Felix Salten: Sieger und Besiegte. Brief an einen amerikanischen Freund

Felix Salten: Sieger und Besiegte. Brief an einen amerikanischen Freund (1919)

Kein einziger Mann lebt heute auf der bewohnten Erde, dessen Genie gleichen Schritt zuhalten vermöchte mit der Genialität der Ereignisse. Keiner, der imstande wäre, die Fülle und das rasende Tempo des Geschehens zu bewältigen, die Begebenheiten, durchblickend bis zu ihrem letzten Sinn, zu verstehen, ihre Folgen, verschauend, zu erkennen, oder gar den Gang der Dinge zu lenken. Einzelne Personen besitzen die Macht, aber wie sie von ihnen gehandhabt wird, fehlt dieser Macht die Güte, fehlt ihr die Reinheit, oft selbst die Würde, und daraus allein ergibt sich, wie sehr sie auch jeglicher Größe ermangelt. Das ist ein Unglück, verehrter Freund; nicht bloß für uns, die wir besiegt sind, sondern auch für diejenigen, die, augenblicklich, als Sieger gelten, und somit ein Unglück für diese ganze, verwirrte, bis zu ihrem Grundschlamm aufgewühlte Welt.

Wir alle stehen nicht auf der Höhe unserer Erlebnisse, sondern beträchtlich tiefer. Die Begebenheiten haben uns überrannt sie waren stärker als wir. Ein Bergsturz von Ereignissen, der nun schon seit fünf Jahren, ohne Halten, ohne Pause, mit mehr und mehr anschwellender Wucht auf uns niedergeht, hat uns verschüttet. Wir sind jetzt, nach beinahe fünf Jahren beständiger Katastrophen, in den Nerven, im Fühlen wie im Denken betäubt, gleichviel ob Sieger oder Besiegte, und wir find alle zusammen nicht mehr normal. 

Ihr Gedanke, daß die Vertreter des Geistes, die führenden Männer der Wissenschaft, der Kunst und der Technik nach dem Friedensschlusse irgendwo zusammentreten sollen, um in einem Kongreß die zerrissenen Kulturfäden neu zu knüpfen ist sehr schön und sehr verlockend. Vor zwei Jahren, vor einem Jahr, selbst noch vor einem halben Jahr hat man einen ähnlichen Plan auch bei uns erwogen und mancherlei Hoffnung damit verbunden. Seither sind aus dem Westen, besonders aus Amerika, viele schöne Worte und viele verlockende Gedanken zu uns gedrungen. Wir haben ihnen volles Vertrauen geschenkt, vielleicht zu großes Vertrauen: bis heute aber haben wir keine einzige Tat gesehen, noch keine einzige, die all die schönen Worte wahr machen und unseren guten Glauben rechtfertigen würde. 

Erblicken Sie immerhin einen Zweifel in dieser Äußerung;  er kann und soll nicht geleugnet werden, auch wenn er Sie etwa verstimmt. Denn dieser Zweifel schmerzt diejenigen, die ihn hegen, weit mehr, als er die zu kränken vermag, gegen welche er sich richtet. Bedenken Sie, wie weit die Menschen heute voneinander entfernt sind. Vor fünf Jahren beklagten wir es noch, wie viel Zeit ein Brief nach Amerika brauche, glaubten eine pathetische Wahrheit auszusprechen indem wir sagten, der Ozean liege zwischen uns, und hatten doch, binnen zwei Wochen, auf jede Frage, einer vom andern, die Antwort, hatten doch in unserem Leben, diesseits und jenseits des Ozeans, einen gleichmäßigen Rhythmus, der sich von Ufer, zu Ufer wahrnehmen ließ. Heute trennt uns eine größere Distanz als die Breite der Atlantis; selbst zwischen unseren nahen Nachbarn und uns liegt heute größere Entfernung. Zwischen uns liegt der ungeheure Bann dieser fünf Jahre, liegt das unermeßliche und // unentwirrbare Geschehen und zwischen uns liegen außerdem noch die Folgen einer Absperrung, die in solcher Dauer, in solcher demoralisierender Vollkommenheit, ohne Beispiel ist. 

Das Beispiellose, das Niemals-Dagewesene kennzeichnet ja alle Ereignisse, die wir bis heute erlebt haben, und sicherlich alle, die wir in naher Zukunft noch erleben werden. Es ist niemals noch dagewesen, daß der Kulturkomplex der weißen Rasse durch eine eiserne Grenzlinie in zwei Teile zerstückt und daß diese Teile jahrelang einander geschlossen geblieben wären. Jahrelang haben wir nichts voneinander gewußt, als was uns die Generalstabsberichte voneinander erzählten. […] Diese beiden Völkergruppen, zusammen die Führer und Erbauer der Welt, sind seit fünf Jahren gezwungen, ohne einander zu leben, müssen sich daran gewöhnen, ohne einander auszukommen, obgleich das wider ihre Natur geht, obgleich es Verrat an ihrer gemeinsamen Erdensendung bedeutet. Das ist beispiellos und … unverantwortlich. 

Als der Krieg ausbrach, sahen und begriffen die edleren Gemüter hüben wie drüben voller Schmerz, daß die Menschen einander noch zu wenig kennen. Die Menschen müssen einander kennen lernen – hüben wie drüben galt das als das höchste Ziel kommender Friedenstage, stand als erstes und wichtigstes Beginnen, als heiligste und eiligste Menschheitsbemühung. Aber wie furchtbar sind wir einander heute entfremdet. Wir verstehen uns weniger als je, kennen uns noch weniger, als wir uns je gekannt haben, und heute, da der Krieg schon drei Monate beendet ist , sind wir im Begriffe, uns mit jedem Tage mehr und mehr voneinander zu entfernen. Arme Soldaten im Feld, die nach dem Kampfe alle Feindschaften beiseite ließen, um einander in Todesnot und Körperqualen Beistand zu leisten, hilflose, arme Teufel, die sich nicht einmal mit Worten, sondern nur durch Blicke, durch Gebärden, oder durch ein Lächeln verständigen konnten, haben für die Annäherung der Menschen in einer einzigen Stunde mehr geleistet, als sämtliche Staatsmänner zusammen in diesen wichtigen drei Monaten auch nur versuchten. 

Es ist ja natürlich, dass man bei Ihnen den seelischen und geistigen Zustand, in welchem wir uns während des Krieges befanden nicht verstehen konnte. Auch wir haben den seelischen und geistigen Zustand, in welchem man bei Ihnen lebte, nicht begriffen. Daß wir alle, diesseits und jenseits der Feuerlinie, ganz im Anfang von einem Fieber erfaßt und geschüttelt, von einem Rausch umnebelt und hingerissen wurden, braucht niemand in Abrede stellen, der sich jetzt nicht von Feigheit und falscher Scham zu stotternden Verlegenheitslügen gezwungen sieht. Sie können nun freilich darauf hinweisen, daß wir von unseren Machthabern betrogen und in die Irre geführt worden sind. Aber bei solchem Hinweis, wenn anders Sie sich überhaupt seiner bedienen wollen, müßten Sie fest davon durchdrungen sein, daß man in Frankreich, in England, Italien und bei Ihnen immer nur die volle Wahrheit zum Volke gesprochen hat. Sie müßten überzeugt davon sein, daß Ihre Machthaber heute wenigstens die Wahrheit sagen, oder daß sie sie morgen sagen werden.

Vortrefflich, wenn Sie gegründete Ursache zu dieser Überzeugung haben, doch dürfte es Ihnen schwer fallen, sie auch uns zu suggerieren. Denn hierzulande schwindet das Zutrauen in die Gerechtigkeit Ihrer Staatsmänner von Tag zu Tag wie das Licht einer tief herabgebrannten Kerze. Ihre Staatsmänner haben erklärt, daß sie Ordnung stiften wollen, und haben binnen drei Monaten die Welt noch mehr verwirrt, als sie es ohnehin schon war. Sie haben die Menschlichkeit als oberstes Gesetz proklamiert, und obgleich sie seit drei Monaten die unumschränkteste Macht in ihren Händen halten, die es je auf Erden gab, haben sie in eben diesen drei Monaten jedes niedrige Verbrechen gegen die Menschlichkeit geduldet, wenn es (wie in Lemberg, in Marburg, in Posen und an hundert anderen Orten) von ihren Verbündeten begangen wurde. […] Ihre Staatsmänner haben tausendmal beteuert, daß sie uns die Freiheit bringen werden, aber was heute aus den Beratungszimmern, Bankettreden, Manifesten und Geboten dieser Staatsmänner uns anspricht, was jetzt als furchtbare Drohung über uns schwebt, ist eine so harte Knechtschaft, daß der Zwang, den wir von unseren Militärmonarchen erlitten haben, dagegen noch milde erscheint. 

Da Sie Deutschland und das ehemalige Österreich-Ungarn aus eigener Anschauung kennen, werden Sie wohl kaum im Zweifel darüber sein, daß es, hier wie dort, eine ungeheure Zahl von Menschen gibt, denen die Sache des Fortschrittes und der Freiheit, die geistige und materielle Erlösung der breiten Masse teuer ist. Wie zahlreich diese Menschen sind und dadurch auch, wie befähigt, die Kraft des Volkswillens zu repräsentieren, hat der rasche, widerspruchslose Sieg der Revolution übrigens hinlänglich bewiesen. Nun, mein verehrter Freund, diese Menschen befanden sich während des Krieges in einem inneren Zwiespalt, den man einen tragischen nennen darf. Eine Niederlage konnten sie ihrem Vaterlande, das sie liebten, keinen Augenblick wünschen. Von einem Sieg aber mußten sie eine ungeheure Verschärfung des militaristischen und monarchischen [?]  // fürchten, die brutale Vernichtung aller geistigen Freiheit für lange Zeit. […]

Während der letzten drei Monate ist man sich in Deutschland wie hier über vieles klar geworden. Unzählige Menschen empfinden heute schon die unterwürfige Art, mit der man sich vor der Entente auf die Knie wirft, die Demut, mit der man vor ihr auf dem Bauch kriecht, als widerlich und beschämend. Unzähligen Menschen steht heute schon die Tatsache fest vor Augen, daß wir nicht durch das Schwert besiegt wurden, wie Herr Clemenceau behaupten will, sondern daß wir uns, fasziniert von den vierzehn Punkten, im vollen Vertrauen auf die Verheißungen, die aus Washington kamen, ergaben. Diese Verheißungen haben die Gestalten Hindenburgs und Ludendorffs, an die man nicht mehr glauben wollte, verdrängt und an ihre Stelle die Gestalt Wilsons gesetzt, an den man glauben will. Wenn das feierliche Versprechen der vierzehn Punkte nicht bis in seine letzte Silbe ernst gemeint war, dann sind wir hundertmal ärger betrogen als wir je von unseren Machthabern betrogen wurden.

Alle Träger des Kriegsgedankens, alle Vertreter der Eroberungspolitik sind weggefegt, der Militarismus ist entwurzelt und niemand steht Ihren Staatsmännern jetzt noch gegenüber, an dem die Rache nehmen dürfen. Sie haben erklärt, daß ihr Kampf nicht dem Volk gilt. Nun hat das Volk sich selbst befreit, hat den Krieg, den es verurteilt, beendigt und erwartet sein Heil von diesen vierzehn Punkten. Bis jetzt ist weder von irgendeinem Heil, noch von irgendeinem Punkt auch nur das kleinste Pünktchen zu spüren gewesen. Verdient der Waffenstillstand, zu dem man sich herbeiließ, überhaupt diese Bezeichnung? Die furchtbarste Waffe, wirksamer als alle Tanks und jedes Trommelfeuer, die Blockade, wurde weiter gebraucht. Drei Monate lang, gegen Frauen, Kranke und Kinder. Da schon der Waffenstillstand kein Waffenstillstand gewesen ist, erscheint die Befürchtung leider begreiflich, Völkerbund werde kein Völkerbund, die verheißene Freiheit keine Freiheit und der Friede kein Friede sein.

 Es gibt Augenblicke, in denen alles Hoffen schwindet. Sie erinnern sich, daß ich Ihnen in den Tagen, in denen Deutschland den U-Boot-Krieg begann und Amerika sich der Entente anschloß, geschrieben habe, die Lehrbücher künftiger Generationen würden sich wohl schwerlich mit der Aufzählung all der vielen, jetzt so berühmten Schlachten befassten, sondern diesen ganzen Krieg nur als Einleitung zu größeren Katastrophen erwähnen. In diesen Lehrbüchern (schrieb ich damals) wird es ungefähr heißen: der allgemeinen Weltrevolution ging ein Krieg voran, der so und so viele Jahre dauerte. Als dann der Zusammenbruch erfolgte, konnte man noch einiges hoffen. Man konnte hoffen, daß Ihre Staatsmänner einsehen würden, wie sehr eines Tages über die Verbrechen des Krieges hinaus die fabelhafte Leistung des deutschen Volkes sich erheben, wie viel Rum und Bewunderung sie erringen werde. Bedachten sie das, dann schien es ihnen sicher ein unmögliches Beginnen, das deutsche Volk durch einen übermütig diktierten Gewaltfrieden zu erdrosseln. Vieles ist dem Sieger erlaubt, aber er muß sich, wenn er klug ist, davor hüten, für künftige Zeiten Haß gegen sich zu sähen. Alles darf er dem Besiegten zufügen, nur nicht solche Dinge, die unverzeihlich und unvergeßlich sind. Daß es verderblich ist, gefährlich und töricht, einem Volk wie dem deutschen, solche Dinge zuzufügen, daß sich in der Geschichte das Blatt oft fürchterlich wendet, ist Binsenwahrheit. Man braucht dazu nicht einmal die vierzehn Punkte. 

Aber vielleicht können Ihre Staatsmänner nicht anders handeln. In dem Rausch, mit dem die Fülle der Macht, die Habgier und die Größe des Sieges sie umnebelt, sind sie schließlich Gefangene der Ereignisse, wie wir alle es sind. Die Zwietracht, die dabei unter ihnen herrscht und die das erfolgreiche Bündnis jetzt schon zu zerreißen droht, verbergen sie umsonst hinter dreimal verschlossenen Türen. Es liegt offen vor aller Augen und dient gleichfalls nur der Erkenntnis, daß die Menschen heute kleiner sind als ihre Erlebnisse. So liegt denn das das Schicksal der Welt jetzt nicht bei der Genialität von einzelnen Auserwählten, sondern bei den Massen. Dieses Schicksal schreitet über die einzelnen wie mächtig sie auch sein mögen, hinweg und muß sich vollziehen. Es hat wohl keinen besonders praktischen Wert, Kulturkongresse gerade in einem Augenblick zu planen, in welchem diese ganze alte Kultur zugrunde geht […]

In: Neue Freie Presse, 2.2.1919, S. 1-3.