Ernst Lothar: Unterhaltungen über die Bücher des Jahres

Ernst Lothar: Unterhaltungen über die Bücher des Jahres

Der Bücherfreund (zum Kritiker): Sie haben mir im vorigen Dezember mit Ihrer kritischen Bilanz den literarischen Weihnachtskauf erleichtert. Welche Bücher empfehlen Sie heuer? Wenn man den Umschlagschleifen glauben darf, hat es nie so viele Meisterwerke gegeben wie in diesem Jahr!

Der völkische Beobachter: Was mich anlangt, so hat mich Ihre vorjährige diesbezügliche Auswahl nicht begeistert! Von welcher Einstellung gehen Sie eigentlich aus? Ist für Sie die Weltanschauung des Schriftstellers maßgebend oder welche sonstigen Belange?

Der Kritiker: Wenn Sie mir erlauben, das Wort „Einstellung“ beiseite zu lassen und auch auf „Belange“ zu verzichten, dann sage ich Ihnen gern, daß meiner Beurteilung dreierlei zugrunde liegt: der Geist, die Gestalt, die Form. Ein Buch, das mich anzieht, muß geistig sein, was nicht etwa ›geistreich‹ oder gar spitzfindig bedeutet, sondern: denkerhaft. Das Wort von den „Dichtern und Denkern“ ist mir daher unverständlich. Kein wahrer Dichter, der nicht Denker sein und das Gebilde hiedurch aus dem allgemeinen Flachland zum geistigen Niveau erheben müßte. Im Punkte der Gestalt aber stelle ich (Jakob Wassermann hierin beipflichtend) die Forderung, daß alles Dargestellte Leib zu werden hab, nichts neblig, flächig oder linear, alles dreidimensional und atembar (atmosphärisch) sei. Die Form liegt für mich –

Der völkische Beobachter: – selbstredend im edlen Sprachgewand?

Der Kritiker: Du lieber Gott! Verlangen wir vom Sprachgewand weniger und mehr. Mehr: daß des passe. Weniger: daß es sauber sei, das heißt, daß der anerkannte deutsche Schriftsteller Deutsch könne.

Der völkische Beobachter: Sie werden doch nicht behaupten wollen, daß es daran fehlt!

Der Kritiker: O ja, das behaupte ich. Ich behaupte sogar, daß die Zahl der deutschen Schriftsteller, die fehlerfrei Deutsch schreiben, lächerlich gering ist.

Der völkische Beobachter: Das müßten Sie erst beweisen!

Der Kritiker: Kinderleicht! Achten Sie doch, bitte, darauf, wie oft Sie nach dem Komparativ statt des richtigen „als“ das falsche „wie“ finden; wie oft man Sie falsch einlädt, „an“ oder „auf“ etwas zu vergessen; wie oft man Ihnen dank „eines“ Fehlurteils  einen Stümper zum Stilisten fälscht, was nur (weil „dank“ den Dativ verlangt) dank dem allgemeinen Schlechtdeutschkönnen möglich wird. Erklären Ihnen die Schreiber beständig, sie „brauchen nicht zu sagen“, während ich nicht zu sagen brauche, daß sie bei so schlechtem Deutsch nichts zu sagen hätten? Auch die unterschiedslose Gleichsetzung von „trotzdem“ und „obwohl“ ist gang und gäbe. Daß Leute, die solche groben Fehler machen, nicht einmal ahnen, wie sehr die ihnen im Sprachgefühl steckende Wendung „solche grobe“ dem Deutschen widerspricht, muß ich Ihnen kaum versichern. Die gröberen// Schnitzer, z.B. die epidemische, völkische Verwechslung von „nachdem“ mit „weil“, und die feineren, wie etwa den Fehlgebrauch der Tempora und des Konjunktivs mag ich gar nicht in den Bereich der Erörterung ziehen, weil man dies sonst in den Kreisen, die „das“ Bereich schreiben, für einen Schnitzer hielte. Grundbedingung der Form: das Sprachgesetz. Darüber hinaus hat die Form zu sein: fettlos, geschmeidig, prägnant.

Der völkische Beobachter: Das sind Haarspaltereien! Auf so etwas kann man vergessen, wenn das sonstige Diesbezügliche befriedigt! Kommen Sie jetzt zur Sache.

Der Kritiker: Ich bin bei nichts anderem. Denn ich versuchte, Ihnen klar zu machen, daß die Forderung: Geist, Gestalt, Form sehr hoch und daß (wenigstens soweit ich in Frage komme) davon nichts abzuhandeln ist. Der Schriftsteller, der nicht einmal weiß, was zu seinem Handwerkszeug gehört oder der dieses Handwerkszeug nicht dauernd blank und jeden Satz für eine Verantwortung hält, scheidet für mich aus. Hieraus ergibt sich die Sparsamkeit meiner Auswahl. Sie werden diese Sparsamkeit vermutlich Unvollständigkeit oder Voreingenommenheit nennen.

Der Bücherfreund: Treffen Sie sie immerhin. Je höher der Anspruch, desto geringer das Risiko des Käufers!

Der Kritiker: Ich stelle diesmal die erzählenden Kriegsbücher an die Spitze, für welche die Zeit und das träge Gedächtnis reif wurde.

Der völkische Beobachter: Sie werden hoffentlich nicht dem Herrn Remarque kommen, der mir und allen

Der Kritiker: – mißliebig ist, denen die ganze Richtung nicht paßt? Allen, die „gern dabei“ gewesen sind? Das trifft wohl auch für Sie zu?

Der völkische Beobachter: Voll und ganz.

Der Kritiker: Der Welterfolg von Remarque (und übrigens auch von Ludwig Renns Krieg) ist jenseits aller Parteinahme: hier hat Europa entschieden. Doch räume ich Ihnen ein, daß insbesondere bei Remarque der Wert des Tatsächlichen den des Gestalterischen übertrifft: es ist keine Dichtung, will auch keine sein, Dem Dichterischen näher kommt A.M. Frey mit seinem Feldsanitätsroman „Die Pflasterkästen“ (Kiepenheuer); ganz nahe aber der hier unbekannte Paul Alverdes mit seiner Erzählung „Die Pfeiferstube“ (Rütten und Löning): Vier Soldaten liegen im selben Lazarettraum; jeder mit einem Kehlschuß, jeder mit einer Kanüle, weshalb man sie die Pfeifer nennt. Erlebnis, von tragischer Heiterkeit überschimmert, macht die Katastrophenstubenluft atembar und rein. Von der Front in die malträtierten Städte führt Alfred Polgars „Hinterland“ (Rowohlt); die unheimliche Zeit in einem Spiegel von unheimlicher Schärfe aufgefangen. Mehr an „Großer Zeit“-Lektüre mag dem überfütterten Magen abträglich sein.

Der Bücherfreund: Und die bedeutenden Romane dieses Jahres?

Der völkische Beobachter: Deutsche, respektive heimische Romane!

Der Kritiker: Einverstanden. Ich will diesmal ausschließlich von der deutschen Hervorbringung sprechen, weil ich überzeugt bin, daß das rapid um sich greifende Übersetzergeschäft, das sich der fremden Produktion wahllos bemächtigt und (oft um der Fremdheit willen) Beachtung findet, auf das normale Maß zurückgeführt werden muß: auf die Welt- und die europäischen Erzeugnisse. Mittelware erzeugen wir selbst übergenug… Unter den deutschen Romanen dieses Jahres aber halte ich Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (S. Fischer) für den bedeutendsten. Hier wird die Existenz eines simplen Franz Biberkopf, der auf dem Alexanderplatz zu Berlin als Gassenhändler Posto saß, Punkt für Punkt geschildert. Genial geschildert. Ehe er herkam, um Pfennigware zu verkaufen, befand er sich im Strafhaus, nun aber will er’s gut machen, ein anständiger Kerl werden. Glückt das von heute auf morgen? Wird ethische Theorie praktisch honoriert? Armseliger Eckensteher Biberkopf! Berlin frißt dich auf. Keiner hat Berlin bisher mit solchem harten Griff gepackt und in ein Buch geschleudert. Da ist die Kolossalstadt mit ihren Hintergründen, mit ihren Abgründen. So halt, wie sie ist: Unerhörte Kunstleistung eines oft fehlgegangenen Dichters. Auf Franz Werfels Barbara (Zsolnay) und ihren österreichisch-dokumentarischen Wert habe ich vor kurzem hingewiesen. Auch Leonhard Franks Bruder und Schwester (Insel) sollte man lesen. Das Buch, das heikle Motiv der Geschwisterliebe gestaltend, zeigt alle Vorzüge des in Wien nicht genug geschätzten Dichters: die Vehemenz und Zartheit des Gefühls; die Reinheit und Reife der barmherzigen Menschenbetrachtung; den Mut zum Ungeschminkten, das trotzdem keusch bleibt. René Schickele hat mit dem Roman „Symphonie für Jazz“ (S. Fischer) ein Heute-Thema geistig bewältigt und faszinierend dargestellt; Klaus Mann in „Alexander“ (S. Fischer) eine historische Figur mit Laune, Leichtigkeit (nicht überall mit Kraft) vergegenwärtigt, ihr Utopisches sinnbildlich übersteigernd; Heinrich Eduard Jacob in „Blut und Zelluloid“ (Rowohlt) seltene stilistische Anmut an einen parteilos und durchaus geistig-dichterisch geformten Parteienstoff gewandt. Von Romanen nenne ich noch: Robert Neumann: Sintflut (Engelhorn); Joseph Roth: Rechts und Links (Kiepenheuer); Arnold Ulitz: „Aufruhr der Kinder“ (Propyläen), Hans Schoharczewer: Menschen nach dem Krieg (Zsolnay); Béla Balazs: Zwei gehen in die Welt (Rütten und Löning). Und an Novellen: Heinrich Manns Sie sind jung (Zsolnay): Quer- und Tiefschnitt des hellsichtigsten geistigen Sezierens der Generationen; Bruno Franks „Der Magier“ (Rowohlt): souverän vorgetragene, typisch gedeutete Max Reinhardt-Geschichte. Dann: Wilhelm Speyer: Sonderlinge (Rowohlt): zwei junge Autoren, beide fähig: Hermann Kesten: Die Liebesehe (Kiepenheuer); Oskar Walter Cisek: Die Tartarin (Enoch). Endlich Felix Brauns Die Heilung der Kinder (Speidel) und Marieluise Fleißers wesentliche Kurzgeschichten: Ein Pfund Orangen (Kiepenheuer).

Der völkische Beobachter: Wie steht es mit der vaterländischen Lyrik?

Der Kritiker: Es ist freundlich, daß Sie mich darauf aufmerksam machen. Doch fürchte ich, Ihnen hierin nicht ganz zu Gefallen zu sein. Denn nicht so sehr um „vaterländisch“ als um Lyrik handelt es sich. Nicht um Klingklang, sondern um Gloria! Um jene ewige Visionswelt der Gedichte, die aus den Abgründen des Profits, der inneren Armseligkeit, des reklametrommelnden Betriebs und des Bankerotts der Treiber inselhaft emporsteigt.

Der Bücherfreund: Ist es nicht merkwürdig, daß sich noch immer Menschen finden, die Gedichte machen! Gedichte werden doch nicht gekauft?

Der Kritiker: Sie haben recht. Es ist merkwürdig. Es ist sogar bewunderungswürdig, daß es wieder Menschen gibt, die Ahnungen zu Gedichten werden lassen. Sonderbare Leute. Ihre Augen taugen nichts: sie sind zu hellsichtig. Ihr Gehör taugt nichts; sie hören ja nicht einmal, daß man brüllen muß, damit man vernehmlich sei. Denken Sie etwa an das Buch der Gedichte von Anton Wildgans (Staackmann): Ein herrliches Buch! Auch Rudolf G. Bindings „Ausgewählte und Neue Gedichte“ (Rütten und Löning) müßte man besitzen. Nicht nachdrücklich genug kann ich die Aufmerksamkeit auf diesen edlen Dichter lenken, der hierzulande ungeachtet seiner sechzig Jahre fast unbemerkt blieb: ein Prosakünstler ersten Ranges (ich kenne kaum eine schönere Lebensbeschreibung als sein „Erlebtes Leben“), ein Verskünstler von magischer, weil visionärer Wortmacht. Dann liegen Hermann Hesses bitter-zarte, erlittene Gedichte Trost der Nacht vor (S. Fischer): wortgewordene Seele. Absoluter Gegensatz dazu: Walter Mehrings Lieder und Chansons (S. Fischer), die man als Kulturgeschichte des Couplets ansprechen kann. Die Mitte zwischen Seele und Brettel hält der junge Österreicher Victor Wittner, dessen „Mann zwischen Spiegel und Fenster“ (Zsolnay) seinen Standort richtig wählt: er sieht die Zeit und das Zeitlose, den Körper und doch auch den Körperwahn. Hier spricht ein echtes Talent, und, was entscheidet, seine eigene Sprache.

Der Bücherfreund: Gibt es nicht neue Bücher, die jedem, ohne Unterschied der ästhetischen Forderung, gefallen?

Der Kritiker: Jawohl. Es gibt die Bücher von Paul Eipper. Seiner berühmt gewordenen Sammlung Tiere sehen Dich an hat er (bei Dietrich Reimer) Menschenkinder und jüngst Tierkinder folgen lassen: dem Holdesten, Kind und Tier, mit entzückenden Bildern, mit feinen, fühlenden Worten alle Bezauberung und Holdheit wahrend.

Der Bücherfreund: Wie steht es mit den Biographien? So viel ich weiß, ist es Emil Ludwig, der hier Schule gemacht hat?

Der Kritiker: Ludwig hat diesmal einen (Rowohlt) auf den Markt gebracht. Höher stelle ich Jakob Wassermanns Michelangelo, Christoph Columbus“(S. Fischer) als grandiose Schilderung und Deutung. Stefan Zweigs Joseph Fouché (Insel), Otto Flakes Ulrich von Hutten (S. Fischer) sind desgleichen porträtierende Leistungen von höchster Intensität der Farbe und des durchschauenden bildnerischen Blicks. Annette Kolb unternahm einen geglückten Versuch über Briand (Rowohlt), Rudolf Olden errichtete mit Stresemann (Rowohlt) ein literarisches Denkmal, das Dauer haben wird. In diesem Zusammenhang: Ernst Heilborns durch Objektivität und Urteil ausgezeichnetes kulturpsychologisches Werk „Zwischen zwei Revolutionen“ (Otto Elsner), René Fülöp-Millers „Macht und Geheimnis der Jesuiten“ (Grethlein), das verschwenderisch viel Material fesselnd formuliert. Zum Schluß ein paar grundsätzliche Worte über Ernst Glaesers „Fazit“ (Enoch), eine Auswahl von Zeitungsaufsätzen verschiedener Autoren: Das Gesammelte ist zum größten Teil vorzüglich, dagegen die (von vielen geteilte) Meinung des Herausgebers: „Bericht“ sei die Stilforderung an den heutigen Schriftsteller, in dieser Ausschließlichkeit unhaltbar. Darüber wird bei Gelegenheit mehr zu sagen sein, weil es ein tiefgehender Irrtum ist. Für heute nur so viel, daß es zwar dem Journalisten genügen müßte, „zu berichten“, nicht aber dem Schriftsteller, der immer zu berichten, doch das Berichtete auch immer zu gestalten hat. Ungestalteter Bericht bleibt Reportage. Sie hat mit Kunst nichts zu schaffen, während der wahre Schriftsteller (auch wenn er über Schotter schreibt) unaufhörlich an sie gebunden bleibt. Mithin bedeutet zwar die Abmagerung wilder Reportage zum Bericht eine notwendige Gewichtszunahme der Zeitungsgeltung. Doch die Aufplusterung des Berichts zur schriftstellerischen Sendung wäre die Schwindsucht des Gestaltertums.

Der völkische Beobachter: Sie sind schon fertig? Und man hat mir gesagt, daß heuer etwa 3000 neue Bücher erschienen sind! Wie viele haben Sie da ausgelassen!

Der Kritiker: 2966. Ich sagte Ihnen ja schon: meine höchst subjektive Auswahl erhebt nicht den mindesten Anspruch auf Vollständigkeit. Bloß auf Wert.

In: Neue Freie Presse, 18.12.1929, S. 1-3