Oskar M. Fontana: Das alltägliche und das heroische Rußland.

Oskar M. Fontana: Das alltägliche und das heroische Rußland (1928)

Daß neben dem heroischen Rußland der Revolution ein alltägliches Rußland der Nachrevolution lebe, hatte man lange übersehen. Trotzgelegentlich guter Berichte. Aber diese Rußland-Reisenden, die das russische Leben in längstens zwei bis drei Monaten kennen lernen wollten, glichen sie nicht, der eine sehr, der andere nur noch nebelhaft, den Kriegsberichterstattern, denen die Front gezeigt wurde! Erst jetzt allmählich beginnt sich das alltägliche Rußland zu zeigen. Durch Selbstdarstellung. Nach dem heroischen „Potiomkin“ kommt das alltägliche „Bett und Sofa“. Es ist der Weg, den Sowjet-Rußland schon gegangen und den es bis ans Ende zurückgelegt hat. Das allein verspricht ihm Dauer. Darum auch der Wechsel der Tendenz. Der Heroismus rief zur Revolution auf, hielt sie wach; die Alltäglichkeit macht Propaganda für gute Mütter, gute Väter, viele und gesunde Kinder. 

In Lenin war das alles: der Heroismus und die Alltäglichkeit. Daher kam denn auch seine Größe, darum wußten alle schon am Beginn, auch seine Lehrer und Gefährten, hier wachse der Führer, deshalb nannten die Genossen den Siebenundzwanzigjährigen „den Alten“. Er bezwang sie durch sein Wesen und er bezwang Rußland, das zaristische und das anarchische, das knutende und das schwatzende, weil er beides hatte: den Heroismus der Empörung und das Wissen um die Notwendigkeit der Alltäglichkeit. Man merkt das genau, wenn man sein sehr merkwürdiges Leben Schritt für Schritt verfolgt, wie es jetzt Valeriu Marcu mit großer Anschaulichkeit und sehr geistreicher Verknüpfung der Tatsachen geschildert hat. (Erschienen bei Paul List, Leipzig.)

Heroisch ist schon Lenins Erwachen zur Revolution: Sein Bruder wird gehängt. Der Schatten des Bruders verläßt ihn nicht mehr, steht Zeit seines Lebens hinter ihm. Er, der zweite Sohn des Schulinspektors Uljanow, nimmt hinfort den Kriegsnamen seines Bruders an und brennt diese zwei Silben: Lenin, Europa ein. Aus Unwirklichkeit wird Wirklichkeit, die nicht mehr fortzulöschen ist. Als das Sterben ihn selber, den zum Diktator gewordenen, anrührt, hat er einen Wunsch: da er seine Tätigkeit einschränken muß, will er sich nur noch der Ökonomie des Landes widmen, sie in Ordnung bringen. In diesen beiden Zügen hat man den ganzen Menschen: das Dunkel, das um ihn ist und das er menschlich fast kaum verlassen hat, und die Wachheit des Geistes, die in ihm ist, die ihm befiehlt, immer gerade das Notwendige zu tun. Er war besessen von der Idee. Doch nicht die Theorie, in der er auch Meister war, hielt ihn fest, sondern ihre Verlebendigung zog ihn an. Immer wieder rannte er die Wirklichkeit an, höhlte sie aus, wurde nicht müde, sie kennen zu lernen. Er mußte sie immer wieder probieren und er verzagte dabei nicht, denn nur so war die Idee in die Welt zu bringen. Dieser Mann phantasierte in Organisationen und organisierte Phantasien. Immer stand sein Leben auf Messers Schneide, aber er fiel sich nicht zu Tode. Er hielt sich im Gleichgewicht. Alles vermochte er. Nie hatte er, der ins Heimliche Gehetzte, vor mehr als 100 Menschen gesprochen. Als er in einer abenteuerlichen Reise, auf der ihm Radek in Stockholm ein Paar ganzer Schuhe kauft, nach Petersburg kommt, erwarten ihn Tausende. Er soll zu ihnen sprechen. Und er spricht. Und ist sofort einer, der zu einem Volk sprechen kann. Als er die Macht des zugrundegegangenen Staates übernimmt, sagt er einem Freund: „Wir stehen vor großen Schwierigkeiten. Wir sind alte, eingeschworene Revolutionäre, wir haben nicht gelernt, die Wirtschaft und den Staat zu leiten, aber wir werden es lernen.“ Und er lernte es. Ein Riesenreich ist zusammengebrochen wie ein Toter. Als Lenin am 21.Jänner 1924 stirbt, steht dieses Riesenreich wieder, atmet, lebt. Das Ungeheuerliche dieser Leistung ist nicht zu ermessen, ist schon heute Legende. 

Bezeichnet Valeriu Marcus Lenin-Werk die Höhe des erneuernden Aufschwungs, zu der das heroische Rußland fähig war, so bedeutet der Roman Ilja Ehrenburgs „Michail Lykow“ (im Russischen „Rwatsch“, deutsch im Malik-Verlag, Berlin) das alltägliche Rußland der Revolution und Nep-Zeit. Was oben gedacht, entschieden wurde, unten wurde es gelebt. Da ist er, der jede Gestalt annehmende „Masse Mensch“, Typ, der vorgestern als Schwächling jedem Luftzug gesellschaftlicher Verhältnisse nachgab, der gestern in der Revolution unversehens ein Held war und heute in der „Neuen ökonomischen Politik“ ein Schieber wird. Da ist sein brüderliches Gegenspiel, der den Kollektiv-Willen mit stummer Zuversicht Erfüllende und an einer neuen Gesellschaft zäh, verbissen Arbeitende, seine Tränen, seine Enttäuschungen in sich Erstickende, der in beklemmender Verwirrung ich mit der Losung Tröstende, alles müsse einfacher werden, noch einfacher. Da sind die neuen Menschen, die keine Biographie haben, deren Gefühle mit achtstelligen Zahlen zu multiplizieren sind, während sie selber nur ein instruktiver Dezimalbruch sind, deren Wesen aber „die Anziehungskraft jungfräulicher, noch nicht vom Stiefelabsatz des Kolonisators berührter Erde“ hat. Da sind die „gewesenen Menschen“ die Kellermäuse der Revolution, die armseligen Existenzen, „die in einer anderen Zeit ihr Leben glücklich, langweilig und banal verbracht hätten, jetzt aber von den Ereignissen zermalmt und doppelt unglücklich waren, da sie nicht wußten, warum ihren Schultern, den schwachen Spießerschultern, die nur für einen Maßrock geschaffen zu sein schienen, von der Geschichte eine so schwere Bürde von ungewolltem Heroismus aufgebürdet worden war“. Da sind die Zeugen zwanzigjähriger, unterirdischer Arbeit, das Gesicht „eine Reißbrettzeichnung von Ideen und Gefühlen“ oder sprühend von einem in allen Kaffeehäusern Europas gelernten Sarkasmus, diese etwas anachronistischen Gestalten der ersten Internationale in einer Zeit der Trusts und Zechereien und sich Anpassenden. (Wer wird sie ablösen, diese stillen, arbeitsamen, rechtlichen und sachlichen Menschen? fragt Ehrenburg einmal.) Da sind die vom Foxtrott wie von einer eingeschleppten Seuche Ergriffenen, sie werden die Glieder, doch sie geben vor, dabei „die Zersetzung des Westens“ zu studieren. Da sind die rundweg Raffgierigen; die gestern an überschwänglichen Beglückungsplänen irgend eines Volkskommissariats Arbeitenden und heute, weil ein gesunder, aber bitterer Abbau eingesetzt, sich wahllos Verkaufenden; da sind die in Speisehäusern nach Abgabe von Marken Essenden und da sind die Schmausenden in wieder erstandenen Bars. Und ist die alte Hysterie der alten Liebe, grundlos sich opfernd und hingeschlachtet vom Tag und Wieder-Tag. Aber da ist auch das neue Geschlecht der „Komsomolzen“, der jugendlichen Arbeiter. „Wir wissen zwar nicht, was aus dieser Jugend werden wird, ob aufbauende Kommunisten oder „Speze“ auf dem Gebiete kleiner Dinge, die unser Heimatland amerikanisieren werden, erheben wir doch nicht darauf den Anspruch, die Rolle eines Orakels zu spielen. Aber wir lieben dieses neue Geschlecht, das heroisch ist in seiner Keckheit, fähig ist, nüchtern zu lernen und mutig zu hungern, nicht opernhaft, nicht nach Art der Studenten in Leonid Andrejews Stücken, sondern allen Ernstes zu hungern, von Maschinengewehren zu Lehrbüchern für den Selbstunterricht herzugehen und umgekehrt, dieses Geschlecht, das im Zirkus vor Lachen wiehert und drohend ist in seiner Trauer, tränenlos, verhärtet, fremd der Verliebtheit und den Künsten, hingegeben den exakten Wissenschaften, dem Sport und dem Kino.“

Dieser fast 600 Seiten starke Roman Ilja Ehrenburgs ist mehr als ein Produkt „künstlerischer Phantasie“ er ist Abdruck eines Landes, eines Volkes, einer Zeit. Die ungeheuerste europäische Bewegung, wie sie jenseits des Heroismus ihrer Führer und nach ihrer heldenhaften Epoche war, wie sie lebte, ich streckte und durch alle Wehen und Verwirrungen doch vorwärts stößt, in Ilja Ehrenburg hat sie einen Schilderer gewonnen, der ihrem gigantischen Feuerausbruch und dem zähen Verfließen der erkaltenden Lavamassen gewachsen ist, einen Schilderer, gleicherweise von Menschlichkeit und Kollektivität, von Pathos und Skepsis genährt, einen Schilderer, den nur Schönredner der Konterrevolution verdächtigen können, der aber in Wahrheit revolutionärer als sie ist. Denn das ist Revolution, nach einem Wort Dantons „die Wahrheit, die bittere Wahrheit“, zu wollen und zu geben und sie nicht in Hofberichte umzufrisieren. Ilja Ehrenburgs Roman ist ein Dokument und wird es bleiben als ein Zeichen der großen menschlichen Sowjet-Idee und ihrer allzu menschlichen Widerstände und des Sieges des Herzes, das „zusammengeschrumpft wie das Quecksilber des Thermometers, eigensinnig hochzuflattern versucht“. Immer wieder. 

In: Der Tag, 15.1.1928, S. 17.