N.N. Sozialistische Demokratie gegen bürgerliche Diktatur

N.N.: Sozialistische Demokratie gegen bürgerliche Diktatur. (1918)

‚Demokratie‘ ist der tägliche Drohungsruf, den ein Wilson und ein Lloyd-George gegen die besiegten Völker, richtiger gegen die Proletarier der besiegten Völker ausstößt. Und dieser Drohungsruf wird von Bürgerlichen der besiegten Völker mit Begeisterung aufgenommen und wiederholt. Mit verhaltenem Jubel berufen und begrüßen sie die Ententetruppen, welche die Ruhe und Ordnung dieser „Demokratie“ gegenüber der greuelvollen „Diktatur des Proletariats“ durchsetzen und aufrechterhalten sollen.

Die Tatsache, daß diese „Demokratie“ das teuerste Gut der siegreichen und besiegten Imperialisten ist, muß die Arbeiter stutzig machen. Und es muß sie merkwürdig berühren, wenn nicht sogar erbittern, daß ihre eigenen Vertreter (unter ihnen sogar ein Friedrich Adler) diese „Demokratie“ gegenüber der so abschäulichen „Diktatur des Proletariats“ als herrlich anpreisen. In Wahrheit aber ist die Frage nicht „Demokratie“ oder „Diktatur des Proletariats“, sondern bestenfalls „Diktatur der Bourgeoisie“ oder „Diktatur des Proletariats“! Richtiger gesagt: „bürgerliche Diktatur“ oder „sozialistische Demokratie“. Dies ist die Frage, und sie zu entscheiden, dürfte nicht schwer sein.

Vorher muß aber deutlich erklärt werden, warum sich diese „Demokratie“, die den Kapitalisten recht ist, und den Proletariern nicht billig ist, als „Diktatur der Bourgeoisie darstellt.

Was ist Demokratie? Politische Freiheit aller Bürger, Preßfreiheit, Vereinsfreiheit, Versammlungsfreiheit etc. Gewiß wertvolle Errungenschaften. Kurzum volle Gewährung aller politischen Rechte an alle Bürger. Aber wie steht es um diese politischen Rechte? Sie sind der gesetzliche Ausdruck der wirtschaftlichen Rechte der Bürger. Das wirtschaftliche Recht, welches durch die Staatsgesetze der Gegenwart, festgelegt und diktatorisch zur Geltung gebracht wird, ist das Privateigentum. Die Wirtschaftsform, die sich daraus entwickelt hat, ist der private Kapitalismus. Wer sich gegen das Privateigentum, den privaten Kapitalismus in irgend einer Form vergeht, wenn er einem andern etwas wegnimmt, auch ohne es sich selbst anzueignen, sondern um es z. B. der Allgemeinheit zugute kommen zu lassen, wird als Dieb, als Räuber gebrandmarkt, politisch entrechtet, mit Kerker bestraft. Da nun der Kapitalismus die Anhäufung der Arbeitsmittel in wenigen Händen (nämlich in denen der Großbourgeoisie) und die Verelendung der Massen mit sich gebracht hat, so ist diese Wirtschaftsform nichts anderes als: die Diktatur der Bourgeoisie über die Arbeiter. Denn diese sind, unter Androhung von Strafen, verhindert, die Kapitalisten zu enteignen. Sie sind gewaltsam genötigt, sich ausbeuten zu lassen. So ist in Wahrheit die bürgerliche Demokratie durch ihr Staatsrecht eine Diktatur der Bourgeoisie, der Wenigen über die Vielen. Und die sogenannten demokratischen Freiheiten sind mehr oder weniger bloßer Schaum, sind gut, damit sich die Leidenschaften der Massen ungefährlich in Wort und Schrift entladen können. Aber nicht in der Tat! Die Tat aber – die Enteignung – wird als „undemokratisch“ diktatorisch unterdrückt. (Siehe die Einmauerung von Wiener Kommunisten!) So steht es um diese gepriesene Demokratie“. Sie ist grundsätzlich die politische Schutz- und Trutzwehr des Kapitalismus, sie ist „Diktatur der Bourgeoisie“.

Wie steht es nun aber um die viel berüchtigte und verhetzte „Diktatur des Proletariats“?

Sie ist erstens keine Diktatur der Minderheit über die Mehrheit. Denn die Bauern, Gewerbetreibende, die arme Bourgeoisie ist von vornherein von ihr ausgenommen. Diese bleiben mehr oder weniger, solange sie nicht selbst sich zu großen Kapitalisten und Großgrundbesitzern auswachsen, in ihrer bisher gegebenen Wirtschaftsordnung, bei vollem Genuß aller politischen Rechte. Dies läßt sich verwirklichen, wenn jene Klassen sich den Arbeitern nicht feindlich und mörderisch widerstreben, so daß man sich gegen sie verteidigen muß, sondern wenn sie sich mit ihnen verbünden. (Darüber bei anderen Gelegenheiten).

Diese „Diktatur“ wäre also nur eine solche der industriellen sowie des land- und forstwirtschaftlichen Arbeiters, Angestellten (und vielleicht Beamten) gegen ihre Herren Arbeitgeber, kleine Häuflein im Verhältnis zur ungeheuren Masse. Aber handelt es sich da überhaupt um eine Diktatur? Wir haben festgestellt, daß die politische Verfassung nur die gesetzliche Verkleidung der wirtschaftlichen Verfassung eines Staates ist. Diktatur der Bourgeoisie war die wirtschaftliche Ausbeutung einer großen Anzahl von Arbeitenden durch eine kleine. Will jetzt nun ihrerseits die große Masse der Arbeitenden eine kleine Schar ausbeuten? Keineswegs! Die neue Wirtschaftsordnung will jede Ausbeutung zunichte machen, will die wirtschaftliche Gleichstellung aller Arbeitenden. Voraussetzung hierzu ist die Abschaffung des Privateigentums an Arbeitsmitteln, an Großgrundbesitz, ist die Vergesellschaftung der großen Betriebe. Die sozialistische Republik bedeutet somit die Abschaffung der tatsächlichen Diktatur, nämlich der wirtschaftlichen. Jeder, der für die Gemeinschaft arbeitet, hat das gleiche Recht des Genusses der produzierten Güter.

Diese Abschaffung jedweder Diktatur wird nun in gesetzliche Formen gegossen, zum Staatssozialismus. Dies „Diktatur des Proletariats“ zu nennen ist einfach böswillige Redensart. (Und ist bei einem Marxisten unbegreiflich!) Es ist nicht bloß Mißverständnis, es ist geradezu Haß gegen die sozialistische Republik, wenn man gegen sie die wirkliche Diktatur, nämlich die der Bourgeoisie, als „Demokratie“ ausspielt. (Bei einem Marxisten das unbegreiflich!) Sondern diese gesetzlichen Formen sind mindestens in demselben Sinne demokratisch wie die bürgerlichen. Sie gaben Wahlrecht, Preßfreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereinsfreiheit etc. allen Arbeitenden, welcher politischen und wirtschaftlichen Gesinnung sie auch sein mögen. Nur denjenigen, welche durch die Tat, gegen die Arbeitspflicht und gegen die wirtschaftliche Gleichberechtigung der Arbeitenden verstoßen, indem sie nicht die wirtschaftliche Gleichheit, das Gemeineigentum, sondern ihr Privateigentum im großen Stile befördern, oder besitzen, werden wegen Verbrechens am sozialistischen Staate gestraft, und zwar nicht durch Kerker, wie es die Bourgeoisie tut, wenn man ihre wirtschaftliche Diktatur, ihre wirtschaftliche Ungleichheit durchbrechen will, sondern bloß durch politische Entrechtung und durch Enteignung. Dies ist aber nicht Diktatur, sondern dies ist das Wesen aller Gesetzgebung, aller Staatlichkeit überhaupt. Gewiß, die volle Demokratie ist es nicht. Aber die volle Demokratie ist Gesetzlosigkeit, Anarchie (im besten Sinne des Wortes.) (Siehe in derselben Nummer die Bemerkungen über „Demokratie, Anarchie, Staatssozialismus“.)

Kurzum diese „Diktatur“ des Proletariats ist nicht nur keine, sie ist sogar die Aufhebung der einzig möglichen „Diktatur“, nämlich der der kapitalistischen Bourgeoisie. Die sozialistische Demokratie ist somit die politische Form der nicht-diktatorischen Staatsordnung, während die bürgerliche Demokratie, die sich als die alleinseligmachende Demokratie verschreibt, gar keine Demokratie, sondern die politische Form der Diktatur ist.

Und so bedeutet die revolutionäre Umwälzung, wie sie sich in Deutschland vollzieht (durch die politische und wirtschaftliche Machtergreifung des gesammten arbeitenden Volkes in Form der Räte-Regierung), nicht eine „Diktatur des Proletariats“, wenn man sie auch so nennt, wenn sie sich selbst auch fälschlich so nennt, sie bedeutet die Abschaffung jeder wirtschaftlichen Diktatur. Sie ist nur diktatorisch im engeren Sinne wie eben jedes Staatsrecht als solches, dadurch daß es eine vollziehende und strafende Macht hat, diktatorisch ist. Darüber mögen die Anarchisten, aber nicht die Bürgerlichen klagen. Denn was die Bürgerlichen betrifft, so handelt es sich hier um die Abschaffung jeder Diktatur im weiteren, im wirtschaftlichen Sinne, d. h. der bürgerlichen Diktatur. Die wahre Losung ist somit:

Sozialistische Demokratie gegen bürgerliche Diktatur!                               Kämpfer

In: Weckruf [Rote Fahne], 28.11.1918, S. 1-2.