Schlagwortarchiv für: Erziehung

G.[isela] U.[rban]: Die Erziehung der Frau zur Politik. Ein Nachklang zu den Wahlen. (1919)

Der große Tag ist vorüber, die Würfel sind ge­fallen. Im Flügelschlage eines geschichtlichen Geschehens, dessen Schoß das Zukunftsschicksal der Heimat birgt, haben unsere Frauen zum erstenmale die Feierlichkeit einer Stunde erlebt, in der das Einssein mit dem Ganzen das innerste Wesen eines jeden mit der Ge­meinschaft Fühlenden durchdringen muß. Zum erstenmale haben unsere Frauen den Puls des öffentlichen Lebens unmittelbar beeinflußt, zum erstenmale haben sie — zumeist mit ernster und bewußter Freudigkeit — die Wagschalen für die Verteilung der politischen und gesetzlichen Macht im Staate mit ihren im vollen bürgerlichen Worte erklingenden Stimme erfüllt. Die Ouvertüre zur gewaltigen Sinfonie des neuen staat­lichen Werdens ist verrauscht. Bald müssen die ersten Töne des sehnsüchtig erwarteten Werkes uns umfangen. Werden sie unsere Seelen erheben und stärken oder werden sie uns die Gegenwartslasten des Lebens noch drückender empfinden lassen…

Viele Frauen, die im Fieber der letzten Zeit aus der Gleichgültigkeit, die sie den politischen Angelegenheiten bisher entgegenbrachten, aufgescheucht wurden, glauben, daß sie mit dem Gange ins Wahllokal ihrer staatsbürgerlichen Pflicht Genüge getan haben. In diesen stürmischen Wochen, da alles zum Entscheidungskampfe rüstete und drängte, wurde ihnen die Pflicht des Wählens so eindringlich gepredigt, daß sich in ihnen die Meinung bilden mußte, der Wahlakt bedeute das Um und Auf ihrer politischen Betätigung. Nun, da die Erregung der letzten Tage so stark in uns nachzittert, daß wir das Gleichmaß des Alltagslebens noch nicht wiederfinden konnten, da die Frauen noch unter dem Eindrucke der leidenschaftlichen Werbe- und Weck­arbeit stehen, muß die volle Kraft und die unermüdliche Arbeit der Führenden mit der geistigen Schulung der Frau zur Politik beginnen. In der bildnerischen Schnellpresse der Wahlpropaganda wurde den vorher politisch ungeschulten Frauen das Wissen von der Politik nur im Lichte der Parteianschauungen und Parteiziele vermittelt. Ist es nun, da die praktische Arbeit der neuen Nationalversammlung Form und Inhalt der künftigen Staatspolitik bald erkennbar machen muß, nicht an der Zeit, die Allgemeinheit der Frauen mit dem wahren Wesen der Politik, mit ihrer konkreten Bedeutung für den Aufschwung und Nieder­gang, für Stärke und Schwäche des Staates, für Glück und Unglück der Gesamtheit und des Einzelnen im Staate vertraut zu machen, sie durch eine systematische Erziehung dazu zu führen, daß sie die Gedanken und Taten staats- und weltbewegender Politik in ihrem Inbegriff erfassen?

Wie sehr die Erziehung der Frau zum All­gemeinverständnis der Politik notwendig ist, dafür spricht das folgende kleine Erlebnis. Eine junge Frau mit der sogenannten Bildung der „höheren“ Töchter, also ohne jede Ahnung von den gestaltenden Mächten und den Ausstrahlungen der Politik, besuchte eine der vielen Wählerinnenversammlungen, weil die Referentin ihr persönlich nahestand. Nachhausegekommen erklärte die Frau ihrem Gatten: „Nun bin ich politisch ge­bildet. Ich habe das gehört, was wir Frauen wissen sollen, mehr interessiert mich nicht.“ Ist das nicht ein typisches Schulbeispiel für die oberflächliche Betrachtung des politischen Bildungsganges, für die Verkennung des politischen Wissens seitens der Frauen?

Wenn in einer Wählerversammlung die Forderungen des Augenblicks parteipolitisch gestreift werden, wenn Schlagworte durch die Luft schwirren und die Gemüter gefangen nehmen, dann meinen die Zuhörerinnen — und auch die Zuhörer — daß sie politische Hochschulweisheit aufnehmen, daß sie ihre politische Bildung vollenden. In ihrer ausflammenden Geistesbereitschaft nehmen sie sich zumeist gar nicht die Mühe, an ihre Lebensverhältnisse zu denken, ihrer persönlichen Lebens­auffassung, den Grundelementen und Neigungen des eigenen Wesens nachzuspüren und sich zu fragen, ob die Ergebnisse dieser Erforschung des persönlichen Seins und Werdenwollens, der eigenen Erfahrungen und Wünsche sie in den Strom der Parteipolitik drängen, die ihnen als die allein seligmachende gepriesen wurde. Wie können diese Frauen, die nicht einmal die Vorbedingung eines politischen Elementarunterrichtes zu erkennen vermögen, die Reife für die Einsicht aufbringen, daß politische Bildung nicht in einer Wähler­versammlung allein erworben werden kann? Daß dazu mehr gehört. So der feste Wille, alle Fragen der Gemeinschaft eifrig zu verfolgen, das Bemühen um ein eigenes Urteil, das Streben, aus allen gesetzgeberischen Entscheidungen und sonstigen staatlichen Entschließungen die Rückwirkung auf das eigene Ich und aus die Lebens­lage Anderer empfinden und formulieren zu können, und schließlich die Erkenntnis, daß in dem Ringen um politisches Verstehen das eigene Ich sich als Teil des großen Ganzen den zentralen Ideen des allgemein­menschlichen, wirtschaftlichen, sittlichen und gesellschaft­lichen Fortschrittes unterordnen muß.

Der überwiegende Teil der Frauen muß Politik erst begreifen lernen. Wie kann dies geschehen? Selbst­verständlich werden alle berufenen Organisationen durch Vorträge und Kurse, durch Diskussionen im kleinen Kreis und durch Versammlungen in größerem Stile, durch Wort und Schrift viel Aufklärungsarbeit in die noch ungebildete oder gleichgültige Menge tragen müssen. Der Kern aller dieser Belehrungen muß aber der Anschauungsunterricht sein. Die politische Seite all der Fragen, die die Frau direkt berühren, die sie in ihrem fraulichen und mütterlichen Wirkungskreise verspürt, all der Fragen, die als Frauensphäre gekennzeichnet werden, weil Frauennot und Frauenarbeit sich in ihnen widerspiegelt, muß im Anschauungsunterrichte vorerst beleuchtet und in ihren Wechselbeziehungen zu den all­gemeinen Staatszwecken erörtert werden. Aber nicht die Gedanken einer bloßen egoistischen Interessen- und Rechtsvertretung dürfen den Frauen eingegeben werden. Die Tatsache, daß alle Frauenfragen nicht Grenzgebiete, sondern Probleme der Gesamtheit sind, muß ihr Ver­ständnis für jene polit[i]schen Fragen steigern, die aus der eigenen Sphäre ins Weite hinausstreben, die im Höhenflug der inneren und äußeren Staatskunst die Stellung des Staates in der Welt bestimmen und die Entwicklung der allgemeinen Kultur beeinflussen. Und mit diesem Verständnis muß die Objektivität ihres Urteils wachsen, damit sie Fehler und Mängel, Irrtümer, Einseitigkeiten und Halbheiten richtig einschätzen lernen und zu einer Gesamtbetrachtung der tieferen Forderungen gelangen, die an die Politik gestellt werden müssen, damit sie das heiß ersehnte Königreich wahrer Menschlich­keit errichte und verwirkliche.

Die politische Schulung der Frauen ist eine Notwendigkeit im Sinne des persönlichen Vorwärtsschreitens der Frau und des staatlichen Werdeganges. Die Frauen sollen sich nicht nur als Wählerinnen fühlen, sie dürfen durch eine weitere Abschließung vom politischen Leben nicht zum „Stimmvieh“ werden, dessen Existenzberechtigung nur in Wahlperioden anerkannt wird. Als wahre Bürgerinnen des Staates müssen sie das Wirken der Politik nach neuen, eigenen Maßstäben werten lernen und mit Würde und Besonnenheit dafür sorgen, daß ihre Wertbemessungen kraft ihres Rechtes als Wählerinnen im politischen Leben Geltung erringen.

In: Die Frau, 19.2.1919, S. 2.