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Lajos Kassák: An die Künstler dieser aller Länder!

Die in ihren Gedanken unverstandenen, in ihren Handlungen allein handelnden Künstler einer Klasse, die sich zum Menschentum erlösen will, rufen wir mit brüderlichen Worten an. Höret uns! Aus unseren Stimmen empören sich blutfarbene Frage- und Rufzeichen und was sich davon zum Sinn verdichtet, ist unser unwandelbarer Glaube an die ewige Revolution. Für uns gibt es nur ein Gesetz: Ein fortwährendes Vorwärtsdrängen im großen Leben, alles andere wäre ein Verkriechen vor dem feigen Selbst oder ein entsagungsvolles Warten auf den Tod. Und wir fürchten uns nicht vor uns und wollen nicht auf unser Leben verzichten. Unser Leben ist die Revolution, unsere Revolution ist das heiligste Bekenntnis zur Liebe.

1920 sind wir bereits über das romantische Emporsehnen hinausgewachsen, mit allen blutenden Wurzeln sind wir zum Absoluten herausgerissen worden, wir haben ein Recht auf das gestenlose Wort.

Wir haben das Leben erkannt, in uns ist das Gesetz.

Wir haben keine Wurzeln in der Vergangenheit, keine Zügel, die in die Zukunft führen.

Unser einziger Weltruf ist das unserem Leben entströmende Blut: Mensch, wo bist du?

Das Wesen der neuen Kunst ist das Aufspüren der tragischen Gegenwart und ihr Aufleuchten in der kreißenden Zeit. Die Bestimmung des neuen Künstlers ist das Zu-sich-Erwecken der Menschheit, [die] einerseits der Dummheit der Unterdrückten, andererseits der Krämerspekulation der Herrschenden verfallen ist.

Also keine individuelle Verklärung und keine Massenkunst im Sinne der Volkstribunen. Darüber müssen wir uns im klaren sein. Denn nur durch diese Erkenntnis führt der Weg zur Wahrheit der Gegenwart, zur einzigen Wahrheit, zum Leben, zu mir, zu dir, zur Einheit.

Das ist unsere Forderung sowohl an die Schöpfer, wir auch an die Empfänger der Kunst. Und dadurch machen wir mit einem Handgriff den Gebenden und den Nehmenden gleich. Denn wie einst die Bedienenden und die Bedienten verschwinden werden, sollen auch die Verklärten und die Erniedrigten verschwinden. Die Parole heißt: Der Mensch. Und wir sind Menschen in unserer Kunst und wie wir in der der Vergangenheit nicht die Diener der Bourgeoisie waren, wollen wir auch in der Zukunft keiner Klasse dienen, – auch dann nicht, wenn diese Klasse „Proletariat“ heißt. Wir glauben, daß die Dienstbarkeit für irgendeine Klasse nur eine neue Variante der heutigen sklavenhaften Gesellschaftsform vorbereitet. Wir wollen keiner neuen Klasse an die Stelle // der alten Klasse emporhelfen. Wir verkünden im Gegensatz zu jeder Klassenherrschaft die siegreiche menschliche Gemeinschaft, im Gegensatz zu jeder Staatsmoral die kollektive Ethik. Und von da aus strahlt die Wärme und der Glanz unserer Bruderworte. Unsere Wege führen in das Reich der Brüderlichkeit und unsere Fahne ruft die Verkündigung der Tat aus. Nicht die des Hasses, sondern die der Erlösung.

Nur diese kann die gerechte Stimme des Heute sein.

Brüder! Wenn wir von historischem Boden euch Signale zurufen, dann suchen wir in euch zu Revolutionen mit Streitäxten bewaffneter Vernichter und Baumeister mit erhellten Köpfen. Wir werben aus den von Bitternissen überschäumenden Massen die Pioniere des befreienden Gedankens. Aus diesen Massen, die noch immer nichts als ihren Magen werten, und an welchen wieder alle gute Hoffnung zu zerschellen scheint. Die Energien des sich empörenden Proletariats sind für Leben und Tod an das Geleise gebunden und über der bremsenden Welt erschallen die Glocken der Todesstunde.

Klar sollen die Sehenden sehen!

Die Revolution kann nicht zur Lösung einer einzigen Frage, eines einzigen Motivs dienen. Die die Revolution ist nicht ein Mittel zur Eroberung des Lebens: die Revolution ist das Ziel selbst: Das Leben.

Verstehen wir uns: das gegenwärtige Beben bedeutet noch nicht den Beginn einer neuen Welt, vielmehr nur den Abschluß der alten. Es bedeutet nicht das gemeinsame und individuelle Leugnen der Herrschaft, sondern die Eroberung dieser durch Kraftgenossenschaften. Nicht die sinnvolle Überentwicklung der bürgerlich gefärbten Sozialdemokratie, sondern bloß deren Entwicklung zur vollkommenen Form: der terroristischen Sozialdemokratie.

Doch das alles ist immer noch Politik.

Kampf einzelner Parteien um die Macht durch das Bewegen der Massen.

Positionswechsel mit Positionseifersucht.

Doch schon klaffen uns die Perspektiven entgegen!

Die tragischen Individuen, wie verwunschene Engel der Mythologie tragen schon in ihrer Seele und heben wie eine Monstranz über uns die einzig sichere Bürgschaft der Revolution: das aktive Selbstbewußtsein.

Und jetzt ist unsere und eure Zeit gekommen, Brüder, die wir auf der Basis des historischen Materialismus die Seele des Menschen in Brand stecken wollen. Im Gegensatz zu jeder Klassenmoral heben wir jetzt die ewige Stabilität der Ethik ans Licht. Denn sie ist der Sinne aller Kräfte. Die Betonung der materiellen Umgestaltung genügt nicht zur Lösung der menschlichen Lebensmöglichkeiten. Die Massen haben genügend gedarbt, um zu einer Meuterei immer bereit zu sein, dadurch ihr Schicksal momentan zu verbessern; – jetzt heißt es aber, wie vorher noch niemals, die instinktive Meuterei zu einer bewußten Revolution zu vertiefen und zu stabilisieren. Mit der Befreiung der realen Kräfte müssen auch die abstrakten Begriffe umgewertet werden.

Zur gleichen Zeit, in der der belastende Morast abgestreift wird, muß auch das einzige Ziel beleuchtet werden. Denn nur das ewige Vorwärtsgehen kann uns im Kampfe mit dem Augenblick festigen. Denn nur die befreite Seele allein kann den befreiten Körper vor einer neuen Unterjochung schützen.

Brüder, aus deren traurig-fröhlicher Seele das nach dem gleichen Ziele strebende Leben der Wissenschaft, Technik und Politik emporströmt, ihr wißte es so gut wie wir, – es ist nicht anders möglich! Wir wissen, daß es wirtschaftliche Gründe sind, die den ersten Stoß (den Stoß zur Form) der revolutionären Bewegung geben, aber ihre unwandelbaren, dauernden Stützen sind doch die erwachten seelischen Kräfte, das reine einheitliche Bewußtsein. Und jetzt ruft dieses in unserer Seele neugeborene Bewußtsein euch an. Ihr neuen Künstler! Reicht euch im Chaos der Revolution die Hand, auf daß die Harmonie der Revolution als Blut desselben Blutes in uns zusammenklinge. Hinaus über die Klasseninteressen für die universalen Interessen der gesamten Menschheit. Über die Diktatur der Klasse, – für die Diktatur der Idee.

Und weg mit den auf den Fahnen geschriebenen Namen, mit dem Scheinhumanismus und mit dem individuellen Imperialismus!

Kein Stehenbleiben!

Brüder, verbrüdert euch zum Aufbau des neuen Menschen, des kollektiven Individuums!

Denn unter den Fahnen des Kommunismus, des reinsten Glaubens, kann kein anderes Interesse bestehen, als das mächtige Lebensinteresse der Menschheit, von der sowohl Du als ich gleiche Teile sind ein und desselben Stammes!

Die Verwirklichung dieses Interesses unter der Diktatur der Idee kann einzig und allein durch die Revolutionierung der Seelen geschehen.

Diese Revolution kann nur durch moralische und zweckmäßig kulturelle Erziehung des Proletariats als für die Zukunft einzig gesunden Rohmaterials gesichert werden.

Also Kultur! Und wieder Kultur!

Das Proletariat rüttelt unaufhaltsam an der Macht der unterjochten Väter; – unsere Pflicht ist es gegen die Herrschaft der erstgeborenen Brüder den Kampf aufzunehmen.

Nieder mit der mit Menschenblut kalkulierenden Politik! Nieder mit den Talmudisten der Revolution!

Die Logik der Advokaten, der Mechanismus der Administratoren, die langweiligen Reden der Redner reichen bei weitem nicht aus.

Es lebe die gegen jede Tradition kämpfende Revolution! Es lebe das verantwortliche kollektive Individuum! Es lebe die Diktatur der Idee!

Im Namen der ungarischen Aktivisten

Wien, am 15. April 1920.

In: MA, H. 1/1920, S. 2-4.

Paul Szende: Der Schieber als Sinnbild der heutigen Wirtschaftsordnung.

             Der Schieber ist ein Kriegsprodukt und verdankt sein Dasein der Warenknappheit. Er überdauerte den Zusammenbruch, die Revolution und Gegenrevolution, trug zuletzt einen glänzenden Sieg über die bolschewikische Theorie in Rußland davon. Er behauptet sich trotz Verachtung, Schlagworten und Gesetzen überall. Was sind die geistigen Fähigkeiten dieser Menschengattung? Worin besteht ihre Überlegenheit? Versuchen wir dies festzustellen.

1. Schnelle Anpassungsfähigkeit.

Der Schieber war und ist der Registrierapparat der Konjunktur, der alle Bewegungen des wirtschaftlichen Körpers genauest aufzeichnete und augenblicklich verwertete. Er ist in jeder Branche zu Hause, keine Ware entgeht seiner Aufmerksamkeit. Ebenso blitzartig ist seine politische Anpassungsfähigkeit. Obzwar er für die alte Ordnung schwärmt, das Schwinden der hergebrachten Autorität und Disziplin beklagt, findet er sich in alle politischen Systeme hinein; ob Monarchie oder Republik, Reaktion oder Demokratie, er ist in allen Sätteln gerecht, er liefert ebenso gern für Horthy wie für die russische Sowjetrepublik.

2. Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit.

Doch gleicht diese Anpassungsfähigkeit mehr der des Aasgeiers, der in der höhe schwebend den Kadaver mit Scharfblick erforscht und sich in blitzschnellem Sturzflug auf ihn wirft. Der Schieber war im Kriege der Frontkämpfer des Hinterlandes, und er führt den Stellungskrieg gegen die konsumierende Bevölkerung ohne die Gefahren des Frontdienstes noch immer fort.

3. Intuitive Erfassung der Eigenart der neuen Wirtschaftsordnung.

Der Schieber hat sofort nach dem Kriegsausbruch erkannt, daß die Zurückhaltung der Waren – im Frieden nicht nur ein gegen das öffentliche Wohl verstoßendes, sondern zugleich privatwirtschaftlich unökonomisches Verhalten – die ausgiebigste Quelle großer Gewinne sein kann. Die Störung des Gleichgewichtes zwischen Produktion und Verbrauch, zwischen Einfuhr und Ausfuhr dauert noch heute in den besiegten Ländern unvermindert an. Ebenso intuitiv hat er erschaut, daß seit dem Kriege die Epoche des risikolosen Geschäftsganges hereingebrochen ist; derjenige, der von seinen Skrupeln getrübt ist, kann sein Geschäft ohne Wagnis führen. Das ist eben der springende Punkt, denn das geschäftsmäßige Risiko liebt der Schieber ebensowenig wie der Teufel den Weihrauch.

4. gründliche Kenntnis der staatlichen Machtverteilung und des politischen Getriebes.

Die Schieber wurden sich sofort dessen bewußt, daß in dem bestehenden Klassenstaat das System der Zentralisation, der Höchstpreise und der Rationierungen naturnotwendig zur Korruption führen wird. Sie wußten, daß alle diese Gesetze und Verordnungen auf dem Papier bleiben müssen, da ihre ehrliche und rücksichtslose Durchführung in erster Linie die Interessen derjenigen mächtigen Faktoren schädigen müßte, die in jedem Staat über die Gesetzgebung oder die Verwaltung verfügen. Sie legten daher ein sorgfältig durchdachtes, sogar geniales Kanalnetz der Korruption an, in welches von allen Seiten die Waren hineinströmten.

5. Gefühl der Sicherheit.

Dieses Gefühl stammt von der Feststellung, daß alle führenden Schichten an der Kriegskonjunktur in vollstem Maße teilgenommen haben. Die Schieber hätten niemals ihr Werk verrichten können, wenn nicht die „legitimen“ Agrarier, Industriellen und Kaufleute ihnen die Waren zugeschoben, zur Verfügung gestellt hätten. In dieser Gesellschaft hatten sie nichts zu befürchten.

6. Gefühl der Unentbehrlichkeit

Ohne den Schieber wären diese vornehmen Klassen nicht imstande gewesen, die Kriegs- und Nachkriegskonjunktur gehörig auszunützen. Ihre Tätigkeit ist mehr kontrollierbar, die öffentliche Aufmerksamkeit ist zu sehr auf sie gelenkt. Das Schiebertum ward in ihren Händen zu einem willkommenen Instrument, das sie den Heiligenschein wahren ließ und doch die Teilnahme an der Konjunktur gewährte.

8.  Der Schieber ist ein überlegener Lebensphilosoph.

Er durchschaut das ganze wirtschaftlich-politische Gewebe, ihm sind alle Geheimnisse erschlossen. Er nützt die Heuchelei und Doppelmoral der herrschenden Klassen zum eigenen Nutzen aus. Den Vornehmen gegenüber, welche dasselbe Geschäft, nur verschämt, betreiben, empfindet er einen gewissen Stolz. Er weiß, daß diese von ihm durchaus nicht entzückt sind, denn das unverhüllte Treiben des Schiebertums bringt dem Publikum zu sehr vor die Augen, wie die großen Vermögen entstehen, wie unbeschränkt die Ausplünderungen der Wehrlosen vor sich gehen kann. Er lächelt verständnisvoll und duldet, daß er als Sündenbock hingestellt wird, doch läßt er sich dafür hohe Entschädigungsprämien zahlen, selbstverständlich nicht von seinen Dienstgebern, sondern von der konsumierenden Bevölkerung.

In: Arbeiter-Zeitung, 9.5.1922, S. 5.

Robert Müller: Berlin-Wien, zwei Perspektiven.

             In Berlin entbrennt ein neues Rußland. Nicht mit Unrecht ist das Preußen vor dem Zusammenbruche von mancher Seite eine Gründung sarmatischen Geistes gleich dem zaristischen Rußland genannt worden. Wie dieses, muß es in einem inneren Kataklisma erst zusammenbrechen, bevor ihm eine Erholung gegönnt ist.

             Im Fegefeuer der spartakistischen Revolution büßt es seine junkerlichen Sünden. Diese Revolution wird es nicht zu Asche verbrennen; sie wird nur die schwachen Stellen seiner bürgerlichen Ordnung versengen. Die Preußen sind so ganz und gar nicht geschaffen, die Verwilderung ihrer Staatlichkeit aufrechtzuerhalten, daß sich dort oben sehr bald wieder eine recht brave untertanenähnliche Balance herauskrystallisieren wird. Es entbehrt – trotz allem blutigen Ernste – nicht des Humors, daß das Polizeipräsidium in Berlin der Mittelpunkt der letzten Aufregung gewesen ist. Über den Schutzmann kommen sie nicht hinweg, weder in ihrem pro noch in seinem contra.

             Das Polizeipräsidium als letzte Gesellschaftsinstanz ist ebensogut die Utopie der von rechts wie der von links. Der spartakiotische Polizeiminister wird genau so aussehen wie alle Politiker mit Spreewasser getauft. Etwa: „Ich warne Neugierige!“ Wie die Regierenden regieren, soll die jeweils Andern nichts angehen.

             Die Zukunft wird in Berlin nicht so lebensgefährlich sein, wie ihre Vertreter sie jetzt machen. Man muß von allen Programmen, ob U-bootkrieg oder Klassenkampf, die Berliner Schnauze subtrahieren.

             Die Zukunft wird nach wie vor sein: Berliner Tempo, ein kommunistisch ausgewalztes Standardbürgertum mit allen Instinkten desselben, eine sehr breite Basis der grundsatzlosen Tüchtigkeiten, „Unsar Liebknecht“ (tatütata) anstatt „unsar Kaisar“, Siegesallee von zu Bürgern und Bürobesitzern arrivierten Amokläufern der Straße und bannig Amüsemang von Nachtlokal und Sechstagerennen bis zur Rheinhard.

             Das ist die Stadt, an die wir unsere eigene Zukunft verraten sollen!

             Berlin: Wir warnen Neugierige!

             In Wien das Item der vorkriegerisch-vorpreußischen Zeit: Engländer, Amerikaner, Schweizer, Franzosen, Italiener, Rumänen, mit nationalen Epauletten versehene Husarenoffiziere der ehemals k.u.k. Ringstraße, sie alle mit derselben nicht mehr verstellten Neugierde des Wieners empfangen und angeblickt, beleben die Straßen. Die Schweizer sind am populärsten nach den Engländern, die man, noch ein bißchen verschüchtert und kleinbürgerlich, wieder am stärksten respektiert. Die Schweizer werden wie etwas Verwandtes empfunden. Da ist ein kleiner Staat unter anderm von tüchtigen und eigenartigen Deutschen bewohnt, die draußen im unmittelbaren Kontakt mit der großen Welt und mit den lebhaftesten Völkern der Erde ihre Nationalität nicht nur festgehalten, sondern im universellen Sinne verbessert haben. Diese Schweizer leuchten uns jetzt auf einmal als ein Muster ein. Warum streiten wir uns herum, ob wir von Berlin oder von Prag, statt wie früher von Budapest aus regiert werden sollen? Daß es auch ohne Küste geht und daß das Korridorprinzip zugleich mit der amerikanischen „Freiheit der Meere“ uns nicht weniger als Tschechoslawien und die Schweiz zugute kommen wird, wird jetzt sonnenklar. Wir sind der Schnittpunkt von vielen Korridoren durch Europa, ein Umschlagplatz nicht nur der Weltgüter, sondern auch der Weltgüte. Wer hat diese Schicksalsfrage für Wien aufgebracht? Nur wenn wir peripher am Deutschen Reich kleben, das wie Figura zeigt noch lange als St. Helena eines Eroberungsvolkes gescheut werden wird, sind wir diesem Kleinstadttode verfallen.

Uns winkt vielmehr ein Schicksal, das in unserem Blute, unserem Gemüte und unserem Geschmacke vorbereitet ist, und seine Erfüllung ist nur wie eine letzte Konsequenz. Eine Art Internationalisierung! Kein Temperament ist so wie das wienerische für diese hochsoziale Form geschaffen.

Inmitten einer Eidgenossenschaft von Bauernkantonen, die durch praktische Einführung eines religiös unterbauten Agrarsozialismus die wirkliche Bilanz der Revolution und des Monarchiezerfalles ziehen, liegt die Weltstadt Wien als eigener Kanton. Die sozialen Aufgaben sind auch in diesem Falle erleichtert. Mit unserer nächsten Umgebung leben wir föderativ. Wirtschaftlich grenzen wir an alle Staaten der Welt, wir sind Hauptstationen vom Ärmelkanal nach Konstantinopel, einer anderen Weltstadt. Für Tschechoslawien, das nordseewärts längs der Elbe transportiert, wir auch nach der dritten internationalen Stadt Triest, ein Exportweg geschaffen werden müssen, schon um die slawische Verbindung aufrechtzuerhalten.

Es gilt, die neuen politischen Formen zu begreifen. Die Entente unterstützt uns mit Nahrungsmitteln und Krediten. Wir haben sie redlich nötig. Die Kommissionen können sich davon überzeugen. Es ist überflüssig, daß die Zeitungen auch noch ein jammerndes Geschmuse darüber erheben, das nur den Eindruck hervorrufen könnte, wir seien entweder Querulanten oder Simulanten. Wir brauchen den im Verhältnis zu unserer Not noch immer dürftigen Anschub. Können wir da zugleich eine Politik machen, die den stänkernden Urheber dieses ganzen Unheils, der auch jetzt noch nicht aufgehört hat, die Welt mit Blutphrasen zu heizen, durch unsere Mithilfe verstärkt?

Darf man unser sogenanntes Anständigkeitsgefühl mobil machen und unsere nationalen Triebe anmustern, um mit dieser Armee – mehr werden wir in unserer Entblößtheit ohnehin nicht stellen können – den allerdings zu streng bestraften deutschen Brüdern, eigentlich sinds nur die Berliner, aufzuhelfen?

Ist es nicht besser, uns erst selbst zu rangieren, bevor wir Retter spielen wollen?

Märtyrer spielen wir seit fünf Jahren zum Schaden derer, denen unser Opfer gelten sollte. Besinnen wir uns auf uns selber.

Der weltpolitischen Perspektive für Wien entspricht im Sozialen die schon öfters aufgezeigten des sozialen Biedermeiers. Wie in Berlin, muß auch in Wien die extremistische Bewegung in die sozialbürgerliche verflachen. Der Kanton ist die weltpolitische Zukunftseinheit. Dem Kantönligeist aber tritt erfolgreich nur der großzügige Internationalisierungsgedanke entgegen, der Wille zur Föderation, der Marschtakt der güterbeladene Marschkarawanen von West nach Ost, von Nord nach Süd.

Es ist kein Zweifel, dieses introspektive geistige Wien – geistig nur in dem Sinne, daß es überdenkt statt handelt – wird sich bei dieser neuen Größe und Ausdehnung neugierig selbst zusehen.

Daraus aber wird sich spezifisch wienerische Zukunft ergeben: aus Anregung, Zergliederung und Verarbeitung ins Bewußtsein – der Welt.

Wien: wir sammeln Neugierige!

In: Finanz-Presse, 7.1.1919; (KS II, 304-307)

Karl Tschuppik: Wie Österreich zerfiel.

Vor zehn Jahren.

Am 21. Oktober 1918, nachmittags 5 Uhr, versammelten sich im Sitzungssaale des niederösterreichischen Landtags in der Wiener Herrengasse die Abgeordneten der von Österreich übrig gebliebenen Länder. In der kurzen Zeit vom 18. Oktober, an welchem Tag das Manifest Kaiser Karls verlautbart wurde, und dem 21. Oktober, hatten sich die in der Kundgebung apostrophierten Völker verlaufen. Das Manifest versprach, Österreich solle „dem Willen seiner Völker gemäß ein Bundestaat werden, in dem jeder Volksstamm auf seinem Siedlungsgebiet sein eigenes staatliches Gemeinwesen bildet“. Ehe den Lesern an den Straßenecken Wiens klar geworden, wie des Kaisers Proklamation zu verstehen sei, gab es kein Österreich mehr. Die im Reichsrate zurückgebliebenen Herzogtümer und Länder mußten darüber schlüssig werden, was sie nun beginnen sollten.

Es war ein seltsames Bild, als das auf Wien und die Alpenländer reduzierte Österreich ins eigene Antlitz blickte. Es fröstelte ihm in dem großen Bau auf dem Franzensring; das kleine Häuflein der Männer, die sich im Salle der sechs Völker zusammengefunden hatten, erschrak vor sich selber. Man war vereinsamt. In der griechischen Säulenhalle, wo ehedem das bunte Gemisch des Völkerreichs aus sechs Idiomen widerklang, stand ein Mann, umgeben von ein paar Journalisten: Mendel Singer, das Wahrzeichen versunkener Größe. Es war kein symbolischer Akt der Regie, als man das öde Marmorhaus verließ und in die trauliche Stube des niederösterreichischen Landtages übersiedelte; man floh vor der niederdrückenden Gewalt der eben noch lebend gewesenen Geschichte.

Nebenan, im Hause der Herren, agierten die historischen Gespenster. Das Herrenhaus hielt eine Sitzung ab. Es war die einzige Stätte, wo um diese Zeit noch die Stimmen der abziehenden Nationen erklangen. Die Abgeordneten des Volkshauses hatten es nicht mehr der Mühe wert gefunden, dem zusammenstürzenden Reich eine Anklage ins Grab nachzusenden. Die tschechischen Mitglieder des Herrenhauses erklärten sich mit der eben bekannt gewordenen Erklärung des Prager Nationalrates, mit der Errichtung des selbstständigen, freien tschechoslowakischen Staates solidarisch und wiesen den Gedanken einer Selbstbestimmung der Deutschen in Böhmen als „unhistorische und sachlich unbegründet“ zurück. Graf Clam-Marinitz antwortete im Ramen des konservativen böhmischen Adels. Er sprach von der unverbrüchlichen Treue zur Dynastie; der proklamierte Staatenbund könne nur unter Habsburgs Zepter entstehen. Das Herrenhaus applaudierte, die Peers erhoben sich von den Sitzen. Nach Clam-Martinitz spricht Hussarek, der Ministerpräsident. Lebt Österreich noch? Es funktioniert. Vor Hussarek kauern gespannt die Stenographen des amtlichen Nachrichtendienstes, neben ihm füllt der alte Herrenhausdiener frisches Wasser in die freundlich glänzende Flasche, hinter ihm stehen die zwei Ministerialsekretäre mit den Wappen. Hussarek kommentiert das kaiserliche Manifest: „… die logische Ergänzung des letzten Friedensschrittes …, … Bundesstaat…, …jedem Volksstamm das Seine…“ Zum Schluß ein ins Lyrische gesteigerter Satz: „Nach langer Nacht dürfen wir die aufsteigende Morgenröte als das erste Wahrzeichen eines neuen Tags begrüßen, der Wohlergehen und heitere Lebensfreude verheißt.“ Diese Lyrik war selbst den Peers wider den Geschmack. Eisiges Schweigen, als der hohe Körper Hussareks sich niederläßt.

Zur selben Stunde ungefähr hatten sich die Abgeordneten im Sitzungssaal des niederösterreichischen Landtags zusammengefunden. Die Wiener und, von ihnen auch äußerlich unterschieden, Steirer, Kärntner, Tiroler, Oberösterreicher, Salzburger. Die Versammlung wäre ratlos gewesen ohne den Kopf, den sie barg: Viktor Adler. Er sprach ohne Haß gegen das Alte, ohne Phrasen fürs Neue, das Losungswort in klarer Formulierung: der übriggebliebene Rest der Monarchie verwandelt sich in die deutschösterreichische Republik. Die Grabrede auf das alte Österreich hielt Dr. Steinwender: „Ohne Dank scheiden wir aus diesem Staate, mit dem verkettet gewesen zu sein für uns eine schwere und verzehrende Last war…“ Empfand man’s immer so? Hatten die Deutsche Österreichs ihre eigene Geschichte vergessen? Der Sprecher der Christlichsozialen erhebt sich und verkündet das Bekenntnis zur monarchischen Regierungsform. Der Abgeordnete Wolf schließt sich ihm an: „Wir sind und bleiben überzeugte Anhänger des konstitutionellen monarchischen Staates.“ Viktor Adler, die Versammlung vom Druck solchen Pathosdunstes befreiend, ruft halblaut, ohne Ironie: „Herr Kollege, soll Kaiser Karl etwa Herzog von Kärnten werden?“

Draußen, vor dem Barockportal des Landtags und im dunklen Hof stehen zwei Dutzend Neugierige. Es ist kalt, es regnet. „Was ist denn los?“ fragt ein gänzlich Uneingeweihter eine Gruppe Journalisten, die eben die konstituierende Versammlung der Republik Deutschösterreich verlassen. Da ruft eine schmetternde Stimme (sie gehört einem bekannten Wiener Schriftsteller): „Soeben ist der Gesangverein Deutschösterreich gegründet worden.“

Wien hats nicht bemerkt. Vis-à-vis im Cafè Central sitzen die Buddhisten des Schachspiels über ihren Brettern, im Billardsaal klingt das zarte Geräusch des altertümlichen Spiels, die Literatur erhitzt sich beim Tarock. Es hat sich nichts geändert.

Beim Ministerratspräsidium, dem Palais Modena, begegnet man einigen Herren vom Dienst, darunter dem Ministerialrat Doktor Safarik. „Komisch,“ sagt er, „wie sich die Wiener das Ende Österreichs vorstellen. Eben hat mich eines der großen Wiener Blätter angerufen, was denn die Prager Statthalterei zu dem Manifest des tschechischen Nationalrats sage. Wir konnten nur erwidern, daß wir von der Auflösung noch nicht offiziell in Kenntnis gesetzt sind.“ (Ein andere Herr weiß die Antwort der Prager auf so neugierige Fragen: At‘ nàm ve vidni p…p….)

Am Morgen des 22. Oktober, nach langer Redaktionsnacht, gehen wir, Dr. Walter Rode, der Prophet des Untergangs, und ich, in weitspurige historische Betrachtungen versunken, durch die leeren Gassen des schlafenden Wiens. Bei der Oper: ein Wachmann, der Chauffeur eines ramponierten Taxi und ein Straßenkehrer. Der Straßenkehrer, ein alter Mann mit einem kurios verbogenen Knie, den zu kleinen Hut schief auf dem Kopf, ist ganz bei der Arbeit. Mit zäher Beharrlichkeit jagt er jedem widerspenstigen Papierchen nach. „Sonderbar,“ sage ich, „die Revolution hab’ ich mir ganz anders vorgestellt. Wer heißt dem Mann die Arbeit zu verrichten? Wer kümmert sich noch darum, ob er schläft oder kehrt?“ Worauf Dr. Rode: „Sie kennen nicht die eigentliche Funktion der Straßenkehrer? Die Mistschaufler halten die Kontinuität der Gesellschaft aufrecht.“

In: Der Tag, 21.10.1928, S. 13.

N.N. [Friedrich Austerlitz]: Ungarn und wir

             Die proletarische Revolution in Ungarn hat ihre besonderen, ihre eigentümlichen Züge. Sie ist nicht so sehr eine Erhebung gegen die Bourgeoisie des eigenen Landes als ein Aufstand gegen die Ententebourgeoisie. Die Entente hat den größten Teil Ungarns an Tschechen, Rumänen und Südslaven verschenkt. Das ungarische Volk lehnt sich gegen die Zerstückelung seines Landes, gegen die Preisgabe magyarischer Städte an fremde Nationen auf. Es faßt den verzweifelten Entschluß, sich gegen die übermächtigen Sieger mit der Waffe in der Hand zur Wehr zu setzten. Aber werden die Arbeiter und die Bauern dem Rufe zu den Waffen folgen? Werden die kriegsmüden Soldaten todesbereit gegen Tschecho-Slovaken und Rumänen marschieren? Sie werden es nur dann, wenn Ungarn wirklich zu ihrem Vaterland wird; wenn der Staat ihr Eigentum wird, wenn die Fabriken und der Boden ihr Besitz werden. Die magyarische Bourgeoisie, deren wirtschaftliche Daseinsmöglichkeit die Zerstückelung des Landes zerstört, faßt den verzweifelten Entschluß, zeitweilig abzudanken, Arbeitern und Bauern kampflos die Staatsgewalt zu überlassen, weil sie darin das einzige Mittel erblickt, die Proletarier der Fabrik und der Scholle zu neuem Kampfe gegen den Landesfeind aufzubieten. So kann das Proletariat, ohne Widerstand zu finden, die Macht ergreifen. Die soziale Revolution dient hier der nationalen Verteidigung; der Übergang der Macht aus den Händen der Bourgeoisie in die Hände des Proletariats dient der Verteidigung des Landes gegen den äußeren Feind. Es ist nicht zum erstenmal so: 1792 hat das französische Volk die Jakobiner zur Macht erhoben, weil es sie allein für befähigt hielt, den nationalen Widerstand gegen die koalierten Fürsten ganz Europas zu entfesseln; 1871 ist die Pariser Commune aus der Bewegung der Patrioten hervorgegangen, die die Unterwerfung unter das Gebot des deutschen Siegers bekämpfen, den Krieg gegen Deutschland fortsetzen wollten.

             Das ungarische Proletariat ruft die Proletarier der Nachbarländer, auch die Proletarier Deutschösterreichs auf, seinem Beispiel zu folgen. Und schon leuchtet hier manches Auge heller, schon schlägt hier lauter manches Herz! Ist nicht auch hier – in Deutschböhmen und im Sudetenland, in Südtirol, Kärnten und Untersteier – deutsches Land vom übermütigen Sieger bedroht, der über Völker verfügt, als ob es Herden wären? Ist nicht auch für uns die Stunde gekommen, die Bourgeoisie zu stürzen, die Macht an uns zu reißen, die Fabriken und Bergwerke, den Boden des Adels und der Kirche mit einem Schlag dem Volke zuzueignen?

             Und doch sind wir in ganz anderer, viel schlimmerer Lage als die Brüder in Ungarn. Gewiß, die Bourgeoisie des eigenen Landes könnten wir so leicht und so schnell entthronen wie wie; das würden ein paar Bataillone Volkswehr besorgen. Aber von der Ententebourgeoisie sind wir ganz anders gefesselt als das magyarische Proletariat. Die Diktatur des Proletariats würde hier wie dort eine Herausforderung der Entente, eine Kriegserklärung an sie bedeuten. Die Ungarn ertragen es, wenn die Ententemissionen Budapest verlassen; sie haben immerhin noch Lebensmittel im eigenen Lande. Wir würden es nicht ertragen. Wir haben kein Mehl mehr als das, das die Entente uns schickt. Wenn die Entente die Lebensmittelzüge einstellt, hätten wir kein Brot mehr. Die Ungarn raten uns, uns von Paris zu trennen, um uns mit Moskau zu verbünden; aber Moskau ist weit, die Sowjetarmeen stehen noch mehr als tausend Kilometer von uns, Polen und die Ukraine sperren uns jede Verbindung mit ihnen; wir sind an Paris gefesselt, weil nur Paris uns Brot geben kann.

Was täten wir, wenn die Entente uns kein Getreide, kein Mehl mehr schickt? Bei den Reichen requirieren? In Wien gibt es ungefähr 500.000 Haushaltungen, unter ihnen etwa ein Zehntel, also etwa 50.000 reiche. Nehmen wir an, daß jede reiche Famile für zehn Tage Mehl vorrätig habe. Wir könnten dieses Mehl requirieren. 50.000 Familien brauche für zehn Tage so viel wie 500.000 für einen Tag. Wenn wir also die gehamsterten Vorräte der Reichen beschlagnahmen, so hätten wir gerade so viel Mehl, als das Wiener Volk für einen Tag braucht. Und dann?

Wir könnten bei den Bauern requirieren. Aber Deutschösterreich ist ein Gebirgsland; im größten Teil des Alpenlandes wächst kein Getreide. Wir haben auch im Frieden nie von deutschösterreichischem, sondern von ungarischem, galizischem, mährischem Getreide gelebt. Was heute bei den schärfsten Requisitionen aus den Bauernhöfen noch herauszuholen wäre, würde nicht einmal für einige Wochen, wahrscheinlich nicht für vierzehn Tage reichen. Und dann?

Ungarn kann uns nichts geben; seine getreidereichen Gebiete – die Bacsa, das Banat, die Slovakei – sind von fremden Truppen besetzt. Oder sollen wir darauf rechnen, daß die Revolution auch nach Böhmen überschlagen wird, daß die Tschechen uns dann helfen werden? Nun, die Tschechen könnten uns Kohlen liefern, sie könnten uns vielleicht für ein paar Tage mit Kartoffeln versorgen, aber Getreide für uns hätten auch sie nicht! Oder sollen wir darauf bauen, daß die Revolution auch die Ententeländer erfassen, ihr Proletariat uns dann Getreide schicken wird? Aber wann wird das geschehen? Vielleicht nach Monaten, vielleicht in einem Jahre! Und wir haben nicht für zwei Wochen Vorräte!

So ist Deutschösterreich ganz auf die Zuschübe der Entente angewiesen. Durch den Hunger sind wir der Entente wehrloser ausgeliefert, als wir es durch eine Besatzungsarmee wären. Der Versuch, hier eine Rätediktatur aufzurichten, würde damit enden, daß wir in ein paar Tagen ganz ohne Brot wären, binnen kurzem durch die Hungersnot zur Kapitulation gezwungen würden. Darum keine Illusionen! Mit der Bourgeoisie des eigenen Landes fertig zu werden, wäre leicht; aber die Ententebourgeoisie hält uns in Fesseln, die wir nicht zu sprengen vermögen, und sie hält schützend die Hand über der heimischen Bourgeoisie!

Aber so wehrlos wir heute sind, wir brauchen darum nicht zu verzweifeln. Die Rätedikatur in Ungarn beweist trotz alledem, daß unsere Sache marschiert. Unaufhaltsam wälzt sich die Welle der sozialen Revolution vom Osten nach dem Westen. Die Stunde wird kommen, in der auch die Arbeiterklasse Englands und Amerikas, Frankreichs und Italiens die Fesseln sprengen wird! Der Ententebourgeoisie wehrlos unterworfen, sind wir heute noch ohnmächtig; aber wenn sich das Proletariat der Ententeländer selbst gegen seien Bourgeoisie erhebt, dann werden im Bunde mit ihm auch wir alle Fesseln brechen.

In: Arbeiter-Zeitung, 23.3.1919, S. 1.

e[rnst] f[ischer]: Sprechchor und Drama

Alle, die das Problem des Theaters, des Dramas, der Bühnenkunst prüfen, konstatieren seit Jahren in sämtlichen europäischen Ländern die Krise des Schauspiels. Immer wieder ist es vor allem das eine, dessen Mangel schmerzlich empfunden wird: der unmittelbare Kontakt mit dem Publikum. Einst Megaphon religiöser Erlebnisse, später Tribüne herrschender oder revoltierender Klassen, ist das Theater ein Luxuslokal geworden, in dem zusammengewürfelte Massen sich unterhalten wollen. Einerseits erstarrte das klassische Drama in tönender Langeweile, Anlaß zu Festprologen und billigen Phrasen, andererseits waren Autoren und Regisseure gezwungen, durch Effekte lärmender oder sentimentaler Art die Nerven des Publikums zu dem neuen Werke zu verführen. Zwischen  dem zahlenden Publikum und der Bühne klaffte ein Raum, der nur durch die Sensation überbrückt werden konnte.  Dichtung, Inszenierung, Erfolg waren Zufälle ohne tiefere kulturelle Bedeutung, ohne lebendige Bindung mit der Zeit. Man konnte immer auch anders. –

             Das Theater der letzten Jahrzehnte war das Theater des altgewordenen Bürgertums, des Bürgertums, das die Klassiker zu Zitatenonkeln entfärbte und sich bei Operetten von ihnen erholte, des Bürgertums, dem die Werte Schillers zur Konvention und Extravaganzen der Kunst zum Bedürfnisse geworden waren, des Bürgertums, das aus der Wirklichkeit in die Romantik floh. Der Naturalismus war der letzte große und einheitliche Versuch, aus verstaubten Kulissen das schwindende Leben zu retten, der Naturalismus, der zugunsten der von den bürgerlichen Epigonen mit Limonade vergifteten Wahrheit auf Stil und Symbol verzichtete und sich daher sehr bald in innere Widersprüche verwickelte, an denen er starb. Dann kamen die teils genialen, teils schwachsinnigen Experimente des einzelnen, auf eigene Faust eine neue Form des Dramas zu finden. Von den gewaltigen Experimenten Strindbergs und Wedekinds bis zu den blutlosen Konstruktionen der Expressionisten oder den Kunststücken Pirandellos wirken nur ein gemeinsames Wissen, ein gemeinsamer Wille in den Dramatikern des interessant verwesenden Bürgertums: „Die alten Formen sind tot, wir müssen neue finden.“

             Es ist charakteristisch für die Zeit der triumphierenden Technik, daß die Regisseure (vor allem die russischen) die Möglichkeiten einer Theatererneuerung viel deutlicher witterten als die Dramatiker, daß die Inszenierung die Voraussetzungen für Kunstwerke schuf, mit denen die Zeit schwanger geht, ohne sie gebären zu wollen. Der Regisseur riß die Herrschaft an sich und wurde zum eigentlichen Schöpfer und Dichter, ohne daß aus der wundervollen Maschinerie ein Gott sich erhob. Aber die Bühnenzauberer unserer Tage, die Meister des Lichtes, der Farbe und der Dynamik, haben Urkräfte des Theaters entfesselt: Sie haben die von Pedanten vertriebene Lust am Spiel zurückgerufen und sie haben künstlerisch das zwanzigste Jahrhundert entdeckt. Das alles gilt freilich nur für die Inszenierung, nicht aber für die Unterwerfung der Darsteller unter einen bestimmten Stil.

             Das Proletariat war von diesen Ereignissen ausgeschlossen, das Theater war eine Angelegenheit der bürgerlichen Gesellschaft – und weil es das war, konnte es nicht mit strotzendem Leben erfüllt werden. Die sterbende Klasse war nicht mehr fähig, kulturproduktiv in die Zukunft zu zeugen. Nun aber erleben wir etwas seltsam Erschütterndes: Während das Bürgertum die technischen Voraussetzungen für eine neue Bühnenkunst improvisierte und das Theater technisch revolutionierte, begann im Proletariat die neue Form des Dramas organisch sich zu entfalten. Kulturelemente werden nicht am Schreibtisch erklügelt, sie wachsen langsam in tausend Herzen und sind auf einmal da.  Und so entstand an vielen Orten zugleich, aus der Schöpfersehnsucht der proletarischen Jugend geboren, der Sprechchor. In namenloser Gemeinschaft, wie es an den Maschinen steht, wie es gegen die Ordnung der Dinge sich aufbäumt, wie es zu schicksalsverkitteter Solidarität sich bekennt, schafft sich das Proletariat seine Kunst. Der Sohn, die Tochter aus bürgerlichen Familie imitieren, wenn sie sich künstlerisch betätigen, den übelsten Typus des bürgerlichen Kunstbetriebes, den Star, der junge Proletarier, die junge Proletarierin symbolisieren in ihrem Verlangen nach künstlerischem Ausdruck das Schicksal der Klasse, der sie angehören, den Dienst an anonymem, an kollektivem, an gemeinsamem Werk. Kunst und Leben sind eins in diesem Tun und das ist entscheidend, jede Kultur entsteht aus dieser Einheit von Kunst und Leben, jede Kultur zerbröckelt, wenn diese Einheit sich auflöst.

             Ich halte den Sprechchor in der Tat für die Urform eines neuen Dramas, wie einst der griechische Chor, wie einst der Chor der ersten Kirchenspiele es war. Und wer vor einigen Tagen im Opernhaus den Sprechchor der sozialistischen Arbeiterjugend sah und hörte, wer die wundervolle Kraft und Erschütterung, die von der Sinfonie ihrer Stimmen und der Reinheit ihres Spieles ausging, erlebte, der wird meinen Glauben und meine Hoffnung teilen. Man könnte vielleicht einwenden: Was soll ein gelungenes Experiment beweisen? Nun, was ursprünglich nur als Experiment gedacht war, wurde zum wesentlichen Ereignis. Es handelt sich nicht so sehr um den Effekt, den man mit einem sorgfältig geschulten Sprechchor erzielen kann, es handelt sich vor allem darum, daß das Publikum wieder mitspielt, daß die Menschheit der Zukunft, die Arbeiterschaft, die bisher im bürgerlichen Theater nur ein geduldeter Gast war, sich selber auf der Bühne erleben kann, und zwar nicht nur inhaltlich (das war schon bei manchen naturalistischen Dramen, man denke nur an „Die Weber“, der „Fall“), sondern auch in seiner ureigenen Form, in der unisono empfindenden und hanselnden Masse.

             Das Drama der Zeit, die Großstadt, die Arbeiterbewegung, die Revolution, mußten stets in die Formelemente des bürgerlich-individualistischen Dramas übertragen werden, damit man es überhaupt darstellen konnte – und an diesem inneren Widerspruch kranken alle revolutionären Bühnendichtungen unserer Tage. Es war wohl möglich, eine Massenaktion äußerliche richtig, in photographischer Natürlichkeit, auf die Bühne zu projizieren, aber die innere Wirklichkeit, das geheimnisvolle Fluidum der Masse mußte geopfert werden. Und da es im Drama vor allem um innere Erlebnisse geht, waren die großen, die mythischen, die göttlichen Dinge des zwanzigsten Jahrhunderts von der Bühne so gut wie verbannt und die erotischen und pathologischen Konflikte des untergehenden Bürgertums beherrschten das Repertoire. Eine Wiedergeburt der Tragödie aus dem proletarischen Sprechchor würde die Dichter zur Überwindung der kleinlichen Psychologie, der medizinischen Spässe, der überspitzten Gehirnschweinerein, würde sie zu Form und Größe erziehen.

             Das heißt natürlich nicht, daß morgen oder übermorgen das neue Drama blank und gepanzert vor uns hintreten wird; aber alle Dramatiker, die unter dem Zwiespalte der Bühnenkunst leiden und um den künstlerischen Ausdruck der Zeit ringen, werden bald zu dem Sprechchor der Arbeiterschaft in die Schule gehen und hier aufatmend, mitten unter Maschinen und Konstruktionen, etwas organisch Bewachsenes, herrlich Lebendiges entdecken, etwas das nur darauf wartet, einem Werke dienen zu dürfen. Die Möglichkeiten sind euch gegeben, und das Zeit, die Techniker der Inszenierung und das Proletariat haben alles für euch getan, ihr müßt nur hineingreifen in diese beginnende Welt und aus ihr ein dramatisches Gleichnis formen. Denn nicht aus euren einsamen Experimenten, nur aus dem Wesen einer neuen Gemeinschaft wird eine neue Kultur und mit ihr ein neues Drama sich bilden. Und tausendmal lebendiger und ergreifender als alle eure persönlichen Konflikte und Probleme ist der Sprechchor, den die Arbeiterjugend sich geschaffen hat.

In: Arbeiterwille, Graz, 18.10.1925, S. 5-6.1

  1. Der Text ist auch abgedruckt bei: Ernst Fischer: Neue Kunst und neue Menschen. Literarische und essayistische Texte aus seinen Grazer Jahren (1918-1927). Hg. von Jürgen Egyptien. Graz: Clio 2016, 219-223.

Franz Theodor Csokor: Ballade von der Stadt. Eine Vorbemerkung

Der Versuch, ein kollektiv gedachtes Drama ins Hörspielmäßige zu formen, wird hier gewagt. Gerade das kollektive Drama wäre ja wie kaum ein anderes zum Hörspiel vorbestimmt, da es ja auch durch das gewaltigste Kollektivmittel, den Sender, verbreitet wird. Doch erhebt seine Gestaltung in solchem Sinne besondere Ansprüche, die sich von einer bühnenmäßigen Interpretation scharf scheiden. Die Urelemente eines Hörspiels: Verwiesenheit auf das Wort, Bestimmung des Schauplatzes durch akustische Mittel, Übertragung der optischen Räumlichkeit in eine akustische, zu der das Ohr als als räumlich denkendes Organ erzogen werden müßte, architektonische Stufung der Vorgänge durch musikalische Cäsuren, die zugleich den Vorhang des Theaters ersetzen [‚Tonvorhang‘], Verflechtung psychologischer Rezitative und Leitmotive zur Verdeutlichung der Geschehnisse, und Lösung der notwendigen Geräusche vom zufällig Naturalistischen ins stilhaft Schicksälige, all das fordert, daß dem Text eine Art Partitur1 beigegeben sei, die ihm Satz um Satz begleite. Für die Wahrnehmung des Schauplatzes hier herrscht Einheit des Ortes, der nur seine Züge in dem mehr als ein Jahrtausend umfassenden Ablauf des Werkes vollendet, – griff der Verfasser zu der Figur des „Ansagers“, wie er auch im Kollektivdrama der Mysterienspiele, im Hans-Sachs-Stück und als „aboyeur“ der „Beller“ bei der französischen Komödie heimisch war. Mit einer der Dichtung angeglichenen gebundenen Strophe gibt er jeweilig die erforderlichen Erläuterungen über Szene und Vorgang in einer geistigen Synthese aus beiden.

             Nun zu den Vorgängen: Ursprung, Wuchs, Blüte, Gipfel, Verfall und Untergang einer Riesenstadt über dem Giftkeim des Goldes, also ein von Gier nach Macht und Besitz gestacheltes Werden, ausgedrückt durch die an dem Goldschacht aufwachsende Stadtmauer über dem bleibenden Schauplatz des Werkes, ist das Motiv der in balladesker Verkürzung geschürzten Handlung. Den Gegenspieler macht der Uralte, das ruhige, für alles Lebende gerechte und gleichmäßige Sein der Erde, die Frucht und Freude für jedermann hätte, wäre nicht Wahn und Hast jenes Werdens mit seinem wuchernden Kampf um das Gold. Der Uralte, – er ist die Erde selbst, die in sich Kraft und Willen hätte zu einem künftigen Paradies, das nicht erst jenseits des Lebens liegt, würde der Mensch sie nicht nur als Wert und Besitz begreifen wollen.

             Eine Art Calderonsches Welttheater also ist // dieses Stück, nur ohne eigentlichen ‚deus ex machina‘; die Lösung heißt hier; der höhere Mensch! Mensch in Gemeinschaft und Arbeit so streng gegen sich, als drohten noch alle Höllenstrafen, aber aus sich so, um des Menschen willen, stets inne der heiligen Einmaligkeit des irdischen Lebens, das befreit sein muß von aller Zweckversklavung zugunsten Einzelner. Das ist das Ziel, wie es das letzte Bild dieses Werkes aufreißt; es steht damit in Antithese zu dem Beginn.

             Im Anfang fährt das Gold im Blitze zur Erde nieder und weckt den Uralten als Wächter. Aber das Unheil muß ausreifen, wie alles. Ein Menschenpaar in bäuerisch mythischer Urzeit findet das Gold und umarmt sich über ihm, der Wurzel der Stadt, die von da ihren Ursprung nimmt. Doch beide, die nun mit dem Mauerbau beginnen, erfreuen sich nicht lange ihrer Macht; von ihren Knechten werden sie getötet. An der Mauer geraten die beiden Mörder in Streit; der eine erschlägt den andern und wirft sich zum Despoten auf. Er möchte die Mauer bis an den Himmel heben und über die ganze Erde herrschen kraft seines Goldes. Als er die ihm von der Natur gesetzten und durch den Uralten verkündeten Grenzen seiner Macht erkennt, will er sich auch ihrer Zeichen begeben, –  aber die Menge, die er sich selbst zu Sklaven gezüchtet hat, zerreißt ihn im gleichen Augenblick, da er die Geißel über sie zerbricht. Die früheste Äußerung der Massenherrschaft, die über ihn gesiegt hat, wird, ehe sie sich ihrer bewußt ist, von den eben so einfachen Urformen des Unternehmertumes, den Herren der Elemente, mit dem Symbol des geheiligten Königtums gebändigt. Das Bündnis von Krone und Gold erweckt den Krieg, und durch ihn gerät mit dem Sturz des Königtums der alte noch im Ständewesen fußende Reichtum in eine Krise. Die Revolution gärt auf, befehdet von der Gegenrevolution, – es ist eine Revolution, die noch um die Macht in der Stadt geht, nicht um die Befreiung des Menschen; sie, die auf dem verdorbenen Grunde des Goldes sich entzündet hat, führt mit unabweislicher Notwendigkeit die nackte Plutokratie herbei, die Herrschaft des Händlers. Die Menschheit der Stadt, nun selbst zur ruhelosen Maschine geworden, erliegt der Despotie ihrer Mittel.

Der Kampf um das Gold geht in rücksichtslosester, durch keinerlei Traditionsehrfurcht mehr gehemmter Art weiter. In der Figur des Händlers ist der neue Reichtum erstanden, in dessen Anfang nicht einmal mehr die eigene Arbeit wirkt wie den früheren Herren der Elemente, sondern die mühelose geschickte Ausnützung und Vergleichung von Angebot und Nachfrage. Das führt zu noch tieferer Versklavung; die Mauer hinter dem Goldschacht wird schließlich zu einer riesigen Klagemauer, an der die rettungslos an das Gold verhaftete Menge sich wütend die Fäuste wund schlägt, um so, – sei es auch über den selbstmörderischen gemeinsamen Untergang, – ins Freie zu gelangen. Verkündiger solcher stets schicksalshafter begehrter Zerstörung wird ein Schreiber, dessen Berufung zum Dichter an der Stadt verdorrte, und ein im Goldbergwerk irrsinnig gewordener Roboter des Reichtums. Der Schreiber erkennt im Sehergeist seines verstümmelten Künstlertums den Uralten, der durch alle Geschehnisse gewandert ist, als den letzten über die Stadt: Die Erde selbst schaut er in ihm, die Erde, die nach langer Duldung üb er der verkrampften Unnatur einer unlösbar dem Gold verdingten Gemeinschaft zusammenschlägt, angerufen von jener Gemeinschaft selbst, die ihres Daseins überdrüssig geworden ist. Eine furchtbare Katastrophe schlagender Wetter, die sich der Irre entfesselt zu haben rühmt, zermalmt die Stadt und alles, was in ihr lebte, also zu schwach für wirkliches Leben wurde. Und die Stimmen aller, die an der Stadt gestorben sind, mengen sich in diesen Untergang. Und wieder wird Acker wie zu Beginn. Wieder steht ein Menschenpaar darauf, Mann und Weib, dieses Mal Pioniertypus des neuen Menschen, des tektonischen, der sich jetzt Glied einer höheren Gesamtheit fühlt als einer durch Gold und Stein verpflichteten. Wieder findet die Frau das Gold, aber sie wirft es von sich. „Euer Siegt!“ ruft es ihnen aus dem Dickicht zu; dort entdecken sie den Uralten, wie im Schlafe liegend. Sie berühren ihn und er zerfällt zur Erde, die er ist, denn sein Hüteramt ging jetzt zu Ende mit der Absage der beiden an das Gold. Die neue
Stadt
braucht nicht Stein noch Erz zu ihrem die Welt umspannenden Bau. Hände, die einander fassen, sind ihre Mauer; Herzen, die einander finden, sind ihre Gassen; Geist, der sich brüderlich erkennt, ist ihr Gold. Und die Dinge sind ihnen untertan, nicht zu Gewalt, Schlacht und Mord, – sondern zu wechselseitiger Hilfe.

             Dies der Sinn meiner Dichtung, die so um einen sozialethischen, also von welcher Weltanschauung immer: kollektiv gebotenen Ausklang bemüht ist.

In: Radio Wien, 15.2.1929, S. 328-329.

  1. Alle im Text kursiv ausgewiesenen Stellen sind im Original gesperrt gedruckt.

Marianne Pollak: Vom Reifrock zum Bubikopf. Revolution und Mode

Die Mode ist seit jeher die besondere Domäne der Frau gewesen. Durch Schminke und Haartracht, durch Halsausschnitt und Faltenwurf haben die Frauen jahrtausendelang verstanden, dem Mann zu gefallen. Die Tracht ist vor allem ein lebendiger und sinnfälliger Ausdruck der jeweiligen  E r o t i k  einer Zeit. Immer haben Revolutionsepochen in der Geschichte strenge Kleiderordnungen gelockert und einer ungezwungenen und freieren Kleidung Raum geschaffen. Denn das Kleid ist zugleich eines der wichtigsten Mittel der  K l a s s e n s ch e i d u n g. Jede neue Mode geht von der herrschenden Schicht in der Gesellschaft aus, die darauf sieht, daß die Masse des Volkes ihr es in Schnitt und Ausführung der Gewänder nicht gleichtue. Die höhere Vernunft der menschlichen Kleidung aber liegt schließlich in ihrer  Z w e ck m ä ß i g k e i t, indem sie den Körper vor Wetterunbill schützt und den Gebrauch der Glieder nicht hemmt.

Als am Ausgang des fünfzehnten Jahrhunderts Europa, aus der Enge bäuerlicher und zukünftiger Wirtschaft erwachend, die grandiose Entwicklung zum Welthandel durchmachte, da brach eine Zeit ungehemmter Lebensfreude für die besitzenden Klassen an: die  R e n a i s s a n c e. Die grobe, die Körperformen entstellenden und verhüllenden Trachten des asketischen  Mittelalters waren kein richtiges Kleid für den machterfüllten Handelsherrn, dem die Schätze des Erdballs zuströmten. Die reiche Bürgersfrau der Renaissance – Rubens hat ihr unvergängliches Porträt geschaffen – trug nicht nur bei Festlichkeiten, nein auch daheim, ja auf der Straße und selbst in der Kirche, unter den Augen der Geistlichkeit, den tiefen  B r u st a u s s ch n i t t. Weit ausladende  W u l st e n r ö ck e  verbreiterten die Hüften durch Umlegen von schweren Stoffrollen, die nicht selten bis zu fünfundzwanzig Pfund schwer waren. Obendrein wurde die weibliche Brust mit Hilfe des Mieders, ja oft durch Wattierungen hervorgehoben. Strotzende Kraftfülle war das Schönheitsideal der Renaissance.

Im darauffolgenden Zeitalter der uneingeschränkten Macht des Landesfürsten wurde sozusagen der angedeutete Körper modern. Die Renaissance hat das Starke und Nackte geliebt. Das  R o k o k o  schwärmt für das Zarte und Ausgezogene. Der französische Hof wurde das Modevorbild für ganz Europa, Ludwig XIV., „der größte Komödiant der Gottesgnadenidee“, der erste Geck seiner Zeit. Die Mode spiegelt die ökonomischen Verhältnisse sehr deutlich wieder. Da im  A b s o l u t i s m u s  eine ganz besonders schroffe Klassenscheidung die Masse der arbeitenden Untertanen von der Gesellschaft der herrschenden Genießer trennte, machte die vom Adel ausgehende Mode den Körper zu jeder Art Arbeit völlig untauglich. Die Damen in ihren unnatürlich hohen  S t ö ck e l s ch u h e n, mit ihren  W e s p e n t a i l l e n  und riesenhaften  R e i f r ö ck e n – eine Fortführung des Wulstenrockes der Renaissance – konnten sich nur gravitätisch und tänzelnd fortbewegen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ihr Vorbild war ja auch die majestätische Steifheit des Monarchen, und oberstes Sittengesetz jener Tage, da die „Gesellschaft“ dem Abgrund entgegentaumelte, war: Körperliche Arbeit schändet.

Wieder stößt eine große geschichtliche Umwälzung die steifgraziösen Formen des Rokokos um:  d i e  f r a n z ö s i s ch e  R e v o l u t i o n. Die Adeligen in ihren Allongeperücken und edelsteinbesetzen Jabots, die gebrechlichen Luxuspüppchen königlicher Sinnenfreude mußten ihre gepuderten Köpfe auf der Guillotine lassen. In wilden Sturm fegte das Pariser Volk durch die Gassen. Dazu kann man keine Reifröcke brauchen. Die fließenden Gewänder der Antike wurden die Revolutionsmode: das  E m p i r e, die  m i e d e r l o s e  g r i e ch i s ch e  T r a ch t der Tunika, die, unter der Brust abgebunden, in weichen Falten den Körper schmeichlerisch umfließt.

Die regungslosen Jahre des  V  o r m ä r z , vom Wiener Kongreß bis 1848, und nach einem kurzen Revolutionsrausch die  R e a k t i o n  der fünfziger Jahre sind in der Frauenmode die eigentliche  B l ü t e z e i t  d e s  K o r s e t t s. Der weibliche Körper wird – gleich dem menschlichen Geist – in der unsinnigsten Weise eingeschnürt und mißhandelt. So wie der bis oben zugeknöpfte Mann in Zylinder und steifer Halsbinde als das Symbol staatserhaltender Zuverlässigkeit galt, so die Frau mit ihrer eingepreßten Taille und der Unzahl der gestalteten Unterröcke, die endlich zum Ungetüm der  K r i n o l i n e  entarteten: sie sollte in jeder Lebenslage würdig und geruhsam erscheinen.

Was folgt, ist nur eine Änderung im Verunstalten der natürlichen Formen. Als die Krinoline in ihrem grotesken Umfang nicht mehr überboten werden konnte, wurde das Drahtgestell zum alten Eisen geworfen. Aber das Mieder blieb und behauptete seine Macht noch durch mehr als fünf Jahrzehnte. Erbarmungslos mußte jede Frau, die etwas auf sich hielt, in  den Schnürleib, und die Mode verlangte von ihr, sich in der wahnwitzigsten Weise zusammenzupressen. Geraffte Röcke mit der besonderen Pikanterie des Cul de Paris wurden letzte Mode. F e st s i tz e n d e  „T a i l l en“, in denen obendrein noch Fischbeine sonder Zahl eingenäht waren, machten jeden freien Atemzug unmöglich. Die Alltagskleidung war hochgeschlossen; bis zum Hals hinauf quälten Steifheit und Enge. Nur im Ballsaal durfte die Dame im tiefen Ausschnitt erscheinen.

Es ist kein Zufall, daß die niederträchtige Herrschaft des Mieders wieder erst durch eine geschichtliche Epoche des  U m st u r z e s  gebrochen werden konnte. Unser eigenes Geschlecht ist Zeuge und Nutznießer der tiefgehenden  R e v o l u t i o n i e r u n g  d e r  F r a u e n m o d e  geworden.

Noch vor zwanzig Jahren war es im Bürgertum bis tief hinein in die Reihen der Arbeiterschaft gang und gäbe, den Töchtern Stück für Stück eine Ausstattung vorzubereiten und anzuschaffen. Aber wie hat diese  W ä s ch e  ausgesehen! Da wurde meterlang Zacke um Zacke für den Hemdansatz mit der Hand geschlungen, solide schwarze Strümpfe eingekauft, steifsitzende, geschwungene Miederleibchen, die gerade nur den Hals freiließen, zugeschnitten und flaumiger Flanell zu Unterröcken verarbeitet. Man stelle sich nur ein Sportsmadel von heute mit einem solchen Flanellunterrock vor!

Nicht anders ist es um die  F r i s u r  bestell. Nur mit grenzenlosem Staunen kann man der vielen „Einlagen“ gedenken, die für einen ordentlichen Schopf notwendig gewesen sind. Sie waren der letzte Ausklang jenes Perückenmonstrums, das die Damen des achtzehnten Jahrhunderts auf ihren – leeren! – Köpfen spazierengeführt hatten und das mit den verrücktesten Symbolen aller Art schwer behangen war: der „Fontange“. Die Schopfeinlagen um die Jahrhundertwende und später – Kopfmatratzen hat man sie in gerechtem Gott genannt – haben zwar nicht mehr die stattliche Höhe eines Meters erreicht wie ihr Vorbild, aber sie waren darum nicht weniger ungesund und machten das freie Ausatmen der Kopfhaut unmöglich. Jedes Haar mußte bei der morgendlichen Frisur fein säuberlich über den Wulst gelegt werden, um die künstliche Unterlage ordentlich zu verdecken. Und doch verschob sich der Bau bei jeder unvorhergesehenen Bewegung! Wie ungern entschloß man sich in jenen Tagen, das Haar am Nachmittag ein zweitesmal zu frisieren. Es war eine wirklich zeitraubende und schwierige Beschäftigung. In der rhythmischen Frauenturnstunde von heute könnte eine Dame mit auffrisiertem Schopf nicht mittun . . .

Der  K r i e g, der unsere Männer in die Schützengräben zwang, hat der Frau alle Gebiete des Arbeitslebens geöffnet. Sie fand Einlaß im Ministerium und in der Munitionsfabrik, kam zum Schreibtisch und auf den Kutschbock, ins Geschäft und in den Straßenbahnwagen. Überall mußte weibliche Arbeitskraft den eingerückten Mann ersetzen, ja es war die Frauenarbeit allein, die den halbwegs geregelten Fortgang der Wirtschaft möglich gemacht hat. Diese Zeit der unerhörtesten Kraftanspannung, des Hungers und der schamlosen Unterordnung der arbeitenden Menschheit unter das Gesetz des Massenmordes hat die bis dahin schlafenden Frauen zum Erwachen gepeitscht: Sie haben arbeiten müssen – und diese Arbeit hat sie denken gelehrt!

Und wieder hat eine Revolution mit eisernem Besen alte, strenge, steife Modeformen weggefegt. Wieder ist eine Revolutionsmode aufgetaucht. Aber diese letzte grundlegende Wandlung in der Frauenmode mußte sich – obwohl noch immer von Pariser und Londoner Modekönigen ausgehend und von ihnen ausgebeutet – wohl oder übel doch der geänderten gesellschaftlichen Funktion des weiblichen Geschlechts anpassen und  d a s  K l e i d  d e r  a r b e i t e n d e n  F r a u  schaffen: Das beengende Mieder ist verschwunden, der Hals frei, der Rock gekürzt und das lange Frauenhaar geschnitten.

Ist auch das nur ein revolutionärer Augenblickseinfall der wankelmütigen Modegöttin? Gewiß, in der kapitalistischen Wirtschaft wird der gesellschaftliche Geschmack in kurzen Zwischenräumen Extremen zugetrieben, um den Absatz künstlich zu steigern. Aber  k u r z e r  R o ck,  f r e i e r  H a l s,  l o s e  T a i l l e  u n d  B u b i k o p f,  diese vier wesentlichen äußeren Merkmale der modernen Frauenerscheinung, gehen über die gewöhnlichen Modeschöpfungen weit hinaus. Denn zum erstenmal verbindet sich hier der Wunsch nach Schönheit mit wirklicher Zweckmäßigkeit.

Für das Verwurzeltsein der heutigen Frauentracht in dem gesellschaftlichen Prozeß der Revolutionierung, der ganz besonders die Frau erfaßt, ist es bezeichnend, daß heute der  M a n n  auf dem Gebiet der Kleidung rückständiger ist. Er bleibt bei dem dunklen, dicken und dumpfen „Anzug“, dessen Weste, ein sinnlos gewordenes Überbleibsel, überhaupt nur dazu dient, daß sich kein Lufthauch bis zur Haut verirre. Auch der im Kriege aus Sparsamkeitsgründen zeitweilig verschwundene steife Kragen taucht immer öfter wieder auf und ist heute schon wieder das Sinnbild der Respektabilität geworden.

Die Frauen sind in ihrer Kleidung fortschrittlicher. Die heutige Mode entspricht wirklich den Anforderungen der Zeit. Wie herrlich können unsere Mädel in ihren kurzen Röcken laufen und springen! Wie natürlich schön ist es, wenn ihre losen Haare im Winde flattern! Wieviel leichter und gründlicher ist heute die Pflege und Reinigung der Haare! Wie praktisch ist der Bubikopf beim Sport, bei der Arbeit, in der Küche! Wie angenehm für die arbeitende Frau, sich bücken und wenden zu können, ohne daß Schnürbänder ihr den Magen zusammenpressen! Bei allen diesen großen praktischen Vorzügen entbehrt die moderne Frauenkleidung aber keineswegs der Grazie. Sie ist schön, weil sie vernünftig ist. Diese Elemente des Fortschritts wird keine Laune der Mode, kein Interesse des Konfektionskapitals mehr vollständig aus der Frauenkleidung zu tilgen vermögen. Und diese Errungenschaften der Freiheit des menschlichen Körpers soll uns keine Reaktion, die die Frauen zurück in Kirche, Küche und Mieder pressen will, mehr rauben!

In: Arbeiter-Zeitung, 5. Dezember 1926, S. 10.

Ernst Fischer: Wandlung des russischen Geistes

Russische Revolution! Ungeheures Gefühl, sagenhaftes Erlebnis über alle Kritik hinaus. Man kann das Resultat der großen Erschütterung prüfen, so weit uns das Resultat bekannt ist, man kann die wirtschaftlichen, politischen, sozialen Ergebnisse des Bolschewismus, des Leninismus analysieren, man kann seine Zeitung bejahen oder verneinen, anerkennen oder verwerfen, man kann sich in tausendfältiger Form mit ihm auseinandersetzen – aber es bleibt ein Rest, der aller Vernunft entrückt scheint: die Intensität, die Größe dieser Revolution, die unvergleichlich und beispiellos ist. Und, je mehr die vulkanische Masse auskühlt, je deutlicher das Produkt, der Niederschlag der gigantischen Gärung mit all den Widersprüchen, die das Wesen der Wirklichkeit sind, statistisch erfaßbar, objektiver Betrachtung und subjektiver Wertung zugänglich wird, desto bezwingender wird die Erkenntnis, daß diese Revolution viel mehr als ein politisches Faktum, daß sie ein geistiges Ereignis von welthistorischer Bedeutung war. Und so selbstverständlich es ist, daß man an politischen Überzeugungen, taktischen Maßnahmen, wissenschaftlichen Theorien Kritik übt, daß man sie für gut oder schlecht, klarer gesagt, für nützlich oder für schädlich hält, so töricht wäre es, geistige Umgruppierungen, kulturelle Wandlungen zu kritisieren, an dem zu messen, was bisher war. Man kann ein Buch, ein Bild, ein Theaterstück technisch bewerten – obwohl auch das sehr schwierig und problematisch ist – man kann eine Kunstform für diletantisch, wirkungslos, unecht halten, aber man kann nicht die Lebensform, die geistige Haltung, deren Ausdruck sie ist, mit einer abfälligen, höhnischen oder entrüsteten Kritik aus der Welt schaffen. Ihre Bedingungen nachzuspüren, ihre Elemente zu untersuchen, ihr Lebendiges zu erfühlen, das ist Aufgabe dessen, der sie darzustellen versucht – ob er sie anerkennt oder ablehnt, ist seine Privatsache. Nur wenn er liebt oder haßt soll er zu seiner Liebe, zu seinem Haß sich bekennen – denn dann will er nicht sie, die fremde Lebensform, sondern seine an ihr sich entzündende Leidenschaft darstellen.

Solche Leidenschaftsausbrüche haben wir häufig erlebt – und es schien lange Zeit, als könne man über die geistige Bedeutung der russischen Revolution nur in Ekstasen der Liebe, in Krämpfen des Hasses sprechen: wurde von einer Seite alles, was diese Revolution gebar, bedingungslos wie Blendwerk der Hölle verdammt, so wurde es von der andern Seite wie Erfüllung tiefster Träume gefeiert. […]

Interessanter und wesentlich ergiebiger als die maßlosen Manifeste für und wider die geistige Schöpfung des Bolschewismus, als das unfruchtbare Geschwätz der bürgerlichen Ästheten war ein Buch des großzügigen Journalisten René Füllöp-Miller, „Geist und Gesicht des Bolschewismus“, das vor einigen Jahren erschien. Füllöp-Miller hatte begriffen, daß die russische Revolution mehr war als ein politisches und wirtschaftliches Ereignis, daß sich dort im Osten ein kultureller Umsturz vollzogen hatte, dessen Konsequenzen noch unabsehbar sind. Und er fürchtete, daß das, was in Rußland geschah, Europas Kultur gefährden, Europas Seele vergewaltigen könne. Daher wollte er warnen, wollte er zeigen, daß die neue Lebensform europäischem Wesen vollkommen fremd sei, daß der Bolschewismus als geistiges Erlebnis zwar asiatische Barbaren, nicht aber westliche Kulturmenschen befriedigen könne. Trotz dieser kaum verhüllten Tendenz und obwohl sehr viele Behauptungen des geistreichen Autors unbewiesen, sehr viele Kombinationen gewaltsam, sehr viele Erklärungen oberflächlich sind, ist das Buch wichtig, nicht nur, weil es ein großes kulturhistorisches Material enthält, sondern auch und vor allem, weil es einen ernsthaften Versuch darstellt, hinter der wirtschaftlichen und politischen Umgestaltung die geistige Wandlung zu sehen. Das Füllöp-Miller meint, die Mechanisierung des Lebens, die Entpersönlichung des Menschen, der Triumph der Maschine über die Seele sei der Sinn dieser Wandlung, daß er den Schatten Dostojewskys beschwört, der ihm wie den meisten Europäern als der Inbegriff des „Russentums“ (einer unveränderlichen und undefinierbaren Substanz) gilt, um über den Leninismus Gericht zu halten, daß er über Experimente sich lustig macht, ohne zu untersuchen, was sie bedeuten – das alles vermindert zwar das Gewicht seiner Leistung, entwertet sie aber nicht. […]

Die Revolution war die gewaltsame Lösung, der explosive Ausgleich. Der Feudalismus wurde zertrümmert, der Bauer bemächtigte sich des Bodens, das Mittelalter verbrannte und in den Flammen ahnte man eine neue Welt. Ungeheuerste Aktivität entfaltet sich; in Lenin, dem gewaltigsten Tatmenschen aller Zeiten, kündigte sich auf einmal der neue Typus an, in ihm verkörperte sich das Rußland des zwanzigsten Jahrhunderts. Probleme der Wirklichkeit waren zu lösen, wirtschaftliche, gesellschaftliche, politische Probleme, Gestaltung des Staates war möglich, war brennend wichtig, Trägheit, Schwermut und Passivität mußten als ärgste Laster gelten – die historische Situation siegte über die „russische Seele“. Daß diese ungestüme und radikale Wandlung groteske Übertreibungen zeitigte, daß der fanatische Wille, die Entwicklung eines halben Jahrtausends in einige Jahre zusammenzupressen und nicht nur alles Versäumte nachzuholen, sondern plötzlich allen voran in die Zukunft zu stürmen, oft in phantastischen Experimenten zum Ausdruck kam, daß die Verneiner jeder Romantik aus der Sachlichkeit selber etwas Romantisches machten, war kein Wunder: und der scheinbare Widersinn, daß diese russischen Revolutionäre die sehr primitiven Wirtschaftsformen dem Sozialismus aufzwingen wollten, das kapitalistische, mechanistische Amerika vergöttern, ist nichts Ungewöhnliches, nichts dem „Russentum“ eigentümlich. Es gibt eine Reihe von deutschen Literaten, die ebenso verzückt von Amerika reden, für die Großstadt, Technik, Maschine, die in der Seele des Amerikaners keine besonderen Gefühle auslösen, weil er sie als selbstverständliche Elemente seiner Welt betrachtet, lyrische, mythische Angelegenheiten sind, ungefähr so, wie für den Emporkömmling die Manieren der guten Gesellschaft etwas Geheimnisvolles und Beunruhigendes sind; tausendmal mehr in dem wirtschaftlich unentwickelten Rußland, in dem „Elektrifizierung“ ein Zauberwort, das Taylor-System ein Kultus, die Technik ein Glaubensbekenntnis wurde. Wer in Rußland an den Erfolg der Revolution glaubte, mußte voll Inbrunst an neue technische und ökonomische Formen glauben, mußte sich mit Pathos und Leidenschaft zu ihnen bekennen, mußte sie fast ins Religiöse steigern, weil er sonst empfindungsgemäß die Zusammenhänge zwischen den Schwung des Geistes, dessen jede Revolution bedarf, und den realen Aufgaben der russischen Revolution verloren hätte. An Inbrunst, an Spannkraft, an Gläubigkeit fehlte es den Revolutionären nicht, aber an Maschinen, an Fabriken, an Elektrizitätswerken fehlte es und deshalb blickten sie voll Sehnsucht und Neid nach Amerika und deshalb mußte die mangelnde Realität durch den glühenden Willen, sie förmlich aus der Erde zu stampfen, ersetzt werden. Das Bekenntnis zu Amerika, es war das Bekenntnis zu den Voraussetzungen der Sozialisierung, die man in übermenschlicher Arbeit der Geschichte abtrotzen wollte.

Das formte die neue Geistigkeit: die Kunst, vor dem Zusammenbruch der alten Mächte psychologisch, fatalistisch, Sprengstoff der Seele, die Welt in das Nervensystem des Menschen konzentrierend, wurde nun „materialistisch“, aktivistisch, Sprengstoff der Gesellschaft, die Welt in das Nervensystem des Menschen konzentrierend, wurde nun „materialistisch“, aktivistisch, Sprengstoff der Gesellschaft, die Welt in die Wirklichkeit der Dinge und Ereignisse konzentrierend. Majakowsky, einer der Dichter, die im alten Rußland die Würdigkeit und den Überdruß des an allem verzweifelnden geistigen Menschen verkörperten, begeisterte sich an den Umsturz des Bestehenden, an der grellen Härte und Sachlichkeit der neuen Forderungen, er, der an den Sinn der Kunst nicht mehr glaubte, begriff angesichts der Revolution, daß man der Kunst neuerlich einen Sinn geben konnte: Aufruf zum Kampf, Ausdruck dessen, was nun wichtiger und bezwingender waren als alles, Ausdruck der politischen und sozialen Ereignisse. Die Sprache als Instrument der schönen Gefühle, der einsamen Seelenkomplikationen war abgebraucht, nun aber gab es Worte, die wie mit Ekrasit geladen waren, die man wie Bomben in die Masse schleudern konnte, die unmittelbar und berauschend wirkten: Elektrifizierung, Technik, Revolution, Internationale, Rote Garde – und diese Worte wie Blöcke aneinandergereiht, gegenständlich und dennoch durchfiebert von Fanatismus, waren die Elemente der Poesie, die nun begann. Einfacher und wuchtiger als die Gesänge des intellektuellen Majakowsky waren die plumpen Hymnen Budnji Demjans, poetische Tagesbefehle der Revolution, unverschnörkelte Manifeste des Klassenkampfes.

Es würde zu weit führen, alle Experimente zu schildern, in denen der Geist des Bolschewismus um Ausdruck rang: was diesen Experimenten gemeinsam war, ist die Erkenntnis von der sozialen, von der revolutionären Funktion der Kunst, die Erkenntnis, daß es im Sturme der Weltgeschichte nicht auf das Schicksal des einzelnen ankommt, nicht auf Seelenprobleme, nicht auf das, was die Menschen unterscheidet, sondern auf das, was sie zu kollektiver Aktion vereinigt, daß es sich, wenn Tausendjähriges stürzt und Niegewesenes aufsteigt, nicht um den „Ewigkeitswert“ einer Dichtung, eines Kunstwerkes, sondern um Aktualität und politische Wirkung handelt. Erst, wenn eine Klasse ihr Wesen gesellschaftlich verwirklicht, wenn sie das in ihr waltende revolutionäre Prinzip erfüllt hat, wenn nicht mehr die Macht zu erobern, sondern die Macht zu verwalten ist, kann sie versuchen, im Kunstwerk unpolitisch und weise zu sein! Solange sie kämpft, solange sie gegen alte Gesellschaftssysteme anrennt, ist Kunst ein Mittel, ist Kunst eine Waffe in diesem Kampf. Das haben die Künstler des Bolschewismus erkannt. Und mit unerhörter Entschlossenheit unterwarfen sie das Theater, das Kabarett, die Literatur, alle Kunstgattungen dieser Erkenntnis. Es gelang ihnen, das Theater, den Film, die kulturellen Gebilde, die am stärksten und unmittelbarsten soziologisch bedingt sind, von Grund aus zu wandeln, es gelang ihnen nicht oder nicht in diesem Maße bei allen übrigen Kunstgattungen.

[…]

Aber die freie, die auf sich selber angewiesene Kunst?

Sie ist lebendig wie nirgends in Europa. Und vor allem der russische Roman ist wieder bedeutungsvoll, fast so bedeutungsvoll wie der russische Film.

Um Romane zu schreiben, bedarf der Künstler einer gewissen Ruhe, einer gewissen Stabilität. In der ersten Revolutionszeit konnten keine Romane entstehen, in Gedichten und Theaterstücken entlud sich die geistige Spannung: als aber der Bolschewismus gesichert war, als Trotzky der Armee „das Knochengerüst eingerenkt“ und Lenin die Wirtschaft verhältnismäßig stabilisiert hatte, als man die Ereignisse einiger Jahre überblicken konnte ohne fühlen zu müssen, daß morgen schon alles anders sein könne als heute, war es wieder möglich, Romane zu schreiben. Und es zeigte sich, daß die junge Generation in Rußland, obwohl das Tempo der Entwicklung auf einmal stockte, obwohl die wirtschaftliche Reaktion die Seelen ernüchtert hatte, obwohl das Resultat der Ereignisse eine große Halbheit ist, die Zeit, in der wir leben, begreift, tausendmal besser begreift als die junge Generation in Deutschland, in Frankreich, in England. An der Idee des Bolschewismus gemessen enttäuscht seine Wirklichkeit: aber diese Enttäuschung verleitet die jungen Russen nicht dazu, aus der Wirklichkeit in die Romantik zu fliehen – im Gegenteil: stolz und tapfer bekennen sie sich zu dieser Wirklichkeit, schonungslos setzen sie sich mit den Problemen der Revolution, mit den Problemen des Sozialismus auseinander, unsentimental, in glühender Sachlichkeit schreiben sie die Geschichte der letzten Jahre. Immer ist es die Gesellschaft, die sie interessiert, immer ist es ein überpersönliches Schicksal, das sie schildern, immer stellen sie Menschen dar, in denen das welthistorische Ringen um die Neugestaltung aller Beziehungen zwischen den Menschen und Dingen sich spiegelt, nein, in denen es sich vollzieht. Sie wissen genau, daß es nichts Größeres gibt als die Revolution, deren erste Phasen wir erlebt haben, und weil sie das wissen, gibt es für sie nur einen Stoff: eben diese Revolution. In den westlichen Ländern knüpfen die meisten jungen Künstler dort an, wo man 1914 aufhörte, schwächlich und unfruchtbar: mag sein, daß die Revolution in Deutschland zu schnell vor sich selber erschrak, um künstlerisch so verpflichtend zu wirken wie die Revolution in Rußland, jedenfalls gibt es in Deutschland sehr, sehr wenige Bücher und Theaterstücke, die wichtig sind, wogegen in Rußland ein wichtiges Kunstwerk nach dem andern produziert wird.

Da ist vor allem Gladkows großer Roman „Zement“. Das Problem der Nepzeit, das Problem der siegreichen Revolution wird aufgerollt. Gljep, der Rotgardist, kehrt aus hundert Schlachten in sein Heimatsdorf zurück. Er träumte von einem romantischen Wiedersehen mit all den hübschen Dingen, die er verlassen hatte, von einer Familienidylle, von einem Leben wie eh und je.

Aber die Wirklichkeit ist anders als dieser Traum, die Straßen sind schmutzig und ungepflegt, die Häuser verwahrlost und halb verfallen, die Menschen hungrig und faul. Und die Frau, die kleine verliebte Frau, nach der er sich sehnte, ist anders geworden, hart, sicher und selbstbewußt, sie hat das Kind in ein Kinderheim gegeben, sie kümmert sich nicht um den Haushalt, sie sitzt nicht am Fenster und wartet auf ihren Gljep, sie spielt in der politischen Organisation eine Rolle, studiert marxistische Werke, sie nimmt an Sitzungen und Versammlungen teil, sie hat eine eigene Meinung und einen eigenen Willen. Ja, der Krieg hat alles umgestürzt, die Revolution hat alles verwandelt. Und wie ein Kleinbürger, wie einer der nichts von der neuen Zeit wissen will, bäumt sich Gljep gegen das veränderte Leben auf. Er war bereit, sein Blut und seine Gesundheit für die Revolution hinzugeben, aber sein Heim, seinen Traum von Familienglück und Ehebehaglichkeit, den will er nicht hingeben, den hält er für sein ewiges Recht. Das ist das eine – das andere ist nicht so persönlich, aber nicht weniger problematisch: die Fabrik, die große Zementfabrik, steht schon seit vielen Jahren, die Arbeiter, zermürbt und korrumpiert von dem dröhnenden Müßiggang des Krieges, der Revolution, wollen lieber in ihren Klubs debattieren, um jedes Stück Brot mit den Kommissären streiten, in Hunger und Elend verkommen als arbeiten. Nein, sie denken gar nicht daran, die verrosteten, von Spinnweb überwucherten Maschinen wieder in Gang zu setzen, sie lungern zerlumpt herum und warten auf irgendein Wunder. Nur der Maschinenmeister behütet seine eisernen Lieblinge, nur einer der alten Ingenieure hockt in seinem Arbeitszimmer über den Zeichnungen, gespenstischer Wächter einer zerborstenen Welt.

[…]

Arbeiten muß man, sagt Gljep, das ist die einzige Lösung. Und er reißt die Genossen mit, die Muskeln straffen sich wieder, das Blut pulsiert in den Adern. Arbeit, Arbeit, Flamme, die über alles Persönliche, alles Quälende und Verworrene triumphiert. Und die Maschinen erwachen aus ihrem Schlaf, die Kolben stampfen, die Transmissionen singen, die Förderkörbe klimmen den Berg hinan. Ungeheure Musik der Arbeit. – Oh, sie haben’s nicht leicht, Gljep und die Seinen, hundert Schwierigkeiten müssen sie überwinden, hart und grausam müssen sie sein, um sich das Nötigste zu beschaffen, aber sie greifen zu, sie sind nicht sentimental, sie kennen keine Schonung. Kosaken, Weißgardisten überfallen das Werk, da legt man die Schaufel weg und nimmt das Gewehr, da kämpft man mit derselben unerbittlichen Kraft gegen Menschen, wie man gegen den Widerstand der Materie kämpfte – und kehrt wieder zurück zur Arbeit, die das Entscheidende ist. Oh, sie haben’s nicht leicht, Gljep und die Seinen, sie müssen mit Dingen fertig werden, von denen sie früher nichts wußten, mit Problemen der Verwaltung, der Organisation, der Weltanschauung, mit Problemen der Erotik und des Gesellschaftslebens, der Freiheit und der Verantwortung. Alles müssen sie aus sich selber vollbringen, es gibt keine Traditionen, unbeholfen und schwerfällig, wie man ist, muß man die neue Welt gestalten, muß man sich in der neuen Welt zurechtfinden. Aber über alles hinaus donnert und singt das Werk, das sie, die Arbeiter, auf eigen Faust, aus freien Stücken, wieder in Gang gebracht haben, steigt der Hymnus der Arbeit, der Hymnus der Revolution empor.

Tapfer, ehrlich und strotzend von Lebenskraft ist dieses Buch, „unrussisch“, wenn man nur die Dichter des Zarenreiches als russisch gelten läßt, durchstürmt von ungestümer Aktivität. Gladkow macht sich und den Lesern nichts vor, er weiß, daß in Rußland nur ein Bruchstück dessen verwirklicht wurde, was man verwirklichen wollte, er kennt die Schwächen und Mängel der bolschewistischen Gesellschaft, er schildert sachlich und objektiv – aber durch all das braust und jubelt das leidenschaftliche Bekenntnis zu der Wandlung des Lebens, zu der Wandlung des Geistes in Rußland, seine Liebe zur Revolution und zur Arbeit. Und darum ist das Buch nicht „naturalistisch“ und nicht „romantisch“, nicht ein Stück Literatur, sondern ein Stück Leben.

[…]

Erkennt man in diesen drei Romanen, die aus einer Fülle von interessanten und bedeutenden Büchern herausgegriffen wurden, die Wandlung des russischen Geistes? Welch ein Bekenntnis zur Wirklichkeit, welch eine Härte und Präzision, welch ein unverschwommener, unromantischer Wille zur Lebensgestaltung! Das ist nicht mehr die „russische Seele“, die man wie eine rätselhafte Gottheit verehrte, das ist der Geist des Marxismus, der Geist der Revolution, der unsere Sprache spricht wie die Sprache des jungen Rußland. Die Probleme, die Tragödien, die Erkenntnisse jeder Revolution werden in diesen Büchern dargestellt, und während die deutsche, die westliche Literatur noch immer an der Vergangenheit schmarotzt, ist die russische Literatur heute der Ausdruck unserer Zeit, Flamme und Geist der Gegenwart. Darum lieben wir über alle Kritik und alle Gegensätze hinaus dieses bolschewistische Rußland.

In: Der Kampf, 1927, S. 499-507

B.: Theater, Kunst und Musik. „Brülle, China!“. Schauspiel von S. Tretiakow

(Neues Wiener Schauspielhaus.).

             Ein reichlich großmauliger Titel. Aehnlich jenem Plakat eines Kleiderhauses, auf dem ein Mann den Mund sperrangelweit aufreißt. Und gleichwie die Worte, die dieser Mann hervorstößt, mit ihren ersten Buchstaben ganz klein zwischen seinen Lippen stehen und mit ihren letzten riesengroß draußen in der Luft schwimmen (eine höchst unlogische Vorstellung, weil ganz im Gegenteile die erstgesprochenen Buchstaben gewissermaßen schon groß draußen im Raume schweben müßten, während die letzten eben neugeboren dem Gehege der Zähne entspringen), so plakatiert auch das Schauspielhaus auf dem Theaterzettel und auf den Wandtafeln sein „Brülle, China!“ in schiefer, rapid anschwellender Schrift, mit einem winzigen B beginnend, mit einem großmächtigen A schließend. Höchst apart, in der Tat! Jetzt wissen wir, wie chinesisches Gebrüll graphisch darzustellen ist. Phonetisch macht uns die Regie des Herrn Fritz Peter Buch mit ihm bekannt: Es erweist sich als widerlicher, mißtönender, demagogischer Lärm.

             Dieses angebliche Schauspiel des Russen S. Tretiakow dürfte dem Programm jener revolutionären Machwerke angehören, mit denen Sowjetrußland die übrige Welt belästigt. Der Tretiakow mischt sich da frech in eine Sache hinein, die ihn einen großen Schmarren angeht, nämlich in einen chinesisch-englischen „Zwischenfall“, der Jahre zurückliegt und, wenn er sich überhaupt so zugetragen hat, wie er hier geschildert wird, längst abgetan ist. Damals nämlich soll der Kapitän eines englischen Kriegsschiffes zur Sühne dafür, daß ein Amerikaner im Streit mit einem Chinesen ertrank, von den Einwohnern der Stadt Wansien unmenschliche Sühne verlangt und, da der wirkliche Täter nicht aufzutreiben war, zwei Geisel aufgeknüpft haben. Solche Grausamkeiten, wo und wann immer sie sich ereignen mögen, kann niemand schärfer verurteilen, als wir Christen, für ihre Opfer kann niemand aufrichtigeres Mitleid empfinden, als wir. Mit welchem Rechte aber heuchelt der Vertreter einer Weltanschauung Entrüstung und Mitleid, die den Martertod ungezählter Christen in Rußland, in Mexiko auf dem Gewissen hat, die das Blutregiment eines Bela Kun, den Geiselmord der Münchner Räteregierung zu ihren Ruhmesblättern zählt, die allerorten Mord und Greuel zum Parteidogma erhoben hat? So unerfindlich es ist, mit welchem Rechte er dies tut, so durchsichtig ist es, zu welchem Zwecke: Aus dem Einzelvorfall, der freilich jedem fühlenden Menschen ans Herz greifen muß, formt er revolutionäre Haßpropaganda. Eine Art von „Haßgesang wider England“. Dabei kommt es ihm nicht darauf an, die ganze weiße Rasse maßlos zu beschimpfen und zu verunglimpfen: Sie alle, die da, von geschäfts- oder berufswegen nach China kommen, Amerikaner und Engländer, sind wahre Bestien, beuten die armen Chinesen aus, mästen sich an ihren Hunger, mißbrauchen ihre Töchter, demütigen und kujonieren sie auf jede nur mögliche Art. Während die zum Tode geängstigten Gelben zitternd die beiden Opfer auslosen, tanzen die Europäer auf dem Kriegsschiff, spielen Tennis, flirten und singen zur Feier des blutigen Ereignisses das „God save the king“. Der katholische Missionär, die fromme Engländerin, auch sie, herzlose Scheinschriften, höhnen mitleidslos die gepeinigten Chinesen. Keine einzige fühlende Brust unter diesen Larven. Seht ihr, sagt Tretiakow triumphierend, so schaut die sogenannte Kultur aus! Die Wilden sind doch bessere Menschen! Da gibt es nur ein einziges Mittel: Revolution! Haut sie nieder, diese fremden Eindringlinge, murkst sie ab, erhebe dich, brülle China! Früher wird keine Ruhe sein. Ueberhaupt – so erzählt ein Kuli, der Herr Jakob Feldhammer – haben sie es drüben in Europa schon längst so gemacht, die Mächtigen, die Bedrücker gestürzt, davongejagt, sich ihre Menschenrechte erkämpft. Na also . . .

             Dieser Jakob Feldhammer, Direktor des Neuen Wiener Schauspielhauses, hat sich eine recht bequeme Rolle ausgesucht: Der Kuli hetzt nämlich fortgesetzt aus sicherem Hinterhalte, erzählt den armen Schiffern, jeder müsse die revolutionäre Kunst erlernen, für den anderen zu sterben, dabei fällt es ihm nicht entfernt ein, sich freiwillig für den alten Todeskandidaten oder für den gleichfalls zum Strick verurteilten Familienvater zum Sterben zu melden. Daran erkennen wir dich, du tapferer Revolutionär! Nur immer die anderen in den Tod geschickt, mein mutiger Phrasendrescher!

             Ein starkes Theaterstück? Mag sein. Gepeinigte Menschen in ihrem Leid zu sehen, ist immer „starkes“ Theater. Aber sicherer noch ist diese Aufführung in Wien ein starkes Stück. Es wird an einem Theater gewagt, das brave Währinger Bürger aus ihren mühsamen Ersparnissen zum Regierungsjubiläum des Kaisers Franz Josef bauten. Es wird mit all seiner maßlosen Verunglimpfung der englischen Nation in einer Zeit gewagt, da der österreichische Bundeskanzler in London herzliche und wertvolle Freundschaftsbeweise empfängt.

             Die Leistungen der einzelnen Darsteller zu würdigen müssen wir uns versagen. Die Regie des Fritz Peter Buch klappte ausgezeichnet. Gut gebrüllt China! Ein offenkundig parteimäßig eingestelltes Publikum raste vor Entzücken. Gut gebrüllt, Wien!

In: Reichspost, 4.5.1930, S. 13. Weitere Aufführungsdebatten finden Sie hier.