Arthur Drews: Ein Jahrbuch des Expressionismus

N.N. [Arthur Drews][1]: Ein Jahrbuch des Expressionismus (1919)

Das vorliegende Werk ist eine Art urkundlicher Beleg für die Stimmung gewisser Kreise in unserem Schrifttum nach der plötzlichen Beendigung des Weltkrieges, für die

Hoffnungen und Erwartungen, wie das heutige Geschlecht sie an die staatliche Umwälzung geknüpft, für die berauschende Wirkung, die die Schlagworte von 1789 »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« trotz allem noch immer auf jugendliche Gemüter auszuüben vermögen, und die gedankliche Unklarheit und Verworrenheit in politischen, sozialen und künstlerischen Fragen, die in unserer durch den Krieg und die Revolution aus Rand und Band geratenen Gegenwart wie in einem Hexenkessel durcheinander brodeln. Darüber hinaus ist es eine völlige Missgeburt. Schon das Vorwort aus der Feder des Herausgebers läßt in dieser Beziehung das Schlimmste erwarten. Es handelt von dem „Neuen“, das jetzt in die Menschheit kommen soll „als Beweis und Zeichen vom Sein einer unsichtbaren Sphäre, in der die Wahrheit auf ihre ewige Wiedergeburt wartet“. Sein Preis ist die Revolutionierung des Menschen selbst: das Bewegende soll selbst zur Eigenschaft des Menschen werden; über das Zeitliche hinaus soll das Revolutionäre sich in ihm verewigen! Revolution um der Revolution willen! In der neuen Kunst kündigt sich diese „neue Lebendigkeit“ an, einer Kunst „des menschenbrüderlichen Wesens der Welt“, deren Sinn ist, „die Erhebung des Menschen zum Weltbringer“. Man kann nicht mit mehr Worten sich in mehr Schwulst und Phrasen ergehen und fragt sich nur, ob der Verfasser sich wohl selbst bei seinem hochtönenden Redeschwall etwas Vernünftiges gedacht hat. Die nachfolgenden Gedichte eines Schürer, Heynicke, Ehrenstein, Loerke, Diaz und wie sie alle heißen, fahren nur in demselben überschwenglichen, gedankenarmen, aber phrasenhaft aufgeputzten Stile fort und erwecken nur zu oft den Anschein, als ob ihre Verfasser sich einen Spaß mit dem Leser machten, so völlig sinnlos, — verrückt, geschraubt und gekünstelt sind die meisten von ihnen. Man hat den Eindruck aus den Fugen geratener Gehirne und eines völlig entarteten Empfindens. Wenn dies Expressionismus sein soll, so ist es jedenfalls vorzüglich geeignet, diese neue Kunstart aufs schlimmste bloßzustellen und sie dem allgemeinen Gelächter aller Nichtsnobs preiszugeben.

Selbst so unanfechtbare Künstler wie Rilke und Werfel wissen nichts als ein ungereimtes Gestammel vorzubringen! Worte, Worte, in denen man sich vergeblich bemüht. Einen Sinn zu finden. Auch der unselige Toller hat zwei „Gedichte“ beigesteuert, in deren einem er die verzweifelte Stimmung zusammengepferchter Soldaten in den Transportzügen, in deren anderem er eine grausliche Unterhaltung von Skeletten zwischen den Drahtverhauen schildert. Man begreift ja wohl, daß die nervenzerrüttenden, schrecklichen Erlebnisse des Krieges die Phantasie de Menschen in solcher Weise beeinflussen konnten, wie es hier der Fall ist, aber von Kunst ist in diesen Ausbrüchen seelischer Verzweiflung doch keine Spur zu finden, und von „Erhebung“ kann solchen Erzeugnissen kranker Gehirne gegenüber doch wohl kaum gesprochen werden, in denen der Geist der Zersetzung und Verneinung herrscht und die allem normalen Empfinden geradezu absichtlich ins Gesicht schlagen Das „dramatische Gedicht“ Ikaros von Johannes Becher ist weder dramatisch noch ein Gedicht, während Paul Zechs Empor durch v. Unruhs Neuem Geschlecht angeregt zu sein scheint und einen ebenso niederschmetternden Eindruck macht wie dieses.

Paul Kornfelds fünfaktige Tragödie Himmel und Hölle habe ich, offen gestanden, nicht zu Ende lesen können: es ist ein Gemisch von tollen Einfällen, kindischer Unbeholfenheit und Langerweile. Was aber die novellistischen Skizzen und kurzen Erzählungen anbetrifft, die den dritten Teil des Bandes ausfüllen so sind sie leider nicht geeignet, das Urteil über das Vorangegangene in günstigerem Sinne zu beeinflussen. Für den „Tiefsinn“ von Meissners Mondsichelgesang oder Däublers Blauer Blume fehlt mir das Organ, und Steffens Traumehe, Jesa D’Oucks Fest, Brauns Feuersbrunst usw. sind ausgesuchte Probestücke einer sich selbst in der Sucht nach Neuem und Unerhörtem, noch nie Dagewesenem zermarternden Phantasie, die nur lächerliche Albernheiten zu Tage fördert. Einzig Martin Bubers Geschichten vom Berdeczewer und vom Apter sind lesbare nachdenkliche Sächelchen, während Kölwels Herz und Der Arzt von Ernst Weiß wenigstens nicht gänzlich sinnlos sind, wenn sie auch keineswegs auf irgendwelche literarische Bedeutung Anspruch erheben können, und v. Unruhs Stücke Einzelvorfälle aus dem Kriege uns lebendig vor die Seele rücken.

So bleibt nur noch der vierte und letzte Teil des Sammelwerkes zu erwähnen übrig. Er enthält „Ausrufe und Wertungen“. Was darunter, nämlich unter den Wertungen, eigentlich zu verstehen ist, ist mir nicht klar geworden. Diejenigen Beiträge, die man in diesem Sinne auffassen könnte, scheinen nur viel eher die Verneinung alter Worte überhaupt zu enthalten. Vaterland, Ordnung, Sittlichkeit, Religion, alles, was bisher für wertvoll angesehen wurde, wird hier von einigen Gernegroßen, die sich als „Umwerter aller Werte“ fühlen, in den Staub getreten, verhöhnt und zum alten Eisen geworfen. Otto Flake beginnt seinen Aufsatz Souveränität mit den großen Worten: „Kunst kann ich mir nur noch denken, indem ich sie in Frage stelle“, was übrigens die meisten der hier vereinigten Verfasser ihren Beiträgen nach zu urteilen, ganz ebenso gut von sich sagen könnten, und dann legt er los mit einem Ausfall gegen den Naturalismus in der Kunst, überhaupt gegen jede Abschilderung der gegebenen Wirtlichkeit, jedes „Thema“, jede Objektivität in der künstlerischen Darstellungsweise um an deren Stelle die absolute Souveränität des schaffenden Künstlers zu proklamieren. Das wäre dann also wohl die Thronerhebung des Expressionismus ? O nein. Der Expressionismus ist nach Flake nur eine „Annäherung“ an den von ihm gewünschten Zustand der „Ueberführung der Erregungen in Willen“, nur eine Annäherung, aber nicht mehr, „als erste Heroisierung des Illusionistisch-Bürgerlichen“. Flake aber verkündigt die „Umsetzung der Kunst in Wertung“. Er hält es für nötig, zunächst einmal alles überhaupt zu leugnen, um alsdann daran gehen zu können, Werte zu schaffen. Was er sich darunter vorstellt, sagt er leider nicht. Vermutlich ist das nur einfach ein aus Nietzsche entnommenes Schlagwort, bei dem sich diese Herren im übrigen gar nichts denken. Was er und seinesgleichen verkünden, ist im Grunde die Freiheit oder Frechheit des schriftstellerischen Zigeunertums, das sich hier als neue schöpferische Macht empfindet und mit großen Worten um sich wirft, und dazu stimmt die den Romantitern entlehnte Abneigung gegen den „Bürger“, die sich nur hier sozialistisch oder vielmehr anarchistisch aufputzt mit dem Bolschewismus kokettiert und sich dabei sehr erhaben und modern vorkommt. Über den Expressionismus handelt auch Max Picard. Aus dem mystischen Wortgetöse ist soviel zu entnehmen, daß der Expressionismus nicht psychologisch sondern psychoanalytisch sei. Wenn der Verfasser gesagt hätte: pathologisch, so würde es stimmen. In jedem Falle machen die Proben expressionistischer „Kunst“ sowie deren theoretische Verfechter in dem vorliegenden Sammelwerke einen durch und durch pathologischen Eindruck.

Es lohnt sich nicht und ist zu unerfreulich, auf die übrigen ästhetischen, moralischen und sonstigen Aufsätze dieses Jahrbuches für neue Dichtung näher einzugehen. Als einen der schlimmsten Schönredner und Phrasenmacher gibt sich der Herausgeber des Werkes selbst, Alfred Wolkenstein [!], indem er in einem Der menschliche Kämpfer überschriebenen Aufsatz, der mit einem völlig sinnlosen Gedicht beginnt, sich in einer Weise über die neue Dichtung ausläßt, daß dem Leser — übel wird. Nicht viel besser ist Holitschers demütiger Kniefall vor dem „großen, allumfassenden Geist des Sozialismus, dem göttlichen Geist der Erdenmenschheit“. Gustav Landauer, einst eine vielversprechende Kraft, zeigt in seiner Ansprache an die Dichter, daß auch ihm die Revolution völlig den Kopf verdreht hat. Er warnt in bewegten Worten vor dem „Patentsozialismus“, der in festgesetzten Einrichtungen und Methoden alle Ungerechtigkeiten und Widrigkeiten ein für alle Mal abzuschaffen und „verunmöglichen“ soll, um alsdann auch seinerseits für die Dichtung den Gedanken der Revolution um der Revolution willen zu entflammen Der Kunstschriftsteller Hausenstein schreibt über Zweidimensionalität in der Malerei und tritt für seine Lieblinge Cezanne und Marées ein, ohne daß es einem klar wird, woran er mit seinen Ausführungen eigentlich hinaus will. Ganz schlimm ist Kurt Hillers Aufsatz über die Ortsbestimmung des Aktivismus. Hier erfährt man, was der Aktivist nicht ist und was er ist, nämlich vor allem Pazifist und „Welterlöser“, wobei einem nur die Frage aufstößt, wer denn eigentlich nach dem Aktivisten gefragt hat und was den letzteren dazu berechtigt, sich selbst eine so erhabene Bedeutung beizulegen.

Was an allen diesen Beiträgen auffällt und den besonnenen Leser erschrecken muß, ist der vollkommene Mangel an Sachlichkeit und logisch klarer Darlegung der // Gedanken, die das Schlimmste für die Zukunft unseres Schrifttums befürchten lassen. Schrifttums befürchten lassen. Hier scheint Nietzsche geradezu verheerend auf die Gehirne unserer jüngeren Schriftsteller gewirkt zu haben. Keiner vermag sich, wie es scheint, mehr einfach auszudrücken, keiner den Stoff mehr logisch zu gliedern und einfach zu sagen, was er meint. Alles gärt hier chaotisch durcheinander. Ein zügelloser Subjektivismus des Stils und der Gedankenbildung vergewaltigt in rücksichtsloser Weise unsere deutsche Sprache und gefällt sich in stürmischer Entladung der unausgegorensten Gefühle. Man will offenbar gar nicht mehr verstanden werden, man liebt es, den Leser durch angeblichen Tiefsinn zu verblüffen, und hält es für „bedeutend“, verworren zu sein. Und über allem thront die Phrase und läßt die Schreiber selbst vor der gänzlichen Sinnlosigkeit nicht zurückschrecken, wenn sie nur einen „großen“ Anstrich hat und sich tönend dem inneren Ohr des Lesers einschmeichelt.

Dies erste „Jahrbuch der Erneuerung“, so verkündigt uns der Umschlag des Buches, soll das neue künstlerische, geistige Schaffen zur umfassenden Wirkung bringen. „Eine geistige Welt will die Wirklichkeit ihre erneuenden Kräfte spüren lassen und indem sie die Gestalt eines unbegrenzten brüderlichen und kämpfenden Menschen erschafft, führt sie in Umwälzung und Aufbau das Chaos zu einer guten Welt empor. Einstweilen bekommt man

leider nur das „Chaos“ zu spüren und blickt beim Lesen dieser Auslassungen vergeblich nach einem Zeichen aus, das auch nur einen Schimmer von Hoffnung auf eine zukünftige Blüte unserer Kunst erwecken könnte. In jedem Falle ist der künstlerische Eindruck dieses Jahrbuches schlimmer als trostlos. Hoffen wir, daß nach der seelischen Verwindung der Kriegsereignisse und dem Wiedereintritt ruhigerer Zustände in unserem persönlichen und öffentlichen Leben auch die Kunft sich wieder erholen und man uns damit verschonen wird, das unverständliche Gestammel übergeschnappter und unreifer Dichterlinge und die wüsten Ausgeburten einer zerrütteten Phantasie als« künstlerische Großtaten anstaunen zu sollen.

In: Neue Freie Presse, 16.8. 1919, S. 1-3.


[1] Orig. Untertitel: Professor der deutschen Literatur an der technischen Hochschule in Karlsruhe.