Habima(h)
Bereits seit 1909 verfolgte der aus dem polnischen Bialystok stammende Hebräischlehrer Nachum Zemach gemeinsam mit Hannah Rovina und Menachim Gnessin in Warschau den Plan, das weltweit erste professionelle hebräischsprachige Theater zu gründen. Dahinter stand, ganz den Ideen des von Ascher Ginsberg (Achad Ha´am) propagierten Kulturzionismus folgend, die Suche nach einer zeitgemäßen jüdischer Identität durch eine Neubelebung der hebräischen Kultur sowie des Hebräischen als gesprochene Sprache. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges führte dazu, dass Zemach und seine Gefährten ihr Vorhaben erst 1917 in Moskau umsetzen konnten: In Kooperation mit dem angesehenen Regisseur Konstantin Stanislawski entstand im renommierten Moskauer Künstlertheater die Theatergruppe Habima (hebr. „Bühne“). Als schwierig erwies sich zunächst die Suche nach talentierten jüdischen Darstellern, die über entsprechende Hebräischkenntnisse verfügten und zudem bereit waren, die oftmals harten Arbeitsbedingungen des Schauspielmetiers in Zeiten der ökonomischen Krise und des politischen Aufruhrs hinzunehmen.
Trotz dieser Startschwierigkeiten konnte die Habima, die sich am zeitgenössischen russischen Avantgardetheater orientierte und deren Aufführungen die Moskauer Kritiker schnell „Qualität und Tiefe“ (Zer-Zion, 14) attestierten, große Erfolge feiern. Der thematische Schwerpunkt der Aufführungen lag auf Adaptierungen volkstümlicher und biblischer Stoffe bekannter jiddischer Dramatiker, wobei die einzelnen Inszenierungen zwischen „ethnische[m] jüdische[m] Selbstverständnis […], avantgardistischer Ästhetik und sozialrevolutionären Themen“ stets verschiedene Deutungsperspektiven zuließen (EJG, 496). Zu den frühen Höhepunkten zählte 1922 die grotesk-fantastische, durch jüdische Mystik geprägte Darstellung des Dybuk von Salomon An-Ski, die das Ensemble gemeinsam mit dem gefeierten armenischen Regisseur Jewgeni Wachtangow umsetzte und die sowohl vom russischen als auch vom jüdischen Publikum begeistert aufgenommen wurde. Diese Inszenierung, die bald „als eines der größten künstlerischen Ereignisse der modernen Bühne“ (NFP, 5.4.1924, 3) galt, stieß auch international auf große Resonanz: Theaterschaffende aus Paris, London und den USA reisten nach Moskau, um sich von dem hier gezeigten „wirklichkeitsnahe[n], reizvolle[n] Expressionismus“ (NFP, 30.5.1926, 19) inspirieren zu lassen und sich vom hohen künstlerischen Niveau der jungen Formation zu überzeugen. Maxim Gorki etwa, selbst nicht des Hebräischen mächtig, lobte „die Kraft und Schönheit“ der hebräischen Sprache, besonders aber die Darsteller: „Jedes „Wort, jede Gebärde, alles ist tief und harmonisch und in allem lodert die große Wahrheit, die nur die Kunst und das Talent schaffen können.“ (NFP, 25.5.1926, 8). Mit zunehmendem Erfolg geriet die Habima jedoch auch in den Fokus der Jüdischen Sektion der Kommunistischen Partei, die nicht das Hebräische, sondern vielmehr das Jiddische als Sprache des jüdischen Proletariats zu forcieren suchte. Entsprechende Repressalien durch die russischen Behörden und interne Konflikte führten im Jänner 1926 schließlich dazu, dass die Habima Moskau verließ und Berlin zu ihrem vorübergehenden Stützpunkt erkor. Von dort aus begab sie sich in den folgenden fünf Jahren auf internationale Tournee: Neben Polen, Litauen, Italien, Frankreich, der Schweiz und Palästina gastierte das Ensemble im Mai 1926 erstmals auch in Österreich. Im Wiener Carl-TheaterBegründet 1781 als Leopoldstädter Theater (2. Bezirk, Praterstraße), 1838 an Carl Carl verkauft, geschlossen 1929 (Di... gelangte neben Stücken wie Golem, Jaákobs Traum und Der ewige Jude auch der Dybuk zur Aufführung. Pressestimmen betonten besonders den augenscheinlichen Kontrast zwischen „der fast besinnungslose[n] Hingabe“ der Schauspieler einerseits und der „ehrlichen, andeutenden Magerkeit der Kulissen“ und der „sinnvoll einfachen Beleuchtungsarten“ andererseits (NFP, 30.5.1926, 19) und attestierten „in der Darstellung, im ganzen szenischen Aufbau, etwas grundsätzlich Neues“, das letztlich „in der Idee der Kollektivseele begründet“ sei (AZ, 5.6.1926, 9). Zu den regelmäßigen Besuchern der Wiener Habima-Vorstellungen zählte Max Reinhardtgeb. am 9.9.1873 in Baden/Niederösterreich – gest. am 30.10.1943 in New York (bis 1904 Namensschreibung: Max Goldmann..., der vor allem „die fast religiöse Hingabe an die Kunst“ (Wiener Morgenzeitung, 5.6.1926, 5) bewunderte, aber auch Arthur Schnitzler, der den Besuch am 2.6.1926 in seinem Tagebuch vermerkt. Reinhardt war, wie etwa auch Martin Buber, Lion Feuchtwanger und Thomas Mann, Mitglied des in Berlin gegründeten Freundeskreises der Habima, die der Truppe sowohl finanzielle als auch administrative Unterstützung zukommen ließ.
1927 reiste die Habima – inzwischen zu einem panjüdischen Symbol und Exponenten einer „vermeintlich authentischen jüdischen Kultur“ (EJG, 497) geworden – für mehrere Monate durch die Vereinigten Staaten; dort kam es, nicht zuletzt unter dem Eindruck enttäuschender Publikumsreaktionen, zum endgültigen Zerwürfnis mit ihrem Gründer und Direktor Zemach, der die Truppe daraufhin gemeinsam mit einigen Schauspielern verließ.
In den frühen 1930er Jahren hatte das Ensemble den Zenit seines Erfolges auch in Europa überschritten; ein Umstand, der gepaart mit dem wachsenden Antisemitismus dazu führte, dass sich die Habima 1931 endgültig in Palästina niederließ. In Tel Aviv wurde mit Mitteln des Berliner Freundeskreises nach Entwürfen des deutschen Architekten Oskar Kaufmann das Habima-Theater erbaut, wo in den folgenden Jahren vor allem eine intensive künstlerische Auseinandersetzung mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus und den gescheiterten jüdischen Assimilationsbestrebungen in den europäischen Gesellschaften stattfand.
1958 wurde die Habima offiziell zum israelischen Nationaltheater ernannt.
Literatur
Michael Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, München 2000; Andrei Malaev-Babel, Yevgeny Vakhtangov. A critical Portrait, New York 2013; Shelly Zer-Zion, „Habima“. In: Dan Diner (Hg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 2: Co-Ha, Stuttgart, Weimar 2012, 494-498; Dies., Habima. Eine hebräische Bühne in der Weimarer Republik, Paderborn 2016; Benjamin Pinkus, The Jews of the Soviet Union. The History of a National Minority (Soviet and East European Studies), Cambridge 1988; Die Geschichte von Habima. [Online verfügbar]; Eintrag in der Jewish Virtual Library [Online verfügbar].
Quellen und Dokumente
Felix Saltengeb. als Sziga bzw. Siegmund Salzmann am 6.9.1869 in Budapest, gest. 8.10.1945 in Zürich; österr. Schriftsteller, Jour..., Gastspiel „Habima“. In: NFP, 30.5.1926, S. 19; Gastspiel der „Habima“. In: NFP, 25.5.1926, S. 8; Kunst und Wissen: Theater der Habima. In: AZ, 8.6.1926, S. 6; M. Harari, Der Erzieher der Habima. Zu Wachtangows vierten Todestage. In: Wiener Morgenzeitung, 28.5.1926, S. 3; Ludwig Bato, Das auferstandene Wort. Den prächtigen Künstlern der Habima. In: Wiener Morgenzeitung, 4.6.1926, S. 3; Felix Salten, Gaststpiel „Habima“. In: NFP, 3.6.1926, S. 10; Gastspiel der „Habima“. In: Neues Wiener Journal, 3.6.1926, S. 17; Gastspiel der Habima in der Roland-Bühne. In: AZ, 2.3.1928, S. 9; Jiddisch oder Hebräisch? In: AZ, 23.11.1926, S. 5; Die Welttournee der Habima. In: Neues Wiener Journal, 15.3.1931, S. 17; Das Moskauer hebräische Künstlertheater Habima in Wien. In: Die Bühne, Hft. 173, S. 28; B. Tschemerinski, Bei den Proben des „DybukBeim Dybuk (auch Dibuk, Dibbuk) handelt es sich im jüdischen Volksglauben um einen Totengeist, der sich zeitweilig des ...“. In: AZ, 1.6.1926, S. 5; Rund um den Film: Verfilmung des Dybuk. In: AZ, 17.8.1930, S. 12; Carl-Theater. In: AZ, 1.6.1926, S. 5;
(MK)