Tandler, Julius

geb. 16.2. 1869 in Iglau/Jihavla (Mähren) –  gest. 25.8. 1936 in Moskau; Mediziner (Anatom), Universitätsprofessor, sozialdemokratischer Sozialpolitiker

Tandler wurde 1869 in Iglau/Jihlava (Mähren) geboren, wo sein jüdischstämmiger Vater als Kaufmann tätig war. Nach geschäftlichen Turbulenzen zog die neunköpfige Familie 1871 nach Wien, lebte jedoch im Gefolge des Börsenkrachs und der anschließenden ökonomischen Rezession wie weite Teile der Bevölkerung in  ärmlichen Verhältnissen und ohne soziale Absicherung, was prägend für sein späteres Wirken werden sollte. Tandler besuchte zunächst die israelitische Volksschule in der Leopoldstadt, anschließend das k. u. k. Staatsgymnasium im 9. Bezirk sowie ab 1882 das Leopoldstädter Communal-Real- und Obergymnasium. Seine Ausbildung finanzierte er sich großteils selbst und konnte 1895 sein Medizinstudium mit der Promotion abschließen. 1899 habilitierte er sich und trat im selben Jahr aus der Israelitischen Kultusgemeinde aus.  

Nach der Übernahme des Lehrstuhls für Anatomie an der Universität Wien 1910 trug er in der Folgezeit mit seinen anatomischen Studien wesentlich zum Weltruf der Wiener medizinischen Schule bei. Während des Ersten Weltkriegs fungierte er als Dekan der Medizinischen Fakultät und schloss sich im Zuge seiner Bekanntschaft mit Viktor Adler der Sozialdemokratischen Bewegung an, wo er im Verlauf der Zeit mit Theodor Körner, Karl Seitz und Ferdinand Hanusch in näheren Kontakt trat. 

In der Ersten Republik engagierte sich Tandler abseits seines medizinischen Berufs bald auch politisch, behielt dabei aber innerhalb der Partei bis zuletzt eine Randstellung inne. 1919 in den Wiener Gemeinderat gewählt, berief man ihn im selben Jahr zum Unterstaatssekretär und Leiter des Volksgesundheitsamtes. Als solcher sorgte er mit dem 1920 erlassenen Krankenanstaltsgesetz dafür, dass Krankenhäuser künftig durch die öffentliche Hand finanziert wurden und nicht mehr auf Spendengelder angewiesen waren. Ab November 1920 übernahm er den Posten des Amtsführenden Stadtrates für das Wohlfahrts- und Gesundheitswesen und machte in den folgenden Jahren die Stadt Wien in vielen Bereichen der Gesundheitspolitik zu einem internationalen Vorreiter. So stabilisierte er die nach dem Krieg stark beeinträchtigte medizinische Versorgung, forcierte besonders die Bekämpfung der weitverbreiteten Tuberkulose und der Säuglingssterblichkeit, aber auch des in der Arbeiterschaft weit verbreiteten Alkoholismus. Mit dem Ankauf von Radium zur Durchführung von Bestrahlungen im Krankenhaus Lainz und der Errichtung einer Beratungsstelle für Tumorerkrankungen setzte die Stadt Wien unter seiner Ägide Maßstäbe in der frühen Krebstherapie. 

Als Mediziner wusste Tandler um die Bedeutung der sozialen Verhältnisse auf die individuelle Gesundheit und stellte den Ausbau der öffentlichen Fürsorge, besonders im Hinblick auf das Kindeswohl, in den Mittelpunkt seines Wirkens: In den zwanziger Jahren entstanden auf sein Betreiben Kindergärten und -horte, Schulzahnkliniken sowie Mutter- und Eheberatungsstellen. Zudem wurde die Zahl der städtischen Gartenanlagen und Sportplätze bedeutend ausgeweitet und eine Reihe von öffentlichen Bädern errichtet, darunter das europaweit richtungsweisende Amalienbad in Favoriten, das bis zu 1.300 Besucher aufnehmen konnte. 1925 wurde die von Tandler initiierte Kinderübernahmestelle für elternlose Minderjährige als erste Einrichtung ihrer Art in Europa eröffnet. 

Abseits seiner sozial- und gesundheitspolitischen Erfolge sei kritisch angemerkt, dass Tandler Befürworter des damals in allen politischen Lagern verbreiteten Eugenik-Gedankens war: Vor allem die Förderung von „erbgesundem Nachwuchs“ und die Verhinderung von „unwertem Leben“ durch Beratung und Aufklärung der Bevölkerung stand im Mittelpunkt seiner höchst problematischen Überlegungen. Aufgegriffen wurde dieses Thema auch in dem im November 1922 erstmals in Wiener Kinos gezeigten „populär-wissenschaftliche[n] Erkenntnisfilm“ (AZ, 3.11.1922, S. 10) Hygiene der Ehe, in dem Tandler an der Seite zahlreicher anerkannter Ärzte selbst mitwirkte. 

Neben seinem politischen Engagement betrieb Tandler weiterhin wissenschaftliche Studien, aus denen zahlreiche Veröffentlichungen hervorgingen, so etwa sein Lehrbuch zur systematischen Anatomie in vier Bänden (1918-1929). Zu Beginn der dreißiger Jahre fungierte er außerdem als Berater der Hygienesektion des Völkerbundes, sah sich zu diesem Zeitpunkt aber aufgrund seiner jüdischen Herkunft an der Wiener Universität wiederholten Diffamierungen und tätlichen Angriffen durch rechtsgerichtete Studenten ausgesetzt, die zunehmend eskalierten. Er ließ sich daraufhin beurlauben und folgte einer Berufung nach China, wo er an den Universitäten Shanghai und Peking Anatomie-Vorlesungen hielt. Die Nachricht über die Februarkämpfe 1934 ließ ihn nach Wien zurückkehren, wo er vorübergehend inhaftiert wurde. Nach dem Verlust seiner Professur wählte Tandler den Weg in die Emigration. Er starb am 26. August 1936 in Moskau.


Werke (Auswahl):

Anatomie des Herzens (1913); Ehe und Bevölkerungspolitik, In: Wiener Medizinische Wochenschrift 5 (1924), Sp. 262-266; Krankenhauswesen und offene Fürsorge in Wien. In: Der sozialistische Arzt II/4 (1927), S. 27-29; Das Wohlfahrtsamt der Stadt Wien (1931).

Literatur

Karl Sablik, Julius Tandler. Mediziner und Sozialreformer: Eine Biographie, Frankfurt a. Main 22010; Melinz Gerhard, „Tandler, Julius“ in: Neue Deutsche Biographie 25 (2013), S. 776f. [Online verfügbar]; Eintrag bei dasrotewien.at; K. Sablik, „Tandler, Julius“. In: Österreichisches Biographisches Lexikon, Bd. 14 (2013), 194f. [Online verfügbar]

Quellen und Dokumente

Michael Schacherl, Rezension zu „Hygiene der Ehe“. In: AZ, 29.9.1922, S. 6; „Hygiene der Ehe“. Der Schundfilm im Dienste des Rathauses. In: Reichspost, 13. 10.1922, S. 4f; Die neue Kinderübernahmestelle auf dem Alsergrund. In: AZ, 4.7.1925, S. 10; Die feierliche Eröffnung des Amalienbades. In: AZ, 9.7.1926, S. 9; Das Wiener Radiuminstitut wird heuer eröffnet. In: Die Unzufriedene, 2.5.1931, S. 4; Das Wiener Radium für Lainz. In: Wiener Sonn- und Montags-Zeitung, 10.8.1931, S. 5f; Tandler geht – nach China. In: Die Rote Fahne, 11.6,1933, S. 6; Genosse Julius Tandler gestorben. In: AZ, 2.9.1936, S. 11; Film über den Besuch der Erziehungsanstalt Eggenburg von Karl Seitz sowie Julius Tandler (1926) [Online verfügbar]

(MK)