V. Eggeling, R. Hausmann: Zweite präsentistische Deklaration

V. Eggeling, R. Hausmann: Zweite präsentistische Deklaration (1923)

Gerichtet an die internationalen Konstruktivisten

             Im ersten präsentistischen Manifest erklärten wir den Aspekt einer Welt, die real ist, eine Synthese des Geistes und der Materie. Wir streben wieder nach der Konformität mit dem mechanischen Arbeitsprozeß. Wir fordern die Erweiterung und Eroberung aller unserer Sinne; wir werden in der Optik weiterschreiten bis zu den Grundphänomenen des Lichtes. Wir sprachen es unzweideutig aus: Unserer Aufgabe ist es, gegen die Allerweltsromantik in ihrer letzten und feinsten Form noch zu kämpfen wir fordern ein Ende des kleinen Individualistischen und wir erklären, daß wir die Forderung nach einer Erweiterung und Erneuerung der menschlichen Sinnessemanationen nur erheben, weil ihr die Geburt eines unerschrockenen und unhistorischen Menschen in der Klasse der Werktätigen vorangegangen ist! Und nun wenden wir uns gegen die Deklaration der ungarischen Konstruktivisten im „Egység“ und rufen ihnen und den internationalen Konstruktivisten überhaupt zu: Unser Arbeitsgebiet ist weder der Proletkult der kommunistischen Partei noch das Gebiet des l’art pour l‘art! Der Konstruktivismus ist eine Angelegenheit der russischen Malerei und Plastik, die die ideoplastische (gehirnlich-nützliche) Einstellung des Ingenieurs als Spiel mit beliebigem Material nachahmt und damit weit unter der Ingenieursarbeit rangiert, die funktionell und erzieherisch ist. Versuchen wir auch keine intellektuelle Einwirkung auf das Proletariat, bevor wir uns über unsere Rolle als Deklassierte klar geworden sind. Unsere Aufgabe ist es, im Sinne einer universalen Verbindlichkeit an den physikalischen und physiologischen Problemen der Natur und des Menschen zu arbeiten und wir werden unsere Arbeit dort beginnen müssen, wo die moderne Wissenschaft aufhört, weil sie inobjektiv ist, weil sie nur das System der Ausbeutungsfähigkeit verfolgt und fortwährend Standpunkte einnimmt, die einer erledigten Zivilisationsform angehören. Wir haben voraussetzungslos und unvoreingenommen die ersten Schritte einer Naturbetrachtung zu unternehmen, die die Physik und Physiologie auf ihre eigentliche Wirkungsebene bringt, im Sinne einer kommenden klassenlosen Gesellschaft, ohne dabei in Utopismus zu verfallen, und völliger Klarhiet über die noch innerhalb der bestehenden Gesellschaftswissenschaft und ihrer Methoden zu leistende Destruktionsarbeit. Wir haben die Zeit eines objektiven und positiven Aufbaues nur vorzubereiten, weil wir aus der Bedingtheit unserer Welt nicht hinaustreten können und wollen.

             Unsere sinnesphysiologische und formfunktionell-physikalische Orientierung stellt uns im Gegensatz zu den bisherigen Techniken und Künsten vor die Einsicht, daß kein menschliches Erfahrungs- und Arbeitsgebiet um seiner selbst willen da ist, es ist in jedem ein analytisches Vorgehen im Unterbewußtsein über die Organmängel und Funktionshemmungen der menschlichen Psychophysis gebunden; dieses Tasten muß, in die Bewußtheit gerückt, eine unterste Annäherungs- und Ausgleichsgrenze zur Steigerung der somatischen Funktionalität ergeben. Von hier aus gesehen, ist die Maschine kein Apparat zur bloßen Ökonomisierung der Arbeitsleistung und die Kunst als einziges Produktionsgebiet, auf das das Kausalitätsprinzip keine Anwendung finden kann, trotzdem das Gesetz der Erhaltung der Energie auch dafür gilt, verliert ihren Charakter des Nutzlosen und Abstrakten. Die universale Funktionalität des Menschen verändert die Gesamteinstellung aller Arbeitsgebiete im Sinne erdatmosphärischer Bedingtheit und Notwendigkeit. Hieraus ergibt sich die dynamische Naturanschauung und die allgemeine Erweiterung aller menschlichen Funktionen, eine Anschauungsform wird geschaffen, die sich von der Dreidimensionalität als allzumenschlicher Hilfskonstruktion loslöst, ebenso wie sie die Vorstellung von der Trägheit aller Materie ablehnt. Der Generalnenner aller unserer Sinne ist der Zeit-Raum-Sinn. Die Sprache, der Tanz und die Musik waren Höchstleistungen der intuitiven Zeit-Raum-Funktionalität, und die Optik, Haptik etc. müssen auf einem neuen Wege nachfolgen, für den Ernst Marcus im Problem der exzentrischen Empfindung wichtige Vorarbeit geleistet hat. Das Zentralorgan Gehirn ergänzt gewissermaßen einen Sinn durch den andern, es vervollkommnet jeden durch gegenseitige Schwingungssteigerung unter Zeitübereinstimmung der Größe von Frequenz und Amplitude. Die dynamische Naturanschauung kennt hierfür nur ein Funktionalitätsprinzip der Zeit, die als kinetische Energie Raum und Materie bildet.

In: MA 8 (1923) H. 5, S. 6.