Paul Szende: Der Schieber als Sinnbild der heutigen Wirtschaftsordnung (1922)

Paul Szende: Der Schieber als Sinnbild der heutigen Wirtschaftsordnung.

             Der Schieber ist ein Kriegsprodukt und verdankt sein Dasein der Warenknappheit. Er überdauerte den Zusammenbruch, die Revolution und Gegenrevolution, trug zuletzt einen glänzenden Sieg über die bolschewikische Theorie in Rußland davon. Er behauptet sich trotz Verachtung, Schlagworten und Gesetzen überall. Was sind die geistigen Fähigkeiten dieser Menschengattung? Worin besteht ihre Überlegenheit? Versuchen wir dies festzustellen.

1. Schnelle Anpassungsfähigkeit.

Der Schieber war und ist der Registrierapparat der Konjunktur, der alle Bewegungen des wirtschaftlichen Körpers genauest aufzeichnete und augenblicklich verwertete. Er ist in jeder Branche zu Hause, keine Ware entgeht seiner Aufmerksamkeit. Ebenso blitzartig ist seine politische Anpassungsfähigkeit. Obzwar er für die alte Ordnung schwärmt, das Schwinden der hergebrachten Autorität und Disziplin beklagt, findet er sich in alle politischen Systeme hinein; ob Monarchie oder Republik, Reaktion oder Demokratie, er ist in allen Sätteln gerecht, er liefert ebenso gern für Horthy wie für die russische Sowjetrepublik.

2. Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit.

Doch gleicht diese Anpassungsfähigkeit mehr der des Aasgeiers, der in der höhe schwebend den Kadaver mit Scharfblick erforscht und sich in blitzschnellem Sturzflug auf ihn wirft. Der Schieber war im Kriege der Frontkämpfer des Hinterlandes, und er führt den Stellungskrieg gegen die konsumierende Bevölkerung ohne die Gefahren des Frontdienstes noch immer fort.

3. Intuitive Erfassung der Eigenart der neuen Wirtschaftsordnung.

Der Schieber hat sofort nach dem Kriegsausbruch erkannt, daß die Zurückhaltung der Waren – im Frieden nicht nur ein gegen das öffentliche Wohl verstoßendes, sondern zugleich privatwirtschaftlich unökonomisches Verhalten – die ausgiebigste Quelle großer Gewinne sein kann. Die Störung des Gleichgewichtes zwischen Produktion und Verbrauch, zwischen Einfuhr und Ausfuhr dauert noch heute in den besiegten Ländern unvermindert an. Ebenso intuitiv hat er erschaut, daß seit dem Kriege die Epoche des risikolosen Geschäftsganges hereingebrochen ist; derjenige, der von seinen Skrupeln getrübt ist, kann sein Geschäft ohne Wagnis führen. Das ist eben der springende Punkt, denn das geschäftsmäßige Risiko liebt der Schieber ebensowenig wie der Teufel den Weihrauch.

4. gründliche Kenntnis der staatlichen Machtverteilung und des politischen Getriebes.

Die Schieber wurden sich sofort dessen bewußt, daß in dem bestehenden Klassenstaat das System der Zentralisation, der Höchstpreise und der Rationierungen naturnotwendig zur Korruption führen wird. Sie wußten, daß alle diese Gesetze und Verordnungen auf dem Papier bleiben müssen, da ihre ehrliche und rücksichtslose Durchführung in erster Linie die Interessen derjenigen mächtigen Faktoren schädigen müßte, die in jedem Staat über die Gesetzgebung oder die Verwaltung verfügen. Sie legten daher ein sorgfältig durchdachtes, sogar geniales Kanalnetz der Korruption an, in welches von allen Seiten die Waren hineinströmten.

5. Gefühl der Sicherheit.

Dieses Gefühl stammt von der Feststellung, daß alle führenden Schichten an der Kriegskonjunktur in vollstem Maße teilgenommen haben. Die Schieber hätten niemals ihr Werk verrichten können, wenn nicht die „legitimen“ Agrarier, Industriellen und Kaufleute ihnen die Waren zugeschoben, zur Verfügung gestellt hätten. In dieser Gesellschaft hatten sie nichts zu befürchten.

6. Gefühl der Unentbehrlichkeit

Ohne den Schieber wären diese vornehmen Klassen nicht imstande gewesen, die Kriegs- und Nachkriegskonjunktur gehörig auszunützen. Ihre Tätigkeit ist mehr kontrollierbar, die öffentliche Aufmerksamkeit ist zu sehr auf sie gelenkt. Das Schiebertum ward in ihren Händen zu einem willkommenen Instrument, das sie den Heiligenschein wahren ließ und doch die Teilnahme an der Konjunktur gewährte.

8.  Der Schieber ist ein überlegener Lebensphilosoph.

Er durchschaut das ganze wirtschaftlich-politische Gewebe, ihm sind alle Geheimnisse erschlossen. Er nützt die Heuchelei und Doppelmoral der herrschenden Klassen zum eigenen Nutzen aus. Den Vornehmen gegenüber, welche dasselbe Geschäft, nur verschämt, betreiben, empfindet er einen gewissen Stolz. Er weiß, daß diese von ihm durchaus nicht entzückt sind, denn das unverhüllte Treiben des Schiebertums bringt dem Publikum zu sehr vor die Augen, wie die großen Vermögen entstehen, wie unbeschränkt die Ausplünderungen der Wehrlosen vor sich gehen kann. Er lächelt verständnisvoll und duldet, daß er als Sündenbock hingestellt wird, doch läßt er sich dafür hohe Entschädigungsprämien zahlen, selbstverständlich nicht von seinen Dienstgebern, sondern von der konsumierenden Bevölkerung.

In: Arbeiter-Zeitung, 9.5.1922, S. 5.