Karl Federn: Lion Feuchtwangers „Jud Süß“

Karl Federn: Lion Feuchtwangers „Jud Süß“ (1925)

Vor hundert Jahren hat Wilhelm Hauff die Geschichte des jüdischen Finanzministers des Herzogs Karl Alexander von Württemberg, Josef Süß Oppenheimer unter dem Titel Jud Süß in einer seiner zartlinigen Novellen behandelt. Unter dem gleichen Titel, dem Namen, mit dem das Volk den glänzenden und verhaßten Mann bezeichnete, hat jetzt Lion Feuchtwanger einen Roman veröffentlicht.

Wilhelm Hauff lebt in seinen prächtigen und farbenreichen Märchen fort, während seine Novellen uns heute wie sauer gezeichnete, mit kalten Farben und Schatten ausgeführte und ein wenig vergilbte Skizzen anmuten. Sein Roman Liechtenstein ist ein hübscher Bilderbogen für die Jugend. Die historische Erzählung stand durch die ganze erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts und länger unter dem Einfluß Walter Scotts. Es war eine theatralisch äußerliche Auffassung und Darstellung der Ereignisse. Die unsägliche Fülle, die außerordentliche Kompliziertheit der Vorgänge in der eigenen Zeit begann man zu fühlen; Balzac, der Schöpfer des modernen Romans, stellte sie dar; für die Vergangenheit erlaubte man sich eine sonderbare Vereinfachung: ein wenig Pathos und Kostüm genügte.

Seither hat die historische Forschung durch die Erschließung und Beobachtung einer Fülle früher  unbeachteter Quellen und Dokumente die vergangenen Geschlechter in ihrem intimsten Leben gleichsam beobachten gelernt; und die Dichtung, der ja die Vergangenheit als Stoff nur durch die Geschichte vermittelt wird, müßte ihr folgen und stellt sie heute mit ganz anderer Erkenntnis dar. Wir erkennen die tiefe Gleichheit, die uns mit den Menschen, die vor uns waren, verbindet, mit denen wir alle Urtriebe gemeinsam haben, Hunger, Liebe, Ehrgeiz, Rachsucht und Habgier und die anderen Lüste sowie die natürlichen und die kosmischen Ereignisse Geburt, Tod und Krankheit, Land und Meer und den Wechsel der Jahreszeiten, die immer gleich wichtig und mächtig über unser Dasein bestimmen. Zugleich aber haben wir die unendliche Verschiedenheit in en Formen des

Lebens und im Ausdruck von jetzt und einst schärfer erkannt. So haben wir im Spiegel der psychischen Komplikationen unserer eigenen Zeit die der Vergangenheit verstehen gelernt, und wir stellen heute die Menschen und Ereignisse vergangener Jahrhunderte mit ganz anderen Farben dar und suchen diesen Darstellungen eine viel intimere und wahrere Stimmung zu geben als jene mit ein wenig Kostüm und Pathos geschaffene, die vor fünfzig Jahren üblich war. Das Abblassen und Schönfärben in der Literatur hat aufgehört. Und so wie wir in unserer eigenen Zeit gefährliche Unterströmungen erkannt haben und nicht verschweigen, so kennen wir heute die wirklichen Schrecken der Vergangenheit, die früher hinter den Kulissen und Vorhängen des pathetischen Theaters verborgen blieben: Und es verlangt heute fast eine größere Intuition und Begabung des Dichters, die Vergangenheit künstlerisch vor uns auferstehen zu lassen, als die Gegenwart zu schildern, wobei so häufig eine billige Beobachtung an die Stelle schöpferischer Phantasie tritt und so wenig wie der photographische Apparat die Kunst ersetzen kann.

             Feuchtwanger läßt eine ganze Epoche vor uns auferstehen. Wo Hauff eine kurze tragische Szene mit ein wenig Kostüm darstellt, gleichsam eine Skizze mit ein paar Schatten und Lichtern hinsetzt, da entrollt der Autor unserer Zeit ein breites Gemälde, läßt Fürsten und Völker, die Schicksale der einzelnen wie die der Massen in tragischer Verkettung vor unseren Augen sich entwickeln. Sein Stoff, in diesem Falle die Vorstellungen von einem vergangenen Leben, die er aus Büchern gewonnen, und durch sein dichterisches Schauen und die in eigener Erfahrung erworbene Menschenkunde belebte, ist nicht nur die Geschichte und die Tradition von dem fragwürdigen jüdischen Finanzminister, sondern die Welt des achtzehnten Jahrhunderts, oder doch ein Teil dieser Welt, die süddeutschen Kleinstaaten des Rokokos. Württemberg, seine Fürsten, seine Stände und sein Volk in ihren Kämpfen um die Verfassung, die benachbarten Reichstädte und Bischöfe; Katholiken und Lutheraner in ihren Gegensätzen; Weltleute und Pietisten, Beamten und Offiziere und dazwischen als seltsame fremdartige bewegliche und bewegende Gestalten die Juden, gehaßt, verfolgt und mächtig in alles tief verwickelt und verstrickt durch die Fäden des Geldes, die so vielfach durch ihre Hände gehen. Diese alle tauchen auf aus der Masse des Volkes und versinken wieder im Volk, das wie zu allen Zeiten das Opfer der wenigen Gewalthaber ist, die, stark und listig oder unbewußt, es zu ihren Zwecken trügen, treiben und ausbeuten und deren williges oder murrendes Werkzeug es selber ist. Das lebt und brodelt vor unseren Blicken auf allen Straßen, in Fürstenschlössern in Bädern und auf den Marktplätzen der Städte, in Kramläden, Wirtschaften, Kirchen und Synagogen, wie in einsamen Winkeln des weiten Landes.  Und auf dem Hintergrund dieser ameisenartig durcheinander kribbelnden Masse treten scharf umrissen, durch das kreisende Räderwerk der Ereignisse alle unentrinnbar mit einander und mit ihrem Hintergrunde verflochten, die einzelnen in ihren Sonderschicksalen hervor, vor allein der dem Buch den Namen gab, der geschmeidige, elegante, lebensgierige Halbjude Josef Süß Oppenheimer, unerhört begabt, ehrgeizig, oberflächlich, frevelhaft gewissenlos und doch anziehend durch seine Kühnheit und seine Tragik. Und neben ihm der Herzog Karl Alexander in seiner stattlichen Wüstheit, seiner falschen — Biederkeit und so viele andere Männer und vor allem auch Frauen jeder Art, Fürstinnen, Maitressen, Bürgerfrauen und Mädchen bis zum armseligsten Schlammgeschöpf hinunter, eine ungezählte, glänzend gesehene, glänzend beherrschte Komparserie, die man nicht, sie aus dem Buch heraushebend, nachzeichnen kann, wie das lebendige Leben sich darstellen, aber nicht kritisch charakterisieren läßt.

Ob die geschichtlichen Vorgänge sich so abgespielt haben, ob Feuchtwanger, wie er als Dichter durfte und mußte, das Räderwerk zu seinen Zwecken eingestellt und verschoben hat, ist gleichgültig; genug, daß er uns zwingt, was er erzählt, // zu sehen und zu glauben. Als ein wesentliches Moment geht der Gegensatz und die Wechselwirkung von Juden und Christen durch das Buch, die darzustellen so oft versucht wird und so selten gelingt. Hier gelingt es, weil es mit gelassener Kunst, gleichsam absichtslos geschieht. Das Pathos wie der Humor im Spiele der Rassen, die wenige Herrlichkeit und die viele Gemeinheit und Niedertracht in den Menschenseelen, und doch auch das Süße und vor allem das Mitleidswürdige ihres Wesens und Daseins ist voll zum Ausdruck gebracht. Und während dieses ganze bunte Welttheater, auf der einen Seite gesehen, in Regierungsintriegen, Geschäften, Prozessen, Liebeshändeln, in erklärlichen Zusammenhängen verläuft, so fällt mitunter, wenn der Vorhang oder die Kulisse sich zu verschieben scheint, plötzlich ein Ausblick in die geheimnisvolle Welt dahinter, wo unsichtbare und unbekannte Mächte das Ganze an magischen Fäden zu schieben und zu leiten scheinen.

Das Buch ist in einer starken und gesunden Sprache geschrieben, die weder gesucht noch verzerrt ist und doch keinen Augenblick leer oder gewöhnlich wird. Die Sätze sind durchblutet und übervoll an Inhalt; jeder fügt ein Geschehnis, eine Farbe, einen Sinn hinzu; keiner ist Füllsel, jeder ist notwendig. Die Handlung geht stark und unaufhaltsam vorwärts, ohne Stillstand, ohne Länge. Gern bezeichnet Feuchtwanger seine Personen mit ein paar bestimmten, scharf gewählten Worten, die ihr Wesen oder ihre Erscheinung kennzeichnen, und die, jedesmal wiederholt, den Eindruck beständig verstärken und die einzelnen Figuren so plastisch hervortreten lassen; ähnlich wie Richard Wagner mit seinen Leitmotiven die einzelnen Helden und andere wiederkehrende Vorgänge begleitet und anzeigt. Es ist ein technischer Kunstgriff, den schon Thomas Carlyle in seinen historischen Werken anwendete, den Thomas Mann in den Buddenbrooks einführte. Je mehr ein Roman sich dem Kunstwerk nähert, desto leichter wird der Autor zu diesem rhythmischen und zugleich malerisch wirkenden Mittel greifen. Und dieser Roman ist, was so wenige Romane sein können, was die besterzählten und unterhaltendsten zumeist nicht sind, ein wirkliches Kunstwerk durch einen straffen Aufbau, die Rhythmik seines Ganges das harmonische Verhältnis der einzelnen Teile, die Notwendigkeit, die in ihm herrscht. Oder vielmehr, es ist gar kein Roman — wenn man sich über die Willkürlichkeit der Werte hinwegsetzen will — es ist ein Epos: ein Epos von Christen und Juden und vom deutschen Leben im fürstlichen und bürgerlichen Rokkoko des achtzehnten Jahrhunderts.

In: Neue Freie Presse, 4. 10. 1925, S. 32-33.