Richard A. Beermann: Der Bolschewismus als Gefahr und als Hoffnung

Richard A. Beermann: Der Bolschewismus als Gefahr und als Hoffnung.

Aus Rußland heimgekehrte Reichsdeutsche veröffentlichen im „Vorwärts“ einen „Warnruf vor dem Bolschewismus“. Sie sagen:

„Friede, Brot, Freiheit war die Parole, mit der die Bolschewisten das Volk zu ködern suchten. Mit der Miene des Menschenfreundes, des Weltbeglückers, des zürnenden, aber gerechten Richters, versprachen sie dem auflauschenden, in der Not langer Trübsal schmachtenden Volke eine neue, gerechte, glückspendende Weltordnung, ein Paradies auf Erden!

„Und was grinst jetzt, nachdem die Prunkhüllen gleisnerischer Phrasen eine nach der anderen herabgefallen sind, aus diesen Versprechungen hervor? Die leibhaftige Hölle mit all ihren Schrecknissen.

„Friede — welch blutiger Schwindel! Die wenigen, beim Ausbruch der Revolution gefallenen Opfer haben sich vertausendfacht, Leichenhügel türmen sich auf. Bruder- und Bürgerkrieg wütet im Lande, geht um in Dorf und Stadt wie ein hungriger blutlechzender Wolf, Leben und Eigentum ist ständig in Gefahr, alles geht drunter und drüber. Schon weigert sich die Rote Garde, noch tiefer und weiter in Blut zu waten. Als Mordschergen und Henkersknechte sind deshalb Chinesen gedungen worden.

„Und zu all dem schleicht Armut und Hungersnot durch die Städte und Dörfer, die Preise für Lebensmittel sind unerschwinglich, der Acker verödet, die Fabriken stehen still, weil die Rohstoffe fehlen, Millionen von Arbeitern sind brotlos, der Wohlstand des Bürgertums und der Bauern ist zerstört, Petersbürg hat heute Einwohner weniger als 1914, Handel und Wandel ist völlig im Absterben, das ganze Finanzwesen gerät durch kopflose, überstürzte Maßnahmen immer tiefer in Wirrwarr und Zerrüttung!“

Die deutschen und deutschösterreichischen Freunde der Bolschewiken behaupten mit Heftigkeit, das jetzt in Rußland herrschende System werde von der Bourgeoise böswillig verleumdet. Wir wissen genug von der Wahrhaftigkeit der Weltpresse, um zugeben zu können, daß wir wahrscheinlich über Rußland auch nicht genauer und unparteiischer informiert werden, als über andere Weltgegenden. Greuel aufzubauschen ist der Lieblingssport der internationalen Presse. Man möchte zur Ehre der Menschheit annehmen, daß nur der zehnte Teil von dem Entsetzlichen wahr ist, was uns immer wieder aus dem bolschewikischen Rußland berichtet wird. Aber auch dieser zehnte Teil wäre grauenhaft. Es ist schwer, darüber ein Urteil zu gewinnen, denn die Bolschewiken haben die Preßfreiheit abgeschafft. (Aus einer deutschen bolschewikischen Broschüre: „Die Bolschewiken denken nicht daran, Rede- und Preßfreiheit im bürgerlichen Sinn zu verwirklichen“.) Folglich gelangen aus Rußland nur die gewissen Tataren- und Emigrantenmeldungen ins Ausland: ein Land ohne Preßfreiheit wird immer verleumdet und ist selbst schuld daran. Die Gegner des Bolschewismus leben, wie die Bolschewiken nicht leugnen, unter dem furchtbaren Drucke eines blutigen Terrors; von ihnen ist eine unparteiische Berichterstattung kaum zu erwarten. Tatsächlich werden manche Schilderungen, die sie in der letzten Zeit verbreitet haben, aus der Psychologie gehetzter Verfolgter und Emigranten zu erklären sein.

Wie oft haben wir nicht von dem unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch des Bolschewismus gehört! Dann aber gewinnt er plötzlich Erfolge, dehnt sich aus, zeigt doch eine zähe Lebenskraft, die tiefere politische und soziale, ja religiöse Gründe haben muß.

All das hat die Welt schon einmal erlebt, und zwar im Jahre 1793. Mit dem jakobinischen Terror hat der bolschewikische das systematische Wüten gemeinsam, die blutige Vergewaltigung, die Lähmung der Gesellschaft, auch eine ungeheuere Energie, der oft das Unmögliche gelingt. Wie die Jakobiner haben die Bolschewiken sich gegen die ganze Welt zu behaupten und wie die Jakobiner möchten sie im Namen des Friedens und der Freiheit die ganze Welt unterwerfen. Fünfvierteljahrhunderte bevor Radek davon träumte, am Rhein gegen den englischen Imperialismus zu kämpfen, unternahm es der Berg, am Rhein gegen diesen selben englischen Imperialismus und seine kontinentalen Verbündeten in den Krieg zu ziehen; in einen Krieg, der mit großen Verbrüderungsphrasen begann und dann ein reiner Machtkrieg wurde, der ärgste, den die moderne WeIt vor 1914 erlebt hat. Auch damals fehlte es nicht an deutschen Jakobinern, die sich für die Guillotine begeisterten.

Die Faszination, die der Bolschewismus heute auf einen Teil der deutschen und auch der deutschösterreichischen Arbeiterschaft ausübt, ist leicht genug zu verstehen. Das furchtbare Elend, das der Krieg uns gebracht hat; mußte den äußersten Radikalismus begünstigen. Der Satz des Kommunistischen Manifests, das Proletariat habe bei einem Umsturz nichts zu verlieren als seine Ketten, konnte um 1914 auf die deutsche Arbeiterschaft nur mehr recht bedingt angewendet werden; in den Kriegsjahren gewann dieses mächtige Argument wieder an Bedeutung. Clemenceaus Behauptung, nur besiegte Organismen seien gegen bolschewikische Ansteckung nicht immun, mag insofern wahr sein, als eine durch den Krieg und durch unerträgliche Friedensbedingungen völlig verelendete deutsche Arbeiterschaft unschwer tobsüchtig gemacht werden könnte. Je schwieriger die Bedingungen der Entente die Wiederaufrichtung der deutschen Wirtschaft, einer organischen Sozialpolitik und des allgemeinen Wohlstands erscheinen lassen, desto bedeutungsloser muß der ungeschulten Logik der Volksmassen jene Zerrüttung des Wirtschaftsorganismus vorkommen, die die nächste Folge bolschewikischer Experimente ist. Ein geächtetes, vom Welthandel abgesperrtes, mit unsinnigen Kriegsentschädigungen belastetes Deutschland geriete allerdings in die starke Versuchung, Anlehnung, Bündnis, ein weites Wirtschaftsgebiet dort zu suchen, wo allein es noch zu finden wäre: jenseits der russischen Grenze. Ein bolschewikisches Deutschland ist heute die letzte Hoffnung Lenins und Radeks; hier können sie die industriellen Kräfte finden, die ihnen fehlen, hier einen Weg aus der Umschnürung, der Rußland erliegt. Wehe, wenn morgen das bolschewikische Rußland die einzige Hoffnung Deutschlands wäre! Ob eine trügerische Hoffnung, das kommt leider gar nicht in Betracht. Die großen Massen sind nur zu leicht in Sackgassen zu treiben, wenn nun ihr Eingang offen ist. Die Zustände, die der Bolschewismus in Rußland geschaffen hat, sind gewiß nicht verlockend; nun kommt es darauf an, was für Zustände der Anti-Bolschewismus der Entente dem deutschen Volk verheißt. Die Machthaber Rußlands, die im Versprechen sehr groß sind, bieten ihre Hilfe gegen die Entente an. Das tiefe Friedensbedürfnis der Deutschen wäre heute der Entente gegen jeden Friedensstörer verbündet, wenn sie solches Bündnis anzunehmen bereit wäre, wenn sie einen wirklichen Frieden schließen wollte. Tut sie es nicht, dann sind die Folgen unabsehbar. Daß man für die Freiheit und gegen tyrannische Unterdrückung blutig Krieg führen müsse, hat die Entente vier Jahre lang gepredigt. Daß sich die Völker der gegnerischen Staaten gegen ihre Beherrscher schließlich auflehnen würden, hat sie sehr richtig angenommen. Es liegt furchtbar nahe, das Experiment fortzusetzen. Demagogische Halblogik kann leicht so argumentieren. Es könnte der Augenblick der Verzweiflung kommen, in dem der Bolschewismus auch Besonnenen weniger als eine äußerste Gefahr, denn als eine letzte Hoffnung erschiene. Denn dieser Wahnsinn hat doch wenigstens Methode; das bolschewikische Rußland mag ein entsetzliches Leben führen, aber es lebt, es behauptet sich bisher der Entente gegenüber, ist von ihr unabhängig. Rußland ist groß, und Lenin ist weit, die russischen Zustände kennt niemand genau, das Furchtbare, das von ihnen erzählt wird, kann als Verleumdung hingestellt werden — und je ratloser, je zerfahrener das unglückliche deutsche Volk ist, desto mehr Aussichten hat die wilde Energie der russischen Propaganda. Denn das muß man den Bolschewiken lassen: auf die Agitation verstehen sie sich.

Der große Gegeneinwand: daß ein hingerichtetes Huhn keine Eier legt und eine zerstörte Industrie keine Arbeiter ernährt, ist den Massen nicht so überzeugend, wie man meinen sollte! Es wirkt da das Moment eines fast religiösen Irrationalismus gegen die nüchterne Vernunft.

Die bolschewikische Propaganda beutet den tief in der Volksseele liegenden idealistischen Optimismus aus; sie verheißt ein holdes Wunder, an das man nur zu gern glauben möchte. Sie malt die enteignete Fabrik, die zehnmal mehr und besseres produzieren wird; und dies gleich, morgen. Woher die Rohstoffe nehmen? Wir werden die exotischen Länder bolschewisieren.

Gerade weil die Abschaffung Ungerechter Besitzvorrechte, unsozialer Ausbeutung, parasitischen Drohnentums zum selbstverständlichen Glaubenssatz aller modern Gesinnten geworden ist, ist es schwer, die richtigen Perspektiven zu wahren; dem hoffenden Auge scheinen Fernen nah, Klüfte eben, Felsen gangbar. Es hat viele eine Verzückung ergriffen, ein mystischer Fanatismus. Ein neuer Kinderkreuzzug in die Wüste scheint bevorzustehen.

Man darf diesen religiösen Einschlag nicht unterschätzen. Er hat mit gesunder Politik, gar mit wirtschaftlicher Berechnung nichts zu tun, aber die Klugen und Nüchternen verlieren in solchen Zeiten leicht die Führerschaft, wenn sie zu klug und vor allem zu nüchtern sind. Jene zerstörende revolutionäre Energie des Bolschewismus, die mit den Maßregeln das Untunliche und Aussichtslose aufbaut, müßte durch eine positive Energie des Schaffens und Helfens pariert werden. Will die Entente den Bolschewismus in Mitteleuropa nicht haben, dann muß sie das Schaffen fördern, dem Helfen helfen. Von Rußland, dem Land der ekstatischen Sekten, strahlt ein religiöser Wahnsinn in die Welt, das ist es. Selbst wenn es gelänge, die bolschewikische Sekte in ihrem Ursprungsland gewaltsam zu unterdrücken, würde das die Verbreitung ihrer Idee kaum hindern. Man muß ihr bessere, aber ebenso warme Ideale entgegensetzen.

In: Der Friede, Nr. 51/10.1.1919, S. 581-582.