Paul Stefan: Rasch noch einige Bücher

Paul Stefan: Rasch noch einige Bücher (1927)

Rasch, das ist noch vor Weihnachten. Es sind vielleicht keine Weihnachtsbücher – die gibt es ja wohl auch gar nicht. Aber es sind Bücher für jedermann, und vor allem gute, sehr gute Bücher. 

Ein merkwürdiger Roman, ein Buch, das alle unsere Ansichten über Amerika und amerikanische Literatur zu erschüttern imstande ist. Das ist die Amerikanische Tragödie von Theodor Dreiser. Dreiser ist deutscher Herkunft, aber der rechte Amerikaner und sein Buch ist selbstverständlich auch englisch geschrieben, jetzt aber in einer guten deutschen Übersetzung bei Zsolnay erschienen. Diese amerikanische Tragödie ist eine richtige Tragödie, nicht minder bedeutungsvoll, als die Schilderung der Schicksale Raskolnikows. Aber hier ist eine Tragödie, wie sie in ihrem erregenden Moment, in ihrer Katastrophe nur in Amerika Ereignis werden konnte. Ein Roman von über tausend Seiten erzählt das Leben und den Tod des jungen Clyde Griffith, dessen Eltern als religiöse Prediger in den Straßen der amerikanischen Provinz umherziehen. Dies ist überhaupt ein Provinzbuch, und so gibt es noch europäische Vergleichsmöglichkeiten, gibt es auch überraschend viele deutsche Familiennamen. Clyde lernt als Boy in einem Hotel die Sitten und den Luxus der großen Welt kennen, gerät dann als Arbeiter, später als Aufseher in die Fabrik seines reichen und angesehenen Onkels; schon winkt ihm die Hand einer reichen Erbin dieser Industriegesellschaft, da wird seine Geliebte, ein entzückendes Mädchen aus der Fabrik, guter Hoffnung. Man sucht die Folgen zu verhindern, aber da es nicht gelingen will, lockt der junge Mann das Mädchen im Ruderboot an eine entlegene Stelle im Seengebiet; er wollte sie töten, aber sie stürzt von selbst ins Wasser. Alsbald kommt die Tat auf und ein ehrgeiziger Staatsanwalt, der um seine Stelle kämpft, leistet sein Probestück, indem er bei den Geschworenen ein Todesurteil durchsetzt. Nun kämpft Clydes Mutter in allen religiösen Gemeinden verzweifelt um die Kosten eines Wiederaufnahmeverfahrens. Aber der Gouverneur lehnt einen neuen Prozeß ab und Clyde muß auf den elektrischen Stuhl. Keinen Augenblick verläßt den Autor, der ein ganz großer Dichter ist, seine psychologische Meisterschaft; Schuld und Sühne werden herzbewegend gedeutet. Furchtbar, aber auch großartig sind die Szenen im „Todeshaus“, etwa wenn der elektrische Lichtstrom schwächer wird, weil der Kraftstrom gerade einen tötet. Ein amerikanischer Dostojewsky hätte es nicht besser machen können. 

So jung Werfel ist – schon erscheinen (bei Zsolnay) seine Gesammelten Werke. Zunächst die Gedichte, die seinen Ruhm begründet haben, alle die Sammlungen, wie „Weltfreund“, „Einander“, „Wir sind“, „Gerichtstag“ und viel Neues in einem einzigen starken Band. Der ist nun ein europäisches Dokument, in Bruchstücken längst in viele fremde Sprachen übersetzt, in alle Literaturgeschichten aufgenommen. Was uns Werfel so wert macht, ist nicht nur seine lyrische Gewalt, nicht nur der klassische Ausdruck des Zeitgefühls, sondern insbesondere die starke, bezwingende Menschlichkeit, die aus jeder Zeile, jedem Vers dieses gütigen, vornehmen und doch um jeden Einzelnen werbenden Dichters spricht. Eine Sammlung seiner Gedichte, die übrigens mit höchster Kunst angeordnet und durchgeführt ist, war notwendig und ist auf das herzlichste zu begrüßen. 

Der berühmteste Dichter der Generation vor Werfel, Arthur Schnitzler, gibt im Wiener Phaidon-Verlag ein Buch der Sprüche und Bedenken heraus. Es sind prachtvolle Aphorismen, die nicht nur den Meister der Sprache, sondern auch einen unerbittlichen und doch liebevollen Denker zeigen. Die Titel einzelner Abschnitte wie „Schicksal und Wille“, „Verantwortung und Gewissen“, „Wunder und Gesetze“, zeigen allein schon welche Fülle dieser schmale, aber wahrhaft bedeutende Band birgt. Wenn uns Schnitzler noch näher gebracht werden könnte, durch dieses Buch würde es geschehen. 

Endlich ein Bilderbuch, ein Parallelband zu der reizenden Sammlung Wien in Bildern, die hier angezeigt wurde. Diesmal hat der Verlag Dr. Hans Epstein in Wien „Venedig in Bildern“ mit nicht minderem Glück und Geschick für die Erinnerung festgehalten. Es ist ja die uns nächste und wohl auch liebste italienische Stadt, die Stadt, in der sich jeder Wiener noch ein wenig heimisch fühlt. Und jedenfalls ist dieses neue und billige Bilderbuch vollständig; es läßt weder die bekannten Schönheiten, noch die verborgenen Winkel vermissen. 

In: Die Stunde, 24.12.1927, S. 6.