Fritz Karpfen: Gegenwartskunst. Russland 

Fritz Karpfen: Gegenwartskunst. Russland (1921)

MASCHINENKUNST

In den Kreis Rußlands gehört auch jene neueste Darstellung, die in aller Welt in diesem Zeitpunkt Mode ist. Es ist der völlige Verzicht auf alle herkömmlichen Materialien, wie Farbe, Kohle etc. und ihre Ersetzung durch Gebrauchswerkzeuge des Alltags. Glasscherben, Zeitungsfetzen, Holzstücke, Kistendeckeln, Gasrohre, Steine, Messing usw. Diese lieblichen Dinge aus dem Müllkasten werden auf eine Holzfläche hingepickt, festgenagelt und mit einer harmlos-naiven Überschrift versehen. Gewiß steht diese ›Kunst‹ in sehr entfernter Verwandtschaft zur Kunst. Es besteht dieselbe Beziehung des Wortbegriffes, wie etwa die Kunst eines hervorragenden Malers, zu der eines hervorragenden Taschendiebes. Aber glattweg in das Gebiet der Gaunerei darf man diese // Art nicht einreihen, davor warnt die Anwendung die von Künstlern wie Archipenko, Picasso etc. betrieben wird. Nur ist der Unterschied der, daß diese sei als ernste Arbeit, als ernsten Versuch zur Erreichung einer neuen Form nützen, während sie den anderen nur snobistischer Aufputz ihres Nichtskönnens ist. Freilich ist es schwer, den Unterschied zu treffen. Denn kein Mensch wird aus der verschiedenen Anordnung die Abfälle erkennen, ob dieses ›Bild‹ von einem Künstler und jenes von einem Kunstschwindler herrührt, in diesem Falle muß man nicht an dem Werke, sondern an der Person den kritischen Maßstab anlegen. Bei Archipenko allein sieht man mehr, hier, etwa in der der Skulptur: ›Frau im Sessel‹ merkt man schon, daß einer im rastlosen Suchen nach Erfüllung gearbeitet hat. Es ist dem tatsächlich uneingenommenen Betrachter doch möglich, aus den wirren Dingen den Sinn des Ganzen zu entnehmen, der Wille ist kennbar und man fühlt, daß der Künstler hier einen Bewegungsausdruck gestalten will. Es ist der Drang eines Geistes voll Aufruhr, eines seelischen Revolutionärs, der Kunst neue Bahnen abzustecken und im absolut Neuen, Ewigkeitsgültiges zu bereiten. Und schließlich ist diese Art nur die eruptivste Reaktion gegen das Schema des toten Abklatsch gelehriger Kunstlehrer des Impressionismus. Der Versuch wird und muß mißlingen. Aber aus der Sackgasse, in die da die echten Künstler gelangt sind, werden sie mit verstärkter Energie zum Rechten zurückkehren, und man lernt be//kanntlich aus mißglückten Erfindungen mehr, als aus alltäglichen Nutzanwendungen. 

Dieser neue Darstellungsbegriff steht in Rußland unter der geistigen Führung Tatlin’s und wird als tatlinische Maschinenkunst angesprochen. Die patentierten Anhänger Tatlins freilich werden Unterschiede zwischen der Art Tatlins und der Archipenkos entrüstet zu ziehen wissen. Was aber kein Grund ist, hier nicht die gesamte Darstellung in einem Begriff zu werfen, da doch alles derartige buchstäblich sehr bald zum alten Eisen geworfen wird. 

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Nun zu den Repräsentanten der russischen Gegenwartskunst. Die führenden Geister, Marc Chagall, Kandinskij, Archipenko, sind auch bei uns bekannt. Weniger Burljuk, Jawlenskij, Grigorjew, Malewitsch, Lentulow und ihre Anhänger. Jeder dieser Künstler vertritt beinahe einen anderen Ismus. Von Bedeutung sind ferner die Plastiker Konekow und Koroljow, auch der abseitsstehende Igor Jakimow darf hier nicht fehlen. Die hervorragendsten Künstler sind die erstgenannten. 

Wien 1921, S. 21-22.