Otto Koenig: Neue Romane und Erzählungen. (F. Werfel: Der Abituriententag, B. Brehm: Der lachende Gott)

Otto Koenig: Neue Romane und Erzählungen. (F. Werfel: Der Abituriententag, B. Brehm: Der lachende Gott) (1928)

Der neue Roman Der Abituriententag von Franz Werfel (Paul-Zsolnay-Verlag. Wien) zählt zu den stärksten epischen Werken der Gegenwartsdichtung. Er ist die Geschichte einer Jugendschuld. Durch die Erinnerungen, die einer der üblichen Zusammenkünfte ehemaliger Maturakameraden, ein sogenannter „Abiturrententag“. weckt, wird auch das Er­innern an den Mitschüler Adler, einen Ver­schollenen, einen Abgesunkenen der Klasse, lebendig; der Untersuchungsrichter Sebastian glaubt jenen ehemaligen Mitschüler Adler in einem Untersuchungshäftling wiederzuerkennen, der ihm als eines Prostituiertenmordes verdächtig, eben an diesem Vormittag der Abiturientenzusammenkunft vorgeführt worden war. Er glaubt dies, weil er mit jenem befähigten Adler damals um die Herrschaft in der Klasse gerungen, weil er ihn gedemütigt, verführt und ihn schließlich, um sich selbst vor vernichtenden Gymnasialkonsequenzen seiner Jugendstreiche mit Katalogfälschungen und heimlichem Bordellbesuch zu retten, zur Flucht drängte und verhalf, er glaubt dies, weil er an jenem verschollenen Mitschüler schuldig ge­worden ist. In der Nacht nach dem Erinnerungsabend fiebert und phantasiert der aufgewühlte Richter diese fernvergangene Gymnasialschuldtragödie, aus der er durch Auf­opferung jenes andern heil hervorgegangen ist, noch einmal durch. Am darauffolgenden Morgen, im Amt vor dem Inkulpaten Franz Adler, der aber jener andre Franz Adler gar nicht ist, erfolgt im furchtbaren seelischen Ringen um Entsühnung ein Nervenzusammenbruch und durch ihn seelische Befreiung. Tiefe Zu­sammenhänge zwischen dem ethischen Gott in uns und dem Dämon des Selbsterhaltungstriebes offenbaren sich in dem hocherregten, dramatisch komprimierten Werk hinter der Schilderung und Handlung, die mit fein­fühligster Detailmalerei den  kaiserlich öster­reichischen Beamtenstaat, seine Beamtendrillschulen, die Gymnasien und das Provinzmilieu, naturfarbig illuminiert.

Der lachende Gott.

Mit Altösterreich, seinen Gymnasiarchen, sonstigen Unterrichts- und andern Beamten, mit seinem Militär, seinen Kleinstädtern und der Provinzmoral hat es auch der soeben im Verlag R. Piper (München) erschienene Roman Der lachende Gott zu tun. Sein Dichter, Bruno Brehm, ist ein neuer Mann, der aber wegen seiner in dieser Erzählung frappant in Erscheinung tretenden sicheren Schilderungskraft und reifen Begabung mit Ehren empfan­gen werden muß, obwohl sein lachender Gott — ein Priapus ist, der antike, in spätrömischer Zeit besonders eifrig kultivierte Gott männ­licher Zeugungskraft mit dem symbolisch über­triebenen, ungeheuren Phallus, also in unserer Zeit, da die Erotik offiziell nicht mehr religiös überhöht zu werden pflegt, eine frivole Obszönität. — Dieser grün patinierte römische Bronzepriapus wird von einem Bauern in der Nähe einer altösterreichischen Provinzstadt, die der Verfasser so liebevoll und genau schildert wie Goethe das Städtchen seines Hermann, auf seinem Acker ausgegraben. Der Sohn des Bauern, der Schüler am Provinzgymnasium ist und die Figur dem Direktor überbringen will, wird als unbeliebter Bauernsproß von diesem engstirnigen Unterrichtsbeamten in eine Disziplinaruntersuchung hineingetrieben und ausgeschlossen. Die ehrbar verhohlene Erotik der Spießbürger aber kommt durch den lachen­den Gott außer Rand und Band. Der Einzug der feurigen Offiziere und Mannschaften eines ungarischen Infanterieregiments verstärkt die aufstachelnden Reizungen und Wir­kungen. Die drei „destruktiven Elemente“ des Städtchens mischen sich ins Spiel, der lachende Gott wird aus dem Gymnasium gestohlen; die in verschiedenen Gesellschaftsschichten und Menschen in verschiedenen Nuancen aufflammende Sexualität führt zu Lächerlichkeiten, Komödien, Duellen, Orgien, zu Mord, behördlichen Verfolgungen, Verhaftungen und zum aktiven oder auch passiven Selbstmord der kompromittierten Honoratioren, unter denen die Künstlernatur des Zeichenprofessors RabI die sympathischeste ist. Der Dichter versteht sehr wohl in Spannung zu halten, weiß sein Garnisonsstädtchen zwischen der Thaya und Carnuntum vorzüglich zu zeichnen, prachtvoll echte Offiziers-, Beamten- und Provinzproletariergestalten zu formen, die auch dann lebensecht sind, wenn er nach seiner katholischen Idealismen zugeneigten Art eine Ausnahmefigur wie die des gütigen und weisen Religionsprofessors Pichler schildert. Eine leise und klug lächelnde Satire ist dieser Provinzroman aus der altösterreichischen Provinzgarnisons- und Gymnasialstadtskandalgeschichte, die zwischen unverhältnismäßigen, aber in diesem Milieu wahrscheinlichen Katastrophen eindringlich an­deutet, wie der Schuldige, der Gymnasialdirektor, in allen Würden bleibt, während die einzige Konsequenz, die die Provinzgemeinde öffentlich zieht, die ist, daß die straßenkehrenden Lumpenproletarier und Saufbrüderln, die ohnehin „gemütliche Menschen“ sind, die mit dem Eros keine Beziehungen unterhalten, nicht mehr auf dem Hauptplatz lungern dürfen.—

Und dann geistert noch ein tiefes und großartiges Wissen bedeutsam durch diesen originellen Roman: Das Wissen vom Erschrecken vor einer in die Gegenwart tretenden kultischen Vergangenheit, die Ahnung, daß das Bild des Gekreuzigten, in fernen Tagen zufällig auf­erstehend, auch Grauen, Entsetzen und Ver­wirrung anrichten müßte.

In: Arbeiter-Zeitung, 22.12.1928, S. 6.