Julius Korngold: Operntheater.
(„Jonny spielt auf“ von Ernst Krenek)
„Es gibt immerhin auch
heute noch einige charakterlose Bühnenleiter, die lieber auf dieses Schauspiel
verzichten, als sich von der Schmutzwelle der „Jonny“-Hausse ihr kulturellen
Zwecken geweihtes Haus verunreinigen zu lassen.“ So stand es kürzlich in einer
namhaften deutschen Musikzeitung zu lesen. Baron Frankenstein, der Intendant
der Münchner Staatsoper, ist ein solcher charakterfester Bühnenleiter. Nicht
minder charakterfest hat sich Bruno Walter – wir wollen sein auch über das
Technische von „Jonny“ vernichtend lautende Urteil nicht wiedergeben – zu
dirigieren geweigert, als die auch Operetten geöffnete Berliner städtische Oper
mit dem Werke befaßt wurde. Wo deutsches Kunstgefühl unverseucht geblieben ist durch
die Phrasen der „neuen Musik“, deren Bloßstellung übrigens gerade dieses Werk
bedeutet, werden scharfe Proteste laut. Ja, auch Wortführer der Partei fallen
ab, überrumpelte Kritiker widerrufen. Gedruckter Katzenjammer da und dort…
Zu den charakterfesten
Bühnenleitungen hat leider nicht auch die des Wiener Operntheaters gehören
wollen. So ist der Jazz-Nigger auch in das Haus des Figaro, des Fidelio, des
Hans Sachs, des Tristan, der Ariadne eingezogen. Was für Geschäft wäre nicht
mit jazzgesegneten Operetten, wie „Zirkusprinzessin“ oder „Orlow“ im
Operntheater zu machen, von einer Marischka- oder Grünbaum-Revue nicht zu
reden, die übrigens die Gattungsgemäßheit der Amüsiermittel und vor allem ein
wirkliches Amüsement vor „Jonny spielt auf“ voraus haben. Gerade in
allerjüngster Zeit ist von der Kunstverwaltung auch in Hinsicht des
Operntheaters die Abgrenzung von Kunststätte und Geschäftstheater betont
worden. Eine Kunststätte vom Range, von der Tradition, von der Kunst- und
Kulturmission des Operntheaters hat aber den Geschmack zu bilden, nicht zu
verwirren, vor allem auf reinliche Scheidung der// Gattungen zu achten. Die
„Fledermaus“? Dieses Meisterwerk dramatischer Musikheiterkeit auch nur in einem
Atem mit „Jonny spielt auf“ zu nennen, würde eine Majestätsbeleidigung gegen
Johann Strauß bedeuten. Hat übrigens das Operntheater nicht sein böses Gewissen
verraten? Es setzte die Premiere für den Silvesterabend an, dessen wahllose
Lustigkeit das Sinken unter das Niveau decken sollte. Das schämige
Operntheater! Tut es nicht so, als handle es sich nur um diesen einen Abend?
Und ist nicht eine anständige Frau nicht minder gefallen, wenn sie bei
Silvesterchampagner gefallen ist?
Aber der Leser will hören,
was in „Jonny“ vorgeht. Das erste der elf Bilder zeigt uns, wie Max, der
Komponist, auf einem Gletscherspaziergang Anita, die Opernsängerin kennenlernt;
das zweite, wie Anita von ihrem Liebhaber Max Abschied nimmt, um eine
Gastspielreise nach Paris anzutreten. Im dritten Bild – Korridor in einem
Pariser Hotel – sehen wir endlich den famosen Nigger, der nach allen Weibern,
aber auch nach einer Geige giert, die dem Balkanvirtuosen Daniello gehört.
Daniello ist „schön“ und Jonny ist „stark“. Als Anita, wie sie selbst andeutet,
sexuell erregt aus der Vorstellung kommt, bietet sich ihr Jonny brutal an: „Oh,
ich bin stark – warum wollen Sie nicht? Alle Mädchen wollten bisher und haben
es nicht bereut.“ Und Anita: „Da ist es wieder, das Blut, gegen das ich nicht
kann.“ Aber auch der schöne Daniello hat sofort den psychologischen Moment
heraus: „Welche Sinnlichkeit in ihr!“ Gibt der „schwarzen Bestie“ einen
Tausendfrancschein Abstandsgeld, worauf Jonny seine „tierisch-sinnliche-wütende
Fratze in ein breites Grinsen“ wandelt und einen Jazz zu einem Abschiedstanz
mit dem Stubenmädchen Yvonne benützt, die er „lange genug gehabt“ hat. Daniello
aber macht die dem Nigger abgekaufte Anita mit fürchterlichem Phrasenwust auf
die Wärme des Blutes aufmerksam, das sie zurückgestaut habe: „Brich auf, brich
auf, die Schleuse!“ Damit eine solche Schleuse breche, muß ein lüsterner Tango
der Hoteljazzband nachhelfen. Bald drängt der Geiger Anita in ihr Zimmer, halb
zieht sie ihn hinein. Wobei beide in der Brunst Französisch zu parlieren
beginnen. Die Bühne bleibt leer. Man hört Liebesstöhnen aus dem Zimmer – ganz
wie es ein beliebiger szenischer Sexualeffekt
der „Blauen Katze“ seligen Angedenkens war, dieses berüchtigten
Budapester Nachtlokals, das nun auch im Operntheater würdige Nachfolge gefunden
hat. „Monsieur s’amuse!“ konstatiert der lüstern horchende Jonny…
Während sich Monsieur im
Zimmer Anitas amüsiert, schleicht sich der Schwarze in das Daniellos, stiehlt
die Geige und verbirgt sie vorläufig im Futteral des Anita gehörenden Banjos.
Am anderen Morgen – gleicher Schauplatz – bedauert die ungesättigte Yvonne, daß
sie keinen für die Nacht gehabt habe, während die gesättigte Anita als das
traurige Tierchen des lateinischen Spruches Herrn Daniello frostig
verabschiedet. Sie habe in dieser Nacht viel zugelernt, bekennt sie mit
lieblicher Offenherzigkeit, und schenkt ihrem nächtlichen Lehrer einen Ring zum
Andenken. Sowie aber dieser edle Künstler den Diebstahl seiner Geige entdeckt,
übergibt er diesen Ring racheschnaubend der Yvonne zur Ausfolgung an Anitas
Komponisten. Er will seiner Rache
nachfahren, der diebische Jonny der im Banjofutteral verborgenen Geige; und
Anita unterschreibt einen Vertrag nach Amerika… Mit Hilfe des rettenden
Vorhanges verlassen wir vorläufig das nette Gelichter. Wenn man diesen Akt
einen Operettenakt nennt, so bedeutet das schon eine Standeserhöhung. Und wenn
es ein Operettenakt ist, dann ist es der einer schlechten Operette, einer, der
nicht lustig, nicht anmutig, nicht pikant, sondern nur dilettantisch, platt und
unsauber ist.
Aber auch diese schlechte
Operette bleibt nicht Operette; sie geht in Revue, Varietè, Kino, Detektivstück
über… Vorerst aber macht sie – was dem Autor als Verächter der Romantik, jener
Beethovens miteingeschlossen, besonders gut ansteht – in verlogener Romantik.
Allerdings sind die romantischen Umstände, in die er seinen Gletschermenschen
Max bringt, den für einen armseligen Schwächling und Schwätzer zu halten wir
nicht erst der Diagnose der sich nach einem „Starken“ sehnenden Anita bedürfen,
eben wieder nur ganz nach den Rezepten jener schlechten Operetten ersonnen, die
bekanntlich eine burleske, niedrig-drastische Handlung mit unbedenklicher
Plötzlichkeit in ein sentimentales Operngetue übergehen lassen. Nachdem uns
nämlich der Anitas harrende Max mit ebenso geschwollenen als undramatischen
Monologen und die ausgiebig sexual aufgeklärt rückgekehrte Anita mit
Reflexionen gleicher Art gelangweilt haben, schließlich Max durch das Neuheit und Modernität sprühende
Ringmotiv von Anitas Untreue erfahren hat, sehen wir ihn wieder auf seinem
Gletscher, der – „höher geht’s nicht
mehr“ im Romantischen – zu singen beginnt. Hat nicht übrigens Lehar in „Endlich
allein“ solche Operetten-Bergszenen vorausgeahnt? Um an der Unwahrhaftigkeit
dieser Gebirgssentimentalitäten keinen Zweifel zu lassen, läßt uns der Autor in
der Nähe des Gletschers zugleich die Hotelterrasse erblicken, von der aus einem
Lautsprecher Gesang herüberklingt und Jazz und Tanz dazu. Aus dem Jazz hört
Daniello den Ton seiner Geige heraus, die von Jonny mittlerweile aus dem
Banjofutteral geholt wurde…
Nunmehr dreht sich alles um
dieses Requisit, geht die armselige „Handlung“ ganz in einer beispiellos öden,
geist- und witzlosen Revue- und Kinojagd nach dem gestohlenen Instrument auf. Von
der Polizei, die hinter dem Dieb einher ist, wird irrtümlich Max auf dem
Bahnhofsperron verhaftet. Worauf der im Verfolgungseifer ausgleitende Daniello
vor die Lokomotive eines einfahrenden Zuges fällt (!) […] Worauf das Auto –
nebenbei ein abgedroschener Kinoeffekt – durch „beleuchtete Großstadtstraßen“
fährt, Jonny auch die Polizisten niederstößt (!) und das Auto scheinbar in das
Publikum hineinlenkt (!), der D-Zug mit Max und Anita abdampft, auf der
Bahnhofsuhr, die sich in den Erdglobus verwandelt, Jonny zu sitzen kommt und
der johlenden Menge zum Tanz aufspielt…
Der Nigger, der Bringer
der Jazzkultur, mit gestohlener Geige, über das Europa Beethovens triumphiert?
Man glaube nur ja nicht an eine satirische Pointe. Dazu schwärmt Herr Krenek
seit Beginn seiner Laufbahn zu sehr für Fox, Shimmy und jenen Jazz, der nach
den Parteilehren der „Richtung“ die europäische Kunstmusik befruchten soll,
dazu liebt Herr Krenek zu wenig Beethoven. Es ist eine // augenzwinkernde,
zynische Verherrlichung, die verständnisvollen, für Amerikanisierung
begeisterten Zeit- und Zeitwillensgenossen gewidmet ist. Die Sache würde ja
auch gar nicht stimmen; denn nicht der Schwarze ist es, der nach der
europäischen Geige verlangt, sondern der Europäer greift leider nach dem
Niggerbanjo. Wie sich denn jede geistige Auslegung, jede kritische Erörterung
dieses dilettantischen, schließlich in szenische Ausstattungstricks
auslaufenden Gemenges von Operette, Revue, Kino, Detektivstück mit seinen
nichts weniger als lustigen, sondern geradezu trübselig berührenden Sketch- und
Farcefiguren, mit seiner Uncharakteristik und Unpsychologie, mit seinem Wechsel
zwischen banaler Alltagsprosa und banalem Schwulst verbietet […] Diese Folge
kurzer Bilder mit Alltagsbetonung, dieser Dialog in Alltagsprosa – ist das
nicht aus Strauß‘ „Intermezzo“ geholt? Und dieser Musiker, dessen Geliebte in
sexuelle Abenteuer gleitet, diese fernen Gletscherklänge – erinnert das nicht
an die Oper Schrekers? Allerdings
werden weder Strauß noch Schreker von der Banalisierung erbaut sein, die dort
ein Stilgedanke, hier ein romantisch-phantastisches Motiv gefunden haben.
Wir weisen jede geistige
Ausdeutung dieser traurigen Farce ab. […]
Aber freilich der Jazz, die Niggersongs, die Niggertänze! Musikalischer Zeitausdruck? Blicken wir doch in die Operngeschichte zurück. Sind zur Zeit der reichen Opéra-comique-Produktion die auch nach Deutschland gelangten Quadrillemelodien der Auber, Adam, Halévy, Thomas, deren Schablonenhaftigkeit und Ausdruckslehre schon Berlioz und Wagner ihre Mißachtung bezeugt haben, für „Zeitausdruck“ ausgegeben worden? Recht bemerkenswert übrigens , wie diese Quadrillemotive und der aus ihnen herauswachsende Cancan in der stoßenden Rhythmik und im sexualen Einschlag den derzeitigen Niggertänzen ähnelten, die eigentlich nur synkopierte Schnellpolkas und Schnellmärsche sind. […]
Welche Falschmünzerei
überhaupt, die Tonkunst von einem imaginären Zeitwollen abhängig zu machen! Daß
sie, die Zeitlose und von der Zeit souverän Unabhängige, gerade in ihren
bedeutendsten Schöpfungen nie den Beruf gefühlt hat, den Zeitinhalt oder, nennen
wir das Kind beim rechten Namen, die Zeitmode wiederzugeben, sagen wir nicht
das erstemal. Wenn aber unsere Zeit – und hier erlauben wir uns ein Selbstzitat
– wirklich so entgöttert und entnüchtert, so entseelt und demoralisiert, so
unernst und geschmacksverlassen wäre, wie es uns die „neue Musik“ in ihren
Produkten glauben machen möchte, wenn Vorherrschaft von Kino, Revue, Jazz,
seelenloser Amüsierkunst, wenn gesteigerter Entblößungs- und Tanztrieb und
ähnliches auf die Gefahr tieferer psychologischer Aenderungen der Menschennatur
und nicht auf bloße modische Oberflächenerscheinungen weisen würden, so hätten
gerade die Musiker einer solchen Zeit die Pflicht, von den stärksten und
edelsten Kräften ihrer Kunst Gebrauch zu machen und – gegen die Zeit zu komponieren. Und rücken wir der unerträglichen
Phrase weiter zu Leibe. Die Zeit will ihre Musik, heißt es. Da aber für die
gedankenlos Parteiformel die Maschine, der Großstadtlärm die Zeit bestimmt und
nicht der sich im innersten Fühlen nie ändernde Mensch, so wollen eigentlich –
und das wird ja tatsächlich behauptet – nur Maschine und Großstadtgetöse ihre
Musik. Und das soll denn auch nur eine maschinenmäßige, mißtönende, chaotische
Musik sein, das soll in zu unverhältnismäßiger Bedeutung erhobener Tanz- und Unterhaltungsmusik
der Jazz sein. Sind Maschinen und Großstadt erst eine Sache von heute? Gab es
nicht ein Maschinenzeitalter, Eisenbahnpfiffe, Autogetute bereits vor dem
Eindringen des Jazz, mag auch noch das Schwirren des Luftschiffes gefehlt
haben? Ja, war das Maschinenzeitalter nicht schon zu Wagnerischen
Bayreuthzeiten da? Merkwürdigerweise hat damals kein Zeitwille korrumpierte
Geräuschmusik gefordert, kein Zeitwille den Eroberungszug von Wagners
zeitfremden romantischen Götter- und Heldenpathos vereitelt: das Genie war //
der Zeitwille. Damals kam eben auch noch Amerika nach Europa, um geniale
europäische Musik aufzunehmen, nicht etwa um zugleich mit seinem Barwesen – ein
Zusammenhang, der nie übersehen werden sollte – den Rhythmus seines schwarzen
Spelunkentanzes und Spelunkenmusikulks zu exportieren und damit nicht etwas den
Rhythmus der Zeit ausdrücken zu helfen, sondern nur den Rhythmus der falschen
Amerikanisierung europäischer Kultur. […]
Aber kehren wir zum
aufspielenden Jonny zurück, der so wenig wie mit seiner Handlung mit seiner
Musik in das Operntheater gehört. Nicht mit seinem sich hinter Opernform
bergenden Revue- und Operettengeist, nicht mit seinem Jazz- und Liedkitsch,
auch nicht mit der in Häßlichem wie Nurgewöhnlichem gleich flüchtigen Faktur.
Den Komponisten brauchen wir nicht erst vorzustellen: der Leser kennt ihn aus
unseren Berichten von der Walstatt der „neuen Musik“. Ursprünglich Wiener Schreker-Schüler,
hatte Ernst Krenek das Glück, rechtzeitig nach Berlin zu kommen und hier von den
zeitgenössischen Königsmachern auf den Schild erhoben zu werden. Er
praktizierte über Nacht wechselnde Grundsätze der „Richtung“ sozusagen in
grundsatzloser Weise, war mit besonderer Betonung klangphysiologischer Spiel-
und Bewegungsmusiker und selbstverständlich „anti“- gerichtet in Hinsicht des
Psychischen und Psychologischen, des Gefühsmäßigen, des Romantischen. Treu
blieb er sich in einem gewissen Unernst, im Sinn für Bluff und in der
Schwärmerei für Fox und Jazz. […]
Was an der Musik zu
„Jonny“ zunächst auffällt, ist der opportunistische Bruch mit den bisher
vertretenen „neuen Kunstidealen“, das Auch-anders-Können – oder sollen wir
sagen das Auch-anders-nicht-Können?
Krenek ist nicht mehr gegen das Romantische, nicht gegen das „Konventionelle“
des Melodischen, und er ist schon gar nicht „linear“ oder „atonal“. Was sich
den Kakophonien der Harmonik, der Stimmführung und der Instrumentation nach
„atonal“ anhört, ist nur ungrammatikalisch und unsauber, rührt nur aus
hemmungslos hingeworfenem, korrumpiertem Satz her: Mißklangsunfug ohne jene
Logik der Technik, wie sie Hindemith zuzubilligen ist. Daneben aber wird der
Komponist so tonal, ja so primitiv und banal dreiklangtonal, wie nur irgendein
„rückständiger“ Musikspießer des neunzehnten Jahrhunderts. […] //
Für Ausstattung,
Maschinerie, Szene, Beleuchtung hat das Operntheater mit Künstlern wie
Professor Strnad und Dr. Wallerstein
das Erdenkliche aufgeboten, dabei manches Grobe und Drastische gemildert. Um so
unbegreiflicher, daß in dem blendenden Schlußbild, das ganz Revue ist, die
transparente Inschrift „Die neue Zeit rückt an, versäumt den Anschluß nicht!“
nötig befunden wurde. […]
Die Silvesterstimmung hat für den äußeren
Erfolg das Erwartete getan. Aber seien wir nicht ungerecht, auch die Partei- und
verpflichtenden Interessensgruppen waren rührig. Gleichwohl gab es Pfuirufe und
Unruhe auch im Silvesterpublikum, zum Schlusse auch Zischen und Pfeifen. Aber
der Komponist konnte sich vielmals mit den Darstellern zeigen. Er schreibt
einmal für die dramatische Wendung des Autos auf der Bühne wörtlich vor, daß
„zwei mächtige Scheinwerfer das Publikum blenden“ sollen. An solchem Schein,
der das arme Publikum blenden soll, ist auch sonst kein Mangel in dem Werke,
das sich auf die Jazzmode, auf die Pikanterie, Niggermusik singender und
tanzender Opernsänger, auf Ausstattungsspielzeug, auf eine regsame Partei und
vor allem auf die kitzelnden Verblüffung, dort Dinge zu hören und zu sehen zu
bekommen, wo man sie nicht erwartet. Je weniger also eine Angelegenheit wie
„Jonny spielt auf“ in ein Haus wie das Operntheater gehört, desto größer müßte
eigentlich der Erfolg des Scheines, der Scheinerfolg sein. Aber je größer
dieser Scheinerfolg wäre, desto größer auch die Verantwortung des Hauses und
seiner Leitung dazu die Hand geboten zu haben.
In: Neue Freie Presse, 1.1.1928. S. 1-5 (Auszüge ab S. 2).
Karel und Josef Čapek: Wie ein Theaterstück entsteht (1928)
Karel und Josef Čapek: Wie ein Theaterstück entsteht.
Mit Zeichnungen von Josef Čapek.
1. Die ersten Anfänge.
In seinen ersten, ursprünglichen, tastenden Anfängen entsteht das Theaterstück natürlich außerhalb des Theaters, auf dem Tisch des ehrgeizigen Autors; ins Theater gelangt es zum erstenmal, wenn der Autor annimmt, daß es fertig ist. Natürlich zeigt sich’s bald (nach einem halben Jahr etwa oder so), daß es nicht fertig ist; denn im günstigsten Fall wandert es dann zum Autor mit der Aufforderung zurück, daß er es kürze und außerdem den letzten Akt umarbeite. Aus irgendwelchen geheimen Gründen ist es stets der letzte Akt, der überarbeitet werden muß, ebenso wie es immer der letzte Akt ist, der auf der Bühne bestimmt versagt; darin ist sich die Kritik mit seltener Übereinstimmung einig, da sie die Schwäche des Stückes immer im letzten Akt entdeckt. Es ist verwunderlich, daß die Dramatiker, trotz dieser stets gleichbleibenden Erfahrung darauf bestehen, daß ihr Stück überhaupt einen letzten Akt hat. Es sollte einfach gar kein letzter Akt geschrieben werden. Oder der letzte Akt sollte grundsätzlich abgeschnitten werden, wie man es mit dem Schweif der Bulldoggen macht, der ihre Gestalt verdirbt. Oder das Stück sollte umgekehrt gespielt werden, der letzte Akt am Anfang und der erste Akt, der stets als der beste anerkannt wird, zum Schluß. Kurz, es müßte etwas geschehen, damit von den Theaterautoren der Fluch des letzten Aktes genommen werde.
Wenn daher der letzte Akt zweimal oder dreimal zusammengestrichen und überarbeitet und das Stück angenommen worden ist, so beginnt für den Autor die Wartezeit. Es ist die Periode, in der der Autor aufhört zu schreiben und überhaupt etwas zu tun, wo er nicht einmal imstande ist, die Zeitung zu lesen, noch in den Wolken zu leben, zu schlafen oder die Zeit totzuschlagen; denn er lebt in der Trance des Wartens, daß er gespielt wird, wann er gespielt wird, wie er gespielt wird usw. Mit einem Autor, der sich erwartet, kann man überhaupt nicht reden; nur ganz abgehärtete Autoren sind imstande, ihre Unruhe zu unterdrücken und sich so zu benehmen, als dächten sie teilweise auch an etwas anderes als an ihr angenommenes Stück. Der dramatische Autor stellt sich wahrscheinlich vor, daß der Theaterdiener schon hinter ihm steht, währenddem er das Stück zu Ende schreibt, und daß er atemlos bestellen komme, der Herr Autor möge um Gottes willen den letzten Akt schon schicken, da übermorgen die Première sein soll und er, der Bote, ohne den letzten Akt nicht zurückkommen dürfe.
So geht es aber in Wirklichkeit nicht zu: ist das Stück angenommen, so muß es eine bestimmte Zeit im Theater abliegen; dort erreicht es die richtige Reife und zieht, sozusagen, Theatergeruch an. Es muß eine Zeitlang schon aus dem Grund abliegen, daß es als die „mit Spannung erwartete Uraufführung“ angekündigt werden kann. Manche Autoren greifen rücksichtslos in diesen Prozeß des Reifens mit persönlichen Urgenzen ein, die zum Glück keine Wirkung haben. Man muß der Sache den natürlichen Lauf lassen. Wenn das Stück genügend abgelegen ist, beginnt es verdächtig zu riechen. Dann muß man damit hinaus auf die Bühne, d. h. zunächst in den Probesaal.
[Wir beginnen mit der Veröffentlichung einer Artikelserie, in der die berühmten tschechischen Dramatiker ihr Theaterweltbild entwickeln, vom ironischen Standpunkt des Autors gesehen]
2. Die Leseprobe.
Sind Sie ein Bühnenautor oder beabsichtigen Sie einer zu werden, so rate ich Ihnen, nie zur ersten Leseprobe zu gehen. Es ist ein niederschmetternder Anblick. Es kommen sechs oder acht Schauspieler zusammen; sie sehen todmüde aus, gähnen, ihnen ist kalt; sie stehen oder sitzen in kleinen Häufchen und husten halblaut vor sich hin. Dieser düstere, heißere Moment dauert etwa eine halbe Stunde; endlich ruft der Regisseur: „Meine Damen und Herren, fangen wir an!“
Der todmüde Chor nimmt an einem wackeligen Tische Platz.
„Der Wanderstab, Lustspiel in drei Akten“, beginnt der Regisseur und leiert das Szenarium schnell hinunter. Ein armes, bürgerliches Zimmer. Rechts die Tür ins Vorzimmer, links ins Schlafzimmer. In der Mitte ein Tisch usw. Georg Danesch tritt ein.
Autorisierte Übertragung von Anna Auředniček, Wien.
Nichts.
„Wo ist denn Herr X?“ fährt der Regisseur auf, „weiß er denn nicht, daß wir Leseprobe haben?“
„Er probiert auf der Bühne“, brummt jemand voller Unlust.
„So werde ich seine Rolle lesen“, entschließt sich der Regisseur. „Georg Danesch tritt ein. Klara, mir ist etwas Unerwartetes geschehen. – Klara.“
Nichts.
„Sakrament“, sagt der Regisseur, „wo ist denn die Klara?“
Nichts.
„Wo ist Frau Y?“
„Vielleicht ist sie krank?“ spricht eine Grabesstimme.
„Sie ist auf ein Gastspiel gefahren“, hetzt ein Zweiter.
„Gestern hat mir die Marie gesagt“, fängt jemand zu erzählen an, daß –“
„So werde ich die Rolle der Klara lesen“, seufzt ergeben der Regisseur und leiert schnell, als jage jemand hinter ihm her, den Dialog des Georg Danesch und der Klara herunter. Niemand hört ihm zu. Am andern Ende des Tisches entwickelt sich ein leises Gespräch.
„Die Katuscha tritt ein“, atmet endlich der Regisseur erleichtert auf.
Nichts.
„Na also, Fräulein“, schimpft der Regisseur, „geben Sie doch Acht! Sie sind doch die Katuscha oder nicht?“
„Ich weiß,“ erwidert das Fräulein Naive.
„So lesen Sie. Erster Akt. Die Katuscha tritt ein.“
„Ich hab‘ die Rolle zu Hause vergessen“, erklärt schalkhaft das Fräulein Naive.
Der Regisseur brummt etwas Entsetzliches und sagt selbst den Dialog der Katuscha und der Klara her. Er brabbelt schnell, so wie der Priester bei einer Armenleiche das Vaterunser betet. Nur der anwesende Autor zwingt sich zuzuhören; sonst spielt sich die Sache bei allgemeinem Desinteressement ab.
„Gustav Včelak tritt ein“, schließt der Regisseur mit einem heiseren Aufschrei.
Einer der Mimen fährt zusammen, sucht seinen Zwicker in allen Taschen; nachdem er ihn aufgesetzt hat, blättert er in der Rolle. „Welche Seite?“, fragt er endlich.
„Die sechste.“
Der Mime wendet die Seiten und beginnt mit tragischer Grabesstimme seinen Part herunterzulesen. „Mein Gott,“ entsetzt sich der anwesende Autor, „das soll ein lustiger Bonvivant sein! Währenddessen sagen der die Klara vertretene Regisseur und der den lustigen Bonvivant spielende Mime düster die Antworten auf, die ein funkelnder Dialog sein sollen.“
„Wann kommt Ihr Gutte zurück?“ liest der Mime mit ersterbender Stimme.
„Gatte“, verbessert der Regisseur.
„Bei mir hier steht Gutte“, beharrt der Mime.
„Das ist ein Fehler beim Abtypen, bessern Sie’s aus.“
„Man soll ordentlich abschreiben“, entgegnet der Mime voll Widerspruch und wühlt mit dem Bleistift in seiner Rolle.
Indessen kommt eine gewisse Bewegung in den agonisierenden Chor; und es heißt plötzlich: Warten! In einer Rolle fehlt ein Satz; warten! Hier ist ein Strich von … „es war die erste Liebe“ bis „sie essen gern“; warten, die Rollen sind vertauscht. So, jetzt weiter; knurrend, stolpernd, erschöpft läuft der Text der mit Spannung erwarteten Uraufführung. Wer seine Rolle heruntergesagt hat, packt zusammen und geht seines Weges, wenn auch nur mehr drei Seiten bis zum Schlusse fehlen. Wie es scheint, interessiert es niemand auch nur im geringsten, wie das Ganze ausfällt. Schließlich ist das letzte Wort des Stückes gesprochen und Stille tritt ein; eine Stille, in der das Stück von seinen ersten Interpreten abgewogen und beurteilt wird.
„Was für ein Kleid soll ich dazu anziehen?“, kräht die Heldin des Stückes inmitten des schweren Schweigens.
Der Autor taumelt hinaus; er ist von der Überzeugung erschüttert, daß bisher in der Weltgeschichte niemals ein so graues, erfolgloses Stück geschrieben worden ist wie das seine.
In: Die Bühne, Nr. 168, 26.1.1928, S. 14-15.
Jazz-Dichtung. Der neueste Unsinn (1920)
N.N.: Jazz-Dichtung.
Der neueste Unsinn.
Der Dadaismus wird von einer neuen Blüte vom Baum der Poesie überholt: von der Jazz-Dichtung. In England ist ein amerikanischer Versekünstler angekommen, Nachel [John] Lindsay, der sich selbst einen Jazz-Poeten nennt und die Jazz-Dichtung in dem klassischen Land der modernen Tänze begründet hat. Seine Lyrik, die er unter dem Titel „Der Daniel Jazz und andere Gedichte“ gesammelt hat, darf man nicht einfach lesen wie andere Poesien. Dabei kommt man nicht auf ihre Schönheit. „Man muß diese Gedichte murmeln wie ein Bach, brüllen wie ein Löwe, mit ausgestreckten Armen tanzen wie ein Derwisch, durch die gefletschten Zähne hervorstoßen wie eine Dogge oder ausrufen wie ein Eisenbahnschaffner.“ Eine ungefähre Vorstellung gab der Jazz-Dichter von der richtigen Art des Vortrages seiner Werke bei einer Vorlesung, die er veranstaltete. Er las den „Daniel-Jazz“, eine Reihe von Versen, die die auch sonst in der Dichtung viel behandelte Geschichte von Daniel in der Löwengrube in ganz neuartiger Weise darstellt. Die Rhythmen dieses Gedichts sind nämlich einer bekannten Jazz-Melodie entnommen, und bei dem Vortrag des Werkes wechseln Geräusche ab, die das Brüllen der Löwen und das Donnern der Niagarafälle malen. „Am besten wird man die Poesie des Daniel-Jazz verstehen“, rief sein Schöpfer, „wenn man ihn zusammen mit den Weisen eines Jazz-Orchesters in sich aufnimmt; man muß zu gleicher Zeit auf die Musik hören, mitsingen und den Text lesen. In einem anderen Gedicht „Der Kongo“ habe ich die ganze Wildheit der Negerrasse dargestellt. Der Anfangston ist eine tiefer rollender Baß, dem feierliche Gesänge folgen. Bei dem Vortrag meines „Blutgiergesanges“ muß so schnell gesprochen werden, daß es wie das Sausen des Sturms in dem Schornstein klingt“ Sollten uns Engländer an Verrücktheit überbieten? Das dürfen wir uns nicht gefallen lassen.
In: Mittagsblatt des Neuen Wiener Journals, 15.9.1920, S. 4.
Siehe auch: Neues 8-Uhr-Blatt, 15.9.1920, S. 3.
Joseph Eberle: Ein vergötterter Pseudodichter. (Zum Tode von Arthur Schnitzler.) (1931)
Dr.Joseph Eberle (Wien): Ein vergötterter Pseudodichter.
(Zum Tode von Arthur Schnitzler.)
Der am 21. Oktober in Wien verstorbene Dramatiker Arthur Schnitzler wird von der Modepresse als Dichtergröße gefeiert. Er war berühmt und seine Bücher fanden Riesenverbreitung. Die Zahl seiner Theaterstücke ist groß, angefangen von Werken wie „Anatol“, „Märchen“, „Liebelei“, „Freiwild“, „Vermächtnis“, „Der grüne Kakadu“, „Paracelsus“, „Die Gefährtin“, „Reigen“, „Der Schleier der Beatrice“, „Der einsame Weg“, „Zwischenspiel“, „Der Ruf des Lebens“ bis „Der junge Medarus“, „Professor Bernhardi“, „Komödie der Verführung“, „Der Gang zum Weiher“. Außer den Dramen schrieb Schnitzler auch Novellen und einen Roman. Im Besitz der spezifisch jüdischen Intellektualität, verfügte Schnitzler zugleich über ausgesprochen poetisches Empfinden und eine hohe Kunst der Sprache. Aber für einen großen Dichter ist wichtig nicht nur das feine Auge und das warme Empfinden für den Zauber des Menschenantlitzes und der Natur, die Fähigkeit das Einfühlens in Geheimnisse des Seelenlebens, sondern vor allem auch die rechte Weltanschauung und damit der rechte Standpunkt der Betrachtung und die richtigen Maßstäbe der Wertung. In dieser Hinsicht fehlt Schnitzler sozusagen alles, weil das Entscheidende. Schnitzler war ein ausgesprochener Vertreter des Naturalismus und im Bereich des Naturalismus hat er sich wieder die Erotik zum Hauptthema gemacht. Er war eigentlich der Sigmund Freud der Literatur. Wie Felix Salten in einem Nachruf feststellt: „Professor Freud hat einst an Schnitzler geschrieben (oder gesagt, denn ich weiß in dieser Stunde der Trauer nicht so genau Bescheid), Schnitzler hat als Dichter all das gefunden, was Freud als Forscher entdeckt und wissenschaftlich besiegelt hat.“ So gilt, was von Freud, auch von ihm. Die Welt erklären wie Freud erklären, das heißt alles aus dem Sexus erklären, bzw. alles mit dem Sexus in Zusammenhang bringen, heißt sie denn doch viel zu primitiv erklären. Die Welt einengen auf das, was der Naturalismus und Materialismus sieht, das heißt um Himmel und Hölle, Gott, Engel und Dämonen, Heilige und Helden nicht wissen, heißt die Welt denn doch zu klein sehen. In den Menschen nur so etwas wie höhere Naturwesen mit leidlich viel Verstand und Empfindung, aber mit einem Minimum von Willensfreiheit sehen, heißt ihnen denn doch den Sinn und die Kraft für höhere Zielsetzungen und Arbeiten rauben. So fehlen denn bei Schnitzler die großen Ideen und Themata von Vaterland, Religion, Geschichte, Jenseits. Seine Menschen sind keine Kämpfer, die sich durch das Problematische des Lebens durchringen, die Triebe in der Herrschaft behalten, in Gelehrtenstube und Büro, in Schloß und Fabrik wertvolle Arbeit leisten, sondern es sind mehr Spieler und Genießer, Gestalten der Dekadenz und Morbidität, Verliebte und Verträumte, Hamlets ohne den Geist Hamlets; es sind Puppen-, Schmetterlings-, Mistkäfermenschen, in deren Dasein das meiste um Eros, Liebelei, um Untreue, Ehescheidung geht. Es sind Menschen, in denen viel Tändelei, Zärtlichkeit, Wehmut, Melancholie, Verliebtheit in schöne Naturbilder und dergleichen ist, aber nie ein großer Zug, eine große Idee, ein starker Wille. Weil Schnitzlers Menschen der Ausblick auf ein Jenseits und die Verpflichtung absoluter Sittengesetze fehlt, sind sie auch schon für dieses Leben untüchtig, immer ängstlich an den schwarzen Abgrund am Ende ihrer Tage denkend, deshalb infolge der begreiflichen Enttäuschungen und Bitternisse nicht selten ihrem Dasein auf unnatürliche Weise, d. h. mit einem Revolverschuß, mit Veronal, mit dem Gang ins Wasser ein Ende machend. Wie man gesagt hat, daß erst die Berührung mit dem Sacré Cœur des Erlösers die Menschenliebe rein, groß und stark mache, so kann man auch sagen, daß erst die Verbindung mit der Überwelt, der Ausblick aufs Jenseits die Menschen tüchtig und mutig für die Kämpfe auf dieser Erde macht. Wo der Gottesgedanke und Gottesglaube fehlt, fehlt auch das echte Menschentum. Schnitzler ist unberührt von den großen Fragen und Schicksalen des Volkes, von Weltkrieg, sozialer Revolution und Neubauaufgaben, genau so wie er unberührt ist von der Geschichte und den Kulturwerten seines Geburtslandes Österreich. Türkenkriege, Barockkultur, Stephansdom, Habsburg waren ihm letztlich unverständliche Dinge.
Bedenkt man all das, dann kann man nicht genug protestieren gegen die Art und Weise, wie von der herrschenden jüdischen Presse Mitteleuropas und zumal Österreichs Arthur Schnitzler anläßlich seines Todes gefeiert wird. Er wird nicht nur als Jahrhundertgestalt hingestellt, sondern auch als der für Jahrzehnte repräsentative Künstler von Österreich. Hören wir etliche dieser Superlative: „Nicht Kunst und Literatur allein, ganz Österreich trauert um Arthur Schnitzler… Wenn es einem Dichter vergönnt war, Inkarnation zu sein eines Zeitalters, gültiger Repräsentant einer Epoche, dann war es Arthur Schnitzler für das Ende des vergangenen Jahrhunderts und für den Beginn des neuen Österreich… Schnitzlers Wort wird in uns widerhallen wie ein Urlaut unseres Landes, seine Erkenntnisse werden in besseren, reineren Zeiten wieder aufleuchten, der unermeßliche Schatz seines Wissens wird gehoben werden.“ („Neue Freie Presse“ vom 22. Okt. 31.) „Eine eisige Hand hat uns alle berührt; mit Schnitzlers schönem und lieben Antlitz verschwindet der letzte Schein unserer verstorbenen Heimat, der Abglanz des alten Österreich in tiefer Nacht… Ein großes Zeitalter dieser Stadt sinkt mit Arthur Schnitzler ins Grab, um in seinem unsterblichen Werke weiterzuleben; wir aber sind verwaist.“ (Franz Werfel, ebendort.) Solche Werturteile sind in ihrer Übertriebenheit und Verallgemeinerung ein Unfug. Ein gewisses wurzelloses, ahasverisches Judentum mag den Juden Schnitzler für sich zum Halbgott erküren, aber mit dem echten Österreich und dem echten Österreichertum hat solcher Kult nichts gemein. So lasse man diese Werte aus dem Spiel. Wo man aus der Kenntnis echter österreichischer Kultur heraus um die Mission weiß, die einem begabten Schriftsteller gesetzt ist, wird Schnitzler nicht als Helfer und Führer, sondern als Zersetzer und Zerstörer abgelehnt. Wenn der Burgtheaterdirektor Wildgans anläßlich des Todes von Schnitzler die schwarze Fahne auf dem Burgtheater hissen ließ, so hat er damit weniger der Trauer des österreichischen Volkes um den Verlust einer angeblichen Kulturgröße Ausdruck gegeben, als seiner persönlichen Versklavung an seichten Liberalismus und dessen anmaßende Wortführer.
In: Schönere Zukunft. Nr. 6, 8.11.1931, S. 127f.
Das Ende des Opernrummels (1928)
N.N.: Das Ende des Opernrummels
Einige kulturpolitische Gesichtspunkte zur Jonny-Affäre.
Wien hat schon zu lange keinen Mordprozeß gehabt […] Es kann doch nicht im Sinn der ewigen Gerechtigkeit liegen, daß sich diese Stadt ins Normale zurückverirre, daß sie sich auch einmal an sachlichen, vielleicht sogar an politischen und wirtschaftlichen Dingen erhitze, die uns doch wahrlich stark genug an Leben, Ehre und Eigentum berühren. Aber da wird schon immer rechtzeitig vorgesorgt und kaum hat man das nachtröpfelnde Schmutzwasser des Falles Grosavescu verschwinden sehen, die Auspressung des Interesses bis zu dem letzten Restchen, bis zur gänzlichen Schamvergessenheit, da beschert uns der Himmel wieder etwas Neues, etwas wirklich Ungewohntes, nämlich einen solennen Opernrummel mit aller Verrohung, mit aller Niedertracht, die ja eine solche geistige Rauferei mit sich bringt. Gewisse Herrschaften können nicht vertragen, daß man anderer Meinung ist als sie […] daß unser Musikkritiker nicht seit gestern, sondern seit Jahren und Jahren den Standpunkt strenger Ablehnung gegen die Orgiasten des Mißklangs einnimmt; gegen jene, die alles, was bisher auch dem kühnsten Musiker heilig war, in Grund und Boden stampfen und höchstens als billige Zutat für ihre Verstiegenheiten benützen. Das Klampfelanhängen, das böse Getratsch, das Altweibergewäsch mögen auch die alten Weiber männlichen Geschlechtes sein, das gehört offenbar zu der Atmosphäre von Wien. Auch verdiente Züchtigungen würden an diesem Zustand nichts ändern.
Aber nicht von solchen Häßlichkeiten wollen wir sprechen. Was uns interessiert, das sind die Ursachen der grenzenlosen Ueberbewertung einer Arbeit, die so gar nichts Geistiges zu bieten vermag, so gar nicht den Kontakt sucht mit den mächtigen Problemen unserer Epoche, so wie sie wirklich ist und nicht wie sie neckische Fratzerei so gerne haben möchte. Ist diese Epoche wirklich auch nur durch eine Szene getroffen, die in dieser Oper gespielt wird? Alle großen Opernschöpfer seit Gluck, seit Beethoven, seit Myerbeer und Wagner haben versucht, den Stoffkreis zu erweitern, neue, mächtige Leidenschaften zu schildern, soweit sie Tragiker in der Musik gewesen sind, oder durch den Reichtum an Erfindung, durch den Glanz der Melodien, durch die innere Süße zu bestricken, soweit sie das musikalische Lustspiel zum Vorwurf nahmen. Sind neue Leidenschaften in dem Werke, das die Oper zur Einleitung des Schubert-Jahres dem Publikum gespendet hat? Wir haben nichts davon bemerkt […]
Worin sollte auch die Neuigkeit bestehen? Darin etwa, daß Elemente der Revue sich in die Oper drängen und daß statt Walzer und anderer Phantasietänze nun auch Modernes und Modernstes in diese Sphäre eindringt? Wir glauben nicht, daß die Lorbeeren des Jonny so bald wieder irgendeinen Komponisten von Rang und Namen, von innerer seelischer Machtentfaltung verlocken werden. Denn die Erweiterung des Stoffkreises hat doch nur dann einen Sinn, wenn sie produktiv ist; wenn die höhere Kunstform neu befruchtet wird durch Elemente des Naturhaften und Urwüchsigen, wenn die höhere Kunst die Kraft hat, diese Elemente an sich zu ziehen, sie zu assimilieren, sie gleichsam zu verdauen, um dadurch an Frische zu gewinnen und innerer Gesundheit. […] Im Musikalischen war es insbesondere der Walzer, der aus dem Dörflichen ins Städtische gezogen, der von Schubert durchseelt worden ist, sowie er von Lanner und Strauß beflügelt und emporgehoben wurde in die Sphäre der sinnlich-übersinnlichen Berauschung, immer im Rahmen des Gesetzes, immer hoch//gehalten durch die nicht zu bezweifelnde Urgewalt eines beispiellosen Könnens.
Nun werden manche behaupten, dasselbe Experiment sei in der neuen Oper versucht worden und dem dürfe man nicht entgegentreten. Aber genau das Umgekehrte ist der Fall. Es gibt Negermusik, die so seelenhaft, so tiefgefühlt, so ergreifend ist wie das Adagio eines klassischen Meisters. Haben wir von diesen Ergießungen armer gequälter Herzen auch nur den kleinsten Abglanz in dem Werke des Opernrummels? Ja selbst dort, wo die originale Negermusik wie ein Katarakt durcheinander schwirrender Tonfiguren ist, selbst bei den ganz gewöhnlichen und tausendfach abgespielten Tänzen ist viel mehr Temperament innerhalb des Minderwärtigen herauszuspüren, viel mehr zischender, zappelnder Rhythmus, viel mehr handfeste, freche Energie als in dem matten Aufguß, den uns diese Oper zu servieren sucht. Weder ist also Idealisierung versucht worden, ein Empor aus dem Dschungel des Afrikanertums, die Europäisierung des Niggerwesens, noch ist auch nur jener prickelnde, wenn auch unkünstlerische Reiz erweckt, den der musikalische Affenkäfig Jazzband hervorzubringen vermag. Bleiben also die Szenenbilder, bleibt der Spaß, daß eine Lokomotive auf die Bühne kommt, bleibt die Uebersetzung der Automobil- und Eisenbahnstimmung ins Musikalische. Und das soll eine neue Epoche sein? Deswegen bricht ein Rummel los, als müßten sich die Schleußen des Himmels öffnen? Nein, wir glauben, daß solche Bocksprünge keinerlei Apotheose verdienen, daß sie durchaus nicht würdig sind, aufgeplustert zu werden als Erzeugnisse des Weltgeistes. Amerika ist keineswegs mehr der Kontinent, wo Jonny regiert, und wer nur eine Spur von Kenntnis hat von den tiefgreifenden Veränderungen der intellektuellen Atmosphäre dieses Landes, der wird schon deswegen die Flachheit und Anmaßung dieses eingebildeten Amerikanismus belächeln. Ein Werk wie die amerikanische Tragödie von Theodor Dreiser1, Romane wie sie Sinclair Lewis geschaffen hat, die Lebensarbeit eines Menschen, sie beweisen das Gegenteil, wie sehr die Gebildeten sich freimachen wollen von dem Ideal oberflächlicher Clownerien, von dem Geist der reinen Quantität; wie sehr sie nach psychologischer Entfaltung, nach ernster durchgreifender Kritik ihres Kulturzustandes streben. Der große Opernrummel ist zu Ende. Aber der Nachgeschmack ist schal und bitter. Das Schubert-Jahr hätte schöner anfangen können als mit der Ouvertüre zur Entweihung des Hauses.
In: Neue Freie Presse, 6.1.1928, S. 1-2.
An das Proletariat Ungarns! (1919)
An das Proletariat Ungarns!
Genossen und Genossinnen!
Zur Sitzung des Reichsvollzugsausschusses der Arbeiterräte Deutschösterreichs versammelt, erreicht uns euer Aufruf: An alle!
Ihr habt die Staatsgewalt in eure Hand genommen, dem Imperialismus der Entente die Unerschrockenheit und Kampfbegeisterung des geeinigten ungarischen Proletariats entgegengestellt. Mit euch sind wir der Meinung, daß heute, nach dem Zusammenbruch des deutschen und österreichisch-ungarischen Imperialismus, der Hauptfeind der imperialistische Sieger ist [fett = gesperrt gedr. im Orig]. Die Konferenz der Sieger in Paris soll, wenn sie ganze Völker vergewaltigen und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen beugen will, auf den entschlossenen Widerstand der Arbeiter stoßen.
Ihr an uns den Ruf gerichtet, eurem Beispiel zu folgen. Wir täten es vom Herzen gern, aber zur Stunde können wir das leider nicht. In unserem Lande sind keine Lebensmittel mehr. Selbst unsere karge Brotversorgung beruht nur auf den Lebensmittelzügen, die die Entente uns schickt. Wenn wir heute eurem Rate folgen würden, dann würde uns der Entente-Kapitalismus mit grausamer Unerbittlichkeit die letzte Zufuhr abschneiden, uns der Hungerkatastrophe preisgeben. Wir sind überzeugt davon, daß die russische Räterepublik nichts unversucht lassen würde, uns zu helfen. Aber ehe sie uns helfen könnte, wären wir verhungert. Wir sind daher in einer noch wesentlich schwierigeren Lage als ihr. Unsere Abhängigkeit von der Entente ist eine vollständige.
Wohl aber ist es unsere heilige Pflicht, für alle Fälle gerüstet zu sein. Darum hat die Reichskonferenz unserer Arbeiterräte von drei Wochen den Ausbau der Räteorganisation beschlossen. Wir haben an das arbeitende Volk den Appell gerichtet, überall Arbeiterräte einzusetzen, die Gründung von Bauernräten zu fördern sowie Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte mit den bestehenden bewährten Organisationen zusammenzufassen, um alles vorzubereiten, was die Stunde gebietet.
Neuerdings ergeht der Ruf an die Arbeiter aller Orte, die Räteorganisation schleunigst auszubauen. Wir haben auch bereits gefordert, daß der in den Beschlüssen der Reichskonferenz vorgesehene Zentralrat in den nächsten Tagen zusammentrete.
All unsere Wünsche sind bei euch. Mit heißem Herzen verfolgen wir die Ereignisse und hoffen, daß die Sache des Sozialismus siegen wird. Kampbereit stehen auch wir, gewillt zu erfüllen, was die geschichtliche Notwendigkeit fordern wird.
Es lebe die internationale Arbeitersolidarität!
Es lebe der Sozialismus!
Für den Reichsvollzugsausschuß der Arbeiterräte
Deutschösterreichs:
Josef Benisch, Friedrich Adler,
Schriftführer Vorsitzender
In: Arbeiter-Zeitung, 23.3.1919, S. 1.
Karl Leuthner: Halbasien (1919)
Die emsige Forschung des wissenschaftlichen Spezialisten, die peinlich genaue Tätigkeit des an Hochschulen gebildeten Fachmannes, die sorgfältige und verständnisvolle Mühe des Arbeiters und des Bauern sind die Grundpfeiler der modernen Kultur. Man hat vor dem Kriege gern über die zeitausladende Rastlosigkeit neuzeitlicher Arbeit gemault; und lange bevor die Entente daraus ein politisches Schlagwort machte, die angebliche epische Ruhe großer Kulturzeitalter, des Zeitalters Goethes, zu dem betriebsamen, aber an Genieleistungen armen Tageslauf der Enkel ins Widerspiel gesetzt. Doch das war das Geschwätz der Kulturschmöcke, Weltanschauung aus dem Kaffeehauswinkel lungernder Bohème. Alle großen Künstler waren Schwerarbeiter in ihrer Kunst, und Goethe war es sogar außerhalb seiner Kunst, als Staatsbeamter, oft selbst zum Schaden seiner schöpferischen Muse, als Naturforscher, der das ganze Wissen seiner Zeit zu umspannen suchte. Den Dichter des Faust, den Propheten des Suezkanals, den freudigen Empfänger jeder naturwissenschaftlichen und technischen Errungenschaft zu dem planmäßigen Fortschritt wissenschaftlicher und technischer Naturbewältigung unserer Tage in Gegensatz zu bringen, heißt, weder von Goethes noch von unserer Kultur Wesensart mehr als leeren Wortschall vernommen haben. Die moderne Kultur, die sachlich auf genau arbeitenden Maschinen, auf wohlersonnenen Ersatz von Menschenkraft durch gebändigte Naturkraft und auf rationellster Ausnützung aller in der Erde und unter der Erde ruhenden Kräfte faßt, konnte nicht anders erbaut werden als durch Arbeit und wiederum durch Arbeit und noch einmal durch Arbeit. Die Kraft und Zeit auspressende Gewinngier des Kapitalismus hat bloß zu Sondervorteil mißbraucht und ins Gemeinhändlerische entstellt, was doch der Lebensatem unserer Zeit war: äußerste Kraft und Zeitökonomie und die ihr entsprechende Besinnung der Menschen, sorgfältigster, stets von Wissen, Ueberlegung und Pflichtgefühl geleisteter Fleiß.
Nachdem aber einmal diese gegenständlichen Voraussetzungen und sittlich-geistlichen Kräfte die neue Kulturwelt emporgehoben, die ihr entsprechende Lebensform gestaltet hatten, war in unserem Europa, der menschenwimmelnden Städte, des überbesiedelten Landes bis mehrere Arbeitsgesinnung aus einer Bedingung höherer Gesittung zu einer bloßen und baren Notdurft geworden. Der deutsche Adler des achtzehnten Jahrhunderts, nach Urväterart bestellt, vermochte kaum von den 30 Millionen, die Deutschland damals bewohnten, den Mangel fernzuhalten; die rationelle Landwirtschaft des neuen Deutschlands ernährte fünf Sechstel der 67 Millionen Einwohner, die knapp vor dem Kriege das Reich bevölkerten. Mit dem Kohlenertrag aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wären die Städte des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts dem elendsten Erfrieren ausgeliefert gewesen. Es führt zu der schleudernd bedächtigen Lebensweise der Väter kein Weg zurück, außer dem, der in den Friedhof mündet. Das Nebeneinander altväterlicher Schlamperei und Bummelei und der Vorteile moderner Kultur ist nur denkbar in jenen halbeuropäischen Ländern, in denen die moderne Kultur eben nicht Ergebnis und Ertrag eigener Geistesanstrengung und eigener Mühe, sondern Einfuhr aus Freude ist.
Hier in Rußland und in den Balkanländern, mit grellstem Widerspruch in der Türkei, hatten oder haben noch gleichzeitig ihren Platz die Riesenfabrik mit den neuesten aus England oder Deutschland hergeholten Rohstoffen, das Prunkhotel mit allen Wundern neuzeitlicher Bequemlichkeit und neuzeitlicher Hygiene, und das Dorf mit seinen verlausten Insassen, die mit dem Holzpflug der Vorzeit den Ackerboden mehr ritzten als aufwühlten. Doch in den Städten selbst bilden die meist aus der Fremde eingewanderten oder in der Fremde geschulten Ingenieure und die Schar von Arbeitern, die sie sich abgerichtet, nur Inseln des neuen Arbeiterbodens mitten im Schlammmeer mittelalterlicher Trägheit, mittelalterlichen Schmutzes. Den Grundstock der Bevölkerung der halbasiatischen Bevölkerung stellt eine wirre Menge von Lumpenproletariern und Händlern dar, von denen niemand genau sagen kann, wovon sie eigentlich ihr Leben fristen. Sie erzeugen allzumal nichts, sie schaffen keine Werte, sie bilden nur eine unendliche Kette von Krämern, Schleichhändlern und Wucherern, die sich zwischen den Verbraucher und Erzeuger drängt. Und diese lange Kette des Handels ist eine ebensolange Kette des Betruges, denn wie der Weltverkehr zu seiner technischen Kreditvoraussetzung die Zuverlässigkeit hat, so sind hier, wo hunderte Händler, gleich dem Ungeziefer, auf derselben Ware sitzen und sie benagen, Uebervorteilung und List Daseinsbedingungen. Doch mag sich einer aus dieser Reihe zu Millionenreichtum emporschwingen, mag er sich in Schmutz und Not weiterschleppen, alle erfüllt die gleiche Gesinnung: sie wollen feilschen und mogeln, hökern und wuchern, um nur den Schweiß ehrlicher Arbeit fliehen zu können. Und dieser Geist der Korruption durchzieht die ganze Gesellschaft. Das Händlervolk kauft sich von Gesetzen los, das der schlechtentlohnte, aber zahllos die Kanzleien bevölkernde und faulenzende Beamte verkauft, um besser leben, um vielleicht überhaupt leben zu können. Das gibt der oberflächlichen Beobachtung den angenehmen Eindruck völliger Freiheit von Pedanterie, von der Pflicht- und Paragraphenstrenge; und dient keinem besser als dem Reichtum, der hier am vollsten prassen darf, weil das Aufeinanderstoßen moderner Fabriken und alter Wirtschaftsformen und die erste, märchenhafte Ergiebigkeit unausgeschöpfter Bodenschätze unendliche Gewinne abwirft.
Nur scheinbar steht die Intelligenz zu diesem Sein und Treiben in einem Widerspruch, den man gern bei ungenügender Prüfung der ursächlichen Zusammenhänge sogar zu einem idealen Gegensatz aufgehöht hat. Im Grunde sind diese Intellektuellen des Ostens nicht anders wie die Fabriken des Ostens vollgepfropft mit den fertigen Erzeugnissen des Auslands. Sie handhaben die abgeschlossenen Ergebnisse eines fremden Denkens, das in ihrem Lande keine Entwicklung hatte oder nur in einer Aufeinanderfolge von Gedankenreflexen aus dem Ausland sich entfaltete. Sie handhaben aber dieses überkommene Geistesgut desto kühner, schreiten um so leichter zu den radikalsten Schlußfolgerungen fort, als ihnen eben die Mühe des Erwerbens nie recht anschaulich geworden ist. Sie bilden die unabhängige Jugend, denn sie hemmt nicht der ehrfurchtgebietende Anblick fruchtbarer Arbeit der Väter. Und sie erscheinen ideal allein auf das Gedankliche gerichtete, von der Enge des Brotstudiums weniger begrenzt weil ringsum nirgends das Beispiel strenger Berufsarbeit den Beruf, die gesellschaftlich notwenige Teiltätigkeit als Lebensaufgabe erscheinen läßt. Und wovon leben sie am Ende? Nicht anders als die Fürsten-, Beamten- und Lakaienstädte des achtzehnten Jahrhunderts von dem Ueberschuß des Ackerertrages im dünn besiedelten Lande, einem Ueberschuß, den der Staat für die handeltreibende und in Kanzleien faulenzende Stadtbevölkerung mit allen seinen Steuerschrauben herauspreßt.
So durften wir einst über den Osten reden. Dürfen wir es noch? Ist der Osten nicht unter uns selbst leibhaftig aufgestanden, seitdem der Krieg die Werke unserer westlichen Gesittung verwüstet und den Menschen dieser Gesittung das Herz versehrt hat? „Die Wüste wächst, weh dem, der Wüsten birgt.“ Um uns herum ist es russische Steppe geworden, Steppe eingeebneter Kultur, in unseren ehrwürdigen Kultur- und Arbeitsstädten wimmelt und wuselt die untätige Geschäftigkeit von Warschau und Berdiczew. Und es sind nicht nur Städte aus dem Osten, die ihr altehrwürdiges Handwerk in modernen Schleichhandel umgemodelt haben. Zu ihnen gesellen sich gelehrige Schüler, alles, was im Hungerleben des Krieges die Arbeit hat meiden lernen. Ein neues Lebensideal steigt auf, nicht öffentlich anerkannt, desto eifriger befolgt: zu leben ohne produktiv tätig zu sein, zu leben, indem man eine Ware, wo immer erzeugt, zinsnehmend von Hand zu Hand schiebt. Und diesem Grund- und Haupttypus des östlichen Lebens schließen sich notwendig die abgeleisteten Typen und Gestalten an. Wo der Gewinn aus dem Nichts das Ziel bildet, dort muß wildes Spiel und roh wüstes Genießen unmittelbar daneben erwachsen. Doch wenn nun Habenichtse, denen der Schleichhandel Haufen von Banknoten zugeschoben, an eine Karte, an ein Weib, an eine Flasche Sekt Summen wagen, die einst selbst die goldene Jugend auszugeben sich scheute, so gebührt es sich, daß wir zugleich in Eisenbahnzügen fahren, die von Ungeziefer fast so dicht wie von Fahrgästen überfüllt sind, und der Schmutz überall frech am hellen Tage wächst. Die gute alte Zeit kehrt wieder, wo jeder eine Nase voll nahm und sich weiter an den Stank nicht sonderlich kehrte, die gute alte Zeit zu der unsere täglich sinkende Arbeitsleistung herabzugleiten beginnt, die gute alte Zeit der Dreifelderwirtschaft, zu deren Ertraglosigkeit unsere Äcker fast schon herabgestürzt sind, Wir haben Beamte und Studierende, mit denen wir einen Großstaat ausrüsten könnten, aber bloß für vier Monate Brot und kaum für anderthalb Monate Kohle.
Wir haben alles in Ueberfluß, bloß das nicht, was wir brauchen, was zum Leben unabweislich notwendig ist. Wir stehen auf kargem Boden, in der Steinwüste einer Riesenstadt und haben keine Schätze als welche die Hand und der Geist hervorzaubern. Mit unserem Arbeitsrhythmus schwingt gleichmäßig der Rhythmus unseres Lebens. Wir können nicht feilschen, nicht hazardieren, auch nicht beim Samowar endlose kluge Gespräche führen, wir müssen erfinden und schaffen. Erfinden und Schaffen, das ist die Religion der neuen Zeit. Forschen und erfinden, schaffen und wirken, daraus erfließt auch ihr dreifacher Segen: Freiheit, Demokratie und Sozialismus.
In: Arbeiter-Zeitung, 13.8.1919, S. 1-2.
Julius Korngold: Operntheater. („Jonny spielt auf“ von Ernst Krenek) (1928)
(„Jonny spielt auf“ von Ernst Krenek)
„Es gibt immerhin auch heute noch einige charakterlose Bühnenleiter, die lieber auf dieses Schauspiel verzichten, als sich von der Schmutzwelle der „Jonny“-Hausse ihr kulturellen Zwecken geweihtes Haus verunreinigen zu lassen.“ So stand es kürzlich in einer namhaften deutschen Musikzeitung zu lesen. Baron Frankenstein, der Intendant der Münchner Staatsoper, ist ein solcher charakterfester Bühnenleiter. Nicht minder charakterfest hat sich Bruno Walter – wir wollen sein auch über das Technische von „Jonny“ vernichtend lautende Urteil nicht wiedergeben – zu dirigieren geweigert, als die auch Operetten geöffnete Berliner städtische Oper mit dem Werke befaßt wurde. Wo deutsches Kunstgefühl unverseucht geblieben ist durch die Phrasen der „neuen Musik“, deren Bloßstellung übrigens gerade dieses Werk bedeutet, werden scharfe Proteste laut. Ja, auch Wortführer der Partei fallen ab, überrumpelte Kritiker widerrufen. Gedruckter Katzenjammer da und dort…
Zu den charakterfesten Bühnenleitungen hat leider nicht auch die des Wiener Operntheaters gehören wollen. So ist der Jazz-Nigger auch in das Haus des Figaro, des Fidelio, des Hans Sachs, des Tristan, der Ariadne eingezogen. Was für Geschäft wäre nicht mit jazzgesegneten Operetten, wie „Zirkusprinzessin“ oder „Orlow“ im Operntheater zu machen, von einer Marischka- oder Grünbaum-Revue nicht zu reden, die übrigens die Gattungsgemäßheit der Amüsiermittel und vor allem ein wirkliches Amüsement vor „Jonny spielt auf“ voraus haben. Gerade in allerjüngster Zeit ist von der Kunstverwaltung auch in Hinsicht des Operntheaters die Abgrenzung von Kunststätte und Geschäftstheater betont worden. Eine Kunststätte vom Range, von der Tradition, von der Kunst- und Kulturmission des Operntheaters hat aber den Geschmack zu bilden, nicht zu verwirren, vor allem auf reinliche Scheidung der// Gattungen zu achten. Die „Fledermaus“? Dieses Meisterwerk dramatischer Musikheiterkeit auch nur in einem Atem mit „Jonny spielt auf“ zu nennen, würde eine Majestätsbeleidigung gegen Johann Strauß bedeuten. Hat übrigens das Operntheater nicht sein böses Gewissen verraten? Es setzte die Premiere für den Silvesterabend an, dessen wahllose Lustigkeit das Sinken unter das Niveau decken sollte. Das schämige Operntheater! Tut es nicht so, als handle es sich nur um diesen einen Abend? Und ist nicht eine anständige Frau nicht minder gefallen, wenn sie bei Silvesterchampagner gefallen ist?
Aber der Leser will hören, was in „Jonny“ vorgeht. Das erste der elf Bilder zeigt uns, wie Max, der Komponist, auf einem Gletscherspaziergang Anita, die Opernsängerin kennenlernt; das zweite, wie Anita von ihrem Liebhaber Max Abschied nimmt, um eine Gastspielreise nach Paris anzutreten. Im dritten Bild – Korridor in einem Pariser Hotel – sehen wir endlich den famosen Nigger, der nach allen Weibern, aber auch nach einer Geige giert, die dem Balkanvirtuosen Daniello gehört. Daniello ist „schön“ und Jonny ist „stark“. Als Anita, wie sie selbst andeutet, sexuell erregt aus der Vorstellung kommt, bietet sich ihr Jonny brutal an: „Oh, ich bin stark – warum wollen Sie nicht? Alle Mädchen wollten bisher und haben es nicht bereut.“ Und Anita: „Da ist es wieder, das Blut, gegen das ich nicht kann.“ Aber auch der schöne Daniello hat sofort den psychologischen Moment heraus: „Welche Sinnlichkeit in ihr!“ Gibt der „schwarzen Bestie“ einen Tausendfrancschein Abstandsgeld, worauf Jonny seine „tierisch-sinnliche-wütende Fratze in ein breites Grinsen“ wandelt und einen Jazz zu einem Abschiedstanz mit dem Stubenmädchen Yvonne benützt, die er „lange genug gehabt“ hat. Daniello aber macht die dem Nigger abgekaufte Anita mit fürchterlichem Phrasenwust auf die Wärme des Blutes aufmerksam, das sie zurückgestaut habe: „Brich auf, brich auf, die Schleuse!“ Damit eine solche Schleuse breche, muß ein lüsterner Tango der Hoteljazzband nachhelfen. Bald drängt der Geiger Anita in ihr Zimmer, halb zieht sie ihn hinein. Wobei beide in der Brunst Französisch zu parlieren beginnen. Die Bühne bleibt leer. Man hört Liebesstöhnen aus dem Zimmer – ganz wie es ein beliebiger szenischer Sexualeffekt der „Blauen Katze“ seligen Angedenkens war, dieses berüchtigten Budapester Nachtlokals, das nun auch im Operntheater würdige Nachfolge gefunden hat. „Monsieur s’amuse!“ konstatiert der lüstern horchende Jonny…
Während sich Monsieur im Zimmer Anitas amüsiert, schleicht sich der Schwarze in das Daniellos, stiehlt die Geige und verbirgt sie vorläufig im Futteral des Anita gehörenden Banjos. Am anderen Morgen – gleicher Schauplatz – bedauert die ungesättigte Yvonne, daß sie keinen für die Nacht gehabt habe, während die gesättigte Anita als das traurige Tierchen des lateinischen Spruches Herrn Daniello frostig verabschiedet. Sie habe in dieser Nacht viel zugelernt, bekennt sie mit lieblicher Offenherzigkeit, und schenkt ihrem nächtlichen Lehrer einen Ring zum Andenken. Sowie aber dieser edle Künstler den Diebstahl seiner Geige entdeckt, übergibt er diesen Ring racheschnaubend der Yvonne zur Ausfolgung an Anitas Komponisten. Er will seiner Rache nachfahren, der diebische Jonny der im Banjofutteral verborgenen Geige; und Anita unterschreibt einen Vertrag nach Amerika… Mit Hilfe des rettenden Vorhanges verlassen wir vorläufig das nette Gelichter. Wenn man diesen Akt einen Operettenakt nennt, so bedeutet das schon eine Standeserhöhung. Und wenn es ein Operettenakt ist, dann ist es der einer schlechten Operette, einer, der nicht lustig, nicht anmutig, nicht pikant, sondern nur dilettantisch, platt und unsauber ist.
Aber auch diese schlechte Operette bleibt nicht Operette; sie geht in Revue, Varietè, Kino, Detektivstück über… Vorerst aber macht sie – was dem Autor als Verächter der Romantik, jener Beethovens miteingeschlossen, besonders gut ansteht – in verlogener Romantik. Allerdings sind die romantischen Umstände, in die er seinen Gletschermenschen Max bringt, den für einen armseligen Schwächling und Schwätzer zu halten wir nicht erst der Diagnose der sich nach einem „Starken“ sehnenden Anita bedürfen, eben wieder nur ganz nach den Rezepten jener schlechten Operetten ersonnen, die bekanntlich eine burleske, niedrig-drastische Handlung mit unbedenklicher Plötzlichkeit in ein sentimentales Operngetue übergehen lassen. Nachdem uns nämlich der Anitas harrende Max mit ebenso geschwollenen als undramatischen Monologen und die ausgiebig sexual aufgeklärt rückgekehrte Anita mit Reflexionen gleicher Art gelangweilt haben, schließlich Max durch das Neuheit und Modernität sprühende Ringmotiv von Anitas Untreue erfahren hat, sehen wir ihn wieder auf seinem Gletscher, der – „höher geht’s nicht mehr“ im Romantischen – zu singen beginnt. Hat nicht übrigens Lehar in „Endlich allein“ solche Operetten-Bergszenen vorausgeahnt? Um an der Unwahrhaftigkeit dieser Gebirgssentimentalitäten keinen Zweifel zu lassen, läßt uns der Autor in der Nähe des Gletschers zugleich die Hotelterrasse erblicken, von der aus einem Lautsprecher Gesang herüberklingt und Jazz und Tanz dazu. Aus dem Jazz hört Daniello den Ton seiner Geige heraus, die von Jonny mittlerweile aus dem Banjofutteral geholt wurde…
Nunmehr dreht sich alles um dieses Requisit, geht die armselige „Handlung“ ganz in einer beispiellos öden, geist- und witzlosen Revue- und Kinojagd nach dem gestohlenen Instrument auf. Von der Polizei, die hinter dem Dieb einher ist, wird irrtümlich Max auf dem Bahnhofsperron verhaftet. Worauf der im Verfolgungseifer ausgleitende Daniello vor die Lokomotive eines einfahrenden Zuges fällt (!) […] Worauf das Auto – nebenbei ein abgedroschener Kinoeffekt – durch „beleuchtete Großstadtstraßen“ fährt, Jonny auch die Polizisten niederstößt (!) und das Auto scheinbar in das Publikum hineinlenkt (!), der D-Zug mit Max und Anita abdampft, auf der Bahnhofsuhr, die sich in den Erdglobus verwandelt, Jonny zu sitzen kommt und der johlenden Menge zum Tanz aufspielt…
Der Nigger, der Bringer der Jazzkultur, mit gestohlener Geige, über das Europa Beethovens triumphiert? Man glaube nur ja nicht an eine satirische Pointe. Dazu schwärmt Herr Krenek seit Beginn seiner Laufbahn zu sehr für Fox, Shimmy und jenen Jazz, der nach den Parteilehren der „Richtung“ die europäische Kunstmusik befruchten soll, dazu liebt Herr Krenek zu wenig Beethoven. Es ist eine // augenzwinkernde, zynische Verherrlichung, die verständnisvollen, für Amerikanisierung begeisterten Zeit- und Zeitwillensgenossen gewidmet ist. Die Sache würde ja auch gar nicht stimmen; denn nicht der Schwarze ist es, der nach der europäischen Geige verlangt, sondern der Europäer greift leider nach dem Niggerbanjo. Wie sich denn jede geistige Auslegung, jede kritische Erörterung dieses dilettantischen, schließlich in szenische Ausstattungstricks auslaufenden Gemenges von Operette, Revue, Kino, Detektivstück mit seinen nichts weniger als lustigen, sondern geradezu trübselig berührenden Sketch- und Farcefiguren, mit seiner Uncharakteristik und Unpsychologie, mit seinem Wechsel zwischen banaler Alltagsprosa und banalem Schwulst verbietet […] Diese Folge kurzer Bilder mit Alltagsbetonung, dieser Dialog in Alltagsprosa – ist das nicht aus Strauß‘ „Intermezzo“ geholt? Und dieser Musiker, dessen Geliebte in sexuelle Abenteuer gleitet, diese fernen Gletscherklänge – erinnert das nicht an die Oper Schrekers? Allerdings werden weder Strauß noch Schreker von der Banalisierung erbaut sein, die dort ein Stilgedanke, hier ein romantisch-phantastisches Motiv gefunden haben.
Wir weisen jede geistige Ausdeutung dieser traurigen Farce ab. […]
Aber freilich der Jazz, die Niggersongs, die Niggertänze! Musikalischer Zeitausdruck? Blicken wir doch in die Operngeschichte zurück. Sind zur Zeit der reichen Opéra-comique-Produktion die auch nach Deutschland gelangten Quadrillemelodien der Auber1, Adam2, Halévy3, Thomas4, deren Schablonenhaftigkeit und Ausdruckslehre schon Berlioz und Wagner ihre Mißachtung bezeugt haben, für „Zeitausdruck“ ausgegeben worden? Recht bemerkenswert übrigens , wie diese Quadrillemotive und der aus ihnen herauswachsende Cancan in der stoßenden Rhythmik und im sexualen Einschlag den derzeitigen Niggertänzen ähnelten, die eigentlich nur synkopierte Schnellpolkas und Schnellmärsche sind. […]
Welche Falschmünzerei überhaupt, die Tonkunst von einem imaginären Zeitwollen abhängig zu machen! Daß sie, die Zeitlose und von der Zeit souverän Unabhängige, gerade in ihren bedeutendsten Schöpfungen nie den Beruf gefühlt hat, den Zeitinhalt oder, nennen wir das Kind beim rechten Namen, die Zeitmode wiederzugeben, sagen wir nicht das erstemal. Wenn aber unsere Zeit – und hier erlauben wir uns ein Selbstzitat – wirklich so entgöttert und entnüchtert, so entseelt und demoralisiert, so unernst und geschmacksverlassen wäre, wie es uns die „neue Musik“ in ihren Produkten glauben machen möchte, wenn Vorherrschaft von Kino, Revue, Jazz, seelenloser Amüsierkunst, wenn gesteigerter Entblößungs- und Tanztrieb und ähnliches auf die Gefahr tieferer psychologischer Aenderungen der Menschennatur und nicht auf bloße modische Oberflächenerscheinungen weisen würden, so hätten gerade die Musiker einer solchen Zeit die Pflicht, von den stärksten und edelsten Kräften ihrer Kunst Gebrauch zu machen und – gegen die Zeit zu komponieren. Und rücken wir der unerträglichen Phrase weiter zu Leibe. Die Zeit will ihre Musik, heißt es. Da aber für die gedankenlos Parteiformel die Maschine, der Großstadtlärm die Zeit bestimmt und nicht der sich im innersten Fühlen nie ändernde Mensch, so wollen eigentlich – und das wird ja tatsächlich behauptet – nur Maschine und Großstadtgetöse ihre Musik. Und das soll denn auch nur eine maschinenmäßige, mißtönende, chaotische Musik sein, das soll in zu unverhältnismäßiger Bedeutung erhobener Tanz- und Unterhaltungsmusik der Jazz sein. Sind Maschinen und Großstadt erst eine Sache von heute? Gab es nicht ein Maschinenzeitalter, Eisenbahnpfiffe, Autogetute bereits vor dem Eindringen des Jazz, mag auch noch das Schwirren des Luftschiffes gefehlt haben? Ja, war das Maschinenzeitalter nicht schon zu Wagnerischen Bayreuthzeiten da? Merkwürdigerweise hat damals kein Zeitwille korrumpierte Geräuschmusik gefordert, kein Zeitwille den Eroberungszug von Wagners zeitfremden romantischen Götter- und Heldenpathos vereitelt: das Genie war // der Zeitwille. Damals kam eben auch noch Amerika nach Europa, um geniale europäische Musik aufzunehmen, nicht etwa um zugleich mit seinem Barwesen – ein Zusammenhang, der nie übersehen werden sollte – den Rhythmus seines schwarzen Spelunkentanzes und Spelunkenmusikulks zu exportieren und damit nicht etwas den Rhythmus der Zeit ausdrücken zu helfen, sondern nur den Rhythmus der falschen Amerikanisierung europäischer Kultur. […]
Aber kehren wir zum aufspielenden Jonny zurück, der so wenig wie mit seiner Handlung mit seiner Musik in das Operntheater gehört. Nicht mit seinem sich hinter Opernform bergenden Revue- und Operettengeist, nicht mit seinem Jazz- und Liedkitsch, auch nicht mit der in Häßlichem wie Nurgewöhnlichem gleich flüchtigen Faktur. Den Komponisten brauchen wir nicht erst vorzustellen: der Leser kennt ihn aus unseren Berichten von der Walstatt der „neuen Musik“. Ursprünglich Wiener Schreker-Schüler, hatte Ernst Krenek das Glück, rechtzeitig nach Berlin zu kommen und hier von den zeitgenössischen Königsmachern auf den Schild erhoben zu werden. Er praktizierte über Nacht wechselnde Grundsätze der „Richtung“ sozusagen in grundsatzloser Weise, war mit besonderer Betonung klangphysiologischer Spiel- und Bewegungsmusiker und selbstverständlich „anti“- gerichtet in Hinsicht des Psychischen und Psychologischen, des Gefühsmäßigen, des Romantischen. Treu blieb er sich in einem gewissen Unernst, im Sinn für Bluff und in der Schwärmerei für Fox und Jazz. […]
Was an der Musik zu „Jonny“ zunächst auffällt, ist der opportunistische Bruch mit den bisher vertretenen „neuen Kunstidealen“, das Auch-anders-Können – oder sollen wir sagen das Auch-anders-nicht-Können? Krenek ist nicht mehr gegen das Romantische, nicht gegen das „Konventionelle“ des Melodischen, und er ist schon gar nicht „linear“ oder „atonal“. Was sich den Kakophonien der Harmonik, der Stimmführung und der Instrumentation nach „atonal“ anhört, ist nur ungrammatikalisch und unsauber, rührt nur aus hemmungslos hingeworfenem, korrumpiertem Satz her: Mißklangsunfug ohne jene Logik der Technik, wie sie Hindemith zuzubilligen ist. Daneben aber wird der Komponist so tonal, ja so primitiv und banal dreiklangtonal, wie nur irgendein „rückständiger“ Musikspießer des neunzehnten Jahrhunderts. […] //
Für Ausstattung, Maschinerie, Szene, Beleuchtung hat das Operntheater mit Künstlern wie Professor Strnad und Dr. Wallerstein das Erdenkliche aufgeboten, dabei manches Grobe und Drastische gemildert. Um so unbegreiflicher, daß in dem blendenden Schlußbild, das ganz Revue ist, die transparente Inschrift „Die neue Zeit rückt an, versäumt den Anschluß nicht!“ nötig befunden wurde. […]
Die Silvesterstimmung hat für den äußeren Erfolg das Erwartete getan. Aber seien wir nicht ungerecht, auch die Partei- und verpflichtenden Interessensgruppen waren rührig. Gleichwohl gab es Pfuirufe und Unruhe auch im Silvesterpublikum, zum Schlusse auch Zischen und Pfeifen. Aber der Komponist konnte sich vielmals mit den Darstellern zeigen. Er schreibt einmal für die dramatische Wendung des Autos auf der Bühne wörtlich vor, daß „zwei mächtige Scheinwerfer das Publikum blenden“ sollen. An solchem Schein, der das arme Publikum blenden soll, ist auch sonst kein Mangel in dem Werke, das sich auf die Jazzmode, auf die Pikanterie, Niggermusik singender und tanzender Opernsänger, auf Ausstattungsspielzeug, auf eine regsame Partei und vor allem auf die kitzelnden Verblüffung, dort Dinge zu hören und zu sehen zu bekommen, wo man sie nicht erwartet. Je weniger also eine Angelegenheit wie „Jonny spielt auf“ in ein Haus wie das Operntheater gehört, desto größer müßte eigentlich der Erfolg des Scheines, der Scheinerfolg sein. Aber je größer dieser Scheinerfolg wäre, desto größer auch die Verantwortung des Hauses und seiner Leitung dazu die Hand geboten zu haben.
In: Neue Freie Presse, 1.1.1928. S. 1-5 (Auszüge ab S. 2).
Oskar Jellinek: Epilog vor der Aufführung des „Reigen“ (1921)
Oskar Jellinek: Epilog vor der Aufführung des „Reigen“
In den Kammerspielen des Deutschen Volkstheaters soll dieser Tage Artur Schnitzlers „Leutnant Gustl“ zur Aufführung gelangen … Oder der „Reigen“? Der Monolog oder die Dialoge? Gleichgültig. Beides ist unaufführbar.
Man kann natürlich auf der Bühne ein Paar auftreten lassen, das irgendein Gespräch führt. Man kann ferner dort dieses Gespräch von anderen Paaren wiederholen lassen. Mit dem Drama oder auch nur dem Theater hat jedoch eine derartige Darbietung nicht das Geringste zu tun. Sie bedeutet vielmehr eine vollkommene Mißachtung der dramatischen Form, einen Mißbrauch mit dem Emporium der Bühne und ist daher, auch jenseits vom Inhalt der Dialoge, ein Unfug.
Stümper, literarische Verbrecher und edle Monomanen haben sich in unserer Zeit zusammengetan, um die ewige Kunstform des Dramas fallen zu lassen, zu zertrümmern oder die Bestimmung des Theaters zu verrücken. Eine vierte Gruppe, deren richtige Bezeichnung aus ihrem unsauberen Tun sich leicht ergibt, sorgt für die Sättigung eines nach erotischen Sensationen lüsternen Publikums, das, ob es nun zu den „neuen Reichen“ gehört oder schon im alten Reiche keine andere Theaterlust kannte, zu verhalten wäre, vor Beginn einer der tragischen Gestaltung geschlechtlicher Probleme geweihten Vorstellung Austrittskarten zu lösen. Es ist also wohl eine Zeit, in der ein Dramatiker von Ansehen besonderen Grund hat, seiner alten Sendung um so fester sich bewußt, den Gesetzen seiner Kunst und der mit diesen eng verbundenen Aufgabe der Bühne durch jedes neue Hervortreten seine Ehrfurcht zu bezeigen.
Artur Schnitzler ist ein Dramatiker von Ansehen. Es ist hier nicht zu untersuchen, bis zu welchem Grade dieses Ansehen durch eine dichterische Anschauung gedeckt ist und inwieweit es auf Momenten außerkünstlerischer Art, etwa stofflichen, lokalen, gesellschaftlichen, beruht. Jedenfalls hat das Lebenswerk des Dichters in hohem Maße die Fähigkeit, Liebe zu erwecken; jedenfalls sind hier ein repräsentativer Mann und seine Pflicht.
Dieser Pflicht war Artur Schnitzler, als er zur „Aufführung“ des „Reigen“ seine Zustimmung gab, nicht eingedenk. Wie wäre es sonst zu begreifen, daß der Meister einer Form sich einverstanden erklärt mit der theatralischen Vorführung eines Werkes, das abseits von dieser Form entstanden ist und sogar nach des Urhebers eigenem Zeugnis nie für das Theater (ja nicht einmal zur Veröffentlichung) bestimmt war? Muß es den dramatisch Strebenden, der im Gewirr der falschen und unlauteren Aspirationen auf das Theater nach Vollendung ringt, nicht schmerzlich berühren, wenn er sieht, wie ein so oft als echt und lauter Bewährter im wichtigen Augenblicke sich verleugnet, die Fahne der Innung sinken läßt und ein anderes, trübes Zeichen aufsteckt? Darin scheint mir der sittliche Fehler dieses Falles – eines Falles in jedem Sinne – zu liegen, daß ein Berufener die Begriffsverwirrung mehrt, die hinsichtlich dessen, was des Theaters ist und nicht ist, noch niemals so turbulent war wie jetzt.
Ich habe es bereits eingangs kurz gesagt: Ein Kreis von Zwiegesprächen, deren jedes einen Bogen dieses Kreises bildet, aber keinen in die dritte Dimension gespannten, also dramatischen, gehört nicht auf die Bühne. Diese Dialoge haben ein Vorher und Nachher, kein gestuftes Hintereinander, einen Höhepunkt, der nichts als ein Mittelpunkt ist und übrigens dem Auge des Zuschauers entrückt werden muß, was allein schon ein klarer Beweis für das Bühnenwidrige der ganzen Vorführung ist. Denn ein Höhepunkt, dessen Darstellung im Fallen eines Vorhangs oder in der Verdunkelung der Bühne besteht, ist dramatisch ein Unsinn. Man kann also diesen Reigen im Wesen ebensowenig aufführen wie eine Novelle, wäre sie auch mono- oder dialogisiert, ebensowenig wie – ganz drastisch gesprochen – den Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe oder die Kritik der reinen Vernunft. Auch ein Gedicht von Rilke ist unaufführbar, und daß es mit der Konstantin in der Titelrolle immerhin ein Zugstück werden könnte, vermag meine dramaturgischen Bedenken nicht zu zerstreuen.
Alle diese Einwände hätten, wie man sieht, auch dann Geltung, wenn der Gegenstand des „Stückes“ einem dezenten Familienprogramm zur Zierde gereichte. Daß im Gegenteil der „Reigen“ einen schon vor seiner Abfassung ziemlich allgemein bekannten Inhalt hat, bildete bisher das einzige Argument der Aufführungsgegner. Aber auch dieser Umstand erscheint mir nur deshalb ethisch belangvoll, weil er es ästhetisch ist: Ein namhafter Künstler des Theaters, behutsamer Künstler der Hand noch dort, wo kein unerbittlicher Trieb sie regiert, erlaubt die Überschreitung der Grenze zwischen dem Theater und anderen, beliebteren Vergnügungsorten, während er dem Range nach zum Grenzschutz bestellt ist. Die Menge der oberen Hunderttausend gröhlt.
Mag man es immerhin Mißdeutung nennen, wenn sie diese Vorführung nur jener Akte wegen besucht, die keine Theaterakte sind; wenn sie etwa einem freundlichen Kritiker, der den „Reigen“ ein Meisterwerk der Gattung nennen würde, in ihrem Sinne zustimmte: der Torwächter selbst hat, indem er der Aufführung Tor und Tür öffnete, sie jeder Auffassung geöffnet. Freilich: so zwiespältig, so in einem tieferen Sinne zweideutig ist dieses Ereignis, daß auch jene Leute nicht auf ihre Rechnung kommen werden. Die „Flamme“ im Herzen, werden sie das Theater betreten und, trotz allem – Artur Schnitzler finden. Keine tragische Berührung allerdings (so Arges wird ihnen nicht geschehen), auch kein Lustspiel, sondern nur Spiele der Lust – aber eben doch Schnitzler. Also auch in diesem Lager Enttäuschung! Und von der Bühne der Roland werden die Enttäuschten zur Rolandbühne flüchten, wo sie eher befriedigt werden dürften, wenn man dort nicht gerade die „Weihnachtseinkäufe“ von Artur Schnitzler spielt.
Schnitzler hat wohl kaum der unvergeßlichen Uraufführung der „Büchse der Pandora“ beigewohnt, durch die Karl Kraus dem bis dahin als eine Art Lieber Augustin der Sexualität in Kabaretts auftretenden Wedekind die tragische Bühne erschloß. Auch ein Grenzübertritt – doch welch ein Unterschied! Ich weiß nicht, mit welchen Erfahrungen die Mehrzahl des geladenen Publikums damals ins Theater kam, aber bin Zeuge der Empfindungen gewesen, mit denen es dieses verließ. Dieser Abend gehört der Literaturgeschichte an. Die Aufführung des „Reigen“ wird höchstens ein Kapitel der literarischen Sittengeschichte bilden.
Karl Kraus hat selbst einen Reigen geschrieben. Wagenknechte tanzen ihn mit Generalstäblern und er heißt: „Die letzten Tage der Menschheit“. Derselbe Theaterleiter, der, ich zweifle nicht daran, der eigentliche Anstifter der Vorführung des „Reigen“ ist, hat auch nach der Tragödie des Krieges seine Hand ausgestreckt. Kraus hat sie nicht ergriffen. Mochte ihm für die durch keine Aufführung erreichbare Gewalt seiner Szenen bloß ein „komisches Theater“ weit genug erscheinen, mochte dem letzten großen Burgschauspieler der Vortragstisch als Bühne genügen – er hat durch diese Haltung auch für den überlieferten Rahmen des Theaters gewirkt, dem er eine Zersprengung ersparte. Er, der „Niederreißer“, hat eine konservative Pflicht erfüllt. Der bürgerliche Dramatiker hat sie hintangesetzt.
Schnitzler hat Schüler. Ob ihm diese Bezeichnung für Leute, die seinen Stoff- und Erlebniskreis berauben und oft durch skrupellose Vergröberung bloßstellen, recht ist, weiß ich nicht. Er hat diese Erscheinungen jedenfalls niemals öffentlich abgeschüttelt, was gewiß persönlich vornehm, aber künstlerisch nicht gerechtfertigt ist. Diese „Schüler“ hätten jetzt durch ernsten Einspruch bei dem Manne, dem sie ihre Existenz verdanken, ein wenig von dem gutmachen können, was sie an ihm verbrochen haben. Sie hätten ihm sagen müssen: „Der ‚Reigen‘ ist ein Buch, ein episches Werk, von vornherein nur als solches gedacht. Auf dem Theater ist es fehl am Orte. Man kann nicht auf Bäumen ernten, was auf Sträuchern gewachsen ist. Ein solches Tun würde uns ziemen – nicht dir. Die militärische Degradation als Folge der Veröffentlichung des ‚Leutnant Gustl‘ war eine Auszeichnung; die Degradation durch die theatralische Darbietung des ‚Reigen‘ wäre eine künstlerische.“ Ihnen lag nichts an der Verhinderung, sie werden sie vielmehr irgendwie nachahmen, besser, weil es um eine schlechte Sache geht.
Die Aufführbarkeit eines unaufführbaren Werkes kann nicht damit bewiesen werden, daß man es einfach „aufführt“. Auch die schauspielerisch wirksame Leistung, auch der Erfolg, der überdies nur eine Strafe wäre, kann daran nichts ändern. Und man darf der „Aufführung“, der niemand beiwohnen wird, der sie wahrhaft verurteilt, daher schon vorher die Grabrede halten. Die Lebhaftigkeit des Leichenschmauses wird ein totgeborenes Kind niemals lebendig machen.
Dennoch: Der Walzerkönig tritt zum Foxtrott an. Das hat Christine nicht um ihn verdient. Gibt es unter den früheren Werken des bald Sechzigjährigen keines, das seiner Sehnsucht, es der Bühne zuzuführen, würdiger und bedürftiger wäre? Doch. Auch Schnitzler, das Schoßkind des Wiener Theaterbodens, hat sein Teil unentrinnbaren Grillparzer-Schicksals dahin: Sein nach der „Liebelei“ edelstes Werk hat in Wien keine Aufführung erfahren. Sie unterblieb in Folge eines Kulissenstreites im Burgtheater. Kainz und die Hohenfels, die berufensten Darsteller, sind darüber hinweggestorben. Schnitzlers unentwegten Anhängern mag das gleichgültig sein. Man versteht sich besser mit Bernhardis und in der Hall des Karer See-Hotels, als im versumwallten Florenz. Und gar die Schauplätze des „Reigen“ wecken sympathische Assoziationen. Aber hat der Dichter verschmerzt, was seiner vom Glücke sonst so begünstigten Laufbahn in einer Hauptsache versagt geblieben ist? Diesem Werke die Aufführung zu erringen, wäre ein angemessenes Unternehmen für ihn – und eine Sühne für dieses. Damit über den widerwärtigen Theaterreigen der Schleier der Vergessenheit sich breite, müßte vom Burgtheater der Beatricens wehen!
In: Die Wage, 5.2.1921, S. 67-69.
Anna Lesznai: Die Melodie der Dekorationen (1925)
Die Helfer der „Gildenen Pawe“ an der Arbeit.
Man schreibt mir vor, der Teufel soll rosafarbene Kleider haben…
Nicht etwa, weil im Jüdischen Rosa die Farbe des Bösen ist; sondern man hat beim Partiewarenhändler eine große Menge rosa Silk wohlfeil erhalten. Und bei der ›Gildenen Pawe‹ muß gespart werden! Talent und Enthusiasmus sind zwar vorhanden, aber sehr wenig Geld. Die zarte Esther Halpern – wie wird sie wohl mit ihrem christlichen Heiligengesichterl die dicke Frau Rebbe spielen? – schneidert die ganze Nacht. Die Flügel der Engel werden aus Resten zusammengeflickt – geflickte Engel entsprechen ja unserer Zeit. Auffallend ist auch, wie gut der Regisseur Halpern Kulissen anstreichen kann. Er arbeitet ohne Leiter am oberen Teil der Dekorationen, er ist zwei Meter lang. Zwischendurch spricht er so interessant von seinen Absichten, daß der Maler Gergely, der unten arbeitet (weil er kleiner ist), immerfort die Arbeit unterbricht und in die Höhe schaut. Dabei spritzt ihm von oben die Farbe aus Halperns Pinsel in die Augen.
Als ich bei der Wilnaer Truppe im ›Dybuk‹ gespielt habe – erzählt Halpern – hatte ich schon die Absicht, mit der bisherigen Tradition des jüdischen Theaters zu brechen. Den Naturalismus haben wir satt. Die Gildene Pawe, erster Versuch der Kleinkunstbühne im jüdischen Theater, soll einen neuen Stil schaffen. Der Blaue Vogel…nein! Wir wollen was ganz anderes! Der Schwerpunkt des jüdischen Volkslebens liegt im Religiösen. Deshalb geht unsere Intention nicht nur vom heiter-traurigen Treiben auf der Gasse und im Kleinkrämerladen aus, sondern es will in den Bewegungen, Melodien und Rhythmen des Ritus wurzelnd, einen liturgischen Bühnenstil schaffen. Die jüdische Geste, der jüdische Tonfall sollen nicht nur in der Karikatur ihren Ausdruck finden, sie sollen auch in ihrer religiösen Sinnhaftigkeit, in ihrer dekorativen orientalischen Ausdrucksmöglichkeit neu belebt werden. Wir wollen darstellen, wie uralte Tänze, Volkslieder, Lebenden mit bunter Symbolik den Alltag durchweben und deuten. Wir gehen von gesprochener Prosa zum Gesang über – wie es uns der jüdische Tempel gelehrt hat und wie es und das jüdische Leben lehrt. Jeder chassidische Rabbiner hat seine eigene Melodie, an der sich seine Jünger erkennen, die heiligen Bücher werden singend studiert….
„Bitte Frau Lesznai, möchten Sie meine Pantoffel färben?“
Abgetragener grauer Filz soll schwarz werden – mit Tusche: es wird gehen.
Ben Lewy, auch von der Wilnaer Truppe, hat die Welt bereist. Er spricht verständnisvoll mit dem fast zärtlichen Kosmopolitismus der Juden von der westlichen Literatur. „Aber zu Hause ist man ja doch nicht darin. Für uns müßte das Wort wegweisender, prophetischer klingen.“
Unsere Dekorationen gefallen ihm. „Es ist religiöser Schwung in dem zuckenden Mogendowid1 des Gebetshauses.“ Ja! das will der Gergely: den erdliebenden Mysthizismus des Baalschem, die alte Zeichen- und Symbolsprache auch in der Dekoration versinnbildlichen…
„Verzeihen Sie, Frau Lesznai, diese Pantoffel sollen gilden werden. Erzvater Abraham braucht im Himmel gildene Pantoffeln.“ Diesmal sind es tiefschwarze Filzpantoffel. Werde ich dieser Aufgabe gewachsen sein?…
Hinter dem Vorhang rezitiert Miriam Schnabel-Hoeflich den Prolog. Erst Prosa. Die dunkle, traurige Geschichte des Alltags. Plötzlich geht ihre Stimme in den Klagenrhythmus des Gesanges über…
…Israel weint, die verbannte Erde weint mit. Sie möchten nach Hause kehren, in das Wunschland des Urmythos, in den Garten Eden…
Das sagen ihre Worte, das singen ihre Melodien und – das wollen auch unsere Dekorationen ausdrücken – – .
In: Die Bühne, H.13, 5.2.1925, S. 22.
Hans Liebstoeckl: Das Theater in der Republik (1925)
Für das Theater ist die Festlegung der republikanischen Staatsform von einiger Bedeutung gewesen. Ohne politische Dinge erörtern zu wollen, kann man hier wohl davon sprechen, denn der republikanische Gedanke einhält ja gleichsam den Begriff der Meinungsfreiheit in sich, und es ist gewiß, daß Presse und Bühne ohne ein weitgehendes Maß von Freiheit nicht existieren können. Auch die Monarchie hat eine bestimmte Dosis von Freiheit besessen, sie ging manchmal weiter, als man erwarten durfte, aber sie blieb natürlich schwerhörig in allen Dingen, die den Hof und die zum Hofe gehörige Gesellschaft betraten. Ich selbst konnte ein Lied davon singen.
Als Maria Jeritza seinerzeit ihren Übergang von der Volksoper n die Wiener Hofoper vollzog, schrieb ich eigens eine Oper für sie, zu der Max Oberleitner die Musik gemacht hat. In dieser Oper, „Aphrodite“ (mit Benützung des Romanes von Pierre Louys), gab die Jeritza die Chrysis (Aphrodite). Das Buch, im Laufe von 14 Tagen in Stockholm von mir niedergeschrieben, ward an der Hofoper sofort angenommen und die Musik, gleichfalls rasch entstanden, wurde kurz darauf geprobt. Die maßgebenden Faktoren der Hofoper verhehlten sich nicht, daß der Stoff für die damaligen Verhältnisse ein bißchen kitzlig war. Meine Oper schilderte Aufstieg und Fall einer Buhlerin, aber man hoffte, die unglückliche Chrysis ungefährdet in die Oper bringen zu können, denn damals war ja die Glanzzeit der „Salome“ und der „Elektra“ von Strauß, zweier Opern, die sicherlich das Normalmaß der Keuschheit, das sich die Monarchie setzte, überschritten. Die berühmte Affäre der „Salome“ mit ihren sieben Schleiern kam glatt unter Dach. Bei meiner „Aphrodite“ konnte es insofern Bedenken geben, als der Höhepunkt der Handlung darin bestand, daß die Buhlerin ein Standbild der Aphrodite zertrümmert und sich selbst in ihrer strahlenden Schönheit n deren Stelle setzt. Da das Bild der Aphrodite gänzlich unbekleidet war, sollte für die Inszenierung in der Hofoper eine Art durchsichtigen Schleiergewandes gewählt werden, das die schöne Gestalt der Jeritza ziemlich aufrichtig erraten ließ. Die Proben waren schon im Gange, aber es sprach sich herum, daß Mitzi Jeritza in dieser Partie nahezu unbekleidet vor den Augen des Publikums erscheine. Nun bekam der Hof Wind davon, und insbesondere eine der Erzherzoginnen nahm Anstoß an dieser Szene. Man debattierte hin und her, doch kam schließlich ein Kompromiß zustande: der Schleier blieb, aber er mußte durch dickere Gewänder ersetzt werden! …
In diesem Punkt hat die Republik volle Freiheit geübt. Obschon die lokale Zensur in Wien mancherlei Schwierigkeiten machte, blieb die Tendenz doch sichtbar: die Schaustellung des menschlichen Körpers nicht als Ärgernis zu betrachten. Eine Zeitlang überwogen die erotischen Stücke und die Nacktheit auf der Bühne. Ich erinnere bloß an die „Lysistrata“, an manche Novität der Kammerspiele, an Wedekind und Kaisers „Sorina“ und Sternheims „Kasette“, die, obgleich ein außerordentlich schlüpfriges Stück, sogar im Burgtheater Aufnahme fand, von den Freudkomplexen, wie Unruhs „Geschlecht“ und manchen Anstößigkeiten in Wildgans „Kain und Abel“, gar nicht zu sprechen. In den heikelsten Fällen half sich die Wiener Zensur mit Aufführungen vor einem geladenen Publikum, die dann en suite weitergespielt wurden. Der Kampf um Schnitzlers „Reigen“ ist wohl noch in Erinnerung. Noch liberaler verhielt sich die republikanische Regierung zu Stücken mit politischem Hintergrunde. Man spielte Toller und machte in dem einen wie in dem anderen Fall die Erfahrung, daß die „Gefährlichkeit“ aller dieser Dinge von selbst abstumpft. Es gab sogar einen Augenblick, da sich die Abneigung des Publikums gegen reine Schaustellungen und allzu frivole Bühnenkunst darin kundgab, daß die Leute anfingen, aufzuhören; sie hatten die Nacktheit satt. und das kann man verstehen.
Heute liegen die Dinge so, daß ein Stück mehrere Zensurstellen passiert. Die erste natürliche Zensurstelle sind der Lektor und der Dramaturg, die zweite der Direktor. Dann erst kommt die Behörde, und die Fälle, in denen sie einschreitet, sind immer seltener geworden. Hie und da wird ein allzu gewagtes Wort gestrichen, eine allzu verfängliche Situation gemildert, und es geschieht bisweilen, daß sie auch, bei Schlüsselstücken und Schlüsselfilmen, Rücksicht auf jene Kreise nimmt, die davon betroffen werden. Jedenfalls haben die Zeiten aufgehört, da die Theaterdirektoren wünschen, daß ein eingereichtes Stück verboten werde. Das war ein beliebter Trick, ein solches Verbot wirkte wie Reklame und die Direktion kam mitunter auf ihre Rechnung, mitunter auch nicht.
Der heutige Zustand lebt also von einem Minimum an Zensur, und es zeigt sich, das möglichst weitgehende Freiheit zur Läuterung des Geschmackes beiträgt, daß sich also gleichsam von selbst ein Regulativ gegen allzu große Üppigkeit einstellt. Das Publikum hat eine viel feinere Nase, als man glaubt, und nichts wäre verkehrter, als die Annahme, die Leute kämen nur deshalb ins Theater, um ihre Sinne und ihre Schaulust zu befriedigen. Die reine Pornographie auf der Bühne hat sichtlich abgewirtschaftet, man läßt sich sie von keinem anderen als von einem wirklichen Dichter gefallen. Nur so scheint es wieder möglich geworden zu sein, daß Dichter wieder zu Worte kommen, die man für erledigt hielt. Die „Wallenstein-Trilogie“ mit Bassermann ist jedesmal bis auf das letzte Plätzchen besetzt. Das ist wahrhaftig kein schlimmes Zeichen, und es macht der Republik alle Ehre. Nach wie vor kann man nur wünschen, daß es so bleibe und daß der Staat seine Oberaufsicht über die von Steuern schier erdrückten Bürger so zahm und linde als möglich ausübe. Er soll da sein, aber je weniger man von ihm weiß, desto besser. Sonst kommen wir eines Tages in die schrecklichen Verkehrtheiten, unter denen heute die russische Kunst leidet, und deren Widersinn nicht nur außerhalb Rußlands, sondern auch in Rußland selbst als lächerlich empfunden wird.
Es zeigt sich, daß in der Freiheit allein die Kunst gedeiht und daß die Willkür und Ausschweifung sich selbst ein Ende setzen. Das ist menschlicher Gewinn genug, und indem wir davon sprechen, bringen auch wir der jungen Republik Österreich unseren Glückwunsch dar.
In: Die Bühne, H. 53, 12.11.1925, S. 4.