Rudolf Lothar: Der Autor als Unternehmer

Rudolf Lothar: Der Autor als Unternehmer (1926)

Als ich im Herbst vorigen Jahres zu Beginn der Saison in einem meiner Artikel an dieser Stelle den Berliner Theaterverhältnissen eine sehr pessimistische Diagnose stellte, waren die Berliner Theaterdirektoren über meinen Artikel sehr empört. Ich muß gestehen, daß diese Empörung mir sehr sympathisch war. Denn zu keinem anderen Beruf braucht man mehr Optimismus und Selbstvertrauen als zum Berufe des Theaterdirektors. Ein guter Theaterdirektor muß an sich, an seine Schauspieler, an seine Autoren glauben und muß diesen Glauben dem Publikum beibringen. Wenn ihm das gelang – in der guten alten Zeit – dann war er geborgen. Aber heute genügt auch der stärkste Optimismus nicht mehr, um ein Theater zu einem gewinnbringenden Unternehmen zu machen, selbst dann nicht, wenn das Publikum tatsächlich kommt und ein Stück tatsächlich Erfolg hat. Der Etat ist nicht hereinzubringen. Die Schauspielergagen sind nicht zu erschwingen. Auch darüber habe ich bereits an dieser Stelle gesprochen, wie die Gagenforderungen der Schauspieler heute jedes Theatergeschäft unmöglich machen. Leider hält das Frühjahr, was ich im Herbst prophezeite. Die großen Truste entlassen alle ihre Schauspieler. Ein so kluger Theatermann wie Dr. Zickel sagte, wie die Leser Ihres Blattes wissen, daß am 1. Mai wohl alle Berliner Theater geschlossen sein dürften. So schwarz sehe ich nun allerdings nicht, aber ich muß Zickel recht geben, wenn er behauptet, daß unter den gegenwärtigen Verhältnissen das Theaterführen unmöglich ist. Es müssen ganz neue Verhältnisse geschaffen werden, das Theater muß auf ganz neuer Basis aufgebaut werden. Aber auf welcher Basis? 

In Paris ist eine solche neue Basis gefunden worden. Dort tritt immer mehr und mehr der Autor selbst als Unternehmer auf. Dort wird es nach und nach zur Regel, was bei uns noch verpönt ist. Der Theaterdirektor ist sein eigener Autor. 

Die erfolgreichen französischen Dramatiker geben ihre Stücke in eigener Regie: das tut Bernstein, das tut Verneuil, das tun Savoir und andere. Wenn ein Dramatiker ein Stück hat, von dem er sich etwas verspricht, dann geht er zu einem Direktor, garantiert ihm den Etat und ein paar hundert Franc darüber und der Rest fließt in seine Tasche. Natürlich ist das Geschäft ausgezeichnet, wenn das Stück einschlägt. Geht es schief, so kann der Mißerfolg dem Autor Kopf und Kragen kosten. Allerdings hat der Pariser Autor weit mehr Möglichkeiten, den Erfolg zu forcieren als der deutsche Autor. Die Theaterreklame spielt in Paris eine viel größere Rolle als bei uns. Den wahren Sinn der Kritik verstehen nur die Leute vom Bau und die Eingeweihten, denn äußerlich ist fast jede Kritik so liebenswürdig und wohlwollend, daß der gewöhnliche Leser oft an einen Erfolg glaubt und gar nicht ahnt, wie der Kritiker den Autor verreißt. Eine geschickte Claque täuscht vollends den Provinzbesucher über den Wert des Stückes hinweg. Allerdings läßt sich ein Mißerfolg auch dort durch alle Mittel und Mittelchen nicht zu einem Erfolg stempeln, aber es ist immerhin möglich, vor allem, wenn man über genügend Geld verfügt, ein Stück statt zwanzigmal, wie es regulär gehen würde, hundertmal zu geben. Und hat einmal ein Stück die hundertste Aufführung erreicht, dann rollt es von selber weiter. Zum Theaterführen gehört nun einmal Geld, denn um einen richtigen Erfolg zu machen, braucht man Reklame und Reklame muß gut bezahlt werden. Der Autor also, der als Theaterdirektor auftritt, wenn auch nur vorübergehend und von Fall zu Fall, muß Kapitalist sein. Ich weiß nicht, ob sich heute deutsche Autoren finden würden, die bereit wären, Geld in ihre eigenen Stücke zu stecken. Ich betone: heute. Denn ich kann mir sehr gut den Fall vorstellen, daß es bald für den Autor keine andere Möglichkeit geben wird, sein Stück auf der Bühne zu sehen, als wenn er selbst als Unternehmer auftritt. Vielleicht läßt sich sogar einmal eine Formel finden, auch die Schauspieler am Risiko zu beteiligen und ihre Gage von der Größe des Erfolges abhängig zu machen. 

Das Pariser System nähert sich, wie man sieht, sehr dem amerikanischen. Auch in Amerika übernimmt der Unternehmer stets nur das Risiko für ein Stück. Nur daß drüben der Unternehmer selten der Autor selbst ist. Ich möchte aber als Kuriosum erwähnen, daß der größte Erfolg, den die amerikanische Bühne je erlebt hat, das Stück Abie’s Irish Rose ist. Die Autorin Annie Nichols konnte das Stück nirgends anbringen und wagte endlich, es auf eigene Faust in einem ad hoc gemieteten Theater zu spielen. Dieses Wagnis hat ihr bis heute über drei Millionen Dollar eingebracht. Das Stück ist in New York allein über viertausendmal gespielt worden. Dieses Beispiel mag beweisen, daß der Autor als Unternehmer auch sehr gut reüssieren kann, wenn er Glück hat. Allerdings, ein bißchen Hasard wäre bei diesem System immer im Spiele. Noch kein Mensch mit irdischen Sinnen hat bis heute die Chancen eines Stückes vor der Aufführung voraussehen können. Es wirken zu viele Imponderabilien mit. Es kann passieren, daß ein Stück gegeben wird, das einem maßgebenden Kritiker außerordentlich gefallen hätte. Dieser Kritiker wird am Tage der Premiere krank, und dem Kollegen, der ihn ersetzt, gefällt das Stück ganz und gar nicht. Oder: an dem Tage, wo ein Lustspiel gegeben wird, passiert in den Nachmittagsstunden kurz vor der Aufführung etwas Schreckliches, was die ganze Stadt in Aufruhr versetzt. Die Stimmung ist vorbei. Das Lustspiel, das an einem anderen Tage vielleicht stürmische Heiterkeit erweckt hätte, findet bei dem zerstreuten, erregten Publikum nur eine kühle oder gar eisige Aufnahme. Zu jedem großen Erfolg gehört eine Dosis Glück. Also ist Theaterleben allemal ein Glückspiel. Der heutige Direktor kann die Scharte von gestern morgen auswetzen. Der Autor-Unternehmer hat keinen zweiten Pfeil im Köcher. Der Mißerfolg kann ihn finanziell so schwer schädigen, daß er Jahre braucht, um sich wieder hochzurappeln. Aber da wird es vielleicht auch Mittel geben, um die Gefahr abzuschwächen. Etwa eine Kombination zwischen Unternehmer und Autor, eine Paarung von Autor und Finanzmann, wobei natürlich der Autor auf einen Teil seines Gewinnes verzichten müßte. Jedenfalls aber glaube ich, daß die Erscheinung des Autors als Unternehmer nicht auf Paris beschränkt bleiben wird. Er ist gewiß eine der Formen des künftigen Theaterbetriebes. 

In: Neues Wiener Journal, 14.3.1926, S. 16.