dem schweren Rahmen des Zwiegespräches von Dichter und Regisseur, eingefügt als erhellender Traum in die trübe Wirklichkeit, als ein Lichtblick aus den

Regionen, in denen „die Elemente auf das Leben losgelassen“ sind, einen Meter hoch über dem Leben. — Ein Fliehen in das Reich der Phantasie, aus dem das Theater als einziges Vorwerk in die Wirklichkeit herüberragt, dem Traum verwandt in seiner Unwirklichkeit, Sinnenspiel und Spiel der Gedanken vereinend, im Verlorensein Geist und Leib zueinander führend, zugleich Symbol des künstlerischen Schaffens und seiner Kämpfe mit der Realität überhaupt.— Was an Symbolik und an mystischen Zusammenhängen noch in diesem feinen

Spiele liegt, ist wohl nachzufühlen, nicht nachzudenken. Wie viele Deutungen möglich, wievielerlei Gaben daraus zu nehmen sind, läßt sich nur ahnen. Eine skizzierende Analyse von Poesie bringt nur den Schatten ihres Skelettes fertig. Nur Konstruktionen lassen sich bis zu Ende deuten. Dichtung muß in ihrem Wesen erfühlt, immer neu, immer anders erfühlt werden.

Das Traumstück, das aus Vorlesungen des Dichters und aus der schon seit längerer Zeit erschienenen Buchausgabe bereits bekannt war, ist das weltanschaulichere, das wirklichkeitsnähere der beiden Stücke. Visionen der Sehnsüchte und der Widerstände, gestaltende Abrechnung mit den Fratzen der Wirklichkeit, die in das Traumleben eindringen.

Die peinigenden Erscheinungen der entmenschten Nachkriegszeit, aus denen Niedertracht, Habsucht, Vertierung und abgründiges Elend ihre Bekenntnisse tun, löst die Flucht in die Natur, zum Ideal ab. Die dorthin nachdringenden scheußlichen Bilder knechtender Unfreiheit erwecken die Kampfesfreude des Verstandes, der wieder durch Ausartungen des Verstandes, die „Psychoanalen“, denen die längste // und schärfste Szene des Dramas gilt, verscheucht wird. Traum und Traumdeutung sind hier in ebenso geistreicher als boshafter Art in Beziehung gestellt. Der Hilferuf, in den die Szene ausklingt, sucht Rettung aus solcher Klarheit in den Traum. „Imago“, das aus der Wand sprechende Bild, hier eine Versinnlichung künstlerischen Weltfühlens, das alles durchlebt und sich in allem darbietet, das kleine, sonst übersehene, von ihm beachtete Geräusch des fallenden Tropfens, die Poesie des Kleinsten, und der Traum selbst führen endlich den Weg des Trostes, leiten in ein  phantasiebeschwingtes Erwachen, dem das Geräusch des Teppichklopfens noch zu einer letzten Vision verhilft, die die Welt nicht nach Besitz, sondern nach Wert geordnet zeigt und schon durch einen Ansatz dazu Versöhnung mit dem Leben verheißt. 

Das Erlebnis dieser Traumdichtungen wird durch eine ganz ungewöhnlich intensive Regietat Berthold Viertels vermittelt. Er ist der bühnenkundige, hingebungsfreudige Leiter, den solche Dichtung, ja Dichtung überhaupt, braucht. Seine Führung bleibt in der Gefolgschaft des Autors, hebt Gedanken, Vers und Wort sinnlich, ohne sie zum Effekt auszuschroten. Aus dem Versenken in die dichterische erwächst ihm die theatralische Vision. Geringfügiges gewinnt Bedeutung: Der gedämpfte Trommelwirbel hinter der Szene, der die Erscheinung des Schieberpelzes begleitet, das spukhafte Hervorschnellen der drei Nachkriegsvisagen, der unheimlich starre Aufmarsch der Teufel des Weltkrieges sowie die unwirkliche Lieblichkeit der Imagoszene im Traumstück und die halb wie ein Märchen, halb wie ein Marionettenspiel gehaltene Stilisierung der Visionsszenen des Traumtheaters spiegeln Geist vom Geiste des Dichters. Die szenischen Bilder Leopold Blonders gesellen der Dichtung und den Regieideen das entsprechende malerische Gewand. Lothar Müthel hat in beiden Stücken die Rolle des Dichters inne. Sein Spiel ordnet sich von innen heraus. Der Schwerpunkt liegt im Herzen. Der Körper gehorcht den Gängen der Seele, der Ton des Sprechers dem Geiste des Wortes. Cäcilie Lvovsky innig und lieblich als Imago, weich, instinkthaft, gar nicht dämonisch als Schauspielerin im Traumtheater, weder Schlange noch Kätzchen, sondern warmes Weib. Von überwältigender Scheußlichkeit Oskar Homolka als Gürtelpelz und als tanzender Zinsfuß, Lyda Salmanova als Valuta, das Trio der Psychoanalen (Behal, Farkas, Schrecker) äffende Alpdrücke. Karl Götz, dezent als „der alte Esel“, Ernst Stahl-Nachbaur männlich und fest in beiden Stücken. Unter den Darstellern gab es keinen, der nicht gegeben hätte, was er konnte und mußte.

Daß die Hörerschaft von diesem in jeder Hinsicht seltenen Theaterereignis hingerissen ward, gehört zum Selbstverständlichen.

In: Wiener Zeitung, 2.5.1924, S. 1-2.