Genfer Sanierung (1922)

Im Lauf des Jahres 1922 schlitterte Österreich, getrieben durch die Ende 1921 eingetretene Inflationsdynamik (Lebenskostenindex 100 vom 1.1.1921 erhöhte sich auf über 20.000 im Sept. 1922) sowie nach Streiks und gewalttätigen Demonstrationen im Dez. 1921, trotz mehrerer Überbrückungskredite, die Großbritannien gewährte, in eine schwere Finanzkrise. Um einen Staatsbankrott abzuwenden ersuchte die österr. Regierung im August 1922 bei der engl. Regierung um einen Kredit in der Höhe von 15 Mio. Pfund, welche von Lloyd Georg an den Völkerbund, der seinen Sitz in Genf hatte, verwiesen wurde. Seit 4. Sept. 1922 kam es zu Vorverhandlungen, insbes. mit Lord Balfour, weil Großbritannien diesen Antrag zu unterstützen bereit war. Am 4.10. 1922 wurden schließlich drei Genfer Protokolle unterzeichnet, welche eine durch GB, Frankreich, Italien und die Tschechoslowakei garantierte internat. Anleihe in der Höhe von 650 Mio Goldkronen vorsahen, um damit das Budgetdefizit um etwa 60% reduzieren und die Versorgungslage aufrecht erhalten zu können. Die Staaten mit Reparationsansprüchen Österreich gegenüber erklärten sich außerdem bereit, diese zu stunden.

Als Gegenleistung wurde die Verpfändung der Zolleinnahmen, des Tabakmonopols, ein Anschlussverbot an Deutschland sowie die Reduktion der Zahl der Staatsangestellten und Eisenbahner verlangt und eine internat. Kontrolle über die Haushaltspolitik und die Notenpresse vertraglich vereinbart sowie ein Generalkommissär zur Überprüfung dieser Maßnahmen eingesetzt. De facto verzichtete die Republik damit auf einen Teil ihrer Souveränität, wenngleich es, aber erst nach zwei weiteren schwierigen Jahren gelang, die Währung und das Budget zu stabilisieren. Während die bürgerliche und konservative Presse diese Sanierung unterstützte, z.B. die NFP im Leitartikel Kredit oder Untergang (6.10.1922), sprach sich die Sozialdemokratie vehement dagegen aus, bezeichnete die Protokolle als Unheilprotokolle (AZ, 6.10.1922) und bezichtigte den Bundeskanzler Seipel des Hochverrats (AZ, 7.10.1922); die KPÖ sah in den Bestimmungen der Genfer Sanierung gar einen Weg in die Diktatur (RF, 6.10.1922). O. Bauer, der vor Genf an eine Währungsunion mit Deutschland gedacht hatte, brachte die SD nach Außen hin auf einen strikten Kurs gegen dieses Sanierungspaket; zugleich verhandelte er mit Seipel die Abmilderung einiger Bestimmungen, insbesondere die Kompetenzbeschneidungen des Nationalrates betreffend. Die Rückzahlungsraten dieser Anleihe wurden bis 1938 pünktlich bedient und reichten nach 1945 noch weit in die Zweite Republik hinein (bis 1980).


Literatur

F.L. Carsten: Die erste Österreichische Republik im Spiegel zeitgenössischer Quellen. Wien 1988; Ch. A. Gulick: Österreich von Habsburg zu Hitler. Wien 1976. S. 85f.; A. Suppan: Zwischen Staatsbankrott und Genfer Sanierung: 11. Juni 1921 bis 6. November 1922. Aussenpolitische Dokumente der Republik Österreich 1918-1938, Bd 4, Wien 2002;

Quellen und Dokumente

Das Ergebnis von Genf. Drei inhaltsschwere Protokolle. In: Arbeiter-Zeitung, 5.10.1922, S. 1-2, Die Unheilsprotokolle. In: Arbeiter-Zeitung, 6.10.1922, S. 1-2, Kredit oder Untergang Die einzige Alternative. In: Neue Freie Presse, 6.10.1922, S. 1, Das Genfer Ergebnis. Wollen wir leben oder sterben? In: Reichspost, 6.10.1922, S. 1, Auf dem Weg zur Diktatur. In: Die Rote Fahne, 6.10.1922, S. 1,

(ME/PHK)