Was die Bolschewiken literarisch geleistet haben. Eine Unterredung mit dem Volkskommissar für Bildungswesen Lunatscharski

[N.N.] Was die Bolschewiken literarisch geleistet haben. Eine Unterredung mit dem Volkskommissar für Bildungswesen Lunatscharski. [Proletarische Literatur/Theater]

Der bekannte Bolschewik Lunatscharski, der oberste Chef des russischen Bildungswesens, hat dem Moskauer Korrespondenten der Berliner „Roten Fahne“ die folgenden, selbstverständlich rosig gefärbten Mitteilungen gemacht:

Elf Jahre proletarischer Diktatur sind an der Kunst der Sowjetunion nicht spurlos vorbeigegangen. Die proletarische Literatur in der Sowjetunion bring immer neue Überraschungen: das russische revolutionäre Theater steht einzigartig da; die proletarischen Elemente dringen auch in die bildenden Künste und selbst in die Architektur immer tiefer ein; am längsten widersteht noch die Musik dem Ansturm der proletarischen Kräfte. Die proletarische Wirklichkeit erhält in der Kunst bereits ihre entsprechende Gestaltung. Die Fragen: „Gibt es eine proletarische Kunst? Ist eine proletarische Kunst möglich?“ werfen drüben nur solche kleinmütige „Revolutionäre“ auf, die auch an den sozialistischen Aufbaukräften des russischen Proletariats zweifeln (siehe den Fall Trotzki). Das Leben straft diese antiproletarischen Theologen rücksichtslos Lügen. (Gerade das Gegenteil ist der Fall. Das Leben beweist täglich, daß der Bolschewismus eine politische Farce ist, deren Ende nicht mehr aufzuhalten. D. Red.)

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In den letzten Monaten in den letzten zwei Jahren ist bei uns eine mächtige proletarische Literatur entstanden. Am stärksten äußert sie sich in der Form des großen Romans und der Erzählung. In der Poesie ist momentan eine Pause eingetreten. Vor zwei bis drei Jahren repräsentierte eine Gruppe von proletarischen Dichtern die Sowjetliteratur. Nun aber liest man wenig starke Gedichte. Hoffentlich wird dies nicht lange dauern; doch muß man feststellen, daß gegenwärtig die proletarische Prosa bei uns höher entwickelt ist als die proletarische Poesie.

Ein außerordentlich bedeutender neuer Roman ist „Tichi Don“ („Der stille Don“) von Scholochow, einem ganz jungen Arbeiter. Dann ein schönes und tiefes Werk, der Bauernroman „Bruski“ von Panferow. Werke, die den in Deutschland gekannten Roman „Zement“ von Gladkow bereits überragen. Ein wichtiger Roman Lessozawod“ („Holzfabrik“) von Karaveja, einer Frau. Alles, was sie bisher schrieb, war bereits interessant, doch sie gab in diesem Roman zum erstenmal ein umfassendes, groß angelegtes soziales Bild. Lebedinsky, künstlerisch schwächer als die anderen; aber er gibt eine scharfe soziale Analyse, er greift tief in die Wirklichkeit ein. Ein früherer wichtiger Roman „Nazgrom“ („Zerstörung“) von Fadejew (in deutscher Sprache im Verlag für Literatur und Politik unter dem Titel „Die 19“ eben erschienen). Vor den Werken von Scholochow, Panferow und Karavajeva der stärkste proletarische Roman in der Sowjetliteratur.

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Auch im Theater erfocht die proletarische Literatur große Siege. (Na! Na! D. Red.) Die stärkste Wirkung ging von „Relsje gudjetj!“  („Die Schienen tönen“) von Kirschon aus, aufgeführt im Theater MGSPS. Auch Bilizerkowksi hat starke Dramen geschaffen. Eines seiner Werke, „Sturm“, war beinahe ein ebensolcher Theatererfolg wie „Relsje gudjetj“ .

Was die proletarische Dichtung anbelangt, haben die interessantesten proletarischen Dichter in letzter Zeit wenig gegeben. Das Poem „Motele“ („Die Erzählung vom rothaarigen Motele, dem Herrn Inspektor, dem Rabbiner Isai und dem Kommissär Bloch) v. Utkin war sehr stark und vor zwei Jahren eine der beliebtesten und gelesensten Dichtungen (fünf Ausgaben publiziert). Doch nichts Neues von ihm, was diesem ebenbürtig wäre. Wie seine angekündigte Dichtung „Die Kindheit“ sein wird, kann man noch nicht wissen. Auch der andere begabte Dichter, A. Sharoff, hat neuerdings wenig geschrieben. Um seine „Magdalena“ wurde viel gestritten. 

Die neuen proletarischen Schriftsteller stellen sich als Aufgabe: das neue Leben, wie es die proletarische Revolution geschaffen, gründlich kennenzulernen und künstlerisch zu gestalten. Darum ist die neue sowjetrussische Literatur nur realistisch. Früher war der Bürgerkrieg der hauptsächliche Stoff, die großen Ereignisse des Bürgerkrieges hatten solchen Eindruck gemacht, daß sich der Schriftsteller von ihnen nicht lösen konnte. Heue sind bereits viele Romane, die den sozialistischen Aufbau, die sozialistische Konstruktion schildern, jedoch ohne jede Verfälschung, ohne jede Schöntuerei. Bei den proletarischen Schriftstellern sind nur ganz selten und ganz untergeordnet Spuren von Skepsis, von Kleinmütigkeit. (Begreiflicherweise, weil sich die meisten den Gefahren einer freimütigen Kritik im erzreaktionären Rußland nicht aussetzen wollen. Wer die Wahrheit sagt, wird gemaßregelt. D. Red.) 

In: Neues Wiener Journal, 4.1.1929, S. 6.