Scheu-Riesz, Helene

geb. als Helene Riesz am 18.9.1880 in Olmütz (Mähren), gest. am 8.1.1970 in Wien; Verlegerin, Schriftstellerin, Journalistin, Übersetzerin

Sch.-R., aufgewachsen in einem jüd. „assimilierten liberalen, bildungsorientierten, gutbürgerlichen Elternhaus (Stumpf-Fischer, S. 16), absolvierte die erste Gymnasiale Mädchenschule des Vereins für erweiterte Frauenbildung (gegr. 1892 u. bis 1908 die einzige allg. bildende höhere Schule für Mädchen in Wien). 1904 Heirat mit dem Rechtsanwalt und soz.dem. Kommunalpolitiker Gustav Scheu (gest. 1935). 1905 Geburt des Sohnes Friedrich, 1912 der Tochter Elisabeth. Umzug in das 1912/13 nach Entwürfen von Adolf Loos errichtete, als erstes modernes Terrassenhaus des Architekten bekannte Haus Scheu in Hietzing (13., Larochegasse 3), wo Sch.-R. einen u.a. von Loos, Alban Berg, Oskar Kokoschka, Yvette Guilbert u. Anton v. Webern frequentierten Salon unterhielt. Befreundet mit Eugenie (Genia) Hoffmann – Schriftstellerin u. Vorsitzende d. Wohnungskomitees der Internationalen Frauenstimmrechtskonferenz i. Wien –, der Pädagogin u. Schulgründerin Eugenie Schwarzwald, dem Journalisten Max Winter (seit 1925 Präsident der Sozialistischen Erziehungs-Internationale) u. Franz Čižek; in seiner an der Wr. Kunstgewerbeschule eingerichteten Jugendkunstklasse setzte Čižek bei der Kinderkunsterziehung auf die Entfaltung eigener Neigungen/Begabungen und wird damit als Vorbild v. ReformpädagogInnen (ein-)geschätzt (vgl. Blumesberger 2009, S. 26f.).

In ihren journalist. Arbeiten (für Die Zeit – seit 1903 verantwortlich für die Sonderbeilage „Die Kinder-Zeit“ –, das Feuilleton derNeuen Freien Presse, die Zeitschrift Das Neue Frauenleben u. die Arbeiterinnen-Zeitung, in der Sch.-R. auch für die Redigierung der Beilagen „Häuslicher Ratgeber“ u. „Für unsere Kinder“ verantwortlich zeichnete) widmete sich Sch.-R. bs. den Themenfeldern Pädagogik/Erziehung, Kinder- und Jugendliteratur u. der Gleichberechtigung der Frau. Anfangs involviert in die bürgerliche Frauenbewegung (u.a. beteiligt an Aktivitäten des Wiener Frauenklubs), wurde Sch.-R. dann Mtgl. in soz.dem. Frauenorganisationen u. eine Unterstützerin der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF).

Während einer Englandreise auf sogenannte „Pennybüchlein“ gestoßen, nahm Sch.-R. sich vor, vergleichbar günstige und dabei Qualität-volle Kinderbücher auch in Österreich herauszugeben, denn: „Wer mit Franz Hoffmann, Christoph von Schmid und Karl May großgezogen wird, fällt später als leichte Beute dem Schundroman zu und geht vielleicht sein Leben lang an den Schöpfungen der größten Dichter vorüber“ (zit. Blumesberger 2009, S. 31), so Sch.-R. 1906 in den Neuen Blättern für Literatur und Kunst. Für diese (nur in einer Nr. erschienene) Zeitschrift zeichnete der Wr. Buchhändler Hugo Heller verantwortlich, bei dem denn auch die Reihe „Jugendspiegel“ (1905-07, insg. 4 Bde.) erschien. Für den „Jugendspiegel“ und (ab 1910) die Reihe „Konegens Kinderbücher. Eine Weltliteratur für die Jugend“ in Konegens Jugendschriftenverlag zeichneten als Herausgeberinnen Sch.-R. u. E. Hoffmann verantwortlich. Bis 1917 wurden 57 je ca. 38 Seiten starke Bde. „Konegens Kinderbücher“ veröffentlicht, deren Pappeinbände v. KünstlerInnen wie der österr. Graphikerin Mela Köhler (d.i. Melanie Köhler-Broman), die an der Wr. Kunstgewerbeschule bei Kolo Moser studiert hatte, gestaltet wurden und die v.a. via Annoncenschaltungen für Spielwaren, Wäsche o. Kakao finanziert wurden. Als Herausgeberin – d.h. im Kampf gegen „Kitsch“ in der Kinder- u. Jugendliteratur, dem Sch.-R. z.B. den programmatischen Arbeiter-Zeitung-Beitrag „Jugendlektüre“ (19.12.1906) widmete (vgl. Blumesberger 2009, S. 26) – war Sch.-R. beeinflusst v. dem Lehrer Heinrich Wolgast (1860-1920), der sich u.a. in der Schrift Das Elend unserer Jugendliteratur zur Literaturpädagogik geäußert hatte (vgl. Blumesberger 2009, S. 28-30). Diese literaturpädagog. Ambitionen verband Sch.-R. nach Kriegsende 1919 auch mit ihrem karitativen Wirken, indem sie Kakao u. Dosenmilch einer schwed. Hilfsorganisation an die Wr. Kinder verteilte und bei dieser Gelegenheit auch (Vor-)Lesestunden anbot (vgl. Stumpf-Fischer, S. 25). Als Übersetzerin v. Kinder-(Welt-)Literatur leistete Sch.-R. zudem Pionierarbeit, etwa, indem sie Lewis Carrolls Through the looking glass 1923 erstmals ins Dt. übertrug (Alice im Spiegelland) (vgl. ebd., S. 22).

Seit 11.12.1920 waren Sch.-R. u. Hoffmann auch als Gesellschafterinnen an Konegens Jugendschriftenverlag beteiligt. Bereits 1923 hatte Sch.-R. zudem einen eigenen Verlag gegründet, in dem sie u.a. die bei Konegen in insg. 115 Bde. verlegten Kinderbücher als “Bunte Sesam-Bücher” (1923-28) gem. mit G. Hoffmann neu herausgab. Daneben erschienen im sogenannten Sesam-Verlag die “Kleinen Sesam-Bücher” mit unter der Aufsicht v. Čižek gestalteten Umschlagzeichnungen, “Sesam-Liederbücher”, “Sesam-Bilderbücher” u. fremdsprachige Reihen. Geschäftsführer waren u.a. Emil Hertzka u. Hugo Winter, beide auch Direktoren bei der Universal-Edition. 1926 erschien das letzte Buch im Sesam-Verlag, der 1930 gelöscht u. 1932 vom Dt. Verlag für Jugend und Volk übernommen wurde.

Im englischsprachigen Briefroman Gretchen discovers America bewies Sch.-R., die 1904 mit dem Roman Werden lit. debütiert hatte, 1934 Affinität zur (anglo-)amerikanischen Lebenskultur (s. auch Sch.-R.s Beitrag zum ‘Vorspann’ der Monotonisierungsdebatte). Die USA, wo ihre Tochter seit 1932 lebte, wurde denn auch zum Exilort für Sch.-R., die unter dem Eindruck der polit. Entwicklungen Wien 1937 verlassen hatte (Sohn Friedrich emigrierte im März 1938 nach London). In New York gründete sie den Verlag Island Workshop [Press] (1941-54) u. gab die Reihe „United World Books“, analog zu den “Kleinen Sesam-Büchern”, in engl. Sprache und versehen mit engl.-dt. Vokabellisten heraus. Ende der 1940er Jahre Versuche, wieder Beziehungen nach Wien zu knüpfen. Als Friedrich 1954 aus dem Londoner Exil zurückkehrte, um auf Einladung Oskar Pollaks das Außenpolitikressort der Arbeiter-Zeitung zu übernehmen (und sich mit der Familie wieder im „Scheu-Haus“ niederließ), kehrte Sch.-R. nach Wien zurück. Mitinitiatorin der „Dramatischen Werkstatt“ i. Salzburg, die nach Vorbild der Drama Departments an US-amerik. Universitäten Autoren u. Regisseuren das Sammeln praktischer Erfahrungen u. internationalen (Kultur-)Austausch ermöglichen wollte (vgl. Blumesberger 2009, S. 25). 1960 verkaufte Sch.-R. das Loos-Haus. 1970 an den Folgen einer Lungenentzündung verstorben, wurde sie auf dem Wr. Zentralfriedhof beigesetzt.


Werke (Auswahl)

Werden [Roman] (1904) – In Memoriam [Gedichte] (1910) – Gedichte (1912) – Klein Friedels Tag. Künstler. Steinzeichnungen von Mela Koehler. Verse von Helene Scheu-Riesz (= Wiener Bilderbücher, Bd. 2; Wien o.J.) – Zirkus, ein buntes Bilderbuch. Verse von Helene Scheu-Riesz zu Bildern von A. Zangerl (Sesam-Verlag, o.J.) – Der Revolutionär. Eine Lebensgeschichte [Roman] (Wien: Konegen 1918) – Wege zur Menschenerziehung [Essay] (= Bücher für Frieden und Freiheit, Bd. 2; Wien 1921) – Frühlingsreigen [Drama] (1924) – Der Verführer [Drama] (1930) – Gretchen discovers America [Roman in engl. Sprache] (1934)

Herausgeberschaft: u.a. Konegens Kinderbücher (gem. mit E. Hoffmann etc.) 1910ff., Kleine Sesam-Bücher 1922-1928 (insg. 61 Bd.e), Sesam-Liederbücher (Bd. 1-14), Bunte Sesam-Bücher. Eine Weltliteratur der Jugend (gem. mit E. Hoffmann; ersch. Bd. 1-129; Bd. 1-115 ehemals Konegens Kinderbücher), Sesame Books (ersch. Bd. 3-5, 7 9/10 und Bd. 30 in engl. Sprache), World Library for Children (English Edition; ersch. Bd. 1-39)

Übersetzungen: u.a. Charlotte Perkins Gilman: Kinder-Kultur. Üs. aus dem Engl. Berlin: Deutscher Kulturverlag 1906. – Elisabeth Barrett Browning: Die Sonette aus dem Portugiesischen und andere Sonette. Üs. aus dem Engl. Berlin: Axel Juncker 1911. – Robert Browning: Pippa geht vorüber. Ein Drama. Üs. aus dem Engl. Wien u.a.: Frisch 1921. – Lewis Carroll: Alice im Wunderland. Üs. aus dem Engl., Wien 1923.

Quellen und Dokumente

Helene Scheu-Riesz: Jugendlektüre. In: Arbeiter-Zeitung (19.12.1906), S. 1-3.

Dies.: Kultur im Werden. In: Neue Freie Presse (24.1.1925), S. 11.

Dies.: Ein Jungmädchenbuch – „Die Jagdhunde des Frühlings“. In: Neue Freie Presse (20.6.1925), S. 31; Susanne Blumesberger (Hg.): Helene Scheu-Riesz (1880-1970). Eine Frau zwischen den Welten. Wien: Praesens 2005 (= biografiA. Neue Ergebnisse der Frauenbiografieforschung; Bd. 1). – Dies.: „Ich hoffe, den Tag noch zu erleben, wo jedes Kind Anspruch auf eigene Bücher hat genau so wie den Anspruch auf eigenes Brot“. Helene Scheu-Riesz – Verlegerin und Visionärin. In: Gerhard Renner+, Wendelin Schmidt-Dengler+, Christian Gastgeber (Hgg.): Buch- und Provenienzforschung. Festschrift für Murray G. Hall zum 60. Geburtstag. Wien: Praesens 2009, S. 23-42. – Dies.: Scheu-Riesz Helene, geb. Riesz [Biogramm] (Online verfügbar);Murray G. Hall: Der Rikola-Konzern. (Online verfügbar); N.N.: Tagung zur Schriftstellerin Helene Scheu-Riesz. Eine Frau zwischen den Welten [organisiert v. S. Blumesberger, Wien 2004]. (Online verfügbar); N.N.: Helene Scheu-Riesz [Biogramm]. Online auf “WienGechischteWiki”; Ernst Seibert: ‚Gretchen discovers America‘ – ein Adoleszenroman von Helene Scheu-Riesz mit großen Vorbildern. In: Blumesberger (2009), S. 79-91. – Edith Stumpf-Fischer: Wer war Helene Scheu-Riesz? Eine Antwort aus Literatur und Familienerinnerungen. In: Ebd., S. 13-29. – Daniela Wessely: Der Verlag von Carl Konegen in Wien unter Berücksichtigung der Verlagslandschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert. Dipl. Univ. Wien 1997 (Online verfügbar); Ein Kurzaufriss zu Sch.-R.s Leben, ausgewählte Bilder, Publikationen bzw. Quellentexte sowie eine Übersicht über (Nachlass-)Materialien in Archiven und Sammlungen ist auf der Homepage „Frauen in Bewegung: 1848-1938“, kuratiert von der Österreichischen Nationalbibliothek, zu finden (Stand: Jänner 2016).

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